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9. Kleines Divertimento über den Elefantenwurm

Rede zur Verleihung des Kleist-Preises (1988)

 

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Ich habe in einem Leben, das mir nun bereits fünf Jahre länger lieb ist als jenem Selbstmörder, in dessen Namen wir uns hier so geistes­verwandt zusammen­gefunden haben, mit Fleiß Unartigkeiten über meines­gleichen zu Papier gebracht. Wie man sieht, ganz ohne Erfolg, denn dies ist, falls mich meine Sinne nicht trügen, keine Feuer-, sondern eine Feierstunde; und ich stehe weder am Pranger noch sitze ich auf heißen Kohlen. Vielmehr erwarten im Gegenteil Sie von mir Zündendes — ein Wunsch, bei dem man wie von selbst kalte Füße bekommt.

Zudem rätsele ich immer noch ein wenig, welche Eigenschaft mich denn eigentlich preiswert erscheinen ließ. Schließlich bin ich alles nur halbwegs geworden: ein halber Literat, ein halber Philosoph, ein halber Philologe. Zwar läuft auch das im Endeffekt auf die branchenüblichen einhundertundfünfzig Prozent hinaus, nur — wieviel davon prämienbegünstigt angelegt waren, weiß der Himmel. Am besten, ich bin rundherum dankbar, was mir denn auch bei Günter Kunert außerordentlich leicht fällt, in größerem Publikumskreise aber fast notwendig zu Schwindel und Drehwurm führt.

Bevor ich Sie damit anstecke oder, schlimmer noch, bevor ich Sie mit einer Fortsetzung jener üblen Nachrede verärgere, die mich in diese wunderliche Situation gebracht hat, ziehe ich mich lieber auf schöngeistige Weise aus der Affäre, indem ich Ihnen etwas erzähle. Und da der Drehwurm aus verständlichen Gründen ausscheid­et, am liebsten eine ganz unverfängliche Geschichte über seinen entfernten Vetter, den Elefanten­wurm.

 

Der Elefantenwurm ist in Südostasien zu Hause, genauer gesagt, in den dort lebenden Dickhäutern. Die Liaison zwischen dem Koloß und diesen, von Außenstehenden einigermaßen taktlos zu Parasiten erklärten Wesen ist uralt. Deshalb hat sich auch alles Frische, Pikante, Reizvolle der Beziehung längst abgeschliffen, ja, die Routinen und Selbstverständlichkeiten im Umgang miteinander haben ein solches Übergewicht gewonnen, daß die Bevölkerung des massiven Mikrokosmos in ihren alltäglichen Geschäften keinen Gedanken daran verschwendet, wo sie sich eigentlich befindet.

Dabei ist die ursprüngliche Tiernahme und Elefantenkolonisation eine heroische Tat gewesen, die in den Mythen der Würmer noch lange nachhallte, wenn auch mancher heute dazu neigt, die Dinge nüchterner, d.h. als eine Art militärisches Kommandounternehmen zu sehen. Nach dieser Lesart kamen die Pioniere, mikros­kopisch kleine Elefantenwurmlarven, wie Luftlandetruppen an den Einsatzort, wobei sie sich der Transport­kapazitäten einer Fliege oder eines anderen Trägerinsekts bedienten. Mit Hilfe seiner Stech- oder Beißwerkzeuge gelangten sie in die Elefantenhaut und arbeiteten sich dort langsam, aber zielsicher tiefer. Irgendwann war ein Äderchen erreicht und damit der Zugang zum Blutkreislauf erschlossen. Jetzt traten die Geißelfäden am Heck in Aktion, man wurde beweglicher, fuhr hin und her, sammelte und jagte, vermehrte sich und schickte den abenteuerlustigen Nachwuchs auf Expeditionen, um jenes sagenumwobene Eldorado tief im Elefantenkörper zu entdecken, wo alle Not ein Ende hat.

Nur im Herzen des Leviathan, darüber waren sich alle einig, konnte nämlich das Paradies verborgen sein, jener Garten Eden, wo mit dem Weltenbummlerischen auch alle Beschwernisse von einem abfielen, wo man seßhaft werden wollte und Wonnen ohne Zahl und ohne Beispiel des Glücklichen harrten — ein Füllhorn der Genüsse, in das mit jedem Pulsschlag neue Seligkeiten einströmten.

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Aber die Verheißung, das große Ziel, die Erlösung war eine Sache, die Mühsal des Weges dorthin war eine andere. Das goldene Zeitalter der ersten Elefantenwürmer, der Eroberer, Pfadfinder und Titanen ging vorüber. Ein silbernes Geschlecht erschien in den Arterien, erblühte, durch ein Fieber geläutert, suchte seinerseits das Heil und welkte, als sein Schicksal erfüllt war, in den Hormonausschüttungen der Elefanten­brunst dahin. Jetzt kam die eherne Zeit, eine schon entartete Epoche, die sich in widernatürlicher Lust nach Elfenbein verzehrte und selbst dem keineswegs eisernen Willen der Folgegeneration kaum Widerstand entgegenzusetzen hatte. So triumphierte schließlich ein buntscheckiges Völkchen, das längst nicht mehr aus einem Guß war, sondern sich aus den unterschiedlichsten Elementen zusammensetzte oder besser, zusammenraufte.

Da gab es Gradlinige und Krumme, Vorwärtsdrängende und Bedächtige, Vielfraße und Magengesichter, Zukunfts­frohe und Exemplare, die wegen des endlosen Weges ins Paradies zur Verbitterung neigten, Tumbe und Aufgeweckte, Visionäre und Blindschleichen. Manche waren Einzelgänger, die meisten aber suchten die Gesellschaft Gleichgesinnter und schlossen sich zu immer größeren Wurmhaufen zusammen, womit sie z.B. ihre Wiedergeburt in einem weißen Elefanten zu befördern suchten. Andere wiederum verknäulten sich zu Ehren eines geheimnisvollen Mahut, der angeblich alles lenkte und selbst Dickhäutern seinen Willen aufzwang; und einer dritten Verschlingung war alles Gott — mit Ausnahme derjenigen, die sich dieser frohen Botschaft verschlossen.

Solchen Ungläubigen und Heiden pflegte jede Gruppe energisch zu Leibe zu rücken, manchmal mit sogenannt­en besseren Argumenten, in der Regel jedoch mit einer weitaus überzeugenderen Form der Schlagfertigkeit. Und selbst als die Waffen der Religion stumpf und schartig gehauen waren, hielt man beharrlich am Althergebrachten fest und arrangierte weiterhin jene friedvollen Stilleben aus Fleisch und Blut, die den Feldern der Ehre ihr malerisches Gepränge geben.

Zwar sahen sich die Gegenspieler nach wie vor zum Verwechseln ähnlich, aber diesen Geburtsfehler konnte man durch die Akzentuierung der Herkunfts- und Abstammungsunterschiede ebenso verläßlich wettmachen wie früher durch die Anbetung sich unversöhnlich gegenüberstehender Idole. Diejenigen, deren Vorfahren von derselben Fliege eingeimpft worden waren, hielten entsprechend alle übrigen für minderwertige Infiltranten und machten gegen die Schmarotzer mobil.

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Andere wiederum schweißte der Körperteil zusammen, in dem sie das Dunkel der Welt erblickt hatten, und die Rüsselheimer beseelte ein abgrundtiefer Haß auf die Flankenstämmigen, die sich in ihrer gewohnten Perfidie denn auch flugs mit den Ohrwürmern verbündeten.

Kurz und gut, weit davon entfernt, eine primitive Lebensform zu sein, erklommen die Elefantenwürmer Stufe um Stufe der zivilisatorischen Himmelsleiter. Mehr noch, sie bildeten in ihrem Habitat, kaum daß man sich versah, alle Kennzeichen einer Hochkultur aus; Merkmale, die ich hier nicht aufzählen muß, weil unsere Fernseh­nachrichten sie auf Knopfdruck in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit vor uns ausbreiten.

Auf diese Weise überragte das letzte Geschlecht den schwerfälligen Wirtsorganismus, in dem es existierte, über alle Maßen, und es kann nicht überraschen, daß der Elefantenwurm, insbesondere in ruhigeren Nebenadern oder weniger strömungsaktiven Zonen, auch über sich selbst und seine Stellung im elefantösen All nachzusinnen begann. Abhandlungen über Wesen und Würde des Elefantenwurms traten vom linken Lungenflügel aus ihren Siegeszug durch die inneren Organe an, in der Hirnanhangdrüse proklamierte die sogenannte Aufklärung, deren Fernziel der gläserne Elefant war, die Elefantenwurmrechte, und am Dickdarm bildeten sich revolutionäre Zellen. Ihr erklärtes Ziel war es, der Ausbeutung des Elefantenwurms durch den Elefantenwurm Einhalt zu gebieten. Allerdings gerieten sie dabei durch die ständigen Blähungen und Verdauungsgeräusche teils ganz aus dem Konzept, teils verstanden sie sich gegenseitig so unzulänglich, ja falsch, daß sie bald erleichtert zu jener bewährten und hochentwickelten Methode der Konfliktlösung zurückkehrten, die oben beschrieben wurde.

Zu den schönen Erfolgen bei der Selbstverständigung und Selbstverwirklichung der Elefantenwürmer gesellten sich jetzt endlich auch unübersehbare Fortschritte in der Bemächtigung des Heils. Inzwischen hatte sich nämlich eine Larve, in der sich alle auf geheimnisvolle Weise wiedererkannten und von der man deshalb nur im Kollektivsingular als von »der Elefantenwurmheit« sprach, in der Herzkammer des Dickhäuters festgesetzt und widmete sich dort nach Leibeskräften der Eroberung und Ausfüllung vorhandener Freiräume.

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Aber seltsam, obwohl die überall aushängende, vollmundig kommentierte und bis ins Transorganische hoch­gerechnete Wachstumskurve der Elefantenwurmheit keinerlei Anlaß zu Beanstandungen bot, sondern im Gegenteil jedem Volkswirtschaftler die Freudentränen in die Augen getrieben hätte, wollte sich der rechte Begeist­erungstaumel nicht einstellen.

Das rührte wieder daher, daß es unter den Elefantenwürmern solche und solche, also auch Unken und Miesepeter, gab, die an allem und jedem etwas herum­zunörgeln und auszusetzen fanden. Die Unverfrorensten unter ihnen verstiegen sich sogar zu der Behauptung, der Elefant sei ungleich wichtiger als der Elefantenwurm und möglicherweise täte die Elefantenwurmheit gut daran, sich zu bescheiden oder sogar abzuspecken. Von einem labilen Gleichgewicht war in diesen Kreisen die Rede, von Herzmuskel­schwäche und jetzt schon reduzierter Pumpleistung, selbst von Elefantenschutz, und eine Organisation namens »Grünes Mastodon« verübte überall Sabotageakte, angeblich, um den Gewissenswurm aufzurütteln.

Dabei weiß auch unter Elefantenwürmern jedes Kind, daß Selbstbehauptung und das Recht des Stärkeren unwandelbare Naturgesetze sind, aus denen die ganze Vielfalt des Lebens hervorgegangen ist. Und zwar eben deshalb, weil nichts sich Zügel angelegt hat, sondern alles instinktiv nach dem Optimum und allumfassender Sättigung strebt. Ein Wolf ist durch gutes Zureden ebensowenig von Schaffleisch abzubringen, wie diesem Fleisch vorher das saftige Gras aus dem Maul zu vernünfteln war; und das ist gut so. Selbst der Mensch kann nicht aus seiner Haut — aber den wollen wir ja, wie versprochen, nicht mit in die Geschichte hineinziehen. Außerdem fraß die Elefantenwurmheit in souveräner Mißachtung aller Diät- und Entschlackungsvorschläge weiter, und wenn etwas daran nicht in Ordnung gewesen wäre, hätte sie es doch wohl zuallererst merken müssen.

Nein, es stand alles zum besten, und der Wirt gab denen im Überfluß, die sich vertrauensvoll in seinem Lebensstrom treiben ließen. Probleme hatten allein die Verqueren, die partout gegen die Fließrichtung schwimmen wollten, und zwar mit sich selbst. Irgendwie waren sie wohl im Elefanten nie richtig zu Hause gewesen, und vielleicht deshalb so häufig geistesabwesend. Manchmal entfernten sie sich in Gedanken sogar soweit, daß sie nicht einmal mehr in den eigenen Körper zurückfanden, den sie dann den Würmern zum Fraß überlassen mußten. Und schon vor vielen Jahren soll einer dieser Unglücklichen in einem Abschiedbrief erklärt haben: »Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.«

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Ein paar überspannte Gesinnungsgenossen hatten diesen lakonischen Nachruf auf die ganze Gattung ausdehnen wollen, stießen damit aber auf den energischen Widerstand der Elefantenwurm-Intelligenzija, die schließlich zum überwiegenden Teil aus rosigen und zukunftsfrohen Larven bestand. Die taten, was sie konnten, um den gesunden Optimismus wieder in seine alten Rechte einzusetzen. Überall wurden Forschungs­institute und Mammutuniversitäten gegründet, die Freizeitindustrie in Schwung gebracht, der Massentourismus zur Erschließung der äußersten Extremitäten ermutigt.

Doch diese Maßnahmen brachten bestenfalls kurzfristige Erfolge. Selbst das Verkabelung genannte Aneinanderkoppeln der Wurmkörper, durch die so ständig ein aufmunternder Strom von Neuigkeiten und feinsinniger Unterhaltung zirkulierte, vermochte die unerklärliche Verdüsterung der Stimmung nicht zu beseitigen. Da endlich entschlossen sich die Verantwortlichen zur Flucht nach vorn und organisierten elefantenweit Talkshows und Symposien, die alle denselben herausfordernden Titel trugen: <Die Lust am Untergang>.

Bei diesen Veranstaltungen tauchte ab und an auch ein derangierter Wirbelloser auf, der eine Streitschrift mit dem nicht minder krausen Titel »Der Unwurm« verfaßt hatte. In diesem Pamphlet stellte er die These auf, die Elefantenwurmheit werde sich so lange weitermästen, bis sie ihren Wirt ausgepowert und durch Lähmung des Herzmuskels in den Untergang getrieben habe, denn darauf sei sie von Anbeginn angelegt gewesen. Diese aberwitzige Deutung brachte den Zuhörern und Mitdiskutanten schlagartig jene Lebensfreude und Heiterkeit zurück, die sie so schmerzlich vermißt hatten.

Viele wurden innerlich von Lachkrämpfen geschüttelt, obwohl sie nach außen hin keine Miene verzogen und gewichtig nickend zuhörten, denn sonst hätten sie sich um die Fortsetzung des Vergnügens gebracht. Andere durchströmte wohlige Erleichterung, weil jemand den ganzen Unsinn aussprach, der ihnen selbst lange genug im Schädel herumgespukt war. Das bewirkte bei ihnen nämlich eine Art Entrümpelung des Hinterstübchens, so daß sie den Kopf wieder frei bekamen für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.

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Und eine dritte Fraktion hatte einfach deshalb einen Narren an dem Narren gefressen, weil es in der Elefant­en­wurmwelt zu jenem Zeitpunkt nur noch wissenschaftliche Langeweiler, hochspezialisierte Nerven­sägen, transzendental-belletristische Entertainer, ausgekochte Ideenschnorrer und wurmstichige Projekt­kasper gab.

Wenig fehlte und die Freunde des Exotischen hätten diesen <Bruder Lustig des Untergangs> auch noch vor die Elefantenwurmheit geschleppt, damit er ihr seine Kapriolen vordenke und ihr ein Weilchen als Schalk im Nacken sitze, der allerdings vor lauter Verfettung schon nicht mehr auszumachen war. Allein, die Elefanten­wurmheit, in der sich alle auf geheimnisvolle Weise wiedererkannten, empfing niemanden. Wie man hörte, war sie inzwischen so groß wie ein männlicher Unterarm und mit dem walzenförmigen, milchigweißen Leib gegen etwas Muskulöses und Pulsierendes gestoßen, das sie an der weiteren Selbstentfaltung zu hindern suchte. Deshalb konzentrierte sie sich jetzt ganz auf die Nahrungsaufnahme, um Kräfte zu sammeln für jenen Durchbruch in das Reich der Freiheit, der, wie sie sich ausgedrückt hatte, im Interesse noch des armseligsten Würmchens liege und schließlich und endlich allen zugute kommen werde.

Diese wunderbare Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und könnte man in einen Elefanten hineinsehen, so hätte man glauben mögen, ihm brodele das Blut in den Adern. Es waren aber nur die Elefanten­würmer, die fieberhaft Vorbereitungen zur Feier jenes weltbewegenden Ereignisses trafen, das vom Ausgang des gewaltigen Ringens zwischen Elefantenwurmheit und einem Säugetierherzen abhing.

Das Ende der Geschichte? 

Ich bin untröstlich, aber mit Wurmfortsätzen kann ich nicht dienen. Nicht nur, weil die sogenannten erschöpfenden Darstellungen in der Regel ihrem Namen alle Ehre machen und ich deshalb, wie eingangs erwähnt, den Halbheiten verfallen bin. Der entscheidende Grund liegt vielmehr in der schlichten Tatsache, daß der Kontakt zu meinem Informanten unter den Elefantenwürmern restlos abgerissen ist. Das letzte, was er mir übermittelte, war eine verstümmelte Nachricht über ein Preis-Rätsel, mit dem er sich beschäftigte. Wie Sie mir zugeben werden, ein unter den obwaltenden Umständen höchst seltsamer Zeitvertreib. Aber vielleicht war er dem Druck und der seelischen Anspannung nicht mehr gewachsen und mußte sich ablenken. In gewisser Hinsicht sind Elefantenwürmer eben auch nur Menschen.

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 Ansichten vom Großen Umsonst Essays 1984-1990