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2. Die Neurose

Janov-1970

 

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Wir alle haben Bedürfnisse. Wir kommen schon mit Bedürfnissen auf die Welt, und wenn die überwiegende Mehrheit von uns nach einem Leben voller Kampf stirbt, sind viele dieser Bedürfnisse unbefriedigt geblieben. 

Diese Bedürfnisse sind nicht unmäßig — gefüttert zu werden, es warm und trocken zu haben, zu wachsen und sich in dem uns angemessenen Rhythmus zu entwickeln, im Arm gehalten und geherzt und angeregt zu werden. Diese primären Bedürfnisse sind die zentrale Realität des Säuglings. Der neurotische Prozeß beginnt, wenn diese Bedürfnisse eine Zeitlang nicht befriedigt werden. 

Ein Neugeborenes weiß nicht, daß es aufgenommen werden sollte, wenn es schreit, oder daß es nicht zu früh entwöhnt werden dürfte, aber wenn seine Bedürfnisse unbeachtet bleiben, dann leidet es. Zuerst wird der Säugling alles in seinen Kräften Stehende tun, um Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erlangen. Er wird die Arme ausstrecken, wenn er aufgenommen werden will, schreien, wenn er Hunger hat, mit den Beinen strampeln und um sich schlagen, damit seine Bedürfnisse erkannt werden. 

Bleiben seine Bedürfnisse eine Zeitlang unbefriedigt, wird er nicht in den Arm genommen, bekommt er keine reinen Windeln oder nichts zu essen, dann wird er einen dauernden Schmerz erleiden, entweder bis er seine Eltern dazu bringen kann, daß sie ihn befriedigen, oder bis er den Schmerz dadurch abstellt, daß er das Bedürfnis abstellt. Wenn sein Schmerz stark genug ist, mag der Tod eintreten, wie Untersuchungen von Heimkindern gezeigt haben.

Da der Säugling das Hungergefühl weder selbst zu beseitigen vermag (das heißt, er kann nicht zum Kühlschrank gehen) noch einen Ersatz dafür finden kann, muß er seine Gefühle (Hunger oder den Wunsch, in den Arm genommen zu werden) vom Bewußtsein abtrennen. Dieses Abtrennen der eigenen Bedürfnisse und Gefühle ist ein instinktiver Schachzug, um übermäßigen Schmerz abzustellen. Wir nennen es Spaltung. Der Organismus spaltet sich, um seine Kontinuität zu schützen. 

Indes bedeutet das nicht, daß unbefriedigte Bedürfnisse verschwinden. Im Gegenteil, das ganze Leben hindurch üben sie eine Kraft aus, lenken die Interessen in eine bestimmte Richtung und liefern die Motivation zur Befriedigung dieser Bedürfnisse. Aber wegen des Schmerzes, den sie verursachen, sind die Bedürfnisse im Bewußtsein unterdrückt worden, und so muß der einzelne nach Ersatzbefriedigung trachten.

Kurz gesagt, er muß die Befriedigung seiner Bedürfnisse symbolisch anstreben. Da er sich nicht artikulieren durfte, mag er vielleicht im späteren Leben versuchen, andere dazu zu bringen, ihm zuzuhören und ihn zu verstehen. Unbefriedigte Bedürfnisse, die geradezu unerträglich werden können, sind nicht nur vom Bewußtsein getrennt, sondern das Gefühl für sie verlagert sich auch auf Bereiche, in denen stärkere Kontrolle oder Erleichterung geboten werden. Gefühle können zum Beispiel durch Urinieren (später durch Sex) erleichtert oder durch die Unterdrückung tiefen Atmens kontrolliert werden. 

Der unbefriedigte Säugling lernt, seine Bedürfnisse zu tarnen und in symbolische Bedürfnisse zu verwandeln. Als Erwachsener wird er vielleicht nicht, weil er zu plötzlich und zu früh abgestillt wurde, das Bedürfnis verspüren, an der Brust seiner Mutter zu saugen, aber er mag Kettenraucher sein. Sein Rauchbedürfnis ist ein symbolisches Bedürfnis, und der Kern der Neurose ist das Streben nach symbolischen Befriedigungen.

Die Neurose ist ein symbolisches Verhalten als Abwehr von übermäßigem psycho-biologischem Schmerz. Neurose perpetuiert sich selbst, weil symbolische Befriedigungen reale Bedürfnisse nicht befriedigen können. Damit reale Bedürfnisse befriedigt werden, müssen sie empfunden und erlebt werden. Unglücklicherweise hat der Schmerz bewirkt, daß diese Bedürfnisse verschüttet werden. Wenn sie verschüttet sind, gerät der Organismus in einen anhaltenden Zustand des Katastrophenalarms. 

Dieser Alarmzustand ist Spannung. Er treibt den Säugling und später den Erwachsenen dazu, das Bedürfnis auf jede nur mögliche Weise zu befriedigen. Dieser Katastrophenalarm ist notwendig, um das Überleben des Säuglings zu gewährleisten; würde das Kind die Hoffnung aufgeben, könnte es möglicherweise sterben. Der Organismus lebt um jeden Preis weiter — und dieser Preis ist gewöhnlich die Neurose, die unbefriedigte körperliche Bedürfnisse und Gefühle einfach stillegt, weil der Schmerz zu groß ist, um ihm Widerstand zu leisten.

 

Alles, was natürlich ist, ist ein reales Bedürfnis — zum Beispiel zu wachsen, sich im angemessenen Rhythmus zu entwickeln. Das bedeutet, als Kind nicht zu früh entwöhnt zu werden; nicht zu früh zum Laufen oder Sprechen gezwungen zu werden; nicht einen Ball auffangen zu müssen, ehe das Nervensystem es mit Leichtigkeit vermag. Neurotische Bedürfnisse sind unnatürliche Bedürfnisse — sie entstehen aus der Nichtbefriedigung realer Bedürfnisse. 

Wir kommen nicht auf die Welt, um Lob zu hören, aber wenn die realen Anstrengungen eines Kindes praktisch von seiner Geburt an schlechtgemacht werden, wenn es das Gefühl bekommt, daß nichts, was es tut, so gut ist, daß seine Eltern es lieben, dann kann es sein, daß sich bei ihm ein heftiges Verlangen nach Lob entwickelt. 

Ebenso kann das Bedürfnis, sich als Kind zu artikulieren, unterdrückt werden, allein schon dadurch, daß niemand zuhört. Eine solche Verleugnung kann sich in das Bedürfnis verwandeln, ununterbrochen zu reden.

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Ein geliebtes Kind ist eines, dessen natürliche Bedürfnisse befriedigt werden. Ein ungeliebtes Kind ist eines, das leidet, weil es unbefriedigt ist. Ein geliebtes Kind hat kein Bedürfnis nach Lob, weil es nicht schlecht gemacht worden ist. Es wird danach bewertet, was es ist, nicht danach, was es tun kann, um die Bedürfnisse seiner Eltern zu befriedigen. 

Ein geliebtes Kind wird, wenn es erwachsen ist, kein unersättliches Verlangen nach Sex haben. Es ist von seinen Eltern im Arm gehalten und gestreichelt worden und braucht keinen Sex, um dieses frühe Bedürfnis zu befriedigen. 

Reale Bedürfnisse strömen von innen nach außen, nicht umgekehrt. Das Bedürfnis, im Arm gehalten und geherzt zu werden, ist ein Teil des Bedürfnisses, stimuliert zu werden. Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan und braucht mindestens so viel Stimulierung wie andere Sinnesorgane. Verhängnisvolle Folgen können eintreten, wenn die Stimulierung in den ersten Lebensjahren unzureichend ist. Ohne Stimulierung können Organsysteme verkümmern; umgekehrt können sie sich, wie Krech* nachgewiesen hat, bei richtiger Stimulierung entwickeln und wachsen. Eine konstante geistige und physische Stimulierung ist notwendig.

Unbefriedigte Bedürfnisse verdrängen jede andere Aktivität des Menschen, bis sie befriedigt werden. Wenn die Bedürfnisse befriedigt sind, kann das Kind fühlen. Es kann seinen Körper und seine Umwelt erleben. Werden die Bedürfnisse nicht befriedigt, erlebt das Kind nur Spannung, die ein vom Bewußtsein abgetrenntes Fühlen ist. Ohne diese notwendige Verbindung fühlt der Neurotiker nicht. Neurose ist die Krankheit des Gefühls.

Die Neurose beginnt nicht in dem Augenblick, in dem ein Kind sein erstes Fühlen unterdrückt, doch könnte man sagen, daß dann der neurotische Prozeß beginnt. Das Kind schließt sich stufenweise ab. Jede Unterdrückung und Verleugnung eines Bedürfnisses verändert das Kind ein wenig mehr. Doch eines Tages kommt es zu einem kritischen Wechsel, bei dem das Kind ganz und gar verändert und mehr irreal als real wird, und an diesem kritischen Punkt können wir es als neurotisch bezeichnen. Von diesem Zeitpunkt an lebt es mit einem gedoppelten Selbst: dem irrealen und dem realen Selbst. Das reale Selbst sind die realen Bedürfnisse und Gefühle des Organismus. Das irreale Selbst ist der Deckmantel dieser Gefühle und wird zu der Fassade, die neurotische Patienten brauchen, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

* Krech, Bennett, Diamond, Rosenzweig: <Chemical and Anatomical Plasticity of Brain>, Science, Bd. 146 (30. Oktober 1964) S. 610-619.

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Ein Elternteil, der das Gefühl, respektiert zu werden, braucht, weil er von seinen Eltern ständig gedemütigt wurde, wird vielleicht unterwürfige und respektvolle Kinder verlangen, die ihm keine frechen Antworten geben oder nie Nein sagen. Eine kindliche Mutter wird vielleicht verlangen, daß ihr Kind zu schnell groß wird, alle Hausarbeiten übernimmt und in Wirklichkeit schon erwachsen ist, ehe es dafür bereit ist, damit die Mutter weiterhin das umsorgte Kind bleiben kann.

Oft wird nicht explizit gefordert, daß das Kind irreal sein soll. Dennoch wird das elterliche Bedürfnis zu einem impliziten Befehl für das Kind. Das Kind wird hineingeboren in die Bedürfnisse seiner Eltern und beginnt fast von dem Augenblick an, da es lebt, sich abzumühen, sie zufriedenzustellen. Vielleicht wird es dazu angetrieben, zu lächeln (um glücklich zu erscheinen), zu schmusen, Winke-Winke zu machen, später dann sich aufzusetzen und zu laufen, noch später sich mächtig anzustrengen, damit seine Eltern ein Kind haben, das allen anderen voraus ist.

Im weiteren Verlauf seiner Entwicklung werden die Anforderungen an das Kind immer komplexer. Es muß ein gutes Zeugnis nach Hause bringen, muß der Mutter helfen und seine kleinen Pflichten erfüllen, still und bescheiden sein, es darf nicht zu viel reden und wenn, dann nur kluge Dinge sagen, und es muß stark und muskulös sein. Es wird alles tun, nur nicht es selbst sein.

Die tausenderlei Vorgänge, die sich zwischen Eltern und Kindern abspielen und die die natürlichen primären Bedürfnisse des Kindes verleugnen, bedeuten, daß das Kind leiden wird. Sie bedeuten, daß es nicht sein kann, was es ist, weil es dann nicht geliebt wird. Diese tiefen seelischen Verletzungen nenne ich Urschmerzen oder Urschmerz. Urschmerzen sind die Bedürfnisse und Gefühle, die durch das Bewußtsein unterdrückt oder verleugnet werden. Sie tun weh, weil sie nicht zum Ausdruck kommen oder befriedigt werden dürfen. All diese Schmerzen laufen darauf hinaus: Ich werde nicht geliebt und kann nicht auf Liebe hoffen, wenn ich wirklich ich selber bin.

Jedesmal, wenn ein Kind nicht in den Arm genommen wird, obwohl es das Bedürfnis danach hat, jedesmal wenn ihm der Mund verboten, es ausgelacht, nicht beachtet oder überfordert wird, wird sein <Fundus> an Verletzungen gewichtiger. Diesen Fundus nenne ich den Urfundus. Jede Hinzufügung zu dem Fundus macht das Kind irrealer und neurotischer.

Wenn die Angriffe auf das reale System zunehmen, beginnen sie den realen Menschen zu erdrücken. Eines Tages wird dann ein Ereignis eintreten, das zwar an sich nicht notwendigerweise traumatisch ist — etwa wenn das Kind zum hundertstenmal einem Babysitter überlassen wird —, das aber dennoch das Gleichgewicht zwischen real und irreal verschiebt und das Kind neurotisch macht. Dieses Ereignis nenne ich die große Primärszene. Sie ist eine Zeit im Leben des kleinen Kindes, in der sich alle bisherigen Demütigungen, Ablehnungen und Versagungen zu der beginnenden Erkenntnis summieren: »Es besteht keine Hoffnung, daß ich um dessentwillen, was ich bin, geliebt werde.«

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Dann wehrt sich das Kind gegen diese katastrophale Erkenntnis, indem es sein Gefühl abspaltet und still und leise in die Neurose hineingleitet. Diese Erkenntnis ist keine bewußte. Vielmehr beginnt sich das Kind seinen Eltern und später auch anderen gegenüber so zu verhalten, wie sie es erwarten. Es spricht ihre Worte und tut, was sie tun. Es verhält sich irreal — d.h. nicht in Übereinstimmung mit der Realität seiner eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Binnen kurzem wird das neurotische Verhalten automatisch.

Den Versuch des Kindes, seine Eltern zufriedenzustellen, nenne ich Kampf. Der Kampf beginnt zuerst mit den Eltern und wird später ganz allgemein mit der Welt geführt. Er breitet sich über die Familie hinaus aus, weil der Betreffende seine ihm vorent­haltenen Bedürfnisse mit sich schleppt, wo immer er hingeht, und diese Bedürfnisse müssen ausagiert werden. Er wird sich Ersatzeltern suchen, bei denen er sein neurotisches Drama ausspielen wird, oder er wird fast jeden (einschließlich seiner Kinder) zu einer Vatergestalt machen, die seine Bedürfnisse befriedigt. Wenn ein Vater als Kind verbal unterdrückt wurde und nie viel sagen durfte, werden seine Kinder Zuhörer sein. Da sie so viel zuhören müssen, werden sie ihrerseits das unterdrückte Bedürfnis nach jemandem haben, der ihnen zuhört; das werden dann womöglich ihre Kinder sein.

Der Ort des Kampfes verlagert sich vom realen Bedürfnis auf das neurotische Bedürfnis, vom Körper auf die Seele, denn seelische Bedürfnisse treten auf, wenn die Grundbedürfnisse verleugnet werden. Aber seelische Bedürfnisse sind keine realen Bedürfnisse. Tatsächlich gibt es gar keine rein psychischen Bedürfnisse. Psychische Bedürfnisse sind neurotische Bedürfnisse, weil sie nicht den realen Erfordernissen des Organismus dienen. Der Mann im Restaurant zum Beispiel, der unbedingt den besten Tisch haben muß, um sich wichtig vorzukommen, handelt so aufgrund eines Bedürfnisses, das sich entwickelte, weil er nicht geliebt wurde, weil seine wirklichen Anstrengungen im Leben entweder nicht beachtet oder unterdrückt wurden. 

Vielleicht ist es ihm Bedürfnis, daß ihn der Oberkellner mit Namen begrüßt, weil er in jungen Jahren immer nur mit einem Gattungsbegriff bezeichnet wurde: »Sohn«. Das bedeutet, daß er von seinen Eltern nicht als Mensch behandelt wurde und nun versucht, symbolisch durch andere eine menschliche Reaktion zu erhalten. Würde er von seinen Eltern als einmaliges menschliches Wesen behandelt werden, dann würde das sein sogenanntes Bedürfnis, sich wichtig vorzukommen, aus der Welt schaffen. Denn der Neurotiker versieht alte, unbewußte Bedürfnisse (geliebt und geachtet zu werden) mit neuen Etiketten (das Bedürfnis, sich wichtig vorzukommen). Mit der Zeit wird er diese Etiketten vielleicht für reale Gefühle halten und glauben, nach ihnen zu streben, sei notwendig.

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Daß es uns so fasziniert, unsere Namen in Leuchtschrift oder gedruckt zu sehen, ist nur ein Hinweis darauf, wie sehr vielen von uns die individuelle Anerkennung versagt ist. Solche Erfolge, wie real sie auch sein mögen, sind ein symbolisches Streben nach elterlicher Liebe. Einem Publikum zu gefallen wird zum Kampf.

Der Kampf bewahrt das Kind davor, seine Hoffnungslosigkeit zu empfinden. Der Kampf ist das übermäßige Arbeiten, das Schuften für die guten Noten, das Schauspielern. Kampf ist die Hoffnung des Neurotikers, geliebt zu werden. Statt er selber zu sein, müht er sich ab, eine andere Version von sich zu werden. Früher oder später glaubt das Kind dann, daß diese Version das wahre Selbst sei. Die >Schauspielerei< ist nicht länger freiwillig und bewußt; sie ist automatisch und unbewußt. Sie ist neurotisch.

 

   Die Primärszenen  

 

Es gibt zwei Arten von Primärszenen — große und kleine. Die große Primärszene ist das einmalige, zutiefst erschütternde Ereignis im Leben des Kindes. Es ist der Augenblick der eisigen, kosmischen Einsamkeit, die bitterste aller Offenbarungen. Es ist die Zeit, da das Kind zu entdecken beginnt, daß es nicht um dessentwillen, was es ist, geliebt wird und auch nie geliebt werden wird.

Vor der großen Primärszene hat das Kind unzählige kleine Erlebnisse gehabt — kleine Primärszenen —, bei denen es verspottet, abgelehnt, vernachlässigt, gedemütigt und angetrieben wurde, sich zu produzieren. Schließlich kommt der Tag, an dem das Kind in all diesen zerstörerischen Ereignissen einen Sinn erkennt. Ein entscheidendes Ereignis scheint den Sinn aller bisherigen Erfahrungen zusammenzufassen: »So, wie ich bin, mögen sie mich nicht.« Diese Erkenntnis ist katastrophal. Sie wird verleugnet und verschüttet. An ihre Stelle tritt der Kampf des irrealen Selbst. Von nun an wird dieser Kampf wie ein Puffer für das Erleben, so daß das Kind es oft gar nicht weiß, wenn es leidet. Sein Kampf verschleiert seinen Schmerz.

Manche Patienten können sich an eine entscheidende Szene erinnern, die die Summe aller vorangegangenen kleinen Szenen war. Bei anderen häuften sich einfach langsam und gleichmäßig kleinere Traumen an, von denen jedes an sich bedeutungslos war, die sich aber eines Tages zu einem größeren Riß entwickeln. Ob der Riß nun dramatisch ist und die Form einer großen Primärszene annimmt, oder ob er einfach das Ergebnis einer Häufung von kleinen Primärszenen ist, jedenfalls kommt ein Tag, an dem das Kind mehr irreal als real ist.

Die bei einer großen Primärszene eingetretene Spaltung bedeutet, daß das Kind aufgehört hat, ein integrierter und harmonischer Mensch zu sein.

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Die große Primärszene ereignet sich gewöhnlich im Alter von fünf bis sieben Jahren. Zu dieser Zeit lernt das Kind, konkrete Ereignisse zu verallgemeinern. Damit beginnt es die Bedeutung all der verschiedenen Ereignisse zu verstehen, die ihm bis dahin widerfahren waren.

Objektiv betrachtet, ist die große Szene nicht notwendigerweise traumatisch. Sie braucht nicht ein Autounfall oder Flugzeug­absturz zu sein. Vielmehr ist sie ein Begreifen, ein rasches, erschreckendes Aufblitzen der Wahrheit während eines vielleicht ganz normalen Geschehens. 

Ein Patient erinnert sich zum Beispiel, daß er, als er noch klein war, nach seiner Mutter rief, aber statt dessen kam sein Vater, vor dem er Angst hatte. Die plötzliche Erkenntnis war: »Meine Mutter wird niemals kommen, wenn ich sie brauche.« Der Grund dafür war, daß er häufig, wenn er abends ins Bett gegangen war, seine Mutter rief, sie möge ihm ein Glas Wasser bringen. Sie kam niemals. Nur sein Vater kam. Eines Tages wurde ihm dann klar, daß seine Mutter nicht kommen würde, wenn er sie brauchte. Es tat sich ein Zwiespalt in ihm auf, denn wenn er seine Mutter wollte, brachte er damit seinen Vater herbei, der ihm einen Klaps gab, weil er gerufen hatte. Wenn er etwas wollte, bedeutete das also, daß er etwas bekam, das er nicht wollte. Er rief nie wieder nach der Mutter und tat so, als brauche er sie nicht — bis zu dem Tag in meinem Sprechzimmer, als er unter Qualen nach seiner <Mammi> rief.

Kleine Szenen sind einfach die unbedeutenden Ereignisse, die das wahre Selbst betreffen — Kritik, Demütigungen —, bis eines Tages bei der großen Szene dieses Selbst unter der Belastung zerbricht.

Eine große Primärszene kann sich schon in den ersten Lebensmonaten ereignen. Das ist der Fall, wenn ein derartig zerstörendes Ereignis eintritt, daß sich das kleine Kind nicht wehren kann und das Erleben abspalten muß. Dieses Ereignis hat einen irreparablen Bruch zur Folge, der bestehen bleibt, bis er in aller Intensität noch einmal erlebt wird. Seinen Eltern entrissen und in den ersten Lebensmonaten in einem Heim untergebracht zu werden ist ein Beispiel dafür.

Schlüssel-Primärszenen sind signifikant, weil sie für viele hundert andere Erfahrungen stehen, von denen jede Schmerz bedeutete. Wenn diese Szenen während der Primärtherapie wiedererlebt werden, bringen sie daher eine Flut von assoziierten Erinnerungen mit sich. Was alle diese Ereignisse miteinander verbindet, ist ein Gefühl (etwa: »Niemand kann mir helfen«).

Wir wollen einige Beispiele von Primärszenen betrachten. 

Die folgende ist Nicks große Szene. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg gerade zu Ende war und sein Vater aus der Armee entlassen wurde. Jenes Weihnachten, das erste, das seine Familie seit Pearl Harbor zusammen verlebte, sollte ein großes Fest werden.

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Nick hatte sich so darauf gefreut, wie sich nur ein kleiner Junge freuen kann. Er kaufte für seinen Vater eine Krawatte, die er so hübsch einwickelte, wie er konnte, und mit einer Weihnachtskarte versah, die er selbst gemalt hatte. Mittags um zwei Uhr waren alle Päckchen ausgepackt, nur nicht seins für seinen Vater. Der gefüllte Puter um drei Uhr schmeckte allen außer Nick. 

Sein Vater hatte sein Geschenk völlig ignoriert. Schließlich fand jemand es noch unter dem Weihnachtsbaum liegen und brachte es ins Eßzimmer. Nick berichtete darüber:

»Mein Vater war betrunken, und kaum sah er es, da begann er Theater zu spielen. >Na, was mag das denn sein? Ein Auto? Oder ein Boot, was meint ihr? Nein, es ist ein Flugzeug. Allerdings nicht sehr elegant eingepackt, aber ich merke doch, daß es ein Flugzeug ist.< 
Alle lachten; ich wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen. Er brachte es fertig, daß ich mich schämte, ihm überhaupt etwas geschenkt zu haben. Er machte lustig weiter und hetzte das Thema zu Tode. Wenn er betrunken war, konnte er grausam sein. Er tat so, als wisse er nicht, von wem es sei, obwohl auf der Karte, die ich gemalt hatte, >Pappi< stand und ich das einzige Kind bin. Schließlich ließ er sich herbei, das Päckchen aufzumachen, und dann kam er zu mir herüber und knutschte mich von oben bis unten ab. >Mein ein und alles<, sagte er, >unter den zweihundertzehn Krawatten in meinem Kleiderschrank wird von jetzt an und auf immerdar diese meine ganz besondere Lieblingskrawatte sein ...< Lauter so verlogener Schmus. Und damit machte er die Sache immer noch schlimmer. Nachdem er ungefähr zum fünftenmal gesagt hatte: >Du hättest dein Geld nicht an deinen armen alten Vater verschwenden sollen<, da konnte ich es schließlich nicht mehr aushalten, ich stand vom Tisch auf und rannte weg und dachte: >Verdammt recht hat er, schade drum!<

 

In einer Welt, deren tägliches Brot Atombomben, Konzentrationslager und Völkermord sind, war es, objektiv betrachtet, sehr wenig, was an jenem Weihnachts­nachmittag geschah. Doch wie der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt, trug es dazu bei, einen Mann zu fast einem Vierteljahrhundert nervöser Störungen, sexueller Verirrungen und schwerer Anfälle von Depressionen zu verurteilen. Für Nick symbolisierte diese Weihnachtskrawatte das Gefühl, daß »nichts, was ich je tun werde, gut genug sein wird, um dich, Pappi, dazu zu bringen, daß du mich liebst«.

Die große Primärszene rückt dann Hunderte und sogar Tausende von Vorfällen in den Brennpunkt, die für ein Kind Hoffnungs­losigkeit bedeuteten. Von dem Tag an werden reale Gefühle das irreale Selbst überziehen, so daß das Kind viele seiner Gefühle nicht mehr erkennt. (So hat Nick nach Erreichen der Pubertät sein Bedürfnis nach einem warmherzigen Vater verborgen und durch homosexuelle Phantasien ersetzt.)

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Überdies unterdrückt das irreale Selbst eben diese realen Gefühle, so daß sie nicht miteinander in Verbindung gebracht und schließlich aufgelöst werden können. (>Objektiv< empfand Nick nur Verachtung für seinen Vater, der Alkoholiker ist.) Die große Primärszene ist ein qualitativer Sprung in die Neurose.

Vor dem Weihnachtstag 1946 war Nick in großer Spannung gewesen. Danach klang seine Spannung nicht ab, ebenso wie seine verleugneten Bedürfnisse und Gefühle nicht einfach vergingen. Sie blieben in ihm, im Gehirn verschlüsselt in Form von verdrängten Erinnerungen, die sich in seinem ganzen Körper ausbreiteten. Sie ließen ihn in Spannung bleiben. Seine Spannung bewirkte, daß es ihm nicht bewußt war, wie er sich verhielt, und sie war der Antrieb zum Kampf, um das Bedürfnis symbolisch (homosexuell) zu befriedigen.

Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß der Kern des neurotischen Kampfes Hoffnung ist — die Hoffnung, daß das, was der Neurotiker tut, Trost und Liebe erbringen wird. Indes muß die Hoffnung des Neurotikers irreal sein, weil sie ihn zu dem Versuch zwingt, auf dem Weg über den neurotischen Kampf etwas von der Welt zu bekommen, was es einfach nicht gibt: einfühlsame Eltern. Der Neurotiker versucht, die Welt in fürsorgliche, interessierte, warmherzige Eltern zu verwandeln. Wenn sie wirklich gute, mitfühlende Menschen gewesen wären, dann würde der Kampf unnötig sein.

Nach der Krise der großen Primärszene kommt es im Verlauf des Familienlebens noch zu vielen tausend schädlichen Erfahrungen. Jede erweitert die Kluft und vertieft die Neurose; jede macht das Kind irrealer.

Ein weiteres Beispiel für den Beginn der Neurose als einer Seinsweise ist Anne. 

Eines Tages, als sie sechs Jahre alt war, wurde sie unterwegs vom Regen überrascht. Eine Frau aus der Nachbarschaft fand sie klitschnaß und zitternd. Sie nahm das kleine Mädchen mit nach Haus, ließ es sich an einem offenen Feuer wärmen und liebkoste es. Anne war plötzlich <seltsam> und <komisch> zumute — und ohne ein Wort zu der netten Frau zu sagen, rannte sie hinaus und im Regen bis nach Hause. In ihrem Zimmer schluchzte sie etwa eine Stunde lang. Annes Mutter kam, um zu sehen, was sie hatte, aber das Kind wußte es nicht. Ihr war einfach unbehaglich zumute. Später wischte sie sich die Tränen ab, und ging hinunter, um ihrer Mutter beim Abendessen zu helfen. 

Weiter war nichts an ihrer großen Primärszene. Dennoch war sie traumatischer als Prügel, weil sie nicht integriert und verstanden werden konnte.

Vor dem Gewittertag war Anne geschlagen worden, weil sie sich schmutzig gemacht oder Kraftausdrücke gebraucht oder ihr Kleid hochgezogen hatte — lauter übliche Dinge, die bei der Mehrzahl von uns vorkommen. Bei alledem hatte sie das Gefühl gehabt, etwas Unrechtes getan zu haben; sie entschuldigte sich gebührend und fuhr fort, ihr Leben zu leben.

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Aber sie empfand genau, was geschehen war. An dem Regentag hatte sie indes nichts Unrechtes getan; es gab nichts, wofür sie sich hätte entschuldigen, nichts, worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenken hätte müssen, um so zu empfinden, wie ihr zumute war.

Die Warmherzigkeit der Nachbarin zeigte die Leere ihres Lebens auf. Sie hatte einen flüchtigen Eindruck von dem erhalten, was sie zu Hause nie bekam: Zeit, die für sie aufgewandt wurde, Freundlichkeit, Beruhigung, schlichte Menschlichkeit, und sie erkannte, daß ihre Mutter sie niemals lieben würde, wenn sie so war, wie sie war. Sie rannte nach Hause, um diese Erkenntnis hinweg­zuschluchzen, ehe sie mit voller Wucht auf sie einwirkte, ehe dieses verheerende Niemals gefühlt werden konnte.

Als sich das kleine Mädchen ausgeweint hatte und hinuntergegangen war, um Mammi zu helfen, hörte ihr reales Leben auf. Äußerlich wurde sie höflich, lieb und hilfsbereit. Innerlich bauten sich Spannungen auf.

Anne versuchte, ihr Unbehagen loszuwerden, indem sie ihrer Mutter ständig half, die fast dauernd krank war. Sie übernahm es freiwillig, für ihren kleinen Bruder zu sorgen. Sie kämpfte; die Spannung verstärkte sich, ebenso ihre Neurose. Sie wollte nicht für den kleinen Bruder sorgen, sie wollte umsorgt und in den Arm genommen werden; sie wollte nicht Geschirr spülen, sie wollte spielen. Aber bei allem, was Mammi wollte, gab sie nach und verleugnete sich selbst. 

Ihr Leben lang versuchte sie, ihre Mutter in diese freundliche Nachbarin zu verwandeln, die ihr ohne Gegenleistung Liebe angeboten hatte. Der Kampf verhinderte, daß sie die Wahrheit spürte, nämlich daß ihre Mutter niemals der warmherzige Mensch sein würde, den sie brauchte. Das kleine Mädchen war in der Falle gefangen.

Hätte sie aufgehört, sanftmütig und höflich zu sein, dann hätte sie den Unmut ihrer Mutter darüber, eine Mutter sein zu müssen, freigesetzt. Sanftmütig zu sein war Annes Methode, um völlige Ablehnung zu vermeiden, deshalb ließ sie Mammi das kleine Mädchen sein, während sie die Rolle ihrer Mutter im Leben übernahm. Irreale Hoffnung* war der Grund, warum sich Anne diese Last aufbürdete. Eines Tages, so hoffte sie, würde es etwas für sie geben, und so kämpfte sie um die imaginäre Liebe ihrer Mutter, aber alles, was sie je bekam, war der Abwasch.

Die Primärszene ist also ein Geschehnis, das nicht voll empfunden wird. Es bleibt zusammenhanglos und unaufgelöst. Das bedeutet nicht, daß es nur einen Zeitpunkt in unserem Leben gibt, der Neurose hervorbringt, sondern daß es einen Zeitpunkt gibt — nämlich die große Primärszene —, der einen unabänderlichen Verlauf festlegt, und jedes neue Trauma erweitert die Kluft zwischen dem realen und dem irrealen Selbst.

*  Die Hoffnung ist weitgehend unbewußt und wird gewöhnlich nicht einmal gespürt. Vielmehr wird sie in dem Kampf ausagiert.

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Die große Primärszene ist der Zeitpunkt, an dem die Anhäufung kleiner Verletzungen, Zurückweisungen und Unterdrückungen feste Form annimmt und eine neue Seinsweise bildet — die Neurose. Es ist der Zeitpunkt, an dem das Kind begreift, daß es, um zurechtzukommen, auf einen Teil von sich verzichten muß. Dieses Begreifen, das zu schmerzlich ist, um ihm Widerstand zu leisten, geschieht niemals ganz bewußt, so daß das Kind beginnt, sich neurotisch zu verhalten, ohne im geringsten zu ahnen, was ihm widerfahren ist.

Einige Primärszenen können dramatisch sein. Andere brauchen es nicht zu sein — es genügt, wenn Mutter sagt: »Wenn du das nochmal machst, gebe ich dich weg.« Es ist nicht die Szene als solche; es ist ihre Bedeutung für das Kind, die sie so verheerend macht. Eine anscheinend belanglose Drohung oder ein Klaps kann subjektiv ebenso traumatisch sein wie in ein Heim zu kommen.

 

   Das reale und das irreale Selbst   

 

Obwohl ich vom realen und irrealen Selbst rede, dürfen wir nicht vergessen, daß sie Aspekte eines einzigen Selbst sind. Das reale Selbst ist das wahre Selbst, das, was wir waren, ehe wir entdeckten, daß es für unsere Eltern nicht akzeptabel war. Wir sind real geboren worden. Real zu sein ist nicht etwas, das wir zu sein versuchen. Die Schale, die wir um das reale Selbst herum aufbauen, ist das, was die Freudianer ein Abwehrsystem nennen würden. Aber die Freudianer glauben, ein Abwehrsystem sei für den Menschen notwendig, und eine <gesunde, gut integrierte Person> sei diejenige mit dem stärksten Abwehrsystem. Ich sehe eine völlig abwehrlose Person als normal an, jemanden ohne ein irreales Selbst. Je stärker die Abwehr eines Menschen, um so kränker ist er — das heißt, um so irrealer.

Ein Beispiel für die buchstäbliche Unterdrückung des realen, fühlenden Selbst ist der Fakir, der auf glühenden Kohlen laufen kann und auf einem Nagelbrett schläft. In meiner therapeutischen Praxis sehe ich tagtäglich Patienten, die es fertiggebracht haben, ihre Gefühle völlig abzuspalten, um den Schmerz abzufangen, und die ihre psychischen Verletzungen ebenso wie der Fakir den körperlichen Schmerz nicht mehr spüren.

Gelegentlich kommt es vor, daß der Neurotiker sich selbst flüchtig zu sehen bekommt. Eine Krankheit oder ein Urlaub lassen ihm nicht viel Möglichkeiten, seinen Kampf weiterzuführen, und er ist ganz auf sich selbst konzentriert. Manchmal führt das zu psychiatrischen Symptomen — er fühlt sich plötzlich <depersonalisiert> und <entfremdet>, als habe er immer nur vorgetäuscht zu leben.

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Diese Depersonalisation ist oft der Beginn der Realität, aber weil der Neurotiker seine Irrealität für Realität hält, hat er dann das Gefühl, sein reales Selbst sei irgendeine fremde Kraft. Im allgemeinen wird er sich in seine gewohnte Irrealität zurück­ziehen und sich binnen kurzem wieder wie sein <altes Selbst> fühlen. Könnte er einen Schritt weitergehen, könnte er so weit gehen, daß er die Realität seiner Irrealität empfindet, dann könnte er, glaube ich, real werden.

Beim Neurotiker ist also das reale, fühlende Selbst zusammen mit dem ursprünglichen Schmerz verschüttet; darum muß er, um sich zu befreien, diesen Schmerz spüren; den Schmerz fühlen, erschüttert das irreale Selbst auf dieselbe Art, wie das Verleugnen des Schmerzes es schuf.

Weil das irreale Selbst ein auferlegtes System ist, scheint der Körper es abzulehnen, wie er jedes fremde Element ablehnen würde. Es besteht immer die Tendenz, real zu sein. Weil neurotische Eltern uns nicht erlauben, real zu sein, schlagen wir umständliche, d.h. neurotische Umwege ein, um zur Realität zu gelangen. Neurose ist nichts anderes als der Versuch, auf irreale Weise real zu sein.

Es ist das irreale System, das den Körper aus der Form bringt und verkrüppeltes Wachstum und eine verkümmerte Entwicklung zur Folge hat. Es unterdrückt das reale endokrine System oder überreizt es unnötig. Es belastet verschiedene verletzliche Organe übermäßig und verursacht von Zeit zu Zeit <Pannen>. Kurz, das irreale System ist total; es ist nicht nur eine Verhaltensweise dann und wann. Neurotisch zu sein bedeutet, nicht völlig real zu sein; deshalb kann kein Teil von uns reibungslos und normal funktionieren. Neurose ist ebenso umfassend wie Normalität; sie ist in allem, was man tut.

Es gibt einen Weg, wie der Neurotiker unter die Oberfläche seines symbolischen Kampfes und zu jenen Urschmerzen gelangen kann, die ihn antreiben. Ich nenne diesen Weg Primärtherapie. Sie ist der systematische Angriff auf das irreale Selbst, der zu guter Letzt eine neue Qualität des Seins hervorbringt — Normalität —, ebenso wie die ursprünglichen Angriffe auf das reale Selbst eine neue Seinsweise hervorgebracht hatten — die Neurose. Der Weg in die Neurose und der Weg heraus sind gleichermaßen mit Schmerzen verbunden.

 

   Zusammenfassung   

 

Die Primärtheorie sieht in der Neurose die Synthese von zwei miteinander in Konflikt befindlichen Selbst oder Systemen. Das irreale System hat die Funktion, das reale zu unterdrücken, aber weil reale Bedürfnisse nicht ausgerottet werden können, nimmt der Konflikt kein Ende. Bei dem Versuch, Befriedigung zu finden, werden diese Bedürfnisse durch das irreale System umgewandelt, so daß sie nur symbolisch befriedigt werden können.

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Die realen Gefühle, die schmerzhaft geworden sind, weil sie nicht befriedigt werden, müssen unterdrückt werden, damit das Kind nicht vom Urschmerz überwältigt wird. Indes können diese Bedürfnisse paradoxerweise erst befriedigt werden, wenn sie gefühlt worden sind.

Wenn wir uns diese verleugneten Bedürfnisse und Gefühle als eine Kraft vorstellen, die den Organismus antreibt, dann erkennen wir, daß der Neurotiker jemandem sehr ähnlich ist, der seinen Motor auf Lebenszeit angelassen hat. Nichts, was er tut, wird diesen Motor abstellen, bis diese Bedürfnisse und Gefühle mit all ihrer Qual genau als das empfunden werden, was sie sind. Das bedeutet gewissermaßen, daß das irreale System beseitigt werden muß, damit das reale System zum Ausdruck kommen kann.

Ein einfaches Beispiel mag diese Problemstellung erhellen: man darf in jungen Jahren nicht weinen. Wohin gehen diese Tränen? Bei manchen Menschen werden sie abgelenkt in verstopfte Nebenhöhlen und Sekret­absonderung im Nasen-Rachenraum (die verschwindet, wenn der Patient in der Primärtherapie hemmungslos weint). Bei anderen findet man die unterdrückte Traurigkeit in herabgezogenen Mundwinkeln oder einem melancholischen Ausdruck. Das reale Bedürfnis wird jedenfalls nie empfunden, weil es symbolisch ausagiert wird. Und dieses Ausagieren verhindert, daß ein Mensch sein Bedürfnis spürt und schließlich auflöst. So fährt der Neurotiker fort, sich selbst die Befriedigung dessen, was er wirklich braucht, zu verweigern.

Das irreale System verwandelt reale Bedürfnisse in kranke Bedürfnisse. Ein Patient stopft sich vielleicht mit Essen voll, damit er seine Leere nicht spürt. Essen symbolisiert Liebe. Sich überessen ist also ein Beispiel für symbolisches Ausagieren.

Sobald reale Bedürfnisse einmal in kranke pervertiert sind, können sie nicht mehr befriedigt werden. Das bedeutet, daß, sobald bei der großen Primärszene die große Abtrennung stattgefunden hat, zwei Selbst in ständigem dialektischem Widerspruch entstanden sind. Das irreale Selbst wird verhindern, daß das reale Bedürfnis zum Vorschein kommt und befriedigt wird. Das ist der Grund, warum zum Beispiel die Liebe und Zuneigung einer Lehrerin später die Lage nur insofern bessern kann, als das Kind dann nicht leidet, wenn eine liebevolle Lehrerin ihm Aufmerksamkeit schenkt und es streichelt. Aber das Verhalten der Lehrerin kann die Spaltung nicht heilen, die durch die tagtägliche Entbehrung der allmächtigen Eltern in den ersten entscheidenden Lebensjahren des Kindes entstanden war. Sobald die Spaltung da ist, verursacht die Umarmung der Lehrerin oft Schmerz um das, was das Kind nie gehabt hat.

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Urschmerzen sind vom Bewußtsein abgetrennt, weil Bewußtsein unerträglichen Schmerz bedeutet. Urschmerzen sind das, was das Kind empfindet, wenn es nicht es selber sein kann. Spannung entsteht, wenn Schmerzen vom Bewußtsein abgetrennt sind. Sie ist diffuser Schmerz. Sie ist der Druck von verleugneten, abgetrennten Gefühlen, die nach Befreiung drängen. Spannung erzeugt den unermüdlichen Geschäftsmann, den Rauschgiftsüchtigen, den Homosexuellen, die alle auf ihre Weise leiden, aber einen Lebensstil oder eine <Persönlichkeit> entwickeln, um dieses Leiden auf ein Minimum zu reduzieren und letztlich zu betäuben. Der Süchtige ist oft ehrlicher als die beiden anderen angeführten Beispiele. Er weiß gewöhnlich, daß er am Urschmerz leidet.

Urschmerzen sind ungelöste primäre Bedürfnisse. Spannung ist die Empfindung dieser vom Bewußtsein abgetrennten Bedürfnisse. Spannung wirkt in der Seele als Inkonsequenz, Verwirrtheit und Gedächtnis­schwäche und im Körper als verkrampfte Muskulatur und Störungen der viszeralen Prozesse. Spannung ist das Merkmal der Neurose. Sie treibt den Menschen zu ihrer Lösung. Doch kann es keine Lösung geben, ehe die Urschmerzen nicht verspürt, das heißt bewußt empfunden worden sind.

Der neurotische Kampf ist endlos, weil diese frühen Bedürfnisse unaufgelöst bleiben. 

Der Kampf ist der fortwährende Versuch, den Organismus davon abzuhalten, Bedürfnisse zu haben. Indes ist es eben dieser Kampf, der verhindert, daß wir den großen Schmerz des realen Bedürfnisses empfinden und es so schließlich auflösen. Ein Mensch kann ein Dutzend Liebschaften haben und doch niemals das Bedürfnis nach elterlicher Wärme auflösen. Ein Mann kann Tausenden von Studenten Vorlesungen halten und dennoch das dringende Bedürfnis haben, daß seine Eltern ihm zuhören und ihn verstehen — ein nicht empfundenes Bedürfnis, das ihn dazu treiben wird, immer mehr Vorlesungen zu halten. Der Kampf ist unbefriedigend, eben weil er symbolisch und nicht real ist.

Jedes reale Bedürfnis oder unterdrückte Gefühl, das aus der frühen Beziehung zu den Eltern stammt, muß symbolisch ausagiert werden, solange es nicht auf sie gerichtet ist. Die Aufgabe der Primärtherapie ist es, den Menschen zu helfen, dadurch real zu werden, daß sie das symbolische Tun überwinden und zu ihren realen Gefühlen gelangen. Das bedeutet, dem Patienten dabei zu helfen, daß er will, was er braucht.

Ein sich normal entwickelnder Säugling will, was er braucht, weil er die Bedürfnisse empfindet. Wenn er neurotisch wird, spalten sich seine Wünsche und Bedürfnisse (weil er nicht haben kann, was er braucht), so daß er das will, was er nicht braucht. Bei einem Erwachsenen kann sich das in einer Sucht nach Alkohol, Drogen, Kleidern oder Geld zeigen. 

Nach diesen wird gestrebt, um die Spannung der nicht erkannten realen Bedürfnisse zu mildern. Aber es wird niemals genug Alkohol, Drogen, Kleider oder Geld geben, um die Leere zu füllen.

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