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§ 3 

(Capelle, Panitz)

 

 

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Man kann sich die Radikalität des Bruchs zwischen mythisch-anthropofugaler Weltwahrnehmung und dem hellenistischen Anthropo­zentrismus nicht klar genug vor Augen führen, wenn man zu begreifen sucht, warum die Formulierung einer Philosophie der Menschenflucht bis auf den heutigen Tag ein so ungemein schwieriges Unterfangen geblieben ist. 

Das gesamte philosophische Instrumentarium ist nämlich nach wie vor gleichsam imprägniert vom Gattungsnarzißmus der Antike, von der euphorisierenden Entdeckung, daß das ausgestoßene Untier, das vogelfreie Mängelwesen, sich zum intellektuellen Usurpator aufschwingen kann, der seine Welt zu »erklären« vermag und sich als Erklärender und über seine Erklärungen in ihrem Zentrum inthronisiert. 

Das Untier ratifizierte auf diese Weise seine zivilisatorischen Erfolge, die es erstmals gegen den Terror der natürlichen Umwelt des »Primitiven« abschirmten1), und glorifizierte sich zum »homo sapiens« — eine für den Mythos stupende* Illusion, die dann ihrerseits im Verein mit dem jüdisch-christlichen Vergewalt­igungs­gebot des »Machet Euch die Erde untertan« immer neue Bemächtigungs- und Kontrolltechniken ins Leben rief und zu einem über zweitausendjährigen wechselseitigen Aufschaukelungs­prozeß von ideologisch abgesicherten Machtansprüchen und technologischem Herrschafts­wissen führte, der noch bis vor kurzem die philosophisch sublimierten Omnipotenz­phantasien der griechischen Metaphysik auf das nachhaltigste und erfreulichste zu bestätigen schien.

 

1)  Gemeint ist folgende Dialektik: der »Primitive« lebt in einer für ihn unbeherrschbaren und unbeherrschten Natur, deren Unbilden und Terror er ausgesetzt ist, wobei er zugleich noch auf die Instinktausrüstung des Tieres verzichten muß.

Der ursprüngliche Mythos transportiert eben diese Erfahrung des Ausgesetztseins und kennt als möglichen Ausweg nur die Alternativen lustvoller erneuter Vertierung — oder aber die eigene Vernichtung. 

Mit der Entwicklung immer komplexerer und verläßlicherer Überlebens­strategien, die ihren ersten Höhepunkt in der neolithischen Revolution, also dem Übergang von der Sammler- und Jäger- zur Ackerbauer- und Viehzüchterexistenz, erreicht, verliert diese Alternative das existentielle Fundament ständiger Gefährdungserlebnisse durch eine feindgetönte natürliche Umwelt und damit ihre Plausibilität. An die Stelle des Urmythos treten Stabilisierungsmythen, die den Status quo sichern, und Anspruchsmythen, die zu seiner Überschreitung auffordern. 

Die allerdings auch ihnen noch eigene Distanz neutralisiert erst das neue Selbstbewußtsein der Philosophen, das sich durch ein aus der zivilisierten Sekurität der Polis gespeistes vorbildloses Selbstvertrauen und einen universalen Erklärungs- und damit Sinngebungs­anspruch auszeichnet.

* (d-2010)  stupend <lat> :  erstaunlich, ungeheuer


Mit dem Anlaufen der philosophischen Sinnmaschine im 6. vorchristlichen Jahrhundert, mit Thales, Anaximander, Pythagoras, begann die erbarmungs­lose Liquidierung des Untiers durch den Menschen, die rigorose Verdrängung der Urerfahrung der Unsinnigkeit und Absurdität der Gattungsexistenz durch eine Vernunft, die den Kosmos nach den eigenen Denkschablonen rekonstruierte und es nicht versäumte, sich in der wohn- und heimatlich gewordenen All-Harmonie selbst den Platz, wenn nicht des schöpferischen Urprinzips des Logos der Nous, so doch den des »Nachschöpfers« und der »Krone der Schöpfung« einzuräumen. 

Die Ordnungsstrukturen des Universums wurden identisch mit denen der philosophischen Reflexion, das Himmels­gewölbe über der ptolemäischen Erdscheibe schrumpfte zum Dach eines platonischen Philosophen­schädels.

Der Projektionscharakter personaler Gottesvorstellungen war schon Xenophanes (570-477 v.u.Z.) bekannt, der den anthro­pomorphen Polytheismus der olympischen Götterwelt mit der Feststellung verspottete:

Wenn Kühe, Pferde oder Löwen Hände hätten und damit malen und Werke wie die Menschen schaffen könnten, dann würden die Pferde pferde-, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben

(Capelle 1968: 121),  

der Anthropozentrismus und Logomorphismus der eigenen Spekulation aber kam ihm und seinen Nachfolgern — mit Ausnahme vielleicht des Nihilisten Gorgias und des Skeptikers Pyrrhon — nicht mehr zu Bewußtsein.

Im Gegenteil, der Sophist Protagoras verkündet mit dem Brustton der Überzeugung, »der Mensch sei der Maßstab aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der Nichtseienden, daß sie nicht sind« (ebd.: 317) — eine Einsicht, deren subjektivistisch-relativistische Auslegung Sokrates ablehnte, die er aber mit Bezug auf die Gattung als Ganzes nachdrücklich unterstrich.

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Der Homo-mensura-Satz im sokratischen Verständnis ist so die eigentliche philosophische Gegenthese zur Anthropo­fugalität des Mythos und seiner demgegenüber höchst bescheidenen Konzeption der Stellung und Bedeutung des Untiers.

War der Urmythos Dokument des Ausgesetztseins und der Gefährdung, so erscheint Philosophie als geistige Kolonisation, als spekulative Land- und Besitznahme, die in den Feldzügen eines Alexander oder der Expansion des Römischen Reiches augenfällige Parallelen besitzt. Wie verwandt dabei die Mentalität des Philosophen mit dem Imperialismus des Politikers ist, zeigt das folgende Argument aus Ciceros De natura deorum, das nach einigen Modifikationen zur Rechtfertigung anthropozentrischen Denkens ebenso taugte wie zur Legitimation militärischen Vorgehens gegen die unvernünftigen Barbaren:

Für wen also könnte wohl diese Welt geschaffen sein? Doch wohl für vernünftige Wesen; und dies sind die Götter und die Menschen, die besten Wesen, die es gibt, da die Vernunft allen vorangeht. ...

Von Anfang an ist die Welt der Götter und Menschen wegen gemacht worden, und alles in ihr Befindliche ist zum Genüsse der Menschen bereitet und ausgedacht worden.

(Panitz 1974: 67)

 

Der Auserwähltheitsgewißheit dieses Denkens, der Selbstanbetung und Apotheose des Menschen über die neuentdeckte philosophische Vernunft hatte eine in die Latenz abgedrängte anthropofugale Erkenntnis so lange nichts entgegenzusetzen, als sich die ideologischen Vorgaben in der relativen Stabilität und Sicherheit der griechischen Polis und später der Pax Romana handgreiflich zu bestätigen schienen.

Erst in Zeiten des Umbruchs und der Krise werden Schwundformen und Relikte erneut sichtbar wie Strandgut, das eine abebbende Flut zurückläßt. Schlagendes Beispiel für eine solche Reaktivierung wider Willen ist die Stoa, die den unsicheren Zeitläufen mit einer Radikalisierung der anthropozentrischen Ethik zum Humanitätsideal zu widerstehen suchte, in der sich aber gleichwohl anthro­pofugale Einschlüsse finden.

Epiktets Versicherung: »Wir sind alle Brüder und haben in der gleichen Weise Gott zum Vater« oder das humanistische Plädoyer des Kaisers Mark Aurel:

Worüber willst du denn unwillig sein? Über die Schlechtigkeit der Menschen? Vergegenwärtige dir den Satz, daß die Vernunft­wesen wegen einander da sind und daß sie zu ertragen ein Teil der Gerechtigkeit ist und daß sie unfreiwillig fehlen und wie viele schon, die Feinde gemacht, beargwöhnt, gehaßt, die Klinge gekreuzt haben, hingestreckt und zu Asche geworden sind

(ebd.: 189),

transportieren so gleichsam Konterbande wie etwa die Lehre von der Seelenruhe (ataraxia oder tranquillitas animi) und »apathia«, in der etwas mitschwingt von der großen Gleichgültigkeit anthropofugalen Denkens gegenüber den inflationären Glücks­ansprüchen des Untiers, oder die Rechtfertigung des (überlegten) Selbstmordes, der als subjektivistisch verkürzter Reflex apokalyptischer Sehnsüchte erscheint.2)  

 

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2)  Vgl. etwa Senecas Epistolae morales - in denen es u.a. heißt: 

»Es ist eine herrliche Sache, sterben zu lernen.... Wer sterben gelernt hat, hat verlernt, Sklave zu sein; er ist über aller Gewalt, wenigstens außer aller. Was gehen Kerker ihn an und Wachen und Riegel? Frei steht ihm der Ausgang. Nur eine Kette ist es, die uns gefesselt hält, die Liebe zum Leben, sie ist zwar nicht abzuwerfen, aber sie ist doch wenigstens zu schwächen, damit, wenn die Umstände es erfordern, nichts uns halte und hindere, bereit zu sein, was einmal doch geschehen muß, auf der Stelle zu tun.« 

(Panitz 1974: 223)

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 www.detopia.de      Literatur      ^^^^  

Das Untier von Ulrich Horstmann