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§ 15

 

 Koestler, Bilz, Löbsack, Teilhard

 

77-81

Nicht wenige Zivilisationskritiker der Gegenwart, die die Diskrepanz zwischen den ihnen ansozialisierten humanistischen Idealen und einer diesen Wunsch­vorstellungen ins Gesicht schlagenden Wirklichkeit sehr wohl sehen, sich der Wende zum anthropofugalen Denken aber beharrlich verweigern, gefallen sich angesichts ihrer Unfähigkeit, eine schlechte Realität zu verändern, darin, den Denk- und Erkenntnisapparat des Untiers zu verunglimpfen, und überbieten sich dabei in pseudo­wissen­schaftlichen Erklärungen wie:

Die Nervenbahnen zwischen den archaischen Strukturen des Stammhirns und dem Neocortex sind anscheinend unzulänglich. ... Statt ... das alte Gehirn in ein neues umzuwandeln, gab die Evolution sich damit zufrieden, der alten Struktur einfach eine neue, differenziertere Struktur aufzupfropfen, ohne Funktions­überschneidungen zu verhindern und ohne das neue Gehirn mit eindeutigen Kontrollbefugnissen über das alte auszustatten. Kraß ausgedrückt: Die Evolution hat ein paar Schrauben zwischen dem Neocortex und dem Hypothalamus locker gelassen (Koestler 1978: 20) (1)  

und in kaum noch verhohlener Diffamierung:

So, wie in einem lebendigen Organismus, z.B. im Fall der Krebs-Erkrankung ein Zellverband hypertrophieren kann, ist beim Menschen die Intelligenz hypertrophiert, und zwar mehr und mehr, ohne daß dieser Prozeß bisher zu einem Stillstand gekommen wäre. Das ist die Krebsstation, auf der wir versammelt sind. (Bilz 1973: 50).

 

(1)  In der Arbeit Charles M. Fairs Das fehlprogrammierte Gehirn wird das, was bei seinem populär­wissen­schaftlich orientierten Kollegen als eherne Gewißheit erscheint, immerhin noch deutlich als Hypothese formuliert, wenn auch diese Vorsicht deren Wahrheitsgehalt nicht steigert. Fair schreibt u.a.: »Die Ursache für die <innere Einheit> bei Tieren ... könnte darin zu suchen sein, daß bei ihnen die Hirnrinde (= Neocortex) nicht ernsthaft versucht, die Rolle der älteren Gehirnstrukturen bei der Verhaltenssteuerung zu übernehmen« (Fair 1971: 33). --- Beim Menschen aber sei ein Wandel eingetreten, »auf Grund dessen die alte Einheit bzw. die Harmonie der Funktionen endlich radikal gestört wurde ... ein neues Funktionssystem nahm möglicherweise innerhalb der Hirnrinde Gestalt an, ein System, das in bezug auf seine Logik und die von ihm gesteuerten Verhaltensweisen den subkortikalen Systemen diametral entgegengesetzt ist«.  (ebd.: 34f.) anmerkung korrekturlesen;deto-2022

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Der Wissenschaftsjournalist Theo Löbsack hat das dürftige Analogieargument der Überentwicklung, das sich eher einem Echsentrauma denn analytischer Verstandes­tätigkeit verdanken dürfte, auf Konvolutformat gebracht und bekundet darin seine Entschlossenheit, »das Danaergeschenk der Natur, dieses lautlos im Kopf arbeitende Instrument von der Konsistenz frischen Ziegenkäses« (Löbsack 1974: 17), mittels dessen er seine Existenz fristet, entrüstet zurückzuweisen. Die Summe seiner Überlegungen lautet:

Diese ins Übermaß gewucherte, von ihrer knöchernen Schale nur mühsam an weiterer Ausdehnung gehinderte Masse ist in der Tat den ins Riesenhafte gewachsenen Leibern der Dinosaurier vergangener Zeiten vergleichbar geworden — Tiere, die vor sich selbst kapitulieren mußten. Gigantismus zahlt sich auf der Erde offenbar nicht aus, weder der des Körpers noch der des Geistes (ebd.: 16).  

Nichts aber ist unsinniger als diese These vom Hirn als »Exzessivorgan« (ebd.: 2.50), die im Grunde nur eine Neuauflage der eben kritisierten orthodoxen Lehrmeinung der Anthropologie darstellt, die den Menschen aus lauter Defekten, Mängeln und Unzulänglichkeiten zusammengesetzt sieht. 

Auch unser Denkorgan nämlich ist ein unserer Bestimmung höchst gemäßes biologisches Ausstattungsstück, für das allein schon Anlaß genug wäre, vor dem Schöpfergott auf die Knie zu fallen — hätte ihn eben dieses Hirn nicht inzwischen als Götzen und Wahnidee und damit als ein eigenes Produkt entlarvt.

Der Nutzen unseres Denkapparates könnte vielfältiger, die Vorteile, die wir ihm verdanken, größer nicht sein. Denn zum einen verschafft er uns durch seine waffentechnische Kompetenz die Mittel, ohne die wir die Trägheit unseres Fleisches in alle Ewigkeit nicht würden überwinden können.

Zum anderen liefert er die Rechtfertigungen und Rationalisierungen, die das Untier für seine rastlosen militärischen Exerzitien so dringend benötigt, um jenen Verlockungen zur Untätigkeit, Sanftmut und Toleranz zu widerstehen, die ein pazifistisches Phlegma als »Stimme des Gewissens« feilbietet.

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Und drittens und letztens reflektiert er in der anthropofugalen Spekulation auf sich selbst zurück, erkennt die genannten Funktionen als sinnvoll und richtig und ringt sich zu der heroischen und jedes andere Wesen in den Irrsinn treibenden Einsicht empor, daß er im Kosmos durchaus fehl am Platze ist, sich aufgrund seines eigenen evidenten Räsonnements das Existenzrecht absprechen muß und also die vordem unbewußten Anstrengungen der Gattung, sich selbst dem Nichts zu überantworten und damit dem perennierenden Leiden Einhalt zu gebieten, nicht nur nicht zu unterlaufen, sondern vielmehr aus vollem Herzen zu fördern, zu bejahen und mit der Gloriole des summum bonum aufzuwerten hat.

Nur einer zutiefst derangierten und selbstvergessenen Verständigkeit kann es deshalb so scheinen, als erschöpfe sich die Bilanz der menschlichen Vernunft darin,

daß gegenwärtig rund 100 Millionen Tonnen rasch sich vermehrender menschlicher Biomasse den Planeten Erde bevölkert, ihn auspowert und seine Rohstoffreserven unbekümmert um den Bedarf künftiger Generationen plündert und damit immer rascher die Lebensgrundlage zerstört, zu der es keine Alternative gibt (ebd.: 16).  

Vielmehr hat der Geist alles Menschenmögliche getan, diesen Zustand, der doch gleichsam nur eine Momentaufnahme darstellt, zu terminieren und dem Planeten in naher Zukunft die schroffe Schönheit und Unberührtheit zurückzugeben, die er in jenen Jahrmilliarden besaß, bevor die Folgen der Urzeugung und Selbstbefleckung sein Antlitz so nachhaltig zerfraßen.

Der Geist und sein materielles Substrat, das Gehirn, ist also unser kostbarster, unser heiligster Besitz. So wie der Mensch aber von seinen Talenten und Gaben höchst unterschiedlichen Gebrauch macht und in der Regel eher dazu neigt, sich zu unterfordern, als übergebührliche Anstrengungen zu unternehmen, so gelangt auch die Vernunft immer nur bei wenigen zur höchsten, zur anthropofugalen Ausbildung.

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Die große Mehrheit der Untiere begnügt sich statt mit der klaren Erkenntnis des Telos der Gattungs­entwicklung mit dessen dumpfer und unbewußter Ahnung und geht ganz in der Erfindung jener Mittel und Wege auf, die unserer Bestimmung zweckdienlich und gemäß sind.

Die tägliche und von Kindesbeinen an verabreichte Dosis des humanistischen Narkotikums, das ihnen ihre genügsame Betriebsamkeit versüßt und schöne Träume von Fortschritt und Glück macht, läßt nun unweigerlich die höheren Gehirnfunktionen, die ein Durchschauen jener nützlichen Illusionen gestatten, leerlaufen und verkümmern, so daß eben jenen, die in Millionenheeren die industrielle Sisyphusarbeit, jene unabdingbare Voraussetzung des Großen Inferno, verrichten, der apokalyptischen Zuversicht und der philosophischen Vorschau auf das Ende beraubt sind. 

Diese Bewußtlosigkeit, aus der sie erst am Tage der Katastrophe erlöst werden, ist beklagenswert und bedauerlich, aber zugleich für die Dynamik und den störungsfreien Ablauf des annihilistischen Prozesses höchst segensreich. Denn diejenigen, die der letzten Wahrheit so lange entwöhnt waren, reagieren im allgemeinen mit heftigen Abwehrreaktionen, ja mit Panik und Revolution, wenn man sie plötzlich und unvorbereitet mit ihrem wirklichen Daseinszweck konfrontiert. 

Um der großen Aufgabe willen wird man sich deshalb wohl oder übel entschließen müssen, ihnen ihre wohlige Umnachtung zu belassen; und wenngleich wir vom reinen Standpunkt der Anthropofugalität aus die humanistischen Ideologen des 20. Jahr­hunderts, die Marxisten, Existentialisten, Anthropologen und Friedensforscher, scharf verurteilen, so überhebt uns doch dieser Bannspruch distanzierter Spekulation nicht der Einsicht, daß sie gleichwohl wider ihren Willen eine sozial höchst nützliche Funktion erfüllen, indem sie das gemeine Untier gegen die Kälte der anthropofugalen Rationalität in Schutz nehmen, in der es nicht überleben und gedeihen könnte.

Und vor diesem Hintergrund findet selbst ein so extremes Wahnsystem wie das des Jesuitenpaters und Ritters der Ehrenlegion Pierre Teilhard de Chardin, der an die evolutionäre Gottwerdung des Menschen(2), eine »Super-Menschheit« und »Super-Caritas« (Teilhard 1976: 74) glaubt, das Böse als »Abfall« (ebd.: 60) der Höherentwicklung und die Katastrophe als »faule und billige Hypothese« (ebd.: 40) abtut, seine traurig stimmende, aber unleugbare instrumentelle Rechtfertigung.

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2)  Teilhard synthetisiert den Theozentrismus des Mittelalters mit einem maßlosen Anthropozentrismus, dem die gesamte Naturgeschichte — »Kosmogenese« und »Biogenese«nur als Vorspiel der Menschwerdung erscheint, mit der die »Einrollung der Materie« eine prinzipiell neue Komplexitätsstufe, die der Reflexion, erreiche. Die »planetarische Kompression« (Teilhard 1976: 47) zwingt den Menschen zur kollektiven Ausbildung der sogenannten Noosphäre, die sich Teilhard offenbar als eine Art totalisierter und spiritualisierter katholischer Weltkirche oder planetarische Societas Jesu vorstellt, und zur Konvergenz des zum Lichtwesen sublimierten Untiers mit dem Göttlichen im »Punkt Omega«eine durch und durch pathologische Vorstellung, wie sie wohl nur im Schutz von Klostermauern gedeihen kann. 

 

 


 en.wikipedia  Charles_M._Fair  1916-2014


Rudolf Bilz: Wie frei ist der Mensch? Paläoanthropologie
Das besondere Interesse von Bilz gilt den »biologischen Archaismen des Menschen«, den »Wildheitsqualitäten des homo sapiens«, ohne daß doch, wie es in der heutigen Verhaltensforschung häufig geschieht, vorschnell vom Tier auf den Menschen geschlossen würde. Bilz spricht vielmehr geradezu von einem Stilbruch in der menschlichen Evolution, der dazu führte, daß der homo sapiens so unbiologisch-verrückt reagiert, was ihn erst dazu befähigt hat, wirklich zum Menschen zu werden.

Geboren: 1. August 1898.  Verstorben: 16. Juni 1976, Mainz
Bücher: Psychotische Umwelt: Versuch einer biologisch orientierten Psychopathologie, Neue Verhaltensforschung, Aggression.

https://books.google.de/books?id=Eim3EjNB5qsC&printsec=copyright&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false

 


 

wikipedia  Pierre_Teilhard_de_Chardin   *1881 in Mittelfrankreich bis 1955


 

 www.detopia.de     ^^^^     Literatur 

Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)