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5. Brief  

 

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Wir haben nunmehr das Dogma vom künftigen Leben zu prüfen, in welchem, wie man annimmt, die Gottheit den Menschen Belohnungen geben oder die verdienten Strafen auferlegen wird, nachdem sie jene durch die Versuchungen, die Prüfungen und die Widerwärtigkeiten des irdischen Lebens geführt hat, um sich zu vergewissern, ob sie ihrer Liebe oder ihres Hasses würdig sind. 

Dieses Dogma, das einer der Hauptpunkte der christlichen Religion ist, gründet sich auf eine große Anzahl von Prinzipien und Annahmen, deren Widersinnigkeit und Unvereinbarkeit mit den Begriffen, die uns die gleiche Religion von der Gottheit gibt, wir bereits gezeigt haben. Es setzt in der Tat voraus, daß der Mensch den Herrscher der Natur beleidigen oder erfreuen, auf seine Stimmung Einfluß nehmen, seine Leidenschaften reizen, ihn betrüben, ihn quälen, ihm Widerstand leisten und sich seiner Macht entziehen kann. Es setzt die Freiheit des Menschen voraus, ein System, das wir soeben als unvereinbar mit der göttlichen Güte, Gerechtigkeit und Allmacht erkannt haben. Es setzt voraus, daß Gott seine Geschöpfe auf die Probe stellen und sie sozusagen einem Noviziat* unterwerfen muß, um zu wissen, wie er sie einzuschätzen hat. 

Es setzt voraus, daß Gott, der den Menschen nur geschaffen hat, um ihn glücklich zu machen, unfähig ist, diesem Menschen sogleich den Weg zu zeigen, der ihn unfehlbar zu einer dauernden Glückseligkeit führen würde. Es setzt voraus, daß der Mensch sich selbst überlebt oder daß er auch nach seinem Tode noch so denken, empfinden und handeln wird, wie er es zu Lebzeiten getan hat. Mit einem Wort, es setzt die Unsterblichkeit der Seele voraus: eine Anschauung, die dem Gesetzgeber der Juden unbekannt war, der hierüber niemals zu dem Volk, dem Gott sich offenbart hatte, gesprochen hat; eine Anschauung, die zur Zeit Jesu Christi in Jerusalem von einigen anerkannt und von anderen verworfen wurde, ohne daß der Messias, der doch gekommen 

* Probezeit vor der Aufnahme in einen geistlichen Orden.


war, um Aufklärung zu schaffen, sich herabließ, den Ideen derer, die sich darüber im unklaren waren, einen bestimmten Inhalt zu geben; eine Anschauung, die in Ägypten oder in Indien entstanden zu sein scheint, also vor der jüdischen Religion, die aber den Hebräern erst bekannt wurde, als sie Gelegenheit hatten, sich über die heidnische Philosophie der Griechen und über die Lehre Piatons zu unterrichten.

Welches auch der Ursprung dieses Dogmas sein mag, es wurde von den Christen begierig aufgenommen. Sie betrachteten es als sehr geeignet für ihr Religionssystem, dessen gesamte Teile sich auf das Wunderbare gründen, und sie hielten es für ein Verbrechen, sich auch nur die geringste vernunftgemäße Meinung zu eigen zu machen. So wollen wir, ohne uns um die Erfinder dieses unbegreiflichen Dogmas zu kümmern, diese Anschauung als solche unvoreingenommen prüfen; wir wollen die Festigkeit der Grundsätze betrachten, auf die sie sich stützt; wir wollen sie uns zu eigen machen, wenn wir sie als wohlbegründet erkennen, und wir wollen sie verwerfen, wenn sie sich nicht beweisen läßt und der Vernunft zuwiderläuft, selbst wenn sie vom gesamten Altertum als feststehende Wahrheit angesehen worden ist, und selbst wenn diese Ideen von den meisten Menschen geteilt werden.

Diejenigen, die behaupten, die Seele sei unsterblich, halten diese Seele für ein Wesen, das sich von seinem Körper, also von einer Substanz, unterscheidet, die vollkommen verschieden ist von der Substanz der Seele, die sie als Geist bezeichnen. Fragt man, was ein Geist sei, so sagt man uns, es sei das, was nicht Materie ist, und fragt man, was man unter einer Sache verstehen soll, die nicht Materie ist, von der allein wir uns eine Idee bilden können, so wird man uns sagen, sie sei ein Geist. Im allgemeinen ist leicht zu erkennen, daß sowohl die wildesten Menschen wie auch die scharfsinnigsten Denker sich des Wortes Geist bedienen, um alle die Ursachen zu bezeichnen, von denen sie sich keine sehr klaren Begriffe machen können: so bezeichnet das Wort Geist immer nur eine Sache, von der man keine Idee hat.

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Indessen hat man behauptet, dieses unbekannte Wesen, das sich völlig vom Körper unterscheidet und eine Substanz ist, die mit der des Körpers nichts gemeinsam hat, sei fähig, diesen in Bewegung zu setzen, was zweifellos schon ein sehr unbegreifliches Mysterium ist. Man hat gesehen, daß diese geistige Substanz mit dem materiellen Körper eine Einheit bildete und alle seine Funktionen bestimmte. Da man angenommen hatte, die Materie könne weder denken noch wollen, noch fühlen, glaubte man diese Vorgänge viel besser zu begreifen, wenn man sie einem Wesen zuschrieb, von welchem man sehr viel unklarere Ideen hatte als von der Materie. Infolgedessen hat man sich eine Menge willkürlicher Hypothesen ausgedacht, um die Einheit von Seele und Körper zu erklären. Da es schließlich unmöglich war, einen Ausweg aus dem Irrgarten zu finden, in den man geraten war, als man den Menschen zu einem Doppelwesen machte und annahm, in ihm selbst befände sich ein von ihm verschiedenes Wesen, ist man allen diesen Schwierigkeiten aus dem Wege gegangen, indem man sagte, diese Vereinigung sei ein großes Mysterium; das heißt aber einfach: Hiervon verstehen wir nichts. Und man hat Zuflucht genommen zur Allmacht Gottes, zu seinem höchsten Willen und zu Wundern, die immer die letzte Rettung der Theologen sind, wenn sie sich nicht mehr aus der Affäre zu ziehen wissen.

Darauf also reduziert sich das ganze Geschwätz der tiefsinnigen Träumer, die seit so vielen Jahrhunderten von einer Seele, von einer immateriellen Substanz reden, von der sie keine Idee haben, und von einem Geist, das heißt von einem Wesen, das von allem, was wir zu erkennen vermögen, völlig verschieden ist. Der ganze theologische Wortschwall sagt in schwülstigen Worten, die nur Unwissende beeindrucken können, weiter nichts, als daß man nicht weiß, was die Seele ist; als daß man jede Ursache, deren Natur und Wirkungsart unbekannt sind und deren Mechanismus oder Spiel man nicht begreift, als Geist bezeichnet; als daß ihre Wirkungsart und Daseinsweise die Wirkung der Macht eines Gottes sind, dessen Wesen sich noch mehr von dem

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unsrigen unterscheidet und für uns noch verborgener ist als die menschliche Seele. Diese Wörter sagen Ihnen überhaupt nichts, und Sie wissen ohne diese nicht weniger als alle Theologen der Welt.

Wenn Sie sich klarere Ideen über sich selbst machen wollen, so müssen Sie also die Vorurteile einer nichtigen Theologie beiseite lassen. Diese wiederholt immer nur die Wörter, mit denen sie keine klaren Ideen verknüpft; durch die Unterscheidung von Seele und Körper scheint sie nur zu beabsichtigen, die Dinge grundlos zu verwirren und die unbestimmten Begriffe, die wir von uns selbst haben, nur noch unbegreiflicher und dunkler zu machen. Diese Begriffe werden, wenn wir die Natur, die Erfahrung und die Vernunft zu Rate ziehen, zumindest viel einfacher und genauer; sie werden uns beweisen, daß der Mensch nur mit den materiellen Organen seines Körpers empfindet, daß er nur mit seinen Augen sieht, daß er nur mit seiner Haut fühlt, daß er nur mit seinen Ohren hört usw. und daß der Mensch, wenn keins seiner Organe gegenwärtig in Bewegung gesetzt wird oder früher in Bewegung gesetzt worden ist, weder Ideen noch Gedanken, noch Gedächtnis, noch Überlegung, noch Urteil, noch Begierden, noch Willen haben kann. Die Erfahrung wird uns zeigen, daß allein körperliche und materielle Wesen imstande sind, auf körperliche Organe zu wirken, und daß das, was man Seele nennt, ohne diese Organe weder zu denken noch zu empfinden, noch zu wollen, noch zu handeln, vermöchte.

Alles beweist uns, daß die Seele fortwährend den gleichen Veränderungen unterliegt wie der Körper; mit ihm entwickelt und kräftigt sie sich, mit ihm wird sie alt und schwach; schließlich deutet alles darauf hin, daß sie mit ihm untergehen muß, es sei denn, man wollte behaupten, der Mensch könne empfinden, auch wenn er keine Organe hat, die ihm die Empfindung vermitteln; er könne sehen und hören, ohne Augen oder Ohren zu haben; er könne Ideen haben, ohne Sinne zu besitzen, um den Eindruck physischer Dinge aufzunehmen und sie in seinem Verstand wahrzunehmen; er könne schließlich genießen oder leiden, wenn er weder Nerven noch Empfindungsvermögen kennt.

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So wirkt alles zusammen, um zu beweisen, daß unsere Seele und unser Körper das gleiche sind; der Körper, betrachtet im Hinblick auf einige seiner Funktionen, die in Wahrheit schwerer erkennbar sind als andere, heißt Seele. Alles überzeugt uns übereinstimmend davon, daß die Seele ohne den Körper nichts mehr ist und daß es alle die Tätigkeiten, die man dieser Seele zuschreibt, nicht mehr geben kann, sobald der Körper zerstört ist. Unser Körper ist eine Maschine, die während ihres Bestehens fähig ist, Wirkungen hervorzurufen, denen man verschiedene Namen gibt, um sie voneinander zu unterscheiden; das Gefühl ist eine dieser Wirkungen, das Denken ist eine andere und die Überlegung wiederum eine andere, usw. Diese letzteren vollziehen sich in uns selber, und unser Gehirn scheint der Sitz oder das Organ zu sein, das jener Vorgänge fähig ist. Ist diese Maschine einmal zerstört, so ist sie nicht mehr imstande, die gleichen Wirkungen hervorzubringen oder die gleichen Funktionen auszuüben. Unser Körper gleicht einer Uhr, die die Stunden nicht mehr anzeigt und die nicht mehr läutet, wenn man sie zerbrochen hat.

So seien Sie, schöne Eugenie, nicht mehr so trübsinnig und besorgt um Ihr Schicksal, das Sie erwartet, wenn Sie nicht mehr existieren. Nach dem Tod des Körpers wird auch die Seele nicht mehr sein; jenes verzehrende Feuer, mit dem man ihr droht, vermag nichts über sie; sie wird weder für Freud noch für Leid, weder für heitere noch für düstere Ideen, weder für freudvolle noch für traurige Überlegungen empfänglich sein. Nur mit dem Körper fühlen wir, denken wir, sind wir fröhlich oder traurig, glücklich oder unglücklich; wenn sich dieser Körper einmal aufgelöst hat, so wird er weder Wahrnehmungen noch Empfindungen und infolgedessen weder Gedächtnis noch Ideen haben; seine verstreuten Teile werden nicht mehr die gleichen Eigenschaften haben wie einst bei ihrer Vereinigung, sie werden nicht mehr zusammen wirken können, um die gleichen Wirkungen hervorzurufen. Kurz, ist der Körper zerstört, so wird die Seele, die nur das Ergebnis der Gesamtheit dieses Körpers ist, nichts mehr sein.

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Unsere Gottesgelehrten haben sehr wohl bemerkt, daß die Seele, die sie so willkürlich vom Körper unterschieden hatten, nichts ohne ihn vermochte. So haben sie ein lächerliches Dogma übernehmen müssen, das von den persischen Magiern erfunden worden und unter dem Namen Auferstehung bekannt war. Dieses System setzt voraus, daß sich die verstreuten Teile eines Körpers eines Tages wieder sammeln, um ihn in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Bei dieser sonderbaren Erscheinung müßten die Bestandteile unserer zerstörten Körper, von denen einige zu Erde werden, andere in Pflanzen, andere wieder in menschliche oder andere Lebewesen eingehen — müßten sich, sage ich, diese Bestandteile, die sich zum Teil mit dem Wasser mischen oder in der Luft schweben und die oft nacheinander mehreren verschiedenen Menschen angehörten, wiedervereinigen, um das Individuum hervorzubringen, das sie einst gebildet hatten. Wenn Sie die Möglichkeit dessen nicht begreifen, so werden die Theologen es Ihnen dadurch erklären, daß sie Ihnen sagen, es sei ein großes Mysterium, das unbegreiflich sei; sie werden Ihnen weismachen, die Auferstehung sei ein Wunder, eine übernatürliche Wirkung der göttlichen Macht. Auf diese Weise gehen sie allen Schwierigkeiten aus dem Wege, die der gesunde Verstand ihnen entgegenhält.

Wenn Sie sich jedoch mit diesen erhabenen Gründen, denen sich der gesunde Verstand widersetzt, nicht zufriedengeben wollen, so wird man versuchen, Ihre Einbildungskraft durch die unbestimmten Gemälde der unsagbaren Freuden zu verführen, deren im Paradies die Körper und die Seelen der Menschen teilhaftig werden, die sich die Träumereien der Theologen zu eigen gemacht haben; diese werden Ihnen sagen, man dürfe sich nicht weigern, ihnen aufs Wort zu glauben, wenn man sich nicht dem ewigen und gerechten Unwillen des barmherzigen Gottes aussetzen will; sie setzen die Einbildungskraft durch die furchtbaren Bilder der grausamen Foltern in Schrecken, die der Gott der Güte dem größten Teil seiner Geschöpfe bereitet.

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Aber wenn Sie die Dinge unvoreingenommen betrachten, so werden Sie die Nichtigkeit der schmeichlerischen Versprechen und der Drohungen der Gottesgelehrten erkennen, die nur die Schwachen abzuschrecken vermögen. Sie werden einsehen, daß, wenn es wahr ist, daß der Mensch sich selbst überleben kann, Gott mit seinen Belohnungen nur sich selbst für die Gnaden belohnen würde, die er ihm gewährte, und daß er ihn nur deshalb bestrafen würde, weil er nicht die Gnaden empfangen hat, die Gott ihm grausam verweigerte: ein kindisches und barbarisches Verhalten, das sowohl eines weisen wie auch eines guten Gottes gleichermaßen unwürdig zu sein scheint.

Wenn Ihr Geist gegen die Schrecken, die die christliche Religion ihren Anhängern einflößt, gefestigt und imstande ist, über die abscheulichen Umstände nachzudenken, von denen die ausgesuchten Strafen begleitet sind, die Gott den Opfern seiner Rache bestimmt, so werden Sie feststellen, daß sie unmöglich sind und sich in keiner Weise mit all den Ideen, die man Ihnen von der Gottheit gibt, vereinbaren lassen. Mit einem Wort, Sie werden erkennen, daß die Züchtigungen in einem künftigen Leben nur Hirngespinste sind, erfunden, um die menschliche Vernunft zu verwirren, um sie dem Betrug auszuliefern und um den Sklaven, die die Geistlichkeit sich schaffen und unterwerfen will, für immer die Ruhe zu rauben.

In der Tat lehrt man uns, daß jene Foltern schrecklich sein werden. Das verträgt sich jedoch kaum mit den Ideen eines guten Gottes. Man sagt uns, jene Foltern werden ewig sein. Das aber läßt sich nicht mit den Ideen eines gerechten Gottes vereinbaren, der die Strafen nach den Vergehen bemessen müßte und der infolgedessen vorübergehende Vergehen, deren Wirkungen zeitlich begrenzt sind, nicht endlos bestrafen darf. Man wird uns antworten, daß die Beleidigungen Gottes unendlich seien und daß sich die Gottheit

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demzufolge, ohne die Gerechtigkeit zu verletzen, als Gott rächen, das heißt unendlich rächen könne. In diesem Fall werde ich sagen: Gott ist nicht gut; er ist rachsüchtig, ein Zeichen ständiger Furcht und Schwäche. Schließlich werde ich sagen, daß es unter den unvollkommenen Wesen, aus denen sich das Menschengeschlecht zusammensetzt, vielleicht nicht ein einziges gibt, welches zulassen würde, daß jemand, der es beleidigt hätte, ihm aber nicht mehr schaden könnte, bestraft würde; es sei denn, jenes Wesen verspräche sich irgendwelchen Nutzen davon, es empfände Angst, kurz, es wäre töricht. Caligula hatte wenigstens ein vorübergehendes Vergnügen an dem Schauspiel der Folterungen, denen er die Unglücklichen, die er vernichten wollte, unterwarf. Aber welchen Nutzen hat Gott von den Strafen, die er den Verdammten zuerkennt? Bereitet es ihm vielleicht Vergnügen? Können sie durch die grausamen Züchtigungen gebessert werden? Sind die Beispiele der göttlichen Strenge für die Lebenden, die nicht Zeugen dieser Strenge sein können, von Nutzen? Läßt er die sehr erstaunlichen Wunder geschehen, um zu bewirken, daß die Körper der Verdammten für ewig den schrecklichen Qualen, die er ihnen bestimmt, widerstehen?

Sie sehen also, daß die Ideen, die man uns von der Hölle gibt, Gott zu einem Wesen machen, das unendlich viel unvernünftiger, bösartiger und grausamer ist als die barbarischsten Menschen. Man füge dem noch hinzu, daß er die Dienste des Teufels und seiner Helfershelfer, das heißt der Feinde der Gottheit, für seine unversöhnliche Rache in Anspruch nimmt. Sie werden die Urteile vollziehen, die jener strenge Richter beim Jüngsten Gericht über die Menschen verhängt. Denn Sie wissen, daß ein Gott, der alles weiß, dennoch von seinen Geschöpfen über ihre Handlungen, die er schon kennt, Rechenschaft fordert; nicht zufrieden damit, über jeden Menschen nach dessen Tod geurteilt zu haben, wird er die gesamte Menschheit mit großem Aufwand einem allgemeinen Richterspruch unterwerfen, in dem er seinen eigenen Entschluß vor dem gesamten Menschengeschlecht bekräftigt, welches versammelt ist, um sein Urteil entgegenzunehmen. Auf den Trümmern der Welt wird er ein endgültiges, unwiderrufliches Urteil sprechen.

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Aber was tun die von ihren noch nicht wiedererweckten Körpern getrennten Seelen, bevor dieser merkwürdige Urteilsspruch erfolgt? Die Seelen der Guten werden unmittelbar die Freuden des Paradieses kosten; was aber die durch Vergehen oder Verbrechen geschändeten Seelen betrifft, so sind sich die unfehlbaren Theologen, die so gut darüber unterrichtet sind, wie es in der anderen Welt aussieht, nicht über das Schicksal einig, das jene erwartet. Nach Ansicht unserer Theologen wird Gott die Seelen, die nicht völlig sein Mißfallen erregt haben, an einen Ort schicken, an dem sie gestraft werden und schließlich durch schreckliche Qualen die Flecke tilgen können, mit denen sie im Augenblick ihres Todes noch behaftet waren. Diesem ausgezeichneten" und für unsere Priester so vorteilhaften System zufolge hält es Gott für besser, einen brennenden Ofen einzig zu dem Zweck zu errichten, einige nicht hinreichend geläuterte Seelen zu quälen, als diese noch einige Jahre mit ihren Körpern vereinigt zu lassen und ihnen die notwendige Zeit zu geben, damit sie ihre Schuld erkennen und sich dann den Genuß der höchsten Glückseligkeit verdienen können. Auf derart lächerliche Begriffe gründet sich die Lehre vom Fegefeuer, an das jeder gute römische Katholik zum Wohl seiner Priester glauben muß. Diese haben sich aus gutem Grund das Recht vorbehalten, durch ihre Bitten einen gerechten und unwandelbaren Gott zu zwingen, die gefangenen Seelen wieder freizulassen, die er zum Fegefeuer allein darum verurteilt hatte, weil er diese Reinigung für notwendig hielt.

Dagegen glauben die Protestanten, die, wie jeder weiß, Ketzer und Gottlose sind, weil sie sich den einträglichen Ansichten unserer römischen Gottesgelehrten nicht anschließen, daß jedem Menschen im Augenblick seines Todes sein unwiderrufliches Urteil gesprochen wird; daß er unmittelbar darauf in die Herrlichkeit eingeht oder daß er sofort den ewigen Strafen zugeführt wird, die die Gottheit für ihn bestimmt.

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Schon vor der Vereinigung mit ihrem Körper kann die Seele, welche ein Geist ohne Organe und Sinne ist, die Wirkung des Feuers erfahren. Tatsächlich sagen uns einige Theologen, das Feuer der Hölle sei ein geistiges Feuer und infolgedessen sehr verschieden von einem materiellen Feuer; wir dürfen nicht daran zweifeln, daß diese tiefsinnigen Gottesgelehrten sehr wohl wissen, was sie sagen, und sehr klare Ideen von einem geistigen Feuer sowie von den unaussprechlichen Freuden des Paradieses haben, die ebenso geistig sein müssen wie die Qualen der Hölle.

Das sind in wenigen Worten die ebenso empörenden wie lächerlichen Widersinnigkeiten, die die Lehre vom künftigen Leben und von der Unsterblichkeit der Seele im Geist der Menschen erzeugt hat. Das sind die Phantome, deren man sich bedient, um die Sterblichen irrezuführen und zu beunruhigen,' um ihre Hoffnungen und ihre Ängste zu wecken: Triebkräfte, die auf schwache und empfindsame Wesen so mächtig wirken. Aber da die düsteren Ideen viel mehr Macht über die Einbildungskraft besitzen als die heiteren Ideen, haben die Priester stets das stärker in den Vordergrund gerückt, was die Menschen von einem schrecklichen Gott zu befürchten hätten, als das, was sie von der Barmherzigkeit eines gütigen Gottes erwarten dürften. Die Fürsten, die sehr bösartig sind, halten ihre Untertanen besser im Zaum als die, deren Nachsicht und Menschlichkeit bekannt sind. Die Priester waren so geschickt, uns durch den Doppelcharakter, den sie der Gottheit gaben, unsicher und mißtrauisch zu machen. Wenn sie uns die Seligkeit versprechen, so sagen sie uns, daß wir sie nur durch Furcht und Zittern erlangen könnten. So verwirren und erschrecken sie schließlich die rechtschaffensten Seelen, weil sie unaufhörlich wiederholen, daß man niemals weiß, ob man Liebe oder Haß verdient hat. Der Schrecken war und wird immer das sicherste Mittel sein, um die Menschen irrezuführen und zu unterwerfen.

Die Theologen werden uns zweifellos sagen, die Schrecken, die die Religion einflöße, seien heilsame Schrecken, die

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Lehre vom künftigen Leben sei ein sehr mächtiger Zügel, um Verbrechen zu verhindern und die Menschen zu ihren Pflichten zurückzurufen. Will man sich aber über diesen Grundsatz, der so häufig wiederholt und den Priestern so allgemein aufs Wort geglaubt wird, Aufklärung verschaffen, so braucht man nur die Augen offenzuhalten. Überall sehen wir, daß die Christen von der Existenz eines künftigen Lebens sehr überzeugt sind und sich dennoch so verhalten, als hätten sie von einem rächenden Gott nichts zu befürchten und von einem belohnenden Gott nichts zu erhoffen. Immer, wenn es sich um etwas von großem Interesse handelt, wenn man von einer starken Leidenschaft oder von einer Gewohnheit mitgerissen wird, sieht man nicht mehr das künftige Leben und den erzürnten Richter und wird zum Verbrecher; hat man ein Verbrechen begangen, so beruhigt man sich selbst, indem man sich sagt, Gott ist gut. Überdies tröstet uns die Religion durch ihre Widersprüche; sie zeigt uns den gleichen Gott, dessen Zorn so leicht zu erregen ist, auch als barmherzigen Gott, der alle die begnadigt, die ihre Fehler erkennen. Mit einem Wort, ich sehe niemanden, der durch die Furcht vor der Hölle im Zaum gehalten wird. Jene Priester, die sich so sehr darum bemühen, uns diese Furcht einzuflößen, zeigen uns oft schlimmere Neigungen, als sie diejenigen haben, die niemals etwas vom künftigen Leben hören. Diejenigen, die sich seit ihrer Jugend von den Priestern belehren ließen, sind deshalb weder weniger verderbt noch weniger rachsüchtig, noch weniger stolz, noch weniger zornig, noch weniger ungerecht oder geizig. Schließlich hat die Lehre von einem künftigen Leben überhaupt keinen Einfluß auf dieses Leben; sie tötet keine unserer Leidenschaften, sie zügelt nur einige furchtsame Seelen, die auch ohne diese Lehre nicht so verwegen wären, sich großen Ausschweifungen hinzugeben. Diese Lehre ist nur geeignet, die Ruhe einiger rechtschaffener, eingeschüchterter, gutartiger und leichtgläubiger Menschen zu stören, deren Einbildungskraft sie erhitzt, ohne doch jemals die Hand der größten Verbrecher zurückzuhalten oder diejenigen zu beeindrucken, die durch den Anstand und die Gesetze nicht im Zaum gehalten werden können.

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Um es schließlich rundheraus zu sagen, ich sehe, daß eine grausige und fürchterliche Religion einen sehr lebhaften, sehr tiefen und sehr gefährlichen Eindruck auf eine Seele wie die Ihrige macht, in solchen Seelen aber, die durch Verbrechen verhärtet sind oder bei denen die Gedankenlosigkeit ständig die Wirkung ihrer Drohungen aufhebt, nur einen sehr vorübergehenden Eindruck hinterläßt. Da Sie in Ihren Grundsätzen konsequenter sind als andere, haben Sie sich öfter und ernsthafter, als für Ihr Glück gut ist, mit den traurigen und düsteren Gegenständen beschäftigt, die Ihre empfindsame Einbildungskraft in Aufruhr versetzt haben, während die Phantome, von denen Sie verfolgt werden, aus dem Geist derer, die weder Tugenden noch Einsichten, noch Ihr Empfindungsvermögen besitzen, alsbald wieder verschwinden.

Ein in seinen Grundsätzen konsequenter Christ müßte unaufhörlich in Ängsten leben; er kann niemals genau wissen, ob er seinem Gott gefällt oder mißfällt; der geringste Anflug von Stolz oder Begehrlichkeit, der geringste Wunsch kann den göttlichen Zorn erregen und auf einen Schlag die Frucht der Frömmigkeit zerstören. Wir dürfen uns nicht wundern, daß man sich auf Grund dieser schrecklichen Grundsätze zu isolieren sucht, um sich trübsinnig seinen Leiden zu widmen, um solchen Gelegenheiten aus dem Wege zu gehen, die zur Sünde verleiten, und um die Mittel zu ergreifen, die geeignet sein sollen, die Vergehen, für die sich Gott in alle Ewigkeit rächen wird, wiedergutzumachen.

So lassen die düsteren Ideen von einem künftigen Leben nur diejenigen in Ruhe leben, die nicht ernsthaft darüber nachdenken; für alle diejenigen, die sich ihrem Temperament zufolge damit beschäftigen müssen, sind sie sehr niederdrückend. Es sind die abscheulichen Ideen, die uns die Priester von der Gottheit geben wollen und die so viele rechtschaffene Menschen zwingen, sich der Ungläubigkeit in die Arme zu werfen. 

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Wenn einige zum Nachdenken unfähige Wüstlinge einem ihre Leidenschaften und ihre Vergnügungen störenden Glauben abschwören, so gibt es doch ebenso viele Menschen, die sich nach reiflicher Überlegung und in Erkenntnis der Ursache von diesem Glauben lossagen und die weder in Unruhe leben noch in Verzweiflung sterben wollen. Sie schwören einem Glauben, der nur geeignet ist, den Geist zu beunruhigen, also deshalb ab, um die Ruhe im Schöße der Vernunft zu finden, die ihnen Sicherheit bietet.

Die Zeit der Unwissenheit ist immer die Zeit großer Verbrecher. Zu dieser Zeit herrscht gewöhnlich auch die Religion vor; die Menschen folgen dann mechanisch und ohne Überprüfung den Vorschriften, die ihre Priester ihnen geben, und befassen sich niemals gründlich mit deren Lehren. In dem Maße, in dem sich die Völker Aufklärung verschaffen, werden die großen Verbrechen seltener, werden die Sitten verfeinert, die Wissenschaften gepflegt, und die Religion, die näher untersucht wird, verliert ihr Ansehen. Dann wird man eine große Anzahl von Ungläubigen im Schöße von Gesellschaften sehen, die heute friedfertiger geworden sind, als sie es einst sein konnten, da es von der Laune der Priester abhing, sie in Unruhe zu versetzen und die Völker durch die Hoffnung, sich den Himmel verdienen zu können, zu schlechten Taten zu veranlassen.

Die Religion kann nur denen Trost schenken, die nicht ihre Gesamtheit zu erfassen vermögen; die unbestimmten Belohnungen, die sie verspricht, ohne irgendwelche Ideen davon zu vermitteln, können nur diejenigen reizen, die nicht an den beunruhigenden, falschen und grausamen Charakter denken, den diese Religion ihrem Gott verleiht. Wie kann man denn auf die Versprechungen eines Gottes vertrauen, den man als einen Versucher, als einen Verführer darstellt und der seinen schwachen Geschöpfen ständig gefährliche Fallen stellt? Wie kann man sich auf die Gunst eines launenhaften Gottes verlassen, obwohl man doch niemals weiß, ob man sein Wohlwollen oder seinen Haß erregt hat? 

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Mit welchem Recht kann man von einem despotischen und eigenmächtigen Gott Belohnungen erwarten, der den Menschen nichts schuldig ist und der nur seiner Laune folgt, wenn er seine Geschöpfe von vornherein zum Glück oder zum Verderben bestimmt? Zweifellos kann nur ein sehr verblendeter Enthusiast einem solchen Gott Vertrauen schenken; nur Torheit kann befehlen, daß man ihn lieben soll; nur Narrheit kann auf seine unbekannten Belohnungen hoffen lassen, die man uns zur gleichen Zeit verspricht, in der man uns versichert, daß er Herr seiner Gnaden ist und daß wir nicht berechtigt sind, irgend etwas von ihm zu fordern.

Mit einem Wort, die Begriffe des künftigen Lebens sind weit davon entfernt, Trost zu spenden. Sie sind nur geeignet, alle Annehmlichkeiten des gegenwärtigen Lebens zu vergiften. Auf Grund unheilvoller Ideen, die uns das stets mit sich selbst in Widerspruch stehende Christentum von seinem Gott vermittelt, kann man weit eher damit rechnen, schreckliche Züchtigungen von ihm zu erhalten als unaussprechliche Belohnungen zu verdienen. Er gewährt seine Gnaden nur dem, dem er sie geben will. Statt dessen sollte es von uns selbst abhängen, ob wir verdammt werden. Doch nicht einmal das reinste Leben gibt uns das Recht, darauf zu vertrauen, daß wir seiner Liebe würdig sind. Aufrichtig gesprochen: Ist die völlige Vernichtung unseres Wesens nicht der Gefahr vorzuziehen, in die Hände eines so furchtbaren Gottes zu geraten? Muß nicht jeder vernünftige Mensch die Idee, gänzlich zu sterben, der Idee eines ewigen Lebens vorziehen, in welchem er für immer der Spielball einer Gottheit wäre, die so grausam ist, daß sie die Wesen, die sie deshalb mit Schwächen erschaffen hat, um sie für diese notwendigen Schwächen zu strafen, endlos verdammt und quält? Wenn Gott, wie man behauptet, trotz der Grausamkeit, deren man ihn für fähig hält, dennoch gut ist: hätte er nicht besser gehandelt, wenn er die Wesen, die der ewigen Verdammnis anheimfallen konnten, gar nicht erst zum Leben erweckt hätte? Hat er es mit den Tieren nicht besser gemeint als mit den Menschen, da er jene wenigstens von der Sünde ausschließt und da sie somit nicht Gefahr laufen, auf ewig unglücklich zu werden?

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Die christliche Lehre von der Unsterblichkeit der Seele oder vom künftigen Leben schenkt also keinen Trost; sie ist im Gegenteil dazu angetan, das Herz eines in seinen Grundsätzen konsequenten Christen mit Bitterkeit und ständiger Angst zu erfüllen. Ich denke dabei an Sie selbst: Haben Sie durch jene erhabenen Begriffe bisher irgendwelchen Trost gefunden? Haben Sie sich, wenn Ihrem Geist die Idee einer ungewissen Zukunft kam, jemals eines inneren Schauders erwehren können? War das Bewußtsein, ein sehr tugendhaftes und sehr reines Leben geführt zu haben, imstande, Sie gegen die Ängste zu schützen, die Ihnen ein eifersüchtiger, strenger und eigenwilliger Gott notwendig einflößte, dessen ewige Ungnade Sie sich durch das kleinste Vergehen zuziehen konnten und der auf Grund einer sehr leichten und gar nicht beabsichtigten Schwachheit die Jahre des innigen Eifers zu vergessen vermochte?

Ich weiß sehr wohl, was man Ihnen sagen wird, um Sie in Ihren Vorurteilen zu belassen. Die Diener der Religion besitzen das Geheimnis, die Furcht zu beschwichtigen, die sie selbst so gern erregen; sie suchen den Seelen, die ihnen zu sehr von Angst erfüllt sind, Vertrauen einzuflößen; sie spielen auf diese Weise eine Leidenschaft gegen eine andere aus. Aus der Besorgnis, zuviel Vertrauen mache ihre Sklaven nicht unterwürfig genug und die Verzweiflung zwinge sie, ihr Joch abzuschütteln, erhalten sie deren Geist in Ungewißheit. Solchen Menschen, die allzu schreckerfüllt sind, halten sie nur Hoffnungen und die Güte Gottes vor Augen; solchen, die allzuviel Vertrauen haben, erzählen sie von der Schreckensherrschaft und den Urteilen eines strengen Gottes. Mit Hilfe dieser Politik gelingt es ihnen, alle diejenigen, die jenen widerspruchsvollen Vorträgen ihr Ohr leihen, unters Joch zu zwingen oder sie darin verharren zu lassen.

Sie werden Ihnen außerdem sagen, die Unsterblichkeit sei ein dem Menschen innewohnendes Gefühl; das unermeß-

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liche Verlangen, von dem die Seele des Menschen verzehrt wird und das auf Erden durch nichts befriedigt zu werden vermag, sei ein unbezweifelbarer Beweis dafür, daß diese Seele zu ewiger Dauer bestimmt sei; mit einem Wort, sie behaupten, wir müßten aus dem Verlangen, ewig existieren zu wollen, die Schlußfolgerung ziehen, daß wir immer existieren. Was sollen wir mit derartigen Vernünfteleien! Wir wünschen die Fortdauer unserer Existenz, wenn diese Existenz glücklich ist oder wenn wir voraussehen, daß sie es werden wird. Aber wir können kein Verlangen haben nach einer armseligen Existenz, in der wir aller Wahrscheinlichkeit nach eher unglücklich als glücklich sein werden. Wenn die Zahl der Erwählten, wie die christliche Religion immer wieder sagt, sehr gering, die Glückseligkeit sehr selten, die Zahl der Verurteilten sehr groß und die Verdammung sehr häufig ist: wer könnte ein Verlangen haben, immer in der so evidenten Gefahr zu leben, auf ewig verdammt zu werden? Wäre es nicht vorteilhafter, überhaupt nicht geboren zu werden, als wider Willen eine derart gefährliche Rolle spielen zu müssen? Ist nicht sogar das Nichts eine Idee, die der Idee einer Existenz vorzuziehen ist, die uns sehr leicht zu ewigem Leid führen kann? Ich möchte Sie selbst fragen: Wenn man Ihnen, bevor Sie auf die Welt kamen, die Wahl gelassen hätte, geboren zu werden oder nicht geboren zu werden, und wenn man Ihnen zu verstehen gegeben hätte, daß Sie, einmal geboren, tausend gegen eins Gefahr laufen würden, ewig unglücklich zu werden: hätten Sie sich dann für das Leben entschieden?

Die Schwäche der Beweise, mit denen man das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele und des künftigen Lebens begründen will, ist also leicht zu erkennen. Das Verlangen, das wir nach dem künftigen Leben haben, kann sich selbst nur auf die Hoffnung gründen, in diesem ein dauerhaftes Glück zu genießen. Aber gibt uns die Religion diese Gewißheit? Ja, wird man sagen, wenn man sich getreulich ihren Geboten unterwirft. Aber braucht man, um sich diesen Geboten zu fügen, nicht die Gnaden des Himmels? 

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Hat man aber die Gewißheit, sie zu erhalten oder sie zu verdienen? Wiederholt man uns nicht unaufhörlich, daß Gott frei über seine Gnaden verfüge und daß er sie nur einer kleinen Anzahl von Auserwählten gewähre? Sagt man uns nicht täglich, daß auf einen Menschen, der sich des ewigen Glücks würdig erweist, Milliarden kommen, die den Weg der Verdammnis gehen? Unter diesen Voraussetzungen wäre jeder vernünftig denkende Christ töricht, wenn er sich nach einer künftigen Existenz sehnen würde, die zu fürchten er so viele Beweggründe hat, oder wenn er auf ein Glück bauen würde, das ihm allerseits als unsicher, als schwer erreichbar, als einzig von den Launen einer eigenwilligen Gottheit, die ihrer unglücklichen Geschöpfe spottet, abhängig zu sein scheinen muß.

Unter welchem Gesichtspunkt wir die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auch betrachten, wir werden sie immer als ein Hirngespinst ansehen müssen, das von Menschen ausgedacht wurde, deren eigene Wünsche erfüllt sind oder denen es nicht gelang, die Vorsehung wegen ihrer vorübergehenden Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen. Diese Lehre wurde begierig aufgegriffen, weil sie den Wünschen und vor allem der Eitelkeit des Menschen entgegenkam, welcher sich allen Wesen der Natur, die er vergehen und verschwinden sieht, überlegen wähnt; er glaubt der Günstling seines Gottes zu sein und bedenkt dabei nicht, daß dieser Gott ihn ebenso wie alle anderen empfindenden Wesen durch Mißgeschicke, Not und Qualen führt und ihn schließlich dem Tod und der Auflösung überläßt: das ist das unveränderliche Gesetz, dem alles, was existiert, unterworfen ist. Dieses hochmütige Geschöpf, das sich für ein bevorrechtetes Wesen hält und glaubt, von seinem Schöpfer als einziges geliebt zu werden, hat nicht bemerkt, daß seine Existenz in vieler Hinsicht unsicherer und schwächer ist als die der anderen Lebewesen oder auch die der unbeseelten Dinge. Der Mensch hat nicht einsehen wollen, daß er weder die Kraft des Löwen noch die Schnelligkeit des Hirsches, noch die Lebensdauer einer Eiche, noch die Härte von Fei-

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sen oder Metallen besitzt; er hat geglaubt, das am meisten bevorzugte, das erhabenste, das edelste Wesen zu sein; er hat geglaubt, allen anderen überlegen zu sein, weil er allein die Fähigkeit des Denkens, des Urteilens, der vernunftgemäßen Überlegung besitzt. Aber ist er denn auf Grund seines Denkens nicht viel unglücklicher als alle anderen Lebewesen, die, wie er glaubt, diese Fähigkeit nicht besitzen oder von denen er wenigstens annimmt, daß sie diese nicht in dem gleichen Maße besitzen wie er? Macht ihn die traurige Fähigkeit des Denkens, des Erinnerns, des Vorausschauens durch die Idee der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft nicht häufig sehr unglücklich? Treiben ihn seine Leidenschaften nicht zu Ausschweifungen, die anderen Lebewesen unbekannt sind? Sind seine Urteile immer richtig? Ist die Vernunft bei dem größten Teil der Menschen, dem man sagt, es sei gefährlich, diese Vernunft zu gebrauchen, sehr entwickelt? Sind sie so weit fortgeschritten, daß sie der Vorurteile und Hirngespinste spotten, die ihr Leben unglücklich machen? Haben dagegen die Tiere eine Religion, die ihnen dauernd Schrecken einflößt, indem sie ihnen eine furchtbare Zukunft vor Augen hält, die ihre unschuldigsten Vergnügen vergiftet, die ihnen befiehlt, sich selbst zu quälen, und die ihnen mit ewiger Verdammung droht?

Wenn wir die angeblichen Vorzüge, die der Mensch vor den anderen Lebewesen voraushaben soll, tatsächlich richtig abwägen, so werden wir sehen, daß sich die eingebildete Überlegenheit, die er sich gegenüber den anderen anmaßt, in ein Nichts auflöst. Wir werden finden, daß alle Erzeugnisse der Natur den gleichen Gesetzen unterworfen sind; daß alle Wesen nur geboren werden, um zu sterben; daß sie nur zeugen, um sich wieder zu zerstören; daß alle fühlenden Wesen gezwungen sind, Freuden und Leiden zu empfinden, zu entstehen und zu vergehen, ihr Sein zu beginnen und abzuschließen und sich in einer Gestalt zu zeigen, die sie aufgeben, um eine neue hervorzubringen. Das sind die ständigen Wechselfälle, denen offensichtlich alles, was existiert,

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unterworfen ist und von denen der Mensch ebensowenig ausgenommen ist wie alles, was ihn umgibt. Unser Erdball verändert sich, Meere verlagern sich, Berge stürzen zusammen und verwandeln sich in flaches Land; alles, was atmet, stirbt letztlich. Und der Mensch allein erhebt Anspruch auf ein ewiges Leben!

Man sage nur nicht, der Vergleich mit Wesen, die weder Seele noch Intelligenz kennen, sei für den Menschen eine Schande. Dieser Vergleich ist für ihn keine Schande, son-1 dem er weist ihn nur auf den Platz zurück, von dem ihn seine kindische Eitelkeit ganz zu Unrecht entfernt hat. Alle Dinge sind gleich; unter verschiedenen Formen wirken sie verschieden; aber auf Grund von Gesetzen, die für alles, was existiert, unveränderlich gleich sind, löst sich alles, was zusammengesetzt ist, auf, stirbt schließlich alles, was lebt; alle Menschen müssen in gleicher Weise den Tod erleiden; durch den Tod werden sie gleich, obwohl sie sich durch ihre Macht, durch ihre Talente und besonders durch ihre Tugend während ihres Lebens notwendig und wirklich, wenn auch nur vorübergehend, unterscheiden. Was wird nach dem Tode aus ihnen? Sie werden das sein, was sie zehn Jahre vor ihrer Geburt waren.

Verbannen Sie also, kluge Eugenie, für immer aus Ihrem Geist die Schrecken, die man Ihnen vor dem Tode einflößt. Dieser ist für die Unglücklichen ein sicherer Hafen gegen die Mißgeschicke des Lebens; wenn er denen, die glücklich leben, grausam erscheint, so mögen sie nicht an ihn denken oder sich mit ihm versöhnen, so mögen sie die Vernunft zu Hilfe rufen, damit sie die Furcht einer allzu ängstlichen Einbildungskraft beschwichtige; sie wird den Nebel zerreißen, den die Religion über die Geister verbreitet; sie wird zeigen, daß es den so schrecklichen Tod gar nicht gibt und daß er die Erinnerung an vergangene Freuden, Sorgen oder Leiden auslöscht.

Leben Sie also in Glück und Frieden, liebe Eugenie! Erhalten Sie sorgsam eine Existenz, die für alle, mit denen Sie leben, von Interesse und notwendig ist. Setzen Sie nicht Ihre

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Gesundheit aufs Spiel, lassen Sie sich nicht durch trübsinnige Ideen beunruhigen. Beschäftigen Sie sich nicht mehr traurig mit einer Zukunft, vor der Sie sich nicht ängstigen dürfen, und pflegen Sie die Tugend, die Ihrem Herzen so vertraut und so notwendig geworden ist und um derentwillen Sie von all denen so geliebt werden, die so glücklich sind, mit Ihnen in Berührung zu kommen. Bedienen Sie sich Ihrer Stellung, Ihres Ansehens, Ihrer Reichtümer, Ihrer Talente, um andere glücklich zu machen, um den Unterdrückten und den Armen zu helfen und um die Tränen derer zu trocknen, die dem Schicksal zu unterliegen drohen. Nutzen Sie Ihren Geist, um rechtschaffenen Beschäftigungen nachzugehen, an denen allein Sie Gefallen finden werden. Bedienen Sie sich Ihrer Vernunft, um die Phantome zu zerstören, von denen Sie beunruhigt werden, und um die Vorurteile abzulegen, die man Ihnen in Ihrer Kindheit eingeflößt hat. Mit einem Wort, finden Sie Ihre Ruhe wieder und erinnern Sie sich daran, daß Sie, wenn Sie die Tugend — so wie Sie es bereits tun — ausüben, niemals von einem Gott gehaßt werden können, der das eigenwilligste, grausamste und unvernünftigste Wesen wäre, wenn er die gesellschaftlichen Tugenden in Ewigkeit mit strengen Züchtigungen bestrafen würde.

Sie werden mich vielleicht fragen, ob es, wenn man die Idee einer künftigen Welt zerstört, noch Gewissensbisse geben kann, also jene Strafen, die für den Menschen so nützlich sind und die geeignet erscheinen, ihn im Zaum zu halten. Ich antworte, daß es immer Gewissensbisse geben wird, auch wenn man die entfernte und ungewisse Rache der Gottheit nicht mehr zu fürchten braucht. Jeder Mensch, dessen Vernunft nicht völlig getrübt ist, merkt sehr wohl, daß er sich bei den anderen verhaßt macht, daß er ihre Feindschaft fürchten muß, wenn er Verbrechen begangen hat, wenn er sich von seinen Leidenschaften fortreißen ließ, wenn er sich weigerte, ihnen Gutes zu tun, wenn er sein Mitleid erstickte; er schämt sich also, weil er von ihnen verachtet und verabscheut wird. Er weiß, daß er ständig ihrer Wertschätzung und ihrer Hilfe bedarf. Die Erfahrung beweist ihm, daß auch seine verborgensten Laster ihm selbst schaden; so muß er stets befürchten, daß seine schändlichen Laster und seine geheimen Verbrechen, die er vielleicht begangen hat, durch einen unglücklichen Zufall aufgedeckt werden.

Aus all diesen Ideen erwachen sowohl Reue als auch Gewissensbisse selbst bei denen, die nicht an die Hirngespinste eines künftigen Lebens glauben. Was aber diejenigen betrifft, deren Vernunft getrübt ist und die durch ihre Leidenschaften oder durch die Ketten der Gewohnheit fest mit dem Laster verbunden sind, so werden diese, selbst wenn sie glauben, daß es eine Hölle gibt, deshalb nicht weniger lasterhaft oder bösartig sein. Ein rächender Gott wird niemals einen Menschen beeindrucken, der so wenig Vernunft hat, daß er die öffentliche Meinung mißachtet, daß er den Anstand mit Füßen tritt, daß er den Gesetzen trotzt und sich der Schande und den Bestrafungen durch Menschenhände aussetzt. Jeder vernünftige Mensch begreift sofort, daß die Achtung und die Zuneigung der anderen für sein Glück auf dieser Welt notwendig sind und daß das Leben für diejenigen, die sich durch ihre Laster selbst schädigen und sich in den Augen der Gesellschaft verächtlich machen, nur eine Last ist.

Das wahre Mittel, auf Erden glücklich zu leben, besteht darin, andre glücklich zu machen; seinesgleichen glücklich machen, heißt tugendhaft sein; durch Tugend gelangt man friedlich und ohne Gewissensbisse zu dem Ziel, das die Natur allen Wesen gleichermaßen gesetzt hat: ein Ziel, das für Sie, in Ihrem Alter, noch in weiter Ferne liegt; ein Ziel, das Sie durch Ihre Ängste nicht näher rücken sollen; ein Ziel schließlich, das durch die Sorgen und die Wünsche all derer, die Sie kennen, so weit hinausgeschoben wird, bis Sie selbst, Ihres Lebens müde und von der Rolle, die Sie auf dem Schauplatz dieser Welt gespielt haben, zufriedengestellt, das Bedürfnis haben, ruhig in den Schoß der Natur zurückzukehren.

Ich bin etc.

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