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2.  Schuld als Gegenstand des Amüsements  

Henrich-1996

 

Das Potential an Infamie ist gleichbleibend. Sie schlummert in jedem und kann aktiviert werden. Mit Zahl und Reichweite der Medien wächst ihr Einfluß; besonders auf das naive Gemüt. In den Krisen halten sich nur wenige davon frei. Die <Entlarvung> eines Menschen, der Achtung genoß - in der moralischen Welt ein Grund zur Trauer -, wird hier zum Schauspiel und Genuß. Die infame Schadenfreude, die sich einst dem <gefallenen Mädchen> gegenüber austobte, findet immer ihr Objekt.  (Ernst Jünger)  wikipe  Infamie 

 

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Für gewöhnlich vergessen wir - sei es nun aus Gleichgültigkeit oder aus Bequemlichkeit -, daß unsere Realität einschließlich ihres DDR-Erbes bereits durch den Fleischwolf der Medien gegangen ist. Die mediale Hackfleisch-Realität aber entfaltet in ihrem elektronischen Bildersammelsurium vor aller Augen eine künstliche Welt, die jeden Blick und noch das letzte Bewußtsein auf sich zieht. 

Das heißt nichts anderes, als daß die meisten Reaktionen des moralischen Gewissens und die kollektive Empörung über die nach der neunund­achtziger Wende in Szene gesetzten Enthüllungen — in ihrem Kern wahr­schein­lich mediale Effekte sind. 

Auffallend ist jedenfalls: Seit wir den Staatssozialismus in den Studios der Sendeanstalten sezieren, wird dessen Anatomie immer unbegreiflicher und die Verwirrung zunehmend größer, so daß sich bei vielen Menschen mittler­weile der Eindruck verfestigt: «So war es nicht!»

Mögen Stimmungen dieser Art durchaus dumpfen Gefühlswelten entspringen oder ihre politischen und biographischen Gründe haben! Bedenkenswert bleibt dennoch, wodurch sie hervorgerufen werden. Wirklichkeitsnäher als die Aufgeregtheiten der Überzeugungsträger in den Redaktionen der Anstalten sind solcherlei Gestimmtheiten allemal, denn sie haben noch ein Gespür dafür, daß überall da, wo die Ereignisse, die Ideen und in diesem Fall die DDR-Geschichte medial substituiert werden, alles dies aufhört zu existieren, indem der wirkliche Stellenwert verlorengeht, den die Dinge im Leben einmal hatten.(10)

So gesehen hatte es etwas Rührendes, als seinerzeit Bundespräsident von Weizsäcker den Medien­gewaltigen ins Gewissen reden wollte. Bereits 1992 in Bautzen beklagte Weizsäcker den «Skandal, aus der leidvollen Geschichte der DDR ein Objekt für Mediengeschäfte mit gekauften Akten und reißerischer Verbreitung von Angst und Feindschaft zu machen».  

Bedenken solle man doch, so seine Mahnung, daß die Gauck-Akten Instrumente einer Diktatur gewesen seien. Und weiter: «Die Akten bringen immer die Sicht des Auftraggebers. Sie lügen darin nicht, sie sind aber einseitig und müssen bewertet werden. Sie sind keine objektive oder moralische Instanz und keine unwiederbringlichen Verurteilungsbeweise.»

10) Schon heute kann man ja vielfach hören, es sei die Stasi selber gewesen, die die Wende organisiert hat. Das bedeutet nichts anderes, als daß wir uns jenem kritischen Punkt nähern, von dem an alles für möglich gehalten werden kann, während die historischen Vorgänge selbst nicht mehr zu verstehen sind.

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Wer hätte da nicht zustimmen wollen? Bis dahin hatte ja noch keiner der Veranstalter des moralischen Schattenboxens behauptet, daß der Aussage­gehalt des maschinegeschriebenen Kürzels «IM» auf einer Karteikarte besonders groß sei. Schließlich wußte der letzte Journalist hierzulande ganz genau, daß noch in einem Mordprozeß eine Ermittlungsakte nichts weiter als ein beschriebenes Stück Papier ist, das seinen Wert in der mündlichen Beweisaufnahme vor dem Richter erst zeigen muß. Der aber will die Wahrheit hören und in seinem Urteil nicht nur das umsetzen, was ein Ermittlungs­beamter für die Wahrheit hält. 

Nur, wem hilft es noch, alles Wissen um erprobte Beweisgrundsätze? Wir leben nicht im Gerichtssaal, sondern in einem Land, in dem das Verständnis der Öffentlichkeit für das Stasi-Thema (und zwar durchaus im Unterschied zur ersten deutschen Schuldbearbeitung) beinahe ausschließlich durch die Perspektive des Meta-Mediums Fernsehen geprägt wird. Und parallel dazu durch eine geradezu manische Aktengläubigkeit.

Ersteres konnte man wissen. Erstaunlich, ja irritierend bleibt hingegen die Aktengläubigkeit. Man pocht seit der Öffnung der Aktenkammern auf den Wahrheitsgehalt der Stasi-Unterlagen, als könne man mit diesem neuentdeckten und schier unerschöpflichen politischen Bodenschatz der medial konditionierten Simulationsgesellschaft, die naturgemäß beim allermeisten, womit sie sich politisch beschäftigt, nur «so tut als ob», Korsett­stangen verpassen. 

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In keinem anderen Lebensbereich erleben wir die heimliche Kontinuität des Einheitssozialismus so ungebrochen wie in der gewöhnlichen Praxis des Umgangs mit den Stasi-Akten. Nichts war für die Praxis der Verfolgung in der DDR typischer, als die im Bedarfsfall zur absoluten Wahrheit hinaufstilisierten aktenkundigen Sachverhalte und Aussagen der «Ermittlungsorgane», also des Ministeriums für Staatssicherheit, der Kriminalpolizei oder der Zollfahndung. Gerade durch die exzessive Anwendung des entsprechenden Paragraphen der DDR-Strafprozeßordnung war die ganze Strafgerichts­tätigkeit deformiert.11) 

Auf Grundlage dieser gesetzlichen Bestimmung wurden polizeiliche (sic!) Protokolle stereotyp verlesen und deren Inhalt umstandslos für wahr genommen. Ein Verwertungs­verbot für die Ergebnisse von Polizeiverhören, wie es die derzeit geltende Strafprozeßordnung aus guten Gründen enthält, kannte die DDR-Rechtspraxis nicht. Die Erklärungen und Geständnisse eines Angeklagten, die in einem polizeilichen Vernehmungsprotokoll niedergeschrieben waren, bildeten deshalb allzuoft da, wo man anders nicht mehr weiterkam, die einzige Grundlage für Verurteilungen, ungeachtet der Art ihres Zustandekommens oder des etwaigen Vorhandenseins eines Widerrufs.

Es dürfte kaum jemanden geben, der, bei einiger Überlegung, die Einführung der bundesdeutschen Strafprozeßordnung mit ihrem Verwertungsverbot insofern nicht begrüßt hätte. Die dadurch erreichte Beschränkung polizeilicher Allmacht liegt auf der Hand.

Um so irrationaler erscheint nun die Alltagspraxis im Umgang mit den Geheimdienstakten und deren ungehemmte Ausschlachtung durch die Medien. 

11)  Der Paragraph 224 II der DDR-Strafprozeßordnung lautete: «Aussagen des Angeklagten, die in einem Protokoll über eine frühere Vernehmung enthalten sind, können, soweit erforderlich, durch Verlesung zum Gegenstand der Beweis­aufnahme gemacht werden.»

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Mag sich ein Richter im Gerichtssaal lange mit den be- und entlastenden Umständen eines Falles herumquälen und im Zweifel zugunsten des Angeklagten entscheiden! Das Fernsehen kann das nicht. Für das Fernsehen gibt es Opfer und Täter und sonst nichts. Beweisnot, Zweifel, Wiedergutmachung durch die Tat, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Rücktritt vom Versuch, Motivirrtum — das alles kennt es nicht. Es muß die Inhalte der DDR-Vergangenheit in seine Form pressen. Im Lexikon der Bilder aber kann man kaum über so komplizierte Abstraktionen wie Schuld, Reue oder Falschheit kommunizieren.

Daß deshalb vorwiegend Sachverhalte und Denkmuster, die sich bequem ausdrücken lassen und Nachrichten­wert haben, in den öffentlichen Raum transportiert werden, darf uns nicht wundern.12) Als der Buchdruck noch die Formen des öffentlichen Diskurses beherrschte, im goldenen «Zeitalter der Erörterung», mag das anders gewesen sein. Heute jedenfalls dominiert die zumeist kontextlose Information, die «Ware Nachricht», die neu und interessant sein muß, den Medien- und Meinungsmarkt.

So war es denn keineswegs überraschend, daß in den ersten Januartagen des Jahres 1992, als die Archive des Ministeriums für Staatssicherheit geöffnet wurden, sich kaum ein (Medien-) Mensch für die Akteneinsicht nehmenden Bürgerrechtler und deren Schicksal interessierte. Wenn sich die Aufmerksamkeit des Fernsehens ihnen zuwandte, dann beinahe ausschließlich in ihrer Funktion als Nachrichtenquellen.

12)  Hinzu kommt natürlich, worauf schon H. Marshal McLuhan in <Understanding Media> hingewiesen hat: «Wirkliche Nachrichten sind schlechte Nachrichten — schlechte Nachrichten über jemanden oder schlechte Nachrichten für jemanden.» Schlagzeilen machen heißt insofern immer, eine Welt der Fiktionen herzustellen, die dementsprechend ist.

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Namen aus den Akten waren gefragt, je prominenter, um so besser. Und nachdem dann die preisgegebenen Namen in den vorgestanzten, bebilderten Pseudo-Kontext eingeordnet waren — neben dem Faksimile einer Dienstanweisung, der Aktennotiz eines Geheimpolizisten, der Großaufnahme einer Gefängniszelle — fungierten sie fortan als Bausteine einer künstlich geschaffenen Realität.

Die Wahrheit sollte ans Licht kommen. Aber was ist Wahrheit in diesem Zusammenhang? 

Für die Mehrheit vermutlich ziemlich genau das, was zu ihrer Unterhaltung im dauernden Fluß der Bilder und Geräusche gesendet wird. Mögen einige Gerechte irgendwo sitzen und bedächtig Belastendes und Entlastendes gegeneinander abwägen. Gründe durchleuchten, um der Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Es wird ihre Wahrheit bleiben. Die öffentliche Wahrheit hingegen, das augenblickliche «Bescheidwissen», auf das es in der Tatsachenwelt der Effekte und Erfolge allein ankommt, ist ein Medienprodukt. Die Telekratie diktiert, in welcher Form wir die Vergangenheit sehen sollen. Ihre Meinungsherrschaft ist sanft, aber nicht weniger undurch­sichtig als die Herrschaft der Stasi. Ihre Kontrolle des Denkens und Fühlens regt uns zwar manchmal auf, aber sie tut uns nicht weh, denn ihr Programm ist schon in uns: als Zeichen und Code.

Gibt es dazu noch eine haltbare öffentliche Gegenposition? Etwa vielleicht die Talk-Show als Gegengift zum schlagzeilenhaften Nachrichtenhandel? 

In ihrem Rahmen treffen ja bis heute Täter und Opfer aufeinander, um sich auszusprechen. Anzunehmen ist, daß die Autoren solcher Sendungen für sich in Anspruch nehmen, mit der DDR-Vergangenheit aufklärerischer umzugehen als die vom Bundespräsidenten gescholtenen Skandaljournalisten. Jedenfalls tut man so. Die geladenen Opfer werden angemessen belobigt, und den «IM's» gegenüber wird viel Verständnis gezeigt. Zeigen letztere sich genügend zerknirscht, und ordnen sie sich in das vorgegebene Rollenspiel ein, ist die Gut-und-Böse-Show gelungen.

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Problematisch ist an derlei Schaustellungen in der Regel sicher nicht die Show selbst. Fragwürdig ist vielmehr ganz allgemein, mit welcher Geste sich ausgerechnet in diesem Zusammenhang das Fernsehen als Vermittler bedeutsamer moralischer Botschaften präsentiert: Durch Auseinandersetzung mit individueller Schuld als Gegenstand von Unterhaltungssendungen! 

Dabei wissen wir doch, das Entertainment ...

«... ist die Superideologie des gesamten Fernsehdiskurses. Gleichgültig, was gezeigt wird und aus welchem Blickwinkel — die Grundannahme ist stets, daß es zu unserer Unterhaltung und unserem Vergnügen gezeigt wird»
(Neil Postman)

Darauf deutet das Arrangement jeder Runde hin: der Moderator, der, jovial zurückgelehnt im Sessel mehr liegt als sitzt und über das Leben in der Diktatur parliert, zwischendurch einen aufmunternden Scherz macht, damit das Ganze nicht allzu ernst gerät, dann wieder ein Werbespot, kurze Unterbrechung — und weiter geht's mit «Schuld und Sühne». 

Aber das mediale Pokerface darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß... «zwischen einem Schau-Gespräch und einem Schau-Prozeß nur graduelle Unterschiede in der Vorführung von Denunzierten» bestehen. Denn wer 

«sich bei einer privaten Unterhaltung von Millionen Unbeteiligter begaffen läßt, verletzt die Würde und das Wunder des Zwiegesprächs, der Rede von Angesicht zu Angesicht und sollte mit einem lebenslangen Entzug der Intimsphäre bestraft werden» (Botho Strauss). 

Den Vogel abgeschossen hat insofern zweifellos die Bundestagsabgeordnete Vera W., als sie vor den Augen der konsternierten Öffentlichkeit ihr ganzes Eheelend triefend vor Betroffenheit («Ich stehe noch immer unter Schock...») und stasigeschädigt wie keine andere zelebrierte.

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Hinter der medialen Aufarbeitungs-Inszenierung steckt im übrigen seitens der Produzenten weder Dumm­heit noch mangelnde Sensibilität für das Thema. Wer Fernsehen macht, muß eisern die Form wahren, die das Medium ihm abverlangt. Nachdenklichkeit aber kann man schlecht ins Bild setzen. Gestillt werden will ein grenzenloser Hunger nach Zerstreuung und allabendlicher Unterhaltung.

Bei Gelegenheit der medialen Schauprozesse werden ganz nebenbei, wie man am Beispiel der Stasi-Debatte sehen konnte, längst über Bord gegangene moralische Maßstäbe künstlich wieder in Kraft gesetzt, um noch die trivialste Enthüllung als etwas in Szene setzen zu können, was den Rahmen vorgeblich allgemein akzeptierter Moralgrundsätze sprengt.

Geht es dabei um die schlichte Aufdeckung der üblichen Klüngelwirtschaft der Parteien, mag solches Vorgehen noch erduldbar sein. Unerträglich wird es, wo das «Talken im Turm» mit dem Anspruch schwanger geht, gleich noch einen Beitrag für die «politische Kultur» mitliefern zu wollen. Allein schon die dabei geläufig ausgestreute Parole von der «Glaubwürdigkeit der Politik», die nach vierzig DDR-Jahren wieder hergestellt werden müsse, sollte jeden, der seine fünf Sinne noch beieinander hat, alarmieren. Schließlich ist gerade der östlich der Elbe sich langsam entwickelnde schwarze Humor wichtiger für die «politische Kultur» in Deutschland als jedes Hoffen auf die Glaubwürdigkeit der Berufspolitischen.

Ein solcher Humor kann die Komik der politischen Szenerie gar nicht übersehen, die darin liegt, wenn im Osten Deutschlands Moralisten ernsthaft meinen, sie könnten durch Fernsehauftritte die Glaubwürdigkeit von Politik restaurieren. Wie etwa Konrad Weiss: «Für mich sind Medien mehr als Wirklichkeitsersatz, Informationsquelle, Unterhaltung, Markt, für mich sind sie, ganz im aufklärerischen Sinne, immer auch moralische Anstalt [...] Medien sind Moralische Anstalt.»   wikipe  Konrad_Weiß

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Inzwischen wissen wir, daß ein Fernsehstudio sich zur moralischen Anstalt ebenso wenig eignet wie als Beichtstuhl. Und: es spricht einiges dafür, daß die sogenannte «moralische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit» — jedenfalls in ihrer derzeit immer noch vorherrschenden Form — selber zu einem moralisch höchst fragwürdigen Unternehmen geworden ist. Unübersehbar ist schließlich die durch die öffentliche Debatte der jeweils letzten Fälle immer wieder neu angeheizte Schadenfreude im Publikum:

«Diese, nicht die Lüge, ist das eigentlich teuflische Laster. Denn sie ist das gerade Gegentheil des Mitleids, und ist nichts Anderes, als die ohnmächtige Grausamkeit, welche die Leiden, in denen sie Andere so gern erblickt, selbst herbeizuführen unfähig, dem Zufall dankt, der es statt ihrer that».  (A. Schopenhauer)

Wohlbemerkt! Der Anspruch auf «Aufklärung der DDR-Vergangenheit» ist begründet. In welcher Form aber können wir diesem Anspruch genügen? Gewiß nicht in den Formen des Entertainments. Und ebenso sicher werden wir einem solchen Anspruch auch in dem Maße nicht gerecht werden können, wie wir den jeweiligen einzelnen «Fall» lediglich zur Bestätigung irgendeiner Gesetzmäßigkeit über «das Leben im totalitären Staat» und so weiter heranziehen, um von hier aus in praktischer Umwendung wiederum ein moralisches Urteil über den jeweils Betroffenen zu fällen, der zuvor als persönliches Fallbeispiel herhalten mußte.

Anzustreben ist ein möglichst umfassendes Verständnis für das jeweilige Einzelschicksal in seiner Einmaligkeit und biografisch-historischen Konkretion. Bei diesem Tun mag uns noch so viel generalisierte Erfahrung leiten. Dennoch sollte es nicht um die Beglaubigung und Vergrößerung irgendwelchen Vorwissens gehen. Wie ist es konkret dazu gekommen, daß es so gewesen ist, wie es war? Das ist die Frage.

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Die Promotoren des Aufarbeitungsunternehmens leiden verständlicherweise unter der Angst, erneut betrogen zu werden. Das erklärt die Wutausbrüche und den Eifer mancher journalistisch tätiger Exponenten des Unternehmens. Gleichwohl hat die immer wieder erhobene Forderung, die nackte Wahrheit und nichts sonst müsse endlich zu Markte getragen werden, ihren durchaus problematischen Aspekt. Angesichts einer Vielzahl konventioneller Entlastungs­mechanismen und nützlicher Fiktionen, auf die das private wie das öffentliche Dasein derzeit angewiesen sind, ist es durchaus fraglich, ob soziale Existenz überhaupt im Anblick der «nackten Wahrheit» stattfinden kann. «Ask me no questions, and I'll tell you no lies», heißt es in Anbetracht solcher Erkenntnis im Englischen.

Wollen wir den «gläsernen Menschen» und damit das höchste Ideal des Ministeriums für Staatssicherheit hinter uns lassen, sollten wir auch unsererseits die fundamentalistische Geste meiden, die jeden Absolutheitsanspruch auszeichnet.

Und wir sollten vielleicht genauer als bisher unterscheiden zwischen der politisch-juristischen Auseinander­setzung, bei der es ja wohl geradezu unvermeidlich ist, daß das Thema instrumentalisiert wird, und der «moralischen Aufarbeitung», die nach den bisherigen Erfahrungen sinnvoll nur in der Literatur und Kunst, in Freundeskreisen, durch die Geschichtswissenschaft, in der Familie, in geistigen und religiösen Gemeinschaften geführt werden kann.

Zudem dürfen wir nicht vergessen, daß wir die Wahrheit nach Nietzsche nur noch als «unkräftigste Form der Erkenntnis» begreifen können. Wir sollten also — mit anderen Worten — die Lehre beherzigen, die William von Baskerville in <Der Name der Rose> Adson erteilt, wenn er sagt:

«Fürchte die Wahrheitspropheten, Adson, und fürchte vor allem jene, die bereit sind, für die Wahrheit zu sterben: Gewöhnlich lassen sie viele andere mit sich sterben, oft bereits vor sich, manchmal für sich ... Vielleicht gibt es am Ende nur eins zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen zu bringen, denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien.»

William, der gescheiterte Verbrechensaufklärer, kommt bei Umberto Eco also zu der postmodernen Einsicht, daß man das neurotisierte Ich nicht durch abstrakte Wahrheits­fest­stellungen auflösen, sondern nur im Lachen von seinen Dämonen befreien kann. (Könnte uns diese Einsicht vielleicht weiterhelfen?)

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