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6. Das Abwehrsystem

 

 

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Der Begriff Abwehrsystem findet sich in vielen psychologischen Theorien, angefangen mit der Freudschen. Die Primärtheorie weist darauf hin, daß jede Abwehr neurotisch ist und es so etwas wie <gesunde> Abwehr­mechanismen nicht gibt. 

Der Glaube an gesunde Abwehrmechanismen beruht auf der Annahme einer fundamentalen Angst, die in Schach gehalten werden müsse — etwas, das allen Menschen inhärent sei. Die Primärtheorie erkennt die Vorstellung von einer fundamentalen Angst bei normalen Individuen nicht an. Das wird später ausführlich erörtert. 

Eine letzte Meinungsverschiedenheit über Abwehr­mechanismen zwischen der Primärtheorie und einigen anderen Theorien ist, daß sie die Abwehr­mechanismen als psycho-biologische Phänomene und nicht einfach als geistiges Tun ansieht. So kann ein verengtes Blutgefäß ebensosehr eine Abwehr sein wie zwanghaftes Reden.*

*  In <Das Ich und die Abwehrmechanismen> stellt Anna Freud auf Seite 56 fest: »Die Arbeit des kindlichen Ichs zur Unlust­vermeidung - in direkter Gegenwehr gegen die Eindrücke aus der Außenwelt - gehört der Normalpsychologie an. Ihre Folgen sind vielleicht schwerwiegend für die Ich- und Charakterbildung, aber sie sind nicht pathogen.« 

In der Terminologie der Primärtheorie ist ein Abwehrmechanismus eine Reihe von Verhaltensweisen, die die Urgefühle automatisch blockieren. Wenn sich der Bauch automatisch strafft, wenn jemand ein Gefühl hinunterschluckt, wenn das Gesicht unter Druck zuckt, dann schreitet der Körper gegen das Fühlen ein.

Es gibt willkürliche und unwillkürliche Abwehrmechanismen. Unwillkürlich sind die automatischen Reaktionen des Geistes und des Körpers auf Urschmerzen — Phantasien, Bettnässen, Würgen, Zwinkern, Verspannen der Muskeln. Das sind gewöhnlich die ersten Abwehr­mechanismen, die angewandt werden. Es sind die eingebauten Abwehr­mechanismen des Kindes. Ein Verklemmen des Atmungsapparats wird zum Beispiel Ton und Klangfarbe der Stimme beeinflussen. Der Verklemmungs­prozeß und die sich daraus ergebende erstickte Stimme werden hineinverwoben in einen Teil des Persönlichkeits­systems. Auf diese Weise baut sich die Persönlichkeit um die Abwehrmechanismen herum auf und wird ein integraler Bestandteil von ihnen.

Es gibt zwei Typen von unwillkürlichen Abwehrmechanismen — Spannung auf- und Spannung abbauende. Das Versteifen der Magenmuskeln unterdrückt die Gefühle, was zu Spannung führt. Nachts (wenn die bewußten Abwehrmechanismen vermindert sind) das Bett naßzumachen ist ein unwillkürliches Ablassen von Spannung. Andere Formen der Freisetzung von Spannung sind Zähneknirschen, Seufzen, Alpträume (darüber später mehr).

Willkürliche Abwehrmechanismen kommen in Gang, wenn die unwillkürlichen Freisetzungs­vorrichtungen verabsäumen, die Aufgabe zu erfüllen. Rauchen, trinken, Drogen nehmen und sich überessen sind Beispiele für willkürliche Abwehr­mechanismen. Durch Willenskraft können sie abgestellt werden. Willkürliche Abwehr­mechanismen werden gebraucht, um übermäßige Spannung abzubauen — ein unfreundliches Wort des Oberkellners im Restaurant kann die liebenswürdige Fassade eines Neurotikers so weit einreißen, daß er das Bedürfnis nach einem Drink verspürt. Der Zweck beider Abwehrformen — der willkürlichen und der unwillkürlichen — ist es, das reale Gefühl zu blockieren.

Abwehrmechanismen sind ununterbrochen in Betrieb, bei Tage wie bei Nacht. Ein weibischer Mann wird nicht plötzlich maskulin, während er schläft. Seine Unmännlichkeit ist ein psychophysischer Vorgang, der vom Schlafen oder Wachsein unabhängig ist; er ist in den Organismus eingebaut. Das bedeutet, daß unnatürliches Tun die Norm wird, weil der Betreffende seine natürlichen Neigungen nicht spüren kann. Er wird nicht imstande sein, sich auf andere Weise zu verhalten, zu gehen oder zu reden, bis er sein natürliches Selbst wiedererlangen kann.

Abwehrmechanismen sind im großen und ganzen das, was die Eltern vom Kind verlangen. Das eine Kind mag ununterbrochen reden und sich hervortun, während ein anderes sich <doof> stellt. Beide reagieren auf ein Verlangen ihrer Eltern, das sie spüren; beide schließen einen Teil von sich ab.

Die Abwehrvorrichtungen werden als anpassungsfähiger Mechanismus plötzlich aktiv, um den Organismus in Gang zu halten. Auf diese Weise betrachtet, ist Neurose ein Teil der ererbten, anpassungsfähigen Ausrüstung, die wir alle besitzen. Weil Neurose anpassungsfähig ist, können wir sie nicht einfach mit einer Schockmaschine wegsprengen. Abwehrmechanismen müssen in der richtigen Reihenfolge Stück für Stück abgebaut werden, bis der Betreffende so weit ist, daß er ganz ohne sie auskommen kann.

Das Kind schließt sich in den ersten Monaten und Jahren ab, weil es gewöhnlich keine andere Wahl hat. Ein lautes und redseliges Kind wird vielleicht nicht lange geduldet von gehemmten Eltern, die ein höfliches, sanftmütiges Kind haben möchten. Sie werden es schlagen oder bestrafen, bis es diese Verhaltens­weise abstellt. So muß das Kind einen Teil von sich zum Tode verurteilen, um leben zu können. Es muß das Spiel der Eltern spielen, nicht seins. Dieselbe Art Verhalten mag auch auftreten, wenn Eltern für ihr Kind zu viel tun, so daß es sich überhaupt nicht anzustrengen braucht. Es ist dann an ihrer Freundlichkeit erstickt.

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Wenn es mit der irrealen Fassade nicht klappt, wenn sie bei den Eltern keine menschliche Reaktion erwecken kann, dann wird sich das Kind stärkere Abwehr­mechanismen zulegen müssen. Vielleicht wird es alles bei sich abschalten müssen, damit es bei den Eltern keinen Anstoß erregt und sie warmherzig und freundlich sind. Womöglich wird es dann auf eine steife, programmierte, computerähnliche Weise reden. Sein Denken wird eingeschnürt und verengt, und es kann niemanden mehr gerade in die Augen sehen. Kurz, bei dem Versuch, seine Eltern menschlich zu machen, hat es sich selbst entmenschlicht. Unter Umständen wird es sich sogar ihnen zuliebe ganz umkrempeln — ein Junge wird ein <Mädchen>.

Totale Reaktion ist ein entscheidender Begriff. Das Bedürfnis nach Liebe ist nicht einfach eine Sache des Intellekts, etwas, das durch Veränderung der Gedanken verändert werden kann. Dieses Bedürfnis dringt in das gesamte System ein und verzerrt Körper und Geist. Eben diese Verzerrung ist die Abwehr.

Wenn die Persönlichkeit die Spannung nicht binden kann, werden Symptome die Folge sein. Das Kind wird masturbieren, Daumen lutschen, Nägel knabbern oder bettnässen. Das sind Wege, um mehr Linderung zu erreichen. Allzu oft werden Eltern, die irrtümlich glauben, dem Kind damit zu helfen, diese Abflußkanäle der Spannung sperren, womit sie das Problem nur komplizieren und das Kind zwingen, sich heimlicher Mittel zu bedienen. Ein Patient erzählte mir, er habe ständig Gas abgelassen, weil seine Eltern glaubten, er habe eine Magenverstimmung. »Furzen«, sagte er, »war das einzige, was sie mir durchgehen ließen, weil sie glaubten, es sei unwillkürlich.«

Ein kleines Kind kann nicht verstehen, daß es seine Eltern sind, die Schwierigkeiten haben. Es weiß nicht, daß ihre Probleme unabhängig von dem vorhanden sind, was es tun kann. Es weiß nicht, daß es nicht seine Aufgabe ist, seine Eltern dazu zu bringen, mit Streiten aufzuhören, glücklich, frei oder was immer zu sein. Das Kind tut, was es kann, damit es leben kann. Wenn es fast von Geburt an lächerlich gemacht wird, muß es zu der Überzeugung gelangen, daß etwas mit ihm nicht stimmt. 

Es wird alles mögliche versuchen, um den Eltern Freude zu machen, aber tragischerweise bleibt das, was es tun müßte, unklar und verworren, weil seine Eltern selbst nicht wissen, was sie tun sollen, um frei und glücklich zu sein. Weil sie es nicht fertigbringen, daß das Kind sich wohler fühlt, ist es auf sich selbst angewiesen. Es wird alles essen, was ihm unter die Augen kommt, wird am Daumen lutschen, wenn niemand hinschaut, masturbieren und sich später Rauschgift spritzen, um das Leiden zu lindern, das kein anderer erträglicher für es macht. Es ist nicht mehr einfach neurotisch; Neurose ist seine Seinsweise.

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Der Drogensüchtige ist ein Beispiel für jemanden, der keine inneren Abwehrmechanismen mehr hat. Gewöhnlich hat er so viel von seinem Gefühl ausgelöscht, daß er fast völlig abgestumpft ist. Weil ihm nicht, wie anderen Neurotikern, eine Abwehr gelingt, entwickelt sich zwischen ihm und der Spritze eine direkte Beziehung: Urschmerz ... Spritze ... Erleichterung. Wird ihm die Spritze entzogen, ist der Urschmerz da. Der Penis erfüllt denselben Zweck für den Homosexuellen. Beide bedeuten Linderung der Spannung: die Herstellung einer äußeren Beziehung anstelle der inneren Beziehung, die nicht hergestellt wurde.

Ungeachtet des Schmerzes, der mit dem Spritzen oder dem Geschlechtsverkehr, wie ihn männliche Homosexuelle praktizieren, verbunden ist, ist das symbolische Gefühl Lust, oder richtiger gesagt, Erleichterung. Der reale, physische Schmerz, der Schmerz, den das reale Selbst verspürt, durchläuft das Abwehrsystem, wo er als Lust gedeutet wird.

Die vielfältige Art und Weise, wie sich der Neurotiker wehrt, ist von den Fachleuten klassifiziert und in Kategorien von charakteristischen Zuständen eingeteilt worden. Ich möchte indes noch einmal betonen, daß das Abwehrsystem nur insofern von Bedeutung ist, als es den Urschmerz verschleiert. Für die Hypothese der Primärtheorie zählt allein der Urschmerz.

Beim Neurotiker muß sich sein ganzes Erleben den Weg durch das Labyrinth seines Abwehrsystems suchen, und dort wird das, was geschieht, nicht gesehen, falsch ausgelegt oder übertrieben. Derselbe verheerende Prozeß beeinflußt seine körperliche Aktivität, so daß er schließlich nicht mehr imstande ist, die Art der Veränderungen, die in seinem Körper vor sich gehen, zu interpretieren oder zu verstehen. Er muß sich dann in die verwirrende Situation begeben, zu einem Fremden (dem Fachmann) zu gehen, damit er ihm behilflich ist zu verstehen, was er in seinem Innern fühlt.

Je nach der Familiensituation werden die Abwehrsysteme des Kindes komplizierter. Wenn die Eltern brutal sind, ist die Abwehr unmittelbar und an der Oberfläche. Ist die Interaktion der Familie subtiler, dann wird auch das Abwehrsystem subtiler.

Diejenigen, die Schichten von subtilen, intellektuellen Abwehrsystemen aufgebaut (also bei ihrem Kopf <Zuflucht> gesucht) haben, sind am schwersten zu heilen. Gesprächstherapie war bisher die Haupt­behandlung der Intellektuellen; doch jede Methode, die den >Kopf< dieser Neurotiker noch stärker einschaltet, trägt nur dazu bei, ihr Problem zu verschlimmern. Schon vor Jahrzehnten gewährte uns Reich Einblick in die körperlichen Abwehrsysteme:

»Wir dürfen sagen: Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung. Nicht in der Weise, als ob wir nun aus Träumen oder Einfällen schließen müßten, in welcher Weise die muskuläre Panzerung entstand; sie ist vielmehr die Form, in der sich das infantile Erlebnis als Schädigung erhält.«*

* Wilhelm Reich, Die Entdeckung des Orgons, Köln und Berlin 1969,  S. 259.

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Reich erklärte, daß muskuläre Verkrampfung nicht einfach eine Folge von Verdrängung sei, sondern den wesentlichen Teil des Verdrängungsprozesses darstelle. Er wies darauf hin, daß Verdrängung ein dialektischer Prozeß sei, bei dem der Körper nicht nur durch die Neurose in Spannung gerate, sondern die Neurose über die verspannte Muskulatur perpetuiert wird. Er machte nicht klar, was den Körper Jahr um Jahr in Spannung hält, aber er glaubte, daß Neurose durch gewisse Übungen oder Techniken, die die muskuläre Spannung — insbesondere die Spannung im Bauch — mindern sollten, wesentlich beeinflußt werden könne.

Nach Auffassung der Primärtheorie beginnen Bedürfnisse und blockierte Gefühle mit der Geburt und meistens, ehe wir sie formulieren können. Ein Kind, das in den ersten Lebensmonaten nicht genügend im Arm gehalten wird, weiß nicht bewußt, was ihm fehlt, aber es leidet dennoch. Es hat Schmerzen am ganzen Körper, und eben dort ist das Bedürfnis. Das Bedürfnis ist also nicht etwas, das geistig im Gehirn gespeichert wird. Es wird im Körpergewebe verschlüsselt und übt eine beständige Kraft in Richtung auf Befriedigung aus. Diese Kraft wird als Spannung verspürt. Man könnte sagen, der Körper >erinnert< sich seiner Deprivationen und Bedürfnisse ebenso wie das Gehirn. Um sich von der Spannung zu befreien, muß der Betreffende die Bedürfnisse am Kernpunkt dieser Spannungen empfinden — mit anderen Worten, organismisch —, und das ist genau dort, wo diese Bedürfnisse sind. Die Bedürfnisse befinden sich in der Muskulatur, den Organen und dem Blutsystem.

Lediglich die eigenen unbewußten Gefühle und Bedürfnisse zu kennen, reicht nicht aus. Ein Großteil der modernen Psychotherapie geht von der Annahme aus, daß es genüge, unbewußte Gefühle bewußt zu machen, um einen Menschen zu verändern. Ich sehe das anders — ich glaube, Bewußtheit ist das Ergebnis eines organismischen Vorgangs des Fühlens, und der Vorgang des Fühlens, nicht einfach das Wissen, was für Bedürfnisse es sind, ändert einen. Das Wissen um ein Bedürfnis befreit einen meiner Ansicht nach nicht von ihm. 

Wir haben unterschätzt, wieviel Deprivation es in den ersten Lebensmonaten gibt und wie sich diese Deprivation für den Rest unseres Lebens auf uns auswirkt. 

Die Reichianer erkennen, daß bei Gefühlen verbal nicht viel zu machen ist, und versuchen, verdrängte Gefühle durch körperliche Manipulation physisch zu behandeln.

Der Kernpunkt der Primärtheorie ist, die Bedürfnisse des Körpers mit den aufgespeicherten und unbewußten Erinnerungen in Verbindung zu bringen und so die Einheit der Person herzustellen.

Tanztherapie, Yoga, Bewegungstherapie oder Übungen, die den Körper entspannen sollen, werden nichts nützen, weil diese Spannungen (unbewußte frühe Blockierungen und Deprivationen) unentwirrbar mit primären Erinnerungen zu einheitlichen organismischen Geschehnissen verwoben sind. Die Ermunterung zu Einsichten spaltet das Individuum auf eine Weise, und Bewegungstherapie spaltet es auf eine andere. Was wir brauchen, ist etwas Totales — eine sofortige Verbindung von Körper und Seele. Es gibt keine Möglichkeit, Erinnerungen von einer verspannten Schulter wegzumassieren, wenn diese Erinnerungen die Schulter unterhalb der Bewußtseinsschwelle innervieren.

Bei der Behandlung der Neurose muß immer das ganze System erfaßt werden. Wir Therapeuten haben Jahrzehnte damit verbracht, mit der irrealen Fassade unserer Patienten zu sprechen, und haben geglaubt, wir könnten diese Fassade dazu überreden, die Bedürfnisse und Schmerzen, die diese Fassade hervorgebracht haben, aufzugeben. Keine Macht auf Erden vermag das.

Man könnte fragen: »Macht das einen Unterschied aus? Kommt es nicht allein darauf an, daß ich mich gut fühle? Muß ich mein Wohlbefinden aufgeben, bloß weil jemand anderes sich einen idealeren Zustand vorstellen kann?« Natürlich ist die Antwort nein. Aber ich glaube, viele Menschen, zum Beispiel Homosexuelle, haben sich nur mit ihren Krankheiten abgefunden, weil sie ehrlich glauben, daß es für sie keine Alternative gibt.

Obwohl die meisten Neurotiker unzufrieden sind, leiden sie nur unter einem vagen Unbehagen, solange ihr Abwehrsystem funktioniert. Doch sollte der Neurotiker wissen, daß es eine Alternative gibt, eine Seinsweise, die er sich im Augenblick gar nicht vorstellen kann. Vielleicht hat er einmal in seinem Leben LSD genommen und Gefühle von unglaublicher Großartigkeit erlebt. Vielleicht hat er diese Gefühle der Droge zugeschrieben. Ich bin da anderer Meinung. Drogen fühlen nicht. Menschen fühlen! Das heißt, nicht-neurotische Menschen fühlen, und ich glaube, der beste Dienst, den die Primärtherapie leisten kann, ist, daß sie den Menschen ermöglicht, ihre eigenen Gefühle zu empfinden.

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