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§ 2 

(Edda, Grimal)

 

10-13

Das Untier war sich von vornherein nicht selbstverständlich, und es vermochte sich in einer Urform anthropo­fugaler Welt­wahr­nehmung eben diese Welt sehr wohl ohne sich selbst vorzustellen. Charakteristisch schon die Unzahl der Schöpfungs­mythen, in denen bei der Menschen­herstellung durch die Götter schlicht von Pfusch und Ausschuß die Rede ist. 

Da versuchen es die Demiurgen mit Stein, Holz, Erde, Wachs, Schilfrohr — und das Resultat ist von immer der gleichen Erbärm­lichkeit: das Wachs schmilzt in der Sonne, die aus Holz gefertigten Prototypen stehlen sich eiligst in eine bessere Welt davon, in der ewiges Leben auf sie wartet, die aus Felsgestein scheren sich keinen Deut um den Verhaltenskodex ihres Schöpfers und so fort (vgl. Grimal 1967 in: 205 ff.).

 wikipedia  Demiurg     wikipedia  Edda 

Die konstitutiven Mängel, die das Untier so bei sich entdeckt und verschlagen dem Göttlichen inkriminiert, erklären auch die sehr frühe, bisweilen manische Beschäftigung mit der Welt-Katastrophe und dem eigenen Untergang, der als Lohn der Sünde, als Strafgericht und Vergeltung, also als etwas durchaus Einsichtiges und in seiner Folgerichtigkeit und Berechtigung Nachvoll­ziehbares begriffen wird.

Daß es besser wäre, wenn es nicht wäre, hat sich das Untier immer schon auf die ein oder andere Weise eingestanden. 

Retrospektiv und mit der Erleichterung des Noch-einmal-Davongekommenen in der Geschichte von der Großen Flut, die sich im Gilgamesch-Epos ebenso findet wie im Alten Testament oder in griechischen, chinesischen, australischen und ozeanischen Überlieferungen; vorausschauend und ohne diesen Trost in grandiosen Kataklysmusphantasien wie der im abend­ländisch-christlichen Kulturkreis wohlbekannten Offen­barung Johannis oder ihrem germanischen Analogon, der Götter­dämmerung der nordischen Mythologie, die die Edda mit apokalyptischer Wucht und der für das Untier so bezeichnenden Lust am Untergang ausmalt:

 

Vom Osten kommt Hrym, 
Er hebt den Schild, 
Im Riesenzorn 
Rast die Schlange, 
Sie schlägt die Wellen;
Es schreit der Aar, 
Leichen reißt er;
Los kommt Nagefar
...... 

Von Süden kommt Surt 
Mit sengender Glut;
Von der Götter Schwert 
Scheint die Sonne. 
Riesinnen fallen, 
Felsen brechen, 
Zur Hel ziehn Männer, 
Der Himmel birst
......  

Die Sonne erlischt, 
Das Land sinkt ins Meer. 
Vom Himmel stürzen 
Die heitern Sterne. 

Rauch und Feuer 
Rasen umher;
Hohe Hitze 
Steigt himmelan     

  (Edda 1920 II: 41 f.).

In diesem Seherinnengesicht (Voluspá) ist die kulturelle Domestikation des Untiers, das Sich-Einrichten auf seinem Planeten, schon so weit fortgeschritten, daß die visionäre Rücknahme der eigenen Gattungsexistenz nur noch im Gefolge einer Total­destruktion, als »Weltuntergang« erfolgen kann. 

Trotzdem bleibt in solch weitsichtiger Globalisierung des Todes und der sehnsüchtigen Herstellung jenes vollkommenen kosmischen Gleichtaktes, jener harmonischen Beziehung zur Umwelt, zu der das Untier während seiner Gattungsexistenz nie befähigt war, zumindest für die Phase der Auflösung und Vernichtung, das Urinteresse an der Problematisierung eigenen Daseins, das Faszinosum eines Gedankenspiels mit der Menschenleere als Grundimpuls weiterhin deutlich spürbar; und das spekulative Bedürfnis findet etwa in der Anahnac-Religion Mittelmexicos durch die Pluralisierung der Katastrophe eine immer nachhaltigere Befriedigung:

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Fast alle Zeugnisse ... haben einen Mythos zum Inhalt, der als die »Legende von den vier Sonnen« bekannt ist und in verschiedenen Fassungen vorliegt ... Vier Weltperioden, die als Sonnen bezeichnet werden, sind dem gegenwärtigen Weltzeitalter vorausgegangen: Alle fanden sie durch Naturkatastrophen ihr Ende. Die erste Sonne, nahui ocelotl = Vier-Jaguar, dauerte 376 Jahre. An dem Tage »Vier-Jaguar« kamen alle Erdbewohner um und wurden von Jaguaren gefressen.

»Da verschwand die Sonne...« Ihr folgte eine andere Sonne. Sie trug den Namen nahui ehecatl = Vier-Wind. In diesem Weltalter wurde die Menschheit von furchtbaren Winden fortgetragen. Die Überlebenden wurden zu Affen. Dieser Zeitraum dauerte 364 Jahre. Nun kam die Sonne nahui quiahuitl = Vier-Regen. Nach 311 Jahren vernichtete ein entsetzlicher Feuerregen alle Lebewesen und Dinge. Die Menschen wurden in Vögel verwandelt. Die letzte Sonne, nahui atl = Vier-Wasser, dauerte 676 Jahre, und an ihrem Ende verwandelten sich alle Menschen in Fische. Die fünfte, die gegenwärtige Weltperiode, trägt den Namen nahui olin = Vier-Bewegung. »Es ist unsere Sonne, in der wir jetzt leben ...« 

(Grimal 1967 III: 177)   wikipedia  Pierre_Grimal  *1912 in Paris bis 1996

 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß nahui olin ebenso gewaltsam enden wird wie die vorhergehenden vier Perioden. Menschheits- und Weltgeschichte steuert damit für die Gläubigen nicht nur auf die Katastrophe zu, sondern sie ist diese Katastrophe in zyklischer Permanenz immer auch schon selbst.

Das mythisch-religiöse Bewußtsein ist überall dort, wo es das Untier als ausgesetzt, fremd, aus der Totalität der Schöpfung herausfallend begreift und es auf phantasievoll-rabiate Weise als Fremdkörper beseitigt, anthropo­fugales Bewußtsein. Daß es hier noch im Vorbegrifflichen und Uneigentlich-Bildhaften steckenbleibt, liegt einmal in der Natur des einzig zur Verfügung stehenden Ausdrucks­mediums und zum anderen daran, daß sich das entwickelnde philosophische Denken zunächst radikal vom tiefen Pessimismus des Mythos abkoppelt.

Schon in den Fragmenten der griechischen Vorsokratiker verschwindet nämlich die Erinnerung an das Untier zugunsten naturphilosophischer und kosmologischer Entwürfe, und wenig später rückt an die Stelle der mythischen Skepsis gegenüber der eigenen Gattung, an den Platz totemistischer Regressionswünsche ins Animalische und der Trauer über das eigene un-tierische Ausgestoßensein ein neues Selbstbild mit umgekehrtem Vorzeichen: jene prometheische Vorstellung1) vom »Menschen«, die von nun an die Gattung bis in die Gegenwart dominieren sollte.

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1)  Das Aufrücken des Prometheus-Mythos zur gängigen Selbstdeutungsschablone der Moderne zeigt, daß auch das mythische Bewußtsein die anthropofugale Perspektive nicht verläßlich bewahren konnte, ja über weite Strecken — entweder durch eine deformierende Überlieferung oder eine späte »prähumanistische« Eigendynamik — selbst als anthropozentrisch infiltriert erscheint.

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Das Untier von Ulrich Horstmann