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3.2  Die Kultur des Wandels 

 

Das geistige Handwerkszeug für die kommende Transformation

 

 

 

   Die Chance des Milleniums   

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Nur noch wenige Tage und Nächte liegen zwischen uns und einem Ereignis, das so etwas wie ein Privileg für unsere Generation ist: die Jahrtausend­wende, das Jahr 2000. Und wenn auch viele die Zahl mit den drei Nullen als einen reinen Zufall, ein im Grunde bedeutungsloses Zahlenspiel verharmlosen möchten – kaum jemand kann sich letztlich seiner Faszination entziehen.

Runde Zahlen sind nichts anderes als Symbole, gewiß. Aber Symbole können mächtig sein. Wer jemals versucht hat, Weihnachten zu vermeiden oder den eigenen Geburtstag oder Silvester zu ignorieren, weiß, daß man symbolischen Daten nicht entgehen kann. Man kann angestrengt ihre Bedeutung leugnen, aber man verhält sich dazu, und sei es eben negativ. Nicht wenige freilich neigen zur entgegengesetzten Haltung: Sie mystifizieren solche Daten. Das zeigt sich in Sachen Jahrtausendwende etwa in Erscheinungen in psychisch pathologischer Form. Kollektive Paranoia, Angstneurosen, regressive Destruktionsphantasien schießen allerorten aus dem Boden. Verschwörungstheorien, UFO-Glaube, die "milicia" in den USA, die Häufung von Weltuntergangssekten, die mit wildesten Wahnideen zu Mord und Selbstmord bereit sind – all das sind typische Anzeichen einer "millenaristischen" Hysterie.

Auch die letzte Jahrhundertwende – das Jahr 1900 – brachte Kometenfurcht und Okkultismus, Magier und Hellseher hervor; aber auch Aufschwünge der Vernunft: Freud und Alfred Adler, Einstein und Max Planck, den Aufstieg der Mathematik, die Entdeckungen der Curies, die Soziologie mit Max Weber und Georg Simmel, die Kulturwissenschaften mit Aby Warburg und Ernst Cassirer, das neue Bauen mit Adolf Loos und Henry van de Velde. Die mechanische Technik erlebte eine rasante Blüte, das Fliegen wurde erfunden und bestaunt. Telefon, drahtlose Telegraphie, Film, Schallplatte wurden gerade zu "Massenmedien". So etwas wie "Weltkultur" entstand zum erstenmal.

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Die breite Ernüchterung nach dem Untergang der TITANIC markierte dann das beginnende Ende dieser Epoche. Von da an ging es mental "rückwärts" – bis zu den barbarischen Schlächtereien der Weltkriege und Vernichtungslager, die unser Jahrhundert trotz des mehr glimpflichen Verlaufes seiner zweiten Hälfte zum blutigsten der Geschichte machten.

Das hinter uns liegende Jahrhundert bietet also nur wenig Grund zum "Feiern". Wir sollten seine Wende hinüber in ein neues Jahrtausend nutzen zu einer Bilanz, einer Inventur: Welche unserer zivilisatorischen Instrumentarien, Weltbilder, Denkweisen haben sich bewährt? Welche sollten wir über Bord werfen? Aber auch: Welche mentalen, psychologischen, intellektuellen Fähigkeiten müssen wir bilden und "trainieren", damit wir in der absehbar weit offeneren Welt des 21. Jahrhunderts den notwendigen Wandel zivilisatorisch bewältigen können? 

Das Jahr 2000 ist wie eine große Spiegelungsfläche, eine Leinwand, auf der wir unsere Träume, Hoffungen und Befürchtungen noch einmal in kollektiver "Filmproduktion" dramatisieren und erörtern können. Machen wir das Beste aus dieser Chance. Sie kommt die nächsten 1000 Jahre nicht wieder!

 

   Future Fitness – einige Kernkompetenzen für Zukunftsfähigkeit  

 

Eine realistische Vorstellung der Welt haben. Zunächst müssen wir die Verzerrungen, die unsere Psychen der Realität antun, durchschauen und überwinden. Zukunftsbilder sind oft von inneren Krankheiten infiziert, sie zeugen auch von kindlichen Schädigungen und biographischen Defiziten.

Wir können es gar nicht genug betonen: Nein, die Welt ist nicht dazu da, uns zu strafen. Nein, es lauert kein Untergang an der nächsten Straßenkreuzung. Eine kaltblütige Risikoabwägung bringt ein Ergebnis, "mit dem man arbeiten kann": Die


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wirklich existentiellen Bedrohungen für die Menschheit lassen sich auf vier, fünf reale Gefahren beschränken. Die Chancen, diese Faktoren zu unseren Gunsten zu verändern, stehen gut, denn Menschen sind von der Evolution auf Überleben programmiert.

Vertrauen in die Zukunft ist in diesem Weltbild nicht nur möglich, sondern auch von systemischer Logik gedeckt. Um ein einmal funktionierendes System (wie das der "industriellen Demokratie") zum Kippen zu bringen, braucht es Jahre und Jahrzehnte von Agonie, Krankheit, Verderbnis. Komplexe Systeme - und unsere gesellschaftlichen Systeme gehören allemal dazu - sind geschmeidiger, flexibler im Umgang mit Krisen als einfache mit wenigen Variablen. Selbst die Gesetze des Chaos basieren nicht auf der Logik der Verwüstung, sondern, im Gegenteil, auf dem Prozeß der Ausdifferenzierung und Selbstorganisation. Die uns tragenden Kräfte sind zäher, als daß es kurz in den Untergang kippen könnte.

Die Realität ist widersprüchlich - aber genau das ist es auch, was ihr Stabilität verleiht. Je mehr industriell food - desto mehr Bionahrungsmittel. Je mehr industrielle Tierhaltung, desto mehr Vegetarier. Je mehr Lärm, Streß, falsche Komplexität, desto mehr setzen sich Techniken der Kontemplation, der kreativen Muße durch; Menschen gehen offline, finden ihre eigenen seelischen Zentren, organisieren sich mentale Räume. Je mehr Funktionalität und Ökonomie unser Leben regieren, desto entschlossener suchen die Menschen nach dem Menschlichen, den kleinen Gesten, dem Zusammenhalt. Auf diese ewige Dialektik ist Verlaß. Gewiß, sie benötig immer das aktive Handeln. Aber es gibt keine Anzeichen dafür, daß dieser Mechanismus plötzlich abbricht. Im Gegenteil. 

Ein realistisches Verhältnis von der Welt heißt also: in die Zukunft vertrauen können. Und auch, daß wir das Unabänderliche akzeptieren und annehmen — ohne dabei unsere Gestaltungsräume zu vergessen oder zu klein anzusetzen. Das Neue erschreckt, aber der vielgescholtene gesunde Menschenverstand sagt uns, daß im Neuen noch genug Altes, Bewährtes stecken wird, damit wir es dort aushallen können.


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Den eigenen Verantwortungsradius definieren. Der zweite wichtige Schritt ist die Justierung der Bedeutung des eigenen Ich. In den Narzißmen des Weltuntergangs und der Verseuchungsängste spiegelt sich ja auch ein Ego, das die Grenzen zwischen Innen und Außen nicht mehr fixieren kann. Aber gerade die Geschichte der Jugendrevolte hat gezeigt: Wir können weder alles revolutionär umstürzen, noch alles verderben. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, die Ökonomie, das Wetter, die menschliche Natur - es gibt Dinge, die sich schlichtweg unserem Veränderungsdrang entziehen. Die Evolution hat Konstanten und Stabilitäten hervorgebracht, die dem "Neuen" immer wieder trotzen.

Darin liegt andererseits auch eine gewaltige Entlastung, die große Energien freisetzen kann. Welch frohe Botschaft: Nein, wir sind nicht für alles verantwortlich! Die Ausbeutung der Dritten Welt, die Abholzung der Regenwälder, die Gewalt im Fernsehen, die Entfremdung zwischen Mann und Frau/ der Rechtsradikalismus/ die Fremdenfeindlichkeit - das sind ohne Zweifel gewaltige Probleme und Gefahren. Aber niemand von uns kann die ganze Welt tragen. Jeder von uns kann ein Scherflein beitragen (und viele Scherflein haben schon manches Problem beseitigt).

Zukunftsfitneß heißt also auch: wissen, was man ändern will und kann - und wo man besser loslassen sollte. Menschen, die diesen Sortierungsprozeß hinter sich haben, laufen oft zu außergewöhnlichen Leistungen auf. Denn sie können sich auf einen Punkt konzentrieren, ihr Talent, ihre Eigenart zum Blühen bringen. Sie können ein geniales Musikstück schreiben / Kinder in Liebe erziehen / ein Projekt in aller Tiefe entwickeln, ohne daß sie gleichzeitig das Gefühl haben, daß "das alles nicht reicht, um die Menschheit zu retten".


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Das war eines der schrecklichsten Fallen meiner Jugend: Alles, was wir taten, Wohngemeinschaften und Alternativprojekte, Demonstrationen und Beziehungsarbeit - es war immer nicht genug! Es war immer nur mickrige kleine Ableitung in einem gigantischen Überzusammenhang, es war kleinbürgerlich und "partikular" und "nicht konsequent" (das konnte man nur sein, wenn man Bomben auf die Herrschenden warf oder anderswie ausflippte). Uns fehlte deshalb ständig die Liebe zum Detail, jene Aufmerksamkeit, die man dringend braucht, wenn man die Verwirklichung von Träumen ernst nimmt.

Erst, wer seine Verantwortung begrenzt, kann welche übernehmen.

Prozesse als Evolutionen sehen. Wer seine mentalen Hausaufgaben weiter erledigen will, der muß seinen Blickwinkel derart verschieben (und erweitern) können, daß er in den Prozessen, die uns umgeben, nicht finale Strukturen, sondern evolutionäre Prinzipien erkennt. Auch das führt zu enormer Entlastung.

Evolutionäres Bewußtsein heißt, daß wir die Gesetze der Komplexität in der Wirtschaft, den Sozialsystemen, den Technologien spüren und verstehen lernen. Und daß wir lernen, nicht gegen, sondern mit ihnen zu arbeiten. Technik verhält sich nicht wie ein "objektiver Prozeß", sie unterliegt denselben Gesetzen wie das Wachstum von Bäumen oder die Entwicklung von Fischpopulationen. Technik kommt und vergeht, und sie befindet sich in einem ständigen Austausch mit Kultur. Wir erfinden nicht, "was erfunden werden kann", sondern das, was wir "brauchen" - in unserem Alltagsleben setzen sich Technologien durch, die zivilisatorische Komplexität erzeugen (in einem extrem ambivalenten Sinn gilt dies sogar für die Atombombe).


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Für die Ökonomie gilt das gleiche: Die Vermehrung von Geld und die Steigerung von Produktivität funktionieren nicht nach den Gesetzen von Urgewalten ("entfesselter Kapitalismus"), sondern sind ein äußerst komplexer, osmotischer Prozeß von ständigem Bedürfniswandel, von Angebot, Nachfrage und dem (ökonomischen wie ökologischen) Zwang, Kosten zu senken und Ressourcen zu schonen. Firmen und Konzerne sind mit vielen unsichtbaren Fäden mit den Gesellschaften und Märkten verbunden, und sie lernen immer mehr, mit dieser Komplexität differenzierter umzugehen als in den Input-Output-Logiken des frühen industriellen Zeitalters.

Das evolutionäre Denken hilft uns dabei, zu verstehen, daß es keine "exterritorialen" Prozesse in unserer Welt gibt. Die Vorstellung, irgendwo tief in der Ökonomie, der Gesellschaft, säße ein "tödliches Prinzip", eine dämonische Kraft, eine Art Antimaterie, die uns morgen oder übermorgen in die Verderbnis zwingt, ist schlichtweg falsch. Die wirkliche Gefahr in solchen Vorstellungen liegt viel eher darin, daß wir gerade das produzieren, was wir bekämpfen wollen!  

Gelassenheit. Die meisten Entwicklungen und Trends, die unser Leben verändern, sind langfristig - sie lassen uns genügend Zeit zum Reagieren. Vieles, was heute in den Medien als Bedrohungssensation gehandelt wird, ist in Wirklichkeit ein epochaler Prozeß, mit dem sich unsere Kultur schon lange auseinandersetzt. "Globalisierung" etwa wurde schon 1848 von Karl Marx und Friedrich Engels im "Kommunistischen Manifest" beschrieben. Auch "Individualisierung" hat ihre Wurzeln in der bürgerlichen Revolution, ebenso wie die "Informationsgesellschaft" im Grunde ein alter Hut ist - seit der Erfindung des Telegrafen zirkulieren Börsenkurse, politische, militärische und kriminelle Geheimnisse blitzschnell um den Globus.  

Die Angelsachsen kennen zwei Wörter für Geschwindigkeit, speed und pace. Liegt es an diesem Wortmangel, daß wir so akzelerationsphobisch reagieren? Alles ändert sich — aber vieles bleibt, wie es ist. Das heißt, im Umkehrschluß: Wir können (und müssen) unseren pace finden, unsere eigene, angemessene Wandlungsgeschwindigkeit.


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Jeder, der eine Sturm-und-Drang-Periode in seinem Leben durchlebt hat — und wer hätte das nicht —, hat eine Erfahrung gemacht, die in der allgemeinen Hektik der heutigen Zukunftsdebatte gar nicht mehr vorkommt. Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben - wie viele verrückte Ideen, Wünsche, Träume hat jeder von uns schon versucht, in die Wirklichkeit umzusetzen! Und wie oft sind wir zu früh gesprungen, unreif, ohne die notwendige Power. Die Idee war gut, aber die Fähigkeiten hinkten hinterher. Die Zeit war noch nicht reif, und am allerwenigsten reif waren wir!

 

Empowerment. Es ist natürlich einfach, sich über die neuen Gurus des positiven Denken lustig zu machen, jene smarten Herren im adretten Anzug, die sich auf Massenveranstaltungen mit Arbeitslosen mit Einpeitscher-Parolen und you-can-get-it-if-you-really-want-Philosophien bereichern. Aber dahinter steckt auch unsere typische Abwehrhaltung, die bestimmte Übertreibungen dazu benutzt, das Ganze zu denunzieren. Gewiß erzeugt positives Denken im Billigwaschgang eher Schaum und wenig Wirkung. Aber die zentrale Frage bleibt

Wie entsteht in unserem Kulturkreis mehr aktives Bewußtsein? Wie schaffen wir es, die kollektive Opfermentalität zurückzudrängen und einen realistischen Optimismus so faszinierend zu machen, daß er zu einer Art Massenbewegung wird? 

Wir brauchen nicht Opfer zu bleiben, sagt Mihaly Csikszentmihalyi in "FLOW". Die Gegenwart ist der Ort der Macht. In der Gegenwart können wir uns stets dazu entschließen, unsere negativen Empfindungen zu ändern. Mein Körper, meine Gesundheit, meine Beziehungen, meine Berufstätigkeit, meine finanzielle Situation - ja alles im Leben - spiegelt das Gespräch in meinem Inneren.


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Vielleicht ist es deshalb gar nicht so tragisch, wenn wir in Zukunft von einigen NLP-Einpeitschern aufgeschreckt werden, die ganze Sportstadien mit ihrem Ruf "Du kannst es schaffen" füllen. Unsere Kultur hat ein riesiges Nachholbedürfnis in diesen Dingen und viel zu viele düstere Herren mit den gesenkten Augenbrauen, die uns seit Jahrzehnten immer wieder davon überzeugen wollen, daß alles übel enden wird.

Ein Begriff sollte uns zum Abschluß dieses Buches noch einmal näher interessieren. Vision. Ein Begriff, der nicht zuletzt durch unsere Geschichte und unsere Erfahrungen diskreditiert worden ist. Aber ohne Vision, ohne die Idee eines besseren Morgen, kann keine Gesellschaft, keine Kultur eine Transformation bewerkstelligen. Gibt es also etwas scheinbar Widersprüchlicheres als realistische Visionen? 

 

   Visionen in der Politik: LEADERSHIP UND "STORYTELLING"   

 

Im Grunde ist die Aufgabe der Politik – und des Politikers – leicht zu beschreiben. Er muß der Gesellschaft eine Vision ihrer möglichen Zukunft anbieten, an der sie sich orientieren und verändern kann. Er muß den "kommenden Konsens" formulieren - einen Konsens, der möglichst viele und unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen einschließt. 

In den ruhigen Zwischenphasen der Geschichte, in denen das Wachstum anhält und die kulturellen Parameter nicht in Frage gestellt sind, können auch "Politiker des Status quo" den Job der "Vision" erfüllen. "Weiter so" — "Keine Experimente" — diese bekannten Formeln können zur richtigen Zeit die richtigen Impulse sein. 

In Zeiten allerdings, in denen Kultur und Gesellschaft unter Anpassungs- und Innovationsdruck geraten, muß die politische Vision den Turbogang einlegen und ungleich mehr leisten: Sie muß die Transformation plausibel machen. 


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Dazu bedarf es mehr denn je charismatischer und symbolischer Führer. Allerdings macht das Wort "Führerschaft" ohne die Idee der (steigenden und bewältigten) Komplexität keinen (positiven) Sinn. Auch Hitler war ein charismatischer Visionär, aber seine Vision zielte auf die totale Regression, auf die Vernichtung des Vielfältigen, auf die Abschaffung von Komplexität. In Krisenzeiten finden solche dunklen Charismatiker leicht ihr Publikum: Sie versprechen einfache Lösungen, Reduktion des Komplexen, Wiederaufteilung der Welt in Schwarz und Weiß. Von Le Pen bis Scientology — der Rückwärtsgang ist in Zeiten des gestiegenen Komplexitätsdrucks zunächst die erste Reaktion.

Positive charismatische Führer haben vor allem die Fähigkeit, angstfreie Geschichten über die Zukunft zu erzählen. Und damit die Gesellschaft den Mut aufbringt, ihre alten Strukturen und Gewohnheiten zugunsten höherer Komplexität aufzugeben, bedarf es außergewöhnlicher rhetorischer Begabung. An den erfolgreichen posttraditionalen Politikern der Gegenwart lassen sich beide Aspekte gut studieren. Blair, Havel und Clinton, mit vielen Einschränkungen sogar Schröder, sind ganz typische Symbolisten der Zukunft. Ihre sprachlichen Wendungen mögen oft seltsam pathetisch, ja "hohl" klingen - "Brücke zum 21. Jahrhundert", "Ein erneuertes Britannien, bereit für eine bessere Zukunft", "Wirtschaft plus Ökologie" - aber mit solchen Formeln wird ein Perspektivwechsel vorbereitet: Die Zuhörer werden zur Schau über den Tellerrand ihrer Ängste und Befürchtungen verführt. Sie werden "enthypnotisiert". 

Ein guter politischer Führer verkörpert geistige und moralische Integrität, Reife, verarbeitete Erfahrungen (sowohl Clinton als auch Blair hatten eine klassische 60er-Jahre-Hippie-Vergangenheit), Kraft des Glaubens, Instinkt, Machtwille, aber gleichzeitig auch Jugendlichkeit, sprich Vitalität. Die letzte Generation dieser Modernisierer, die realistische Visionen erzählen konnten, hatte ihre große Zeit in den 60er Jahren. John F. Kennedy führte Amerika – und damit die westliche Welt – vom Autoritarismus der Nachkriegsära in


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den Wertekanon der Moderne: Individualismus, Technikbejahung und Toleranz – der letzte große Komplexitätssprung der westlichen Kultur. In Deutschland war Willy Brandt das Äquivalent, das gleichzeitig mit der Vergangenheit versöhnen mußte – "Mehr Demokratie wagen" war nichts anderes als ein Schlachtruf des gewaltigen Individualisierungschubs, der in den späten 60ern begann. 

Eine gelungene politische Wandlungskultur entsteht im Spannungsfeld zwischen den Matadoren der Veränderung und den Auguren des Status quo. Einer benötigt den anderen, um an ihm zu wachsen. Wir brauchen die Kohls der Geschichte, denn ohne sie wissen wir nicht, was wir verlassen können und müssen. Eine Gesellschaft im ständigen Wandel würde ebenso zerbrechen wie eine Kultur der Beharrung.

Dieses Wechselspiel ist in Deutschland durch die überlange Zeit des Kohlschen Regiments sicherlich gestört. Das Treibklima von Angst und Pessimismus, das sich in den letzten Jahren seiner Regierung in Deutschland entfaltet hat, ist sicher weniger der gegenwärtigen Politik als den Bestrafungsängsten und Wünschen des kollektiven Unbewußten geschuldet. Aber dem Resonanzboden der Gesellschaft entwächst früher oder später immer ein Symboltalent des nächsten Modernisierungschubes. Visionäre sind gewissermaßen "Emanationen" der gesellschaftlichen Dynamik, es ist deshalb mehr als wahrscheinlich, daß die Jahrtausendwende auch in Deutschland einen Posttraditionalisten nach dem Muster Blair oder Clinton hervorbringen wird. Die Geschichte wird ihn, wie so oft, in ihrem Schoß "clonen".

 

   Visionen im Privaten:  Die Idee der Lebenskunst    

 

Die Geschichte unserer Kultur in den letzten dreißig Jahren ist die Geschichte von millionenfachen persönlichen Aufbrüchen. Frauen haben ihre langweiligen oder gewalttätigen Männer verlassen, haben ihr Selbst, ihren Stolz, ihre Würde, ihre Erotik entdeckt. 


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Kinder und Jugendliche haben "Nein" zu den Torheiten ihrer Eltern gesagt und sind ausgezogen, ihr eigenes Glück zu versuchen. Männer haben sich von ihren Vätern, von Traditionen und alten Denkweisen entfernt, haben Erbschaften ausgeschlagen und Nachfolgen verweigert. Überall war Unruhe, Aufbruch, Zweifel, Arbeit am Selbst. 

Vision im Privaten ist auch heute noch zuallererst Emanzipation. Aber man scheitert schnell, wenn man nur weiß, was man verlassen will – und in der Tat ist die Tragik der subkulturellen Revolten in den letzten Jahrzehnten immer die Feindfixiertheit gewesen. Man weiß leicht, was man nicht mehr will. Aber wohin will man?

Hier zeigt sich auch der Unterschied zwischen romantischen, idealistischen, hybriden "Visionen" (von denen Franz Vranitzky einmal gesagt haben soll, man sollte, falls man sie hat, zum Arzt gehen) und jener Art von Vision, die dem Komplexen verpflichtet ist. Eine Vision, die uns leiten kann, hat stets einen realistischen Kern. Sie handelt von geistigem und persönlichem Wachstum, von Reifungsprozessen, von Selbstverwirklichung, die auf Integration beruht. Sie ist nie nur Flucht, Abgrenzung, Freiheit-Von.

Man kann Menschen, die an Visionen leiden, leicht erkennen. Es ist etwas Stumpfes an ihnen, etwas Süchtiges. Sie sind geradlinig oft in einem stupiden, ermüdenden Sinn. Sie werden nicht müde, zu betonen, daß die anderen schuld sind und sie selbst unschuldige Opfer. Sie sind Getriebene der Negation. Eine Vision, die "funktioniert" im Sinne höherer menschlicher Komplexität, erfüllt dagegen den Menschen. Sie leitet ihn nicht im Sinne einer exakten Zielvorgabe, sie gibt ihm aber eine verläßliche Suchrichtung.

Die Fragen, die William Bridges in seinem Buch "Ich &Co" als Selbsttest für den Berufstypen des "neuen Selbständigen" entwickelt hat, sind auch hilfreich für die Entwicklung einer persönliche Vision: 1. Was will ich – wo und wie möchte ich in zehn Jahren sein? 2. Was kann ich – und was sollte ich lernen? 3. Wie ist mein Grundcharakter und 4. Welche Ressourcen habe ich auf meinem Weg?


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Darin zeigt sich, daß die Qualität einer Vision keine Frage des "Kleinen" oder "Großen" ist. Einen Gemüsegarten zu pflegen, Kinder zu erziehen, eine Firma zu gründen und zum Erfolg zu führen, eine Wohnung zu gestalten, Freundeskreise zu pflegen, Musik zu komponieren können genauso "erhabene" persönliche Visionen sein wie große Aufgaben in Politik oder Wissenschaften. Entscheidend ist, daß die Vision den Prozeß in sich einbegreift, der zum Ziel – einer höheren Komplexität des Daseins – weist. Wie dieser Prozeß gestaltet wird, ist im Grunde sekundär - man benötigt heute dazu nicht unbedingt mehr das Kloster.

In den vergangenen Epochen waren Biographien von klar definierten Lebenszielen definiert. Persönliche "Vision", das war in den allermeisten Fällen mit einer Idee des sozialen Aufstiegs verbunden. Die Symbole dieser Vision waren das Auto, das Haus, die geschäftliche Position. Aber in einer Welt des entfalteten Individuums und eines weitgehend realisierten Wohlstands ist die Linearität solcher "Visionen" unterbrochen. Plötzlich merken wir, daß die Steigerung von materiellem Wohlstand keinen Qualitätsgewinn mehr bringt. Die vielen Güter und Gebrauchsgegenstände entpuppen sich immer mehr als Zeitfresser. Und ab einem kritischen Punkt merken wir plötzlich, daß ja die Zeit zum Kostbarsten gehört, was wir haben. Dies ist die Stunde der Vision als Vorstellung von Lebenskunst: Wie bekomme ich einen roten Faden in dieses chaotische Gebilde namens Leben? Wie setze ich – entscheidende Frage in einer Kultur der Wahl - Prioritäten?. Die "Vision des Privaten" läuft auf die Vorstellung des Lebens als einer Art Gesamtkunstwerk hinaus – eines Kunstwerkes, das nicht mehr von Schicksal, Geschlecht oder Ökonomie, von Ansprüchen anderer geformt wird, sondern einzig und allein von uns selbst. Nicht außerordentliche Leistungen oder extreme Performance ist es, was der Lebensutopie eine sinnvolle Dimension gibt, sondern der Grad der Integration der verschiedenen Lebensfraktale. Wie ich Familie, Karriere, Freunde, Elternschaft, Zeitmanagement, Lebensphasen, intellektuelle und emotionale Reifungsprozesse miteinander in Einklang bringe – darauf kommt es an.


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   VISIONEN IN DER WIRTSCHAFT: DIE NEUE FIRMENKULTUR   

 

Wir leben in Zeiten der überbordenden und überdifferenzierten Märkte. Kunden werden anspruchsvoller, Produkte individueller, Innovationen flüchtiger, Konkurrenten zahlreicher und aggressiver, Produktionsprozesse komplexer. Die Komplexität des Gesamtsystems Wirtschaft steigt und kann nur durch eine neue innere Komplexität der Firmen beantwortet werden.

Die Erfahrungen mit der letzten Welle der Firmenreorganisation haben die Grenzen visionslosen Wirtschaftens gezeigt:
Reengeneering und Outsourcing, Just-in-time und Total Quality Management - all diese Techniken der Optimierung und der Rationalität sind immer dann ökonomisch gescheitert, wenn das Unternehmen, das sie betrieb, nicht gleichzeitig eine Vision ihrer Mission entwickeln konnte. Firmen verloren noch dabei manchmal ihre "Seele" und die Mitarbeiter die Motivation.

In den komplexen Ökonomien der Zukunft wird die Entwicklung einer werte-orientierten Firmenvision zum zentralen Aufgabe der Führung und des Management. Es reicht schon längst nicht mehr, einfach "der Beste" sein zu wollen: "Unsere Firma steht für exzellente Qualität und Pünktlichkeit".

Firmen, die tatsächlich "visionär" handeln und auch so " erscheinen wollen, müssen heute mehrere Bedingungen erfüllen.


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Die Vision ist nichts anderes als das Steuerungselement (die "ZUKUNFTS-DNS"), die den vielfältiger und effektiver ausgeformten Organismus einer Firma koordiniert. Sie rationalisiert und koordiniert gleichsam die Sinnbedürfnisse und optimiert die Kommunikationsprozesse nach innen und nach außen. Eine realistische Vision erspart Tausende von Briefing-Gesprächen, Motivationsreden, Zwangsmaßnahmen, Kontrollen. Gute Visionen funktionieren obendrein wie ein Lockstoff, der auf große Entfernungen das anziehen kann, was die Firmen des 21. Jahrhunderts am dringlichsten brauchen: komplexe Intelligenz, human resources, sprich: die richtigen Mitarbeiter. In der Ideen- und Wissensgesellschaft wird dieses Werkzeug zum wichtigsten Produktivitätsmittel, wichtiger als Maschinen, Immobilien und gute Administration, ebenso wichtig wie Kapital und innovatives Management.

Dabei gibt es einige Unterschiede in den "VISIONSTYPEN".

Grosse Konzerne geraten zunehmend unter den Druck, ihr Verhältnis zu Gesellschaft zu klären. Welchen menschlichen Wert repräsentieren sie? Welches humane Problem wollen sie lösen? Durch ihre Macht und Größe ängstigen sie die Gesellschaft. Die Lufthansa verschreibt sich deshalb bewußt und dezidiert der Idee der "Balance". Große Chemieriesen wie Novartis beginnen einen Dialog über das Projekt Bio- und Gentechnologie und positionieren sich als Humandienstleister - sie werden dadurch von seelenlosen "Chemiefabriken", denen man jeden Störfall sofort zutraute, zu Organismen mit Gesichtern und Missionen.


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Auch scheinbar "profane" Unternehmungen können sich mit dem Treibsatz der Vision in einen funkelnden Stern verwandeln. Die drittgrößte Pharmafirma der Welt, GLAXO WELLCOME, konnte einen gewaltigen Schub an Umsatz und Prestige verbuchen, als sie – für eine Pharmafirma eher ungewöhnlich – eine Visionsformel für ihr Anliegen schuf:

Man has no greater enemy then disease
Disease has no greater enemy than Glaxo Wellcome.

Konzerne tun all dies nicht freiwillig oder weil sie "gut sind". Sondern weil die Bestimmung des moralischen Standpunkts ein Produktivfaktor wird. Konzerne haben nicht nur treue Mitarbeiter oder eine feindliche Presse, sondern auch neue, kritische Aktionäre. Große Firmen haben nicht nur ein "Image", das sie mit PR-Maßnahmen zu verändern suchen, sie sind mehr und mehr gesellschaftliche Organismen, die auf vielfältigste Art mit ihrem Umfeld kommunizieren.

Kleine Betriebe, vor allem Neugründungen, brauchen keine Vision, sie müssen selbst eine sein.

Firmengründer unserer Tage, zumal in Deutschland, ähneln Sektengründern. Die Zumutungen der Reglementierung können sie nur überleben, wenn sie im Glauben fest mit ihren Mitarbeitern stehen. "In zwei Jahren müssen wir auf 40 Mitarbeiter und 15 Millionen Umsatz gestiegen sein, in acht Jahren gehen wir an die Börse." – Solche Vorsätze kann man nur fassen, wenn man den Prozeß der Firma visionär vor sich sieht, in einem ganzheitlich-zwingenden Bild.

Visionen im privaten, politischen und wirtschaftlichen Raum haben nichts "Idealistisches" – im Grunde sind es nur Anpassungsleistungen an die höhere Komplexität unserer Welt. Visionen machen die Welt "flüssig" und zugleich beschreibbar, sie deklarieren offenes Werden. Sie klären Unterschiede. Sie öffnen den Wirtschaftsprozeß zur Gesellschaft hin und das private Leben zur umliegenden Welt. Sie benötigen allerdings auch ein bestimmtes Milieu, auf dem sie gedeihen können, eine geistige Haltung, einen Humus dei Zukunftsbejahung.


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   Die drei Zukunftsmentaliäten   

 

Die Nerds. In jeder Gesellschaft existiert eine klar abgrenzbare Gruppe von vorwiegend männlichen Menschen, die sich aus der Gegenwart weitgehend verabschiedet haben und bereits heute in einer - zunächst etwas improvisierten - Zukunft leben. Dabei ist das Medium, mit dem sich diese nerds in die Zukunft beamen, relativ beliebig. Es kann sich um Groschenromane, technische Geräte, Science-fiction, Drogen handeln, sogar exotische Haustiere, Comics oder Filmstars eignen sich zum große Exodus aus der Gegenwart. Gleich sind seit einigen Jahrhunderten die Insignien dieser Lebensform: die unaufgeräumten Betten, die Kaffeetassen mit Rand, die Reste von Kartoffelchips, das komplette Fehlen von weiblichen Wesen mit Ausnahme von sorgenden, geduldigen Müttern.

Der Nerd lebt entlang technologischer Verheißungen, deren Unpäßlichkeiten und Unausgereiftheiten er durch hartnäckige Improvisation überspielt. Er betreibt einen frühzeitigen Exodus aus der "Vernunft" der Realität und verlegt die Zukunft in die Gegenwart seines Kinderzimmers, das gut und gerne bestehenbleiben kann, bis er 40, 50, 80 ist. Seit der Computer die Kinderzimmer erobert hat und eine mächtige neue Technologie den Planeten erobert, die der Simulation neue Welten Tür und Tor öffnet, ist das Heer der Nerds zu ungeahnter Machtfülle gekommen. Lauschen wir andächtig Peter Glasers Beschreibung der Nerds von heute:

Wenn ein Nerd nachts in einer Kurve zwischen Feldwand und Steilküste auf nasser Fahrbahn ins Rutschen kommt, sucht er den Zurück-Knopf. Sein Goldfisch und sein Hund haben eine eigene homepage. Während in den Fitneßcentern der alten, analogen Welt noch die Gutaussehenden und


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Geschmeidigen abrackern, um in jeder Beziehung vorteilhaft zu wirken, haben die Nerds längst gewonnen: eine Schar unattraktiver, neurotischer Burschen, die aussehen, als könnte man sie mit einem Löschblatt bewußtlos schlagen. Edel-Nerds wissen genau, wo im Flughafen von Anchorage/ Alaska die Steckdosen sind, an denen sich nach einem Transatlantikflug die Akkus wiederaufladen lassen. Sex1 Nerds pflanzen sich durch Knospung fort. Weibliche Nerds gibt es nicht. Bei der Kleidung zählt nur, ob die Taschen groß genug für 3-1/2- Zoll-Disketten sind. Ansonsten wird das Problem gelöst, indem der Nerd ein kleines Internetunternehmen gründet, damit an die Börse geht und Multimillionär wird, worauf er sich den besten Schneider der Welt leisten kann und in den neuen Anzügen immer noch so aussieht wie ein Nerd.

Der Nerd steht für das männlich-pubertäre, das lineare Prinzip der Zukunft, wobei Zukunft hier vor allem einen Wesensgehalt hat: Sie ist der Gegenwart mit ihren Störelementen - Frauen, Familiengründungen, Körperlichkeiten, Abwasch, Geldverdienen, Studiengebühren, Zugverspätungen – abgewandt. "Nerdism" ist der immerwährende Versuch, Kontrolle in einem Universum zu erlangen, das sich hartnäckig der Kontrolle entzieht. Und damit haben wir noch einmal einen wichtigen Aspekt von "Zukunft" berührt, wie sie heute als gesellschaftliches Erwartungsmuster unsere Kultur prägt. "Die Zukunft meistern - beherrschen - erobern" - darin offenbart sich der Kontrollwunsch, der männliche, technische Aspekt jedes Zukunftsdiskurses.

 

Es ist natürlich leicht, sich über den Nerd lustig zu machen oder ihn gar oberlehrerhaft zu denunzieren. Aber seine Energie ist unentbehrlich in jeder Ökologie der Zukunft. Technik ist letztlich immer nur die Metapher für diesen immerwährenden männlich-menschlichen Sonderlingwunsch: Auf ein Knöpfchen zu drücken und die Hangarwand fährt zurück / hunderttausend Stromkreise schließen sich / Planetensysteme werden zerstört/ man wird auf den Planeten Xylophon gebeamt/ man eliminiert feindliche schlechte Zeugnisnoten, die mit Raumgleitern angreifen. Kontrolle eben.


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Das ist die eigentliche Funktion der Nerds: Sie sorgen dafür, daß wir uns immer wieder aufs neue beunruhigen, aber auch faszinieren lassen müssen. Sie repräsentieren eine Seite unseres Wesens - eine Seite, die niemals "die Macht ergreifen" sollte, aber ohne die wir nicht auskommen auf unserem Zukunftsweg. Es kommt also in Sachen Zukunftsfähigkeit darauf an, wie die Gesellschaft ihre Nerds ins Gewebe der Kultur integriert – und ihnen gleichzeitig Grenzen setzt, damit sie nicht irgendwann zu Dr. Seltsams mutieren.

 

Der Futorophobiker. Dem Nerd exakt gegenüber auf der Skala unserer Zukunftsmentalitäten steht das Heer derjenigen, die mit "Zukunft" zunächst einmal nur das Schlimmste assoziieren. Das ist in unserer Gesellschaft die überwiegende Mehrheit. Zukunftsphobisch ist die hartnäckige Lust an der Vergangenheit, wie sie viele Intellektuelle wie ein trotziges Bekenntnis vor sich hertragen. Zukunftsphobisch ist der Angstsingsang auf allen Kanälen der Medien, wo jede Wandlungsnotwendigkeit zur finalen Krise, jedes Phänomen zum unlösbaren Problem umcodiert wird. Zukunftsphobie entspringt aber auch der Ahnung, daß man zu den Verlierern gehören könnte und aus der vorwegnehmenden, weil bequemen Kapitulation vor dieser Möglichkeit.

Das macht die Sache so überaus schwierig und moralisch verzwickt: In unserer Gesellschaft können sich – und das ist auch gut so – diejenigen äußern, die einen Verlust durch neue Technologien und Trends erwarten. Die Frage ist aber immer noch, ob wir deren Maßstäbe zu den Begrenzungspfählen unserer gesellschaftlichen Pfade machen sollten. Zwischen "Nerds" und "Phobikern" muß es also noch etwas Drittes, Vernünftiges geben.


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Zukunftsmelancholie. Zukunftsmelancholiker leugnen nicht, daß sich die Zukunft in einigen signifikanten Dingen von der Gegenwart und der Vergangenheit unterscheiden wird. Sie leugnen auch nicht die dramatischen Gefahren. Aber ach, sagt der Zukunftsmelancholiker — man lese die Bibel oder ein beliebiges anderes Großwerk der Weltreligionen; diese Ängste gibt es seit Äonen! Mörderische neue Technologien? Ach, sagt der Zukunftsmelancholiker, als die Eisenbahn eingeführt wurde, ging das Gerücht, man erführe bei Benutzung erst starken Schwindel, dann unheilbaren Wahnsinn, schwangere Frauen würden den spontanen Abort erleben. Ebenso dachte man bei Einführung des Radios, daß das Bücherlesen binnen eines Jahrzehnts der Vergangenheit angehören würde. Als das Schwarzpulver erfunden wurde, blühten die Apokalypsesekten auf. Mehr Beispiele gefällig?

Der Zukunftsmelancholiker muß auch der anderen Front, den ewigen Futuristen gegenüber, einen gewissen Skeptizismus entgegenbringen. Zeitenwende? Der Übergang ins gelobte Land der Information? Das Wassermannzeitalter? Aufbruch ins neue Jahrtausend? Na klar. Aber halblang. Zu den Möglichkeiten, daß wir unsere Nachfahren clonen, mit kleinen Mikrocomputern in den Schuhen herumlaufen und mit unseren Enkeln in der Raumstation kommunizieren werden, sollten wir auch noch die anderen Möglichkeiten einplanen: die Möglichkeiten des Durchlavierens, des Durchwursteins, der Langeweile, der Ignoranz. Die Menschheitsgeschichte ist voll mit durchaus erfolgreichen Strategien, den Kopf in den Sand zu stecken/ein Problem einfach zu überspringen/alle Fünfe gerade sein zu lassen. Daß alles nicht so heiß gegessen wie gekocht wird, ändert zwar nichts an der Tatsache, daß die Zukunft eine aufregende Gegend sein kann - aber müssen wir deshalb tagein, tagaus in Jubelschreie ausbrechen?


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Veränderung ist kein Wert an sich. Wandlung schmerzt, und es ist im Grunde ganz menschlich und natürlich, sie zu vermeiden. Das System, das wir uns als Gesellschaft selbst geschaffen haben, funktioniert so lange, wie es funktioniert. Daß es noch funktioniert, ist ein Zeichen dafür, daß es sich noch nicht ändern muß. Deshalb sollten wir auch vorsichtig sein mit dem erhobenen Zeigefinger und auf die "Schläue der Systeme" hören und uns zuallererst fragen: Warum funktionieren sie? Warum ist unsere Jammer- und Nörgelkultur so überaus stabil? Was hält unser scheinbar so marodes Konsenssystem im Inneren zusammen? Gibt es hier nicht auch gewaltige Vorteile, an denen die Menschen mit einer gewissen Berechtigung klammern?

Der Zukunftsmelancholiker weiß, daß die Zukunft erst hereinbricht, wenn die Menschen einsehen, daß etwas Besseres möglich ist. Die eigentliche Übung besteht nicht im Malen von utopischen Panoramen, sondern – wie im richtigen Leben – im Loslassen-Training.

 

   Der Glaube an die Zukunft   

 

Wenn man die Idee des Komplexen innerlich angenommen hat, legt sich die Aufgeregtheit, mit der man heute über die Zukunft streitet. In der Idee des Komplexen sind wir sowohl mit der Idee der Evolution als auch mit der Idee der Zivilisation (letzten Endes: Der Aufklärung) auf einer tieferen Ebene verbunden. Wenn der Sinn beider Systeme im Versuch besteht, höchstmöglichste Differenziertheit zu wagen, sind wir dabei wichtige Mitspieler, aber wir spielen nicht die erste Geige. Es kann scheitern, es kommt immer wieder zu Rückschlägen – aber die Idee ist unzerstörbar.

Aufmerksame Leser werden spüren, daß spätestens hier ein religiöser Ton ins Spiel kommt. Ich glaube in der Tat, daß die Idee Gottes und die Idee des Komplexen im Grunde artverwandt sind. In der Idee der Komplexität steckt die Idee der "Kraft", die das Universum antreibt und voranbringt, die ihm eine Richtung und einen Sinn verleiht. Vertrauen in diese Kraft ist das Urmotiv jeder Religion, und ohne dieses Ur vertrauen können wir, so meine ich, nicht wachsen.


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Wer an die Zukunft glaubt, hat alle Zeit der Welt, sagt "Czik" in seinem Buch "Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben". Wie kann Leben etwas Kleines sein - schrieb einst Hans Magnus Enzensberger. Wir alle können, im Kleinen oder im Großen, an der Entfaltung dieser Möglichkeiten mitarbeiten. Auch das Wiederholen, die Regression, das Scheitern, sind Teil des Prozesses. Auch kleine Ideen, Projekte, Lebensaufgaben, bilden einen wichtigen Teil dieser Evolution. Die Bildung von Bewußtsein und Weisheit sind im Grunde der Kern des "Projekts Evolution", und in diesem Sinne geht keine Energie verloren, ist kein Versuch zu klein und kein Scheitern zu groß.

Werden wir es schaffen? Werden wir die nächste Stufe bewältigen? Ich bin kein Prophet – seriöse Trend- und Zukunftsforschung kann immer nur von den "drei P's" handeln: The possible, the probable, the preferable – das Mögliche, das Wahrscheinliche, und das, was vorzuziehen ist. Wir können den Evolutionsdruck diagnostizieren, der auf unserer Gesellschaft lastet. Wir können sagen, was getan werden könnte. Aber wie das Spiel am Ende ausgeht, das ist so wenig voraussehbar wie das Wetter im Sommer 2015 oder das Ergebnis der übernächsten Fußball-WM.

Ich möchte dieses Buch mit einem Zitat eines halbvergessenen romantischen Dichters des 19. Jahrhunderts schließen, eines Dichters, der in der Zeit des Biedermeier lebte, einer, so denkt man, ganz und gar zukunftsabgewandten und "spießigen" Epoche. Es war eine Zeit, in der man – aus guten Gründen, wie mir scheint – Überdruß hatte an jener Art "Fortschritt", den die Zeiten der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und der industriellen Revolution im Gefolge hatten: Umstürze, Kriege, Terror, Brüche, Hunger und Elend, ungeheure Beschleunigungen, neue Paradigmen. Dennoch wollte diese Epoche nicht einfach zurück, in phantasierte guten alten Zeiten. Man hielt beharrlich und mit bürgerlichem Ernst an der Notwendigkeit des Wandels fest. Aber diese Art Fortschritt sollte mit und nicht gegen die Menschen erfolgen, durch Bildung, Wissen und Arbeit, nicht mit Gewalt, Krieg und Terror.


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Adalbert Stifter schreibt 1852 im Vorwort zu "Bunte Steine" unter dem Titel: Das sanfte Gesetz 

Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Streben halte ich für groß; mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einhenollenden Zorn, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind... 

Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird... Kräfte, die nach dem Bestehen der ganzen Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im Gegenteil beschränkend auf sie selber einwirken. Dieses sanfte Gesetz wirkt überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, es liegt in der Liebe der Ehegatten zueinander, in der Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern, in der Liebe der Geschwister, der Freunde zueinander, in der süßen Neigung der Geschlechter, in der Arbeitsamkeit, wodurch wir erhalten werden, in der Tätigkeit, wodurch man für seinen Kreis, für die Ferne, für die Menschheit wirkt ... Wie gewaltig und in großen Zügen auch das Tragische und Epische wirkt, so sind es doch hauptsächlich immer die gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens.

Wie es mit dem Aufwärtssteigen des menschlichen Geschlechts ist, so ist es auch mit seinem Abwärtssteigen.

Untergehenden Völkern verschwindet zuerst das Maß. Sie gehen nach einzelnem aus, sie werfen mit kurzem Blicke auf das Beschränkte und Unbedeutende, sie setzen das Bedingte über das Allgemeine; dann suchen sie den Genuß und das Sinnliche, sie suchen Befriedigung ihres Hasses und Neides gegen den Nachbarn, in ihrer Kunst wird das Einseitige geschildert, das nur von einem Standpunkt aus Gültige, dann das Zerfahrene, Unstimmende, Abenteuerliche, endlich das Sinnenreizende, in der Religion sinkt das Innere zur bloßen Gestalt oder zur üppigen Schwärmerei herab, der Unterschied zwischen Gut und Böse verliert sich, der einzelne verachtet das Ganze und geht seiner Lust und seinem Verderben nach..."  

Einen auf dieser Art von – nennen wir es ruhig mutig so – Demut und Zartheit aufgebauten Zukunftsoptimismus wünsche ich uns allen für das 21. Jahr­hundert. #

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Ende

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