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11  Über das Normal-Sein

 

Arthur Janov 1970

 

 

121-136

Es ist das Ziel der Primärtherapie, die Menschen real zu machen. Normale Menschen sind der Definition nach real. Postprimäre Patienten werden durch ihre Therapie real. Allerdings bleiben bei diesen Patienten immer noch Narben zurück. 

Im Lauf ihres Lebens sind sie viele Male verletzt worden, und ihre Erinnerungen kann man nicht wegwaschen; man kann sie nur entschärfen, so daß sie nicht länger den Druck ausüben, der den Neurotiker zum symbolischen Ausagieren bringt. 

Nach so viel Deprivation als Neurotiker wird der postprimäre Patient natürlich kein voll befriedigter Mensch sein. Als Neurotiker konnte er nur um zukünftige Befriedigung kämpfen. Seine Therapie ermöglicht ihm nun, seine Bedürfnisse in der Gegenwart zu befriedigen.

Wenn ich von einem normalen Menschen spreche, dann meine ich eine abwehrfreie, spannungslose, nicht kämpfende Person. Meine Vorstellung von Normalität hat nichts mit statistischen Normen, Mittelwerten, Maßstäben der sozialen Anpassung, Konformität oder Nichtkonformität zu tun. 

Die Verhaltensweisen von Menschen, die sie selber sind, sind so unterschiedlich und zahllos, wie es Menschen auf der Welt gibt. Der Normale ist er selber. Die Primärtherapie macht jemanden zu sich selber und versucht nicht zu bewirken, daß jemand etwas aus sich macht.

In diesem Kapitel will ich den Normalen dem Neurotiker gegenüberstellen. Später werde ich ein anschauliches Bild vom postprimären Patienten entwerfen: wie er fühlt, was er tut, und welche Art von Beziehungen er hat.

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Weil er zufrieden ist, ist der Normale entspannt. Der Neurotiker ist unbefriedigt, weil seine Bedürfnisse nicht befriedigt wurden, und muß nach den offenbaren Ursachen seiner Unzufriedenheit forschen. Das hält ihn davon ab, die wahren Gründe zu erkennen, warum er unglücklich ist. So träumt er davon, eine neue Stellung zu bekommen, noch ein Examen abzulegen, woanders hinzuziehen oder eine neue Freundin zu finden. Indem er sich auf seine schlechte Stellung, seine verständnislose Frau usw. konzentriert, hofft er, die grundlegende Unzufriedenheit werde beseitigt.

 

Ich erinnere mich, daß eines Tages ein Patient zur Therapie kam und die politische Entwicklung in den Vereinigten Staaten beklagte. Er war besessen von der Idee auszuwandern. Was er über die politische Atmosphäre zu sagen hatte, klang ganz real. Als er dann den wirklichen Grund für seine Unzufriedenheit empfand, änderte das zwar seine Vorstellungen von der politischen Situation nicht, aber es änderte seine Obsession auszuwandern. Was er fühlte, war: »Es gibt kein gutes Zuhause für mich.« Er hatte nie ein gutes Zuhause gehabt. Schlechtes Zuhause = schlechte Heimat. Sein Traum war, woanders ein gutes Zuhause zu finden.

Weil der Neurotiker nicht dort ist, wo er ist, wird er niemals auf längere Zeit zufrieden sein. Er bedient sich der Gegenwart, um die Vergangenheit zu bewältigen. So wird er ein Haus kaufen und es einrichten, und wenn er damit fertig ist, wird er ein neues Haus haben wollen. Oder er findet eine Freundin und verläßt sie dann, nachdem er sie <erobert> hat.

Für den Neurotiker ist der Kampf wichtig, nicht das Ergebnis. So kann er oft das, was er angefangen hat, nicht beenden. Er rechtfertigt seine unzulängliche Arbeit damit, daß er so viel zu tun habe. Aber er hat so viel zu tun, weil er nichts fertig macht. 

 

Etwas fertig machen und sich unbefriedigt fühlen, das tut weh. Darum sind die letzten Monate vor einem Examen für viele Leute eine so mißliche Zeit. Darum sind auch manche Leute nicht zufrieden, wenn sie Geld auf der Bank haben. Kaum haben sie ihre Schulden abgetragen, da pumpen sie schon von neuem, um den Kampf fortsetzen zu können. Das Gefühl: »Ich habe es geschafft, ich habe Geld auf der Bank und bin doch unglücklich« ist unerträglich. Davon befreit ihn dann der Kampf. 

Manche neurotischen Hausfrauen stehen selten früh auf und werden nie ganz mit ihrer Arbeit fertig. Dann würde ihnen nämlich die Leere ihres Daseins klar werden. Statt dessen lassen sie ein oder zwei Zimmer in ständiger Unordnung; auf diese Weise setzen sie ihren Kampf fort. Daß das Haus eingerichtet wird oder sauber ist, ist etwas, dem sie entgegensehen können und das nach verrichteter Hausarbeit das Gefühl aufkommen läßt: »Und was jetzt?«

Der Normale der keinen Kampf braucht, der keine Hindernisse in seinem Weg braucht, damit er den Kampf fortsetzt kommt dazu, Dinge zu erledigen. Der Neurotiker, der das Empfinden seines Urschmerzes hinausschiebt, schiebt auch viel von seinem sonstigen Leben hinaus.  

Tatsächlich ist das Empfinden des Urschmerzes der Augenblick, da der Neurotiker zu leben beginnt. Bis er ihn empfindet, muß er sich ausweichend verhalten, ausweichend in dem Sinne, daß er nicht nur dem ausweicht, was Schmerz bereitet, sondern auch allem, was unerfreulich ist. Weil er sich ständig von seinem realen Selbst wegbewegt, neigt er dazu, flatterhaft zu sein — wenn nicht physisch, dann geistig. Er hat den Kopf voller Pläne; er kann nicht stillsitzen. Selbst im Schlaf ist er in Bewegung, schlägt um sich oder transpiriert. Er mag so aktiviert sein, daß er überhaupt nicht schlafen kann — heimgesucht von quälenden Gedanken und unerledigten geschäftlichen Dingen.

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Der Normale ist ganz da. Kein Teil von ihm wird <in Reserve> gehalten; daher kann er sich auch ganz und gar für alles interessieren. Der Neurotiker ist oft in einem Strudel von Ablenkungen; seine Augen und sein Geist flitzen von einem Gegenstand zum anderen und vermögen sich auf nichts zu konzentrieren.

Natürlich ist der Normale nicht gespalten. Das bedeutet, daß er, wenn er einem die Hand gibt, nicht woanders hinschaut. Er kann wirklich zuhören, und in einer neurotischen Gesellschaft ist das selten. Der Neurotiker hört tatsächlich nur, was er hören will. Meistens denkt er darüber nach, was er als nächstes sagen will. Was er hört, bewertet er nur danach, ob es sich in irgendeiner Weise auf ihn bezieht. Er kann nicht objektiv sein und das, was außerhalb von ihm ist (und das gilt auch für seine Kinder) als solches nicht würdigen. 

Neurotische Unterhaltungen gehen selten über persönliche Erfahrungen hinaus (»was ich sagte«, »was er zu mir sagte«), weil das neurotische Interesse dem Selbst gilt, das unbefriedigt ist. 

Der Normale ist auf andere Weise an seinem Selbst interessiert. Nicht alles auf der Welt muß sich darauf beziehen, aber er vermag die Beziehung zwischen sich und der Welt herzustellen. Er benutzt seine Außenwelt nicht, um die innere zu verbergen.

Der Normale fühlt sich nicht einsam; er fühlt sich allein, und dieses Gefühl des Alleinseins ist ganz anders als das, was er früher empfand, wenn er allein war. Es ist eine losgelöste und unabhängige Empfindung ohne Furcht oder Panik. Neurotische Einsamkeit ist eine Verleugnung des Alleinseins, ein Bedürfnis, mit anderen zusammen zu sein, um dem katastrophalen Urgefühl zu entfliehen, abgelehnt zu werden und den größten Teil des Lebens tatsächlich allein zu sein. Die Erfinder von Autoradios verstanden die neurotische Einsamkeit; sie sind sozusagen schmerzstillende Mittel — gratis gelieferte Abwehr­mechanismen, damit der Neurotiker sein Alleinsein nicht zu empfinden braucht. Der Normale betrachtet die Musikberieselung oft als Ruhestörung.

Der Normale ist aufrichtig, und man spürt es daran, wie er reagiert. Der Neurotiker führt ein übertriebenes Leben — er reagiert entweder zu stark oder zu wenig; seit der Zeit, als er seine wahren Reaktionen nicht akzeptabel fand, mußte er unaufrichtig reagieren oder so tun, als ob er gar nicht reagiere. Zum Beispiel hatte eine Patientin eine neurotische Freundin bei sich, um ihr ihre neue Wohnung zu zeigen. Sie fragte sie, wie ihr die Einrichtung gefiele. Die Freundin sagte: »Ich wünschte, mein Teppich wäre so hübsch wie deiner.« Sie sah das Zimmer nur durch die Brille ihrer eigenen Bedürfnisse, und ihre Reaktion war typisch neurotisch. Wenn Neurotikern ein Witz erzählt wird, dann amüsieren sie sich nicht etwa darüber und lachen, sondern geben sofort einen noch besseren zum besten.

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Wenn jemand <identifizieren> muß, statt zu fühlen, dann bemerken wir diese unpassende Reaktion. Der Normale reagiert angemessen, nicht weil er Eindruck machen will oder einen <Knigge> gelesen hat, sondern weil er spürt, was angemessen ist. Um ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein, braucht man nicht unaufhörlich kluge Bücher über Kindererziehung zu lesen. Man wird natürlich sein und auch seine Kinder natürliche Menschen sein lassen.

Weil der Normale nicht länger das Gefühl von Bedeutungslosigkeit verbergen muß, braucht er sich nicht verbissen darum zu bemühen, von Kellnern und Hotelangestellten als jemand Besonderes behandelt zu werden. Beim Neurotiker ist das oft eine Ganztagsbeschäftigung. Zum Teil besteht das neurotische Bedürfnis darin, sich mit Menschen zu umgeben, um sich nicht einsam zu fühlen, oder in Klubs einzutreten, um das Gefühl zu verhüllen, daß man nie zu einer wirklichen Familie gehört hat. Dieser ganze unaufhörliche Kampf ist für den Normalen vorüber.

Wenn ich an den neurotischen Kampf denke, fällt mir immer eine Whisky-Reklame ein: »Es braucht gar nicht viel, um Sie für all die Jahre des Kampfes zu entschädigen, der Sie dahin gebracht hat, wo Sie jetzt sind.«

Neurotische Kämpfe sind fabriziert. 

So kann eine Frau jahrelang Gelegenheitskäufe tätigen und hat doch nie das Gefühl, etwas wirklich Gutes gekauft zu haben. Wahrscheinlich war es das auch nicht. Hätte sie die Liebe ihrer Eltern ohne Kampf erhalten, wären Gelegenheitskäufe vielleicht nicht so wichtig. Günstig einkaufen, ist eine typisch amerikanische Neurose, ähnlich wie die Wunder wirkende Schlankheitspille; sie bringen ohne viel Anstrengung etwas Nützliches — wie der Whisky. Was Gelegen­heits­käufe besonders köstlich macht, ist der Kampf. Je größer der Kampf, um so wertvoller der Preis, nur daß das nicht der reale Preis ist, den man sich für den großen Lebenskampf wünscht. Es ist nur ein bescheidener Ersatz, denn bei dem jahrelangen Kampf um die elterliche Liebe kam nichts heraus. Die Gelegenheitskäufe sind die Entsprechung zum Leben des Neurotikers mit seinen Eltern, aber mit einem Unterschied: Der Neurotiker bekommt schließlich etwas, das er oft gar nicht will.

In ein Geschäft zu gehen und den Listenpreis zu bezahlen, fällt vielen Neurotikern schwer, denn das kann schließlich jeder, es ist nichts >Besonderes<, und man ist dann wie jeder andere. Der Normale ist nicht zwanghaft auf der Jagd nach günstigen Gelegen­heiten. Er versucht, sich das Leben leicht und nicht schwer zu machen.

Sehr ähnlich wie der Hang zum günstigen Einkaufen ist die Art und Weise, wie Neurotiker mit Geld umgehen. Ein Patient sagte, vor der Therapie brachte er es nie fertig, Geld auf der Bank zu lassen, denn das hätte bedeutet, daß er nicht mehr zu kämpfe brauchte. Dieser Mann war ständig dabei, sich von einem frühen Gefühl freizukämpfen, daß er nichts tauge.

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Er hatte (unbewußt) gehofft, Geld würde ihm das Gefühl geben, etwas wert zu sein. Aber dafür war natürlich nie genug Geld da. Wenn er Geld hatte, ließ er es nicht dabei bewenden, denn er hatte immer noch das Gefühl, nichts zu taugen, und so fühlte er sich bemüßigt, immer mehr Geld heranzuschaffen. Der Normale bedient sich des Geldes nicht symbolisch, um alte Bedürfnisse zu befriedigen. Er hat das Gefühl, daß er etwas taugt, weil er so, wie er war, von normalen Eltern anerkannt wurde. Für so viele Neurotiker ist Geld deswegen das Hauptanliegen, weil der Neurotiker der Definition nach das Gefühl haben muß, nichts zu taugen; er wurde nie nach dem beurteilt, was er war. Da er seine wahren Bedürfnisse nicht zu empfinden vermag, wird er immer mehr wollen, als er braucht.

Anderen Neurotikern wiederum fällt es immer schwer, Geld auszugeben. Bei ihrem Kampf dreht es sich möglicherweise darum, sich ungefährdet und gesichert zu fühlen. Aber Geld allein kann keine Sicherheit verleihen. Ein Neurotiker dieser Art schiebt alles in seinem Leben hinaus. 

»Eines Tages, wenn alles in Ordnung ist, werde ich Urlaub machen.« Er lebt niemals. Vielmehr klammert er sich an eine Phantasie, wie das Leben eines Tages sein werde. Diese Phantasie hängt eng mit dem Urschmerz zusammen, und das trägt zur Erklärung bei, warum so viele Menschen so vieles in ihrem Leben hinausschieben. 

Der Normale andererseits kann die Dinge jetzt bekommen. Er hat keine alten Urschmerzen, die ihn zurückzerren und bewirken, daß er alles hinausschiebt. Seine realen Gefühle eliminieren das Bedürfnis nach irrealen Phantasien.

Der Normale ist ausgeglichen. Er ist damit zufrieden, wo er ist, und braucht sich nicht einzubilden, das wirkliche Leben sei <irgendwo draußen>. Eine Frau hat das so ausgedrückt: 

»Ich schaute immer in den Spiegel und sah meine Runzeln und bekam Angst. Ich rannte von einem Schönheitssalon zum anderen, versuchte alle möglichen Lotions, und als das nichts half, versuchte ich es mit Facelifting. Ich war auf einer verzweifelten Flucht vor dem Gefühl, daß meine Jugend vorbei sei und ich nie Gelegenheit haben würde, das zu bekommen, was das kleine Mädchen in mir brauchte. Wenn ich diese Runzeln und die paar grauen Haare sah, dann kam mir die Hoffnungslosigkeit zum Bewußtsein, daß ich nie wieder Kind sein würde, und so rannte und rannte ich. Ich ging zu Parties und übernahm Dutzende von Ämtern. Versuchte <in> und attraktiv zu sein. Das Rennen wurde mir zur zweiten Natur. Ich konnte nicht aufhören.« 

Der Normale kann sich mit seinem Alter abfinden, denn er lebt jetzt und hat seine Jugend erlebt und empfunden. Er versucht nicht tagtäglich, etwas wieder­zuerlangen, was er schon vor Jahrzehnten verloren hat. Weder macht er sich übermäßig Sorgen um die Zukunft, noch erinnert er sich ständig seiner Vergangenheit, denn er lebt nicht in einer Zeit, die nicht existiert.

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Beim Neurotiker ist <die Persönlichkeit die Botschaft> um McLuhans Redewendung zu entlehnen. Die Persönlichkeit verbiegt sich je nach der Botschaft, die sie übermitteln muß. Der lakonische Mensch sagt vielleicht: »Pappi, rede mit mir, hol was aus mir heraus.« Der ungeschickte, verwirrte Typ sagt: »Mammi, ich habe mich verirrt. Zeig mir den Weg.« Der mit der Leichen­bitter­miene : »Mama, frag mich, was mir weh tut.« Und der Depressive sagt vielleicht: »Tu mir nichts, wenn mir mies ist.«

Weil der Normale nicht länger versucht, etwas indirekt zu sagen, hat er keine verborgene Persönlichkeit. Ohne alte Bedürfnisse sind die Menschen, was sie sind. Ich weiß nicht, wie ich es anders erklären könnte als damit, daß der Normale ohne psychische Fassade einfach lebt und leben läßt. 

Wie ich schon erwähnt habe, ist der Körper ein Teil der Gesamtpersönlichkeit, so daß Neurotiker oft neurotisch aussehen: man kann geradlinige, schmale Lippen finden, die sich gegen unerwünschte Wörter verschließen, zusammengekniffene Augen, die »nicht alles sehen können, was vor sich geht«, wie ein Patient es ausdrückte. Oder wir bemerken hängende Lippen vor nicht zum Ausdruck gebrachtem und unaufgelöstem Kummer, oder eine Kieferstellung, der man den ständigen Ärger ansieht. Der ganze Organismus des Neurotikers drückt die unbewußte Botschaft aus. Da er keine Botschaft zu übermitteln hat, können wir beim Normalen einen richtig proportionierten Körper erwarten, zu dem alles andere paßt. Die körperlichen Veränderungen, die ich bei postprimären Patienten sehe, haben mich zu der Schlußfolgerung geführt, daß einiges von dem, was wir als ererbt ansehen, in Wirklichkeit die Folge von Neurose sein kann.

Der Normale kann sich amüsieren. Es ist überraschend, wie wenige Neurotiker ohne künstliche Hilfsmittel wie Alkohol dazu imstande sind. 

Ein Patient drückte das so aus: 

»Vergnügen torpediert Hoffnung. Ich brachte es fertig, alles in etwas Unerfreuliche zu verwandeln. Wenn es den ganzen Tag über gutgegangen warf dann wurde ich plötzlich reizbar und suchte Streit. Ständige Freundlichkeit konnte ich einfach nicht ertragen. Mir war dann unbehaglich zumute, als ob das dicke Ende noch nachkomme würde. Rückblickend betrachtet, glaube ich, daß es, wenn ich diese Freundlichkeit akzeptiert hätte, bedeutet hätte, meinen Kampf, aus meinen Eltern gute Menschen zu machen, aufzugeben. Wenn ich Freundlichkeit aus ganzem Herzen angenommen und das Leben wirklich genossen hätte, dann hätte ich die Hoffnung aufgeben müssen, daß mein seelischer Schmerz je erkannt würde.« 

Der Neurotiker ist nicht jetzt auf Vergnügen aus, vielmehr will er damit das damals wiedergutmachen. Dasselbe gilt für Zärtlichkeit. Der Normale freut sich ohne Vorbehalt über Zärtlichkeit. Aber beim Neurotiker kann das bedeuten: »Ich brauche euch Eltern nicht mehr. Ich habe jemand anderen gefunden, der mich liebt.«

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Es fällt dem Neurotiker entsetzlich schwer zu empfinden, daß er nie wieder der kleine Junge oder das kleine Mädchen sein wird, die von ihren Eltern nun bekommen, was sie vermißt haben.

Der Unterschied zwischen der normalen und der neurotischen Reaktion wurde durch einen Patienten deutlich gemacht, der nach Weihnachten zur Therapie kam und sagte, er habe >Millionen< Geschenke bekommen. Er mußte übertreiben, um mit dem Mehr die große lebenslange Leere zu füllen.

Immer wieder liest man, daß Kinder Pflichten oder Aufgaben brauchen, damit sie lernen, Verantwortung zu übernehmen. Kinder werden zum Geldverdienen angehalten, selbst wenn keine Notwendigkeit dafür besteht. Wird zum Beispiel ein Kind von einem Nachbarkind zum Spielen aufgefordert, ist die erste Frage der Mutter: »Hast du deine Pflichten erfüllt?« 

Irgendwie fürchten Eltern, wenn man Kinder tun läßt, was sie wollen, daß sie dann nie all das tun, was sie <sollten>. So legen sie jedem Wunsch Hindernisse in den Weg, bis das Kind auch bei den simpelsten Wünschen ängstlich wird und sie schließlich vermeidet. Später im Leben wird der Betreffende vielleicht nie spontan handeln können ohne die quälende Frage: »Was sollte ich zuerst tun?« 

Ein Patient sagte: »Wenn ich einmal Spaß gehabt hatte und jemand mich einlud, am nächsten Abend wiederzukommen, hat meine Mutter es immer verboten, weil es <zu viel Aufregung> sei — womit sie Vergnügen meinte. Wahrscheinlich fürchtete sie, ich hätte meine ganze Zuteilung an Vergnügen schon verbraucht, ohne meinen Verpflichtungen nachzukommen.«

Das Leben des Normalen ist in dieser Hinsicht viel leichter. Er hält sich nicht davon ab, in der Gegenwart zu leben, und er verwickelt auch seine Kinder nicht in den Kampf, so daß sie sich schuldig fühlen, wenn sie ungezwungen und spontan sind.

Nichts ist dem Neurotiker jemals ganz recht, denn er hat es seinen Eltern nie recht gemacht. Es ist ein ganz besonderer Trick, einem Kind nie ein lobendes Wort zu sagen, nie einen Satz, der erkennen läßt, daß man das Kind goldrichtig findet, so wie es ist; aber ein Patient nach dem anderen berichtet, er könne sich nicht erinnern, je etwas Ermunterndes gehört zu haben. Statt dessen muß der neurotische Elternteil mit jedem Atemzug seinen Urschmerz zum Ausdruck bringen, denn dieser Urschmerz ist allgegen­wärtig.

Wenn jemand sein Leben lang kritisiert worden ist, zeigen sich die Folgen davon auf mannigfache Weise. 

Zum Beispiel werden manche Neurotiker an jedem Geschenk unweigerlich etwas auszusetzen haben. Oder sie werden bei allem immer nur das Schlechte sehen, weil auch an ihnen immer nur das Schlechte gesehen wurde. Wenn der Neurotiker Zeitung liest, liest er nur die schlechten Nachrichten: was nicht geklappt hat; wer sonst noch unglücklich ist oder etwas Böses getan hat.

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In einer neurotischen Gesellschaft, in der die Menschen ihren Kummer nach außen projizieren müssen, um ihr Leben erträglicher zu machen, werden Nachrichten synonym mit schlechten Nachrichten. Der Normale ergötzt sich nicht am Kummer anderer. Er empfindet ihren Kummer und möchte ihnen helfen, ihr Elend zu beenden.

Wenn Sie versuchen, die Leere eines Neurotikers zu füllen, dürfen Sie nicht vergessen, was für ein Höllenschlund das ist. Der Neurotiker braucht unter Umständen sehr kostbare Geschenke, wenn sie die jahrelange Leere und Lieblosigkeit wettmachen sollen. Aber kein Geschenk bringt das zuwege, wie kostbar es auch sein mag; es gibt nicht genug Pelze auf der Welt, um lebens­längliche Kälte zu wärmen.

Selbst wenn lange angestrebte Ziele schließlich erreicht werden, ist das nicht immer die Lösung. 

Einer meiner Patienten promovierte endlich zum Dr. phil. und geriet in eine schwere Depression. Er hatte geglaubt, daß nach acht Jahren eines entsetzlichen Kampfes das Diplom etwas für ihn bewirken werde, aber er kam sich immer noch nicht geliebt oder bedeutend vor. Er sagte mir, den Doktortitel zu bekommen war gleichsam ein letztes Wunder, aber er habe es nicht fühlen können. Der Normale hofft nicht darauf, daß etwas Äußerliches irgendwas für ihn bewirken werde, deshalb kann er die Dinge sein lassen, wie sie sind.

Für den Neurotiker ist Enttäuschung die Magd der Hoffnung. Die Hoffnung, die die Realität verschleiert, sorgt oft dafür, daß der Betreffende infolge seiner unrealistischen Erwartungen leidet. Der Neurotiker wird zum Beispiel unweigerlich vom Weihnachtsfest enttäuscht sein, wenn er von dieser Feier irgendwie erwartet hatte, daß er sich erwünscht und geliebt fühlen werde.

Der Normale ist gesund. Er braucht nicht herumzulaufen und den Ärzten zu sagen: »Ich habe Schmerzen«, weil er das seinen Eltern niemals sagen durfte. Weil nichts ihn dazu treibt, irreal zu sein, weil es kein symbolisches System gibt, das den Körper ruhelos und erschöpft sein läßt, ist der Normale nicht nur gesünder, sondern auch viel energischer. Seine Energie wird für die Erfüllung realer Aufgaben eingesetzt, nicht für den Kampf, das Unmögliche zu erreichen. Und nicht zuletzt weiß es der Normale, wenn er sich gut fühlt. Ein Patient sagte mir: »Ich wußte es überhaupt nicht, wenn ich mich gut fühlte. Ich war meinen Gefühlen so fern. Wenn mich jemand fragte, wie es mir gehe, und ich fühlte mich nicht schlecht, dann mußte ich, da ich mich nicht schlecht fühlte, folgern, daß es nur eine Möglichkeit gebe — ich mußte mich gut fühlen.«

Der Normale schickt auch keinen anderen in den Kampf. Er begreift, daß man Kinder gern haben sollte, ohne daß die es sich verdienen müssen. Deshalb läßt er seine Kinder um nichts kämpfen.

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Paradoxerweise scheinen diese Kinder im Leben gut voranzukommen, obwohl doch die Ansicht vorherrscht, man werde durch einen frühen Lebenskampf auf den späteren vorbereitet. Viele Neurotiker sind sich nicht einmal darüber klar, daß sie eigentlich gar nichts dafür hätten tun müssen, um von ihren Eltern geliebt zu werden. Sie haben so viele Jahre lang darum gekämpft, daß man sie gern habe, daß sie sich nicht vorstellen können, daß man bloß deswegen geliebt wird, weil man lebt. 

Der konditionierende Prozeß, etwas tun zu müssen, um Anerkennung zu finden, beginnt fast mit der Geburt, wenn das Kind <umgirrt> wird, damit es lächelt (und glücklich aussieht). Später muß es dann <Winkewinke> machen oder für die Großeltern tanzen oder dieses oder jenes Wort sagen, ohne Rücksicht darauf, wie dem Kind gerade zumute ist. Fast jeder Kontakt in der Säuglingszeit besteht darin, daß das getan wird, was ein anderer will. Dieses Bedürfnis der Eltern und Großeltern, eine ständige Reaktion auf sie zu erhalten, scheint eine natürliche Folge davon zu sein, daß ihre eigenen Eltern so wenig auf sie reagierten.

Wenn man den Normalen mit dem Neurotiker vergleicht, ist es ein Wunder, daß Neurotiker überhaupt am Leben bleiben.

Wenn es irgendein Schlüsselprinzip in bezug auf reales Verhalten gäbe, dann könnte es folgendermaßen lauten: Realität umgibt sich auf dieselbe Weise mit einer anderen Realität, wie Irrealität nach Irrealität strebt. Reale oder normale Menschen werden keine dauerhaften Beziehungen zu irrealen Menschen unterhalten, und umgekehrt wird es ebenso zutreffen. 

Heuchelei wird für den Normalen unerträglich. Es wird einem Neurotiker nicht schmeicheln, sich ihm nicht fügen, ihn nicht verwöhnen oder weich stimmen, um mit ihm auszukommen. Er läßt sich von dem Neurotiker auch nicht einwickeln, hereinlegen oder beherrschen, so daß die Beziehung, sofern jemand nicht ziemlich aufrichtig ist, schwierig sein wird. Der Normale wird sich nicht in den Kampf eines anderen hineinziehen lassen. Ein Patient berichtete, daß er früher immer die Sätze seiner Frau vollenden mußte. Sie begann einen Satz und sah ihn dann flehentlich an, und dann sprang er sofort in die Bresche und erledigte das für sie. Die Reaktion war automatisch und unbewußt.

Es ist unwahrscheinlich, daß ein Neurotiker eine Beziehung fortsetzt, bei der seinen neurotischen Bedürfnissen nicht Genüge getan wird. Er stellt besondere Anforderungen. Er wird dazu neigen, diejenigen Leute auszusuchen, die seine Art von irrealen Ideen und Einstellungen teilen. Daher können wir oft eine Gleichartigkeit des Denkens in einer Freundesgruppe erwarten, wenn es sich um Wirtschaft, Politik, Menschen oder allgemeine soziale Phänomene handelt. Ich meine damit, daß das Irreal-Sein eine allumfassende Verhaltensweise ist. Der Neurotiker muß die Realität vermeiden, bis er so weit ist, daß er seiner eigenen Realität ins Auge sehen kann. Bis dahin wird er sich in einen behaglichen, aber irrealen Kokon einspinnen, und dieser Kokon sind sein Beruf, die Zeitungen, die er liest, die Freunde, die er hat.

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Wie stark die soziale Irrealität des Neurotikers ist, wird bis zu einem gewissen Grad davon abhängen, wieviel er von sich selbst verleugnen muß. Wenn ein Mann nie von seinem Vater geliebt worden ist, hat er vielleicht homosexuelle Phantasien. Manche werden diese Phantasien erkennen und akzeptieren; andere werden sie abstreiten und möglicherweise nicht einmal zugeben, daß sie in ihren Träumen und Tagträumen existieren. 

Die zweite Gruppe wird dann stärker unter Verleugnung leiden als die erste. Diese Leute werden es schon verächtlich finden, Homosexuelle auch nur zu sehen, und Gesetze gegen sie erlassen wollen. In ihrem sozialen Verhalten werden sie dann fordern, daß Homosexuellen alle Rechte abgesprochen werden - und all das, weil sie einen Pappi haben wollen und es nicht sagen können. Dieselben Männer fürchten sich vielleicht so vor ihrer <Schwäche>, daß sie sie verachten. Sie versuchen nicht nur, stark und unabhängig zu sein, sondern wollen auch Gesetze gegen <Fürsorgeschmarotzer> oder andere Gruppen einbringen, die sich nicht durchsetzen können und es allein nicht schaffen. Kurz gesagt, wenn die eigenen Bedürfnisse unterdrückt werden, bedeutet es oft, daß auch die Bedürfnisse anderer nicht anerkannt werden.

Der Versuch, die gesellschaftliche Philosophie mancher Neurotiker zu ändern, würde auf dasselbe hinauslaufen wie der Versuch, ihr ganzes psycho-physisches System zu ändern. Neurotiker glauben, was sie glauben müssen, um das Leben erträglich zu machen. Wollte man ihnen ihre Grundüberzeugung ausreden, wäre es genauso, wie wenn man ihnen ihre konstitutionelle Veranlagung ausreden wollte. Der Normale ist nicht daran interessiert, andere auszunutzen. Er braucht von den Menschen nichts Unrealistisches. Der Neurotiker, seinem Urschmerz gegenüber hilflos, hat es oft nötig, andere auszunutzen, um eine Wichtigkeit zu fühlen, die er nicht empfinden kann. Er muß das tun, um sich zu verbergen. Er braucht andere, die ihm sagen, was an ihm, seinem Kind, seinem Haus oder seiner Kleidung gut ist.

Wer nicht normal ist, kann nichts von sich selber geben, wenn dieses Selbst innen weggeschlossen ist. Der Neurotiker wird vielleicht Sorge um andere und Interesse an ihnen heucheln und sich womöglich einreden, daß ihm an ihnen liege, aber sein Selbst kann gar nicht Anteil nehmen, bis es zu fühlen und sich voll auszudrücken vermag. Solange das reale Selbst unter Furcht und Spannung verschüttet ist, solange es noch verzweifelte Bedürfnisse hat, kann es nicht geben.

Der Normale wird sich wahrscheinlich nicht viele Freunde als Puffer gegen das Gefühl, allein auf der Welt zu sein, anschaffen. Seine Freunde sind weder Trophäen noch Besitztümer. Postprimäre Patienten berichten, daß sie mit anderen realen Menschen, ungeachtet deren Persönlichkeit, gut auskommen. Sie behaupten, reale Menschen seien offen und ehrlich, stellen keine Ansprüche und scheinen von Idiosynkrasien nicht bedroht zu sein.

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Der Normale braucht nicht auf Monate hinaus für jeden Samstagabend eine Verabredung, um sich erwünscht und beliebt vorzu­kommen. Ein normaler Arzt braucht kein Wartezimmer voller Patienten, um das Gefühl zu haben, er werde gebraucht. Dieser letzte Punkt scheint auf zweierlei Weise zu gelten. Auch der neurotische Patient kann ängstlich werden, wenn er der einzige im Wartezimmer eines Arztes ist und sofort drankommt. Weil er nicht zu kämpfen, zu warten und auf dem Stuhl hin- und herzu­rutschen brauchte, glaubt er vielleicht, sein Arzt sei nicht so gut wie einer, der die Leute eine Stunde warten läßt.

Der Normale, der realistisch handelt, wird meist pünktlich sein, denn für ihn ist die Zeit real und nicht irgendeine Zeit der Vergangenheit. Das bedeutet, er wird die Zeit nicht symbolisch verwenden, um etwas zu fühlen, das er sonst nicht fühlen kann. Zum Beispiel wird er nicht zu spät kommen, um sich dadurch wichtig zu machen oder um sich nicht abgelehnt zu fühlen, wie es beim Neurotiker der Fall ist.

Zuspätkommen kann nämlich bedeuten, irreale Hoffnung am Leben zu erhalten. Es ist eine weitere Unehrlichkeit des Neurotikers dem Leben gegenüber. Oder er wird eine Geschäftigkeit entwickeln, die ihm nie Zeit zum Fühlen läßt. Ständig ist er im Gange und spürt einen Druck von außen, der in Wirklichkeit innen ist. Viele Neurotiker richten ihr Leben so ein, daß sie nie Zeit zur Muße haben. Sie planen so viele Unternehmungen (um die Zeit auszufüllen), damit sie nie eine Minute Zeit zum Fühlen oder Nachdenken haben. Ziemlich bald haben sie dann mehr zu tun, als der Tag Stunden hat. Die Folge ist, daß sie zu allem zu spät kommen.

Wie an anderer Stelle erwähnt, gibt es Pseudogefühle, die beim Normalen nicht mehr auftreten. Das bedeutet, daß der Normale weder eifersüchtig noch von Schuldgefühlen geplagt ist. Zufrieden mit dem, was er ist, wird er andere nicht beneiden, nicht wollen, was sie wollen, oder beanspruchen, was sie haben. Der Normale gesteht anderen — seiner Frau, seinen Kindern und seinen Freunden — zu, sie selber zu sein. Er lebt nicht durch ihre Leistungen und Erfolge. Er gibt sich nicht damit ab, alles zu unterdrücken, was ein Zeichen ihres Glücks und ihrer Lebendigkeit ist. Der Normale fühlt sich nicht entfremdet, denn der Urschmerz ist es, der die Entfremdung eines Teils des Selbst von einem anderen hervorruft.

(Vielleicht ist es die Entfremdung vom Selbst, die Führer in die Lage versetzt, das Töten so leichthin abzutun. Abgetrennt von ihrer eigenen Menschlichkeit, vermögen sie vielleicht die Menschlichkeit anderer nicht zu empfinden. Der Tod ist offenbar keine wirkliche Tragödie für diejenigen, die das Leben nicht empfinden. In diesem Sinne macht das innerlich <Tot>-Sein den tatsächlichen Tod weniger real und daher weniger schrecklich.)

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Der Normale scheint den Lebensrhythmus von anderen zu spüren. Er kann taktvoll sein, nicht aus einer tiefen Unehrlichkeit heraus, sondern weil er den Urschmerz von anderen spüren kann. Er empfindet, wieviel Realität andere zu fühlen vermögen.

Der Normale ist sensibel im wahren Sinne des Wortes. Er hat nicht nur ein seelisches Verständnis für die Bedürfnisse und Antriebe anderer, sondern auch eine total organismische Sensibilität, wenn Reize direkt auf seine Seele und seinen Körper einwirken. Ich unterscheide zwischen der neurotischen seelischen Sensibilität und der Aufgeschlossenheit des Normalen. Diesen Punkt möchte ich klarstellen, weil es so viele Neurotiker gibt, die sehr scharf wahrnehmen können und die Persönlichkeiten der Menschen in ihrer Umgebung genau durchschauen. Indes können sie, glaube ich, die Situationen, in denen sie sich befinden, nicht empfinden, denn sie agieren gleichzeitig verleugnete Gefühle aus. 

Zum Beispiel wird sich ein geistreicher Mann bei der Einladung zum Abendessen ausführlich über irgendeine philosophische Frage auslassen, wobei er sehr genau spürt, wes Geistes Kind seine Zuhörer sind, aber völlig blind für die Tatsache ist, daß er die Unterhaltung beherrscht. Er ist zu sehr beschäftigt, sein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Wichtigkeit auszuagieren. Darum ist es so entscheidend, daß ein Therapeut nicht nur darin geschult ist, die Persönlichkeiten anderer wahrzunehmen, sondern daß er auch normal ist. Ist er es nicht, so agiert er womöglich bei seinen Patienten sein Bedürfnis aus, gebraucht zu werden, und das wiegt alles Nützliche, das seine Einsichtigkeit herbeifuhren kann, wieder auf.

Der Normale leidet nicht mehr darunter, <in die Zukunft blicken> zu müssen, um der Leere der Gegenwart zu entgehen. 

Ein Patient sagte: »Meine Überlegungen gingen immer dahin, daß ich nicht reich sein wollte, weil Reiche sicher unglücklich sind. Sie können sich alles leisten, was sie wollen, und daher gibt es nichts, worauf sie sich freuen können. Jetzt erkenne ich, daß man, wenn man sich über alles freuen kann, was jetzt ist, nicht in die Zukunft zu blicken braucht.« 

Der Normale verwechselt nicht Hoffen mit Planen. Er plant vielleicht etwas für die Zukunft, aber er steckt nicht so voller Pläne, daß er keine Gegenwart hat. Es scheint, daß sich manche Neurotiker die Dinge für die Zukunft aufheben, so daß sie sich niemals jetzt freuen können. Das ist, glaube ich, die Folge, wenn ein Kind frühzeitig erkennt, daß, würde es sein Leben auf seine Weise führen und eben das tun, was es möchte, seine Eltern es ablehnen und möglicherweise im Stich lassen würden; denn sie erwarten, daß alles nach ihren Wünschen geht. Das Kind mußte also das, was es tun wollte, hinausschieben in der Hoffnung daß es später einmal tun und lassen kann, was es will.

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Das erklärt weitgehend die Vorstellung, die viele von uns als Kinder haben: »Wenn ich groß bin, werde ich so glücklich sein.« Es scheint, daß manche Neurotiker diese Einstellung noch als Erwachsene beibehalten. Der Normale, der irreale Hoffnung und den Kampf um Wohlwollen aufgegeben hat, kann sein Leben so führen, wie es ihm gefällt.

Der Neurotiker >will<; der Normale >braucht<. Damit der Neurotiker will, was er wirklich braucht, muß er den Urschmerz empfinden, deshalb muß er Ersatz wollen — etwas Erreichbares. Der Normale hat einfach Bedürfnisse, weil er das will, was er braucht, nicht irgendeinen symbolischen Ersatz. Der Neurotiker mag einen Drink oder eine Zigarette wollen, Prestige, Macht, ein Examen oder einen schnellen Wagen — alles, um die Urschmerzen der Leere, Untauglichkeit, Machtlosigkeit oder was auch immer zu verbergen. Beim Normalen ist nichts zu verbergen, keine Leere zu füllen.

Das Leben scheint gegen den Neurotiker zu konspirieren. Er will so viel, weil er so wenig bekam. Doch weil er seine Persönlichkeit auf seltsame Weise verbiegen muß, um sich wenigstens minimale Befriedigung zu verschaffen, wird er auf andere Menschen abstoßend wirken. Seine unerfreulichen Forderungen, seine Abhängigkeit und sein Narzißmus werden für andere unerträglich. Der Normale, der nicht versucht, bei jedem geselligen Kontakt eine lebenslängliche Vernachlässigung wettzumachen, ist dagegen oft begehrt.

Der Neurotiker ist einer, der nur nimmt. Wieviel man auch für ihn tun mag, es spielt keine Rolle, denn diese Bedürfnisse müssen immer wieder befriedigt werden, bis die richtige Beziehung hergestellt ist und die Bedürfnisse aufgelöst sind — und das ist gewöhnlich etwas, das nur mit Hilfe der Primärtherapie bewerkstelligt werden kann. Der Normale handelt nach dem <Muß> und nicht nach dem <Sollte>. Im Kontext der Primärtherapie bedeutet neurotisches Verhalten den Verzicht auf persönliche Bedürfnisse aus Rücksicht auf elterliche Wünsche und Bedürfnisse. 

Elterliche Wünsche werden das >Sollte< des Kindes. Ein >böses< Kind ist eins, das sein >Sollte< nicht erfüllt. Das kleine Kind, das brav zu sein versucht, um geliebt zu werden, versucht das zu sein, was seine Eltern verlangen. Es tut das in der stillschweigenden Hoffnung, daß die Eltern auch seine Bedürfnisse befriedigen werden — daß sie es zum Beispiel in den Arm nehmen. Aber die elterlichen Bedürfnisse kann ein Kind wiederum niemals befriedigen, wie sehr es sich auch bemüht. So entsteht die Situation, daß das Kind ständig versucht, seine Eltern zufrieden­zustellen, sie glücklich zu machen oder zu erfreuen. Es wird nie genug sein; kein Kind kann elterliches Leid wettmachen.

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Das <Sollte< des Kindes sind die Bedürfnisse der Eltern. Es nicht zu erfüllen bedeutet, daß die Hoffnung auf elterliche Liebe aufgegeben werden muß. Neurotische Kinder sind so damit beschäftigt, dem >Sollte< — nämlich still, höflich und hilfsbereit zu sein — nachzukommen, daß sie ihre persönlichen Bedürfnisse aus den Augen verlieren. Wenn das einmal geschehen ist, wissen sie nicht mehr, was sie brauchen.

Oft werden Kinder auf kaum merkliche Weise ihrer Bedürfnisse beraubt. 

Neurotische Eltern werden ihren Kindern vorhalten: »Du solltest glücklich sein. Hör auf, dich zu beklagen. Schau, was wir alles für dich tun. Wir geben dir alles.« Oft lassen sich Kinder davon überzeugen. Sie blicken um sich und sehen materielle Güter und glauben, sie hätten, was sie wollen, und dann wissen sie nicht einmal mehr, daß sie etwas ganz anderes ganz dringend brauchen — Liebe.

Das Tragische an dem <Sollte> ist, daß das Kind sich einbildet, wenn es dem <Sollte> nachkommt und genau tut, was die Eltern wollen, würden die Eltern es eines Tages mit Liebe überschütten. Aber da seine Eltern etwas brauchen, das das Kind gar nicht geben kann, kommt dieser Tag nie.

 

Dem >Sollte< nachkommen heißt, sich nicht den eigenen Gefühlen entsprechend verhalten. So schließt das >Sollte< nicht nur Hoffnung ein, sondern auch Ärger — Ärger darüber, daß etwas getan werden muß, das man nicht empfindet. Nachdem der Neurotiker sein Leben lang tun mußte, was er nicht tun wollte, fällt es ihm oft schwer zu tun, was er tun muß. Der Normale tut, was getan werden muß, weil er sich nach den Realitäten richtet.

Der Neurotiker ist oft unentschlossen, weil bei ihm eine Spaltung besteht zwischen unterdrückten Bedürfnissen und dem Erfüllen des >Sollte<. Der Normale kann selbst entscheiden, weil er dieses Selbst fühlt und das, was für es gut ist.

Der Neurotiker verläßt sich darauf, daß andere das >Sollte< liefern. Im Restaurant hat er die Speisekarte vor sich und fragt: »Was sollte ich bestellen?« Auf diese Weise bringt er es fertig, daß ihm die Leute weiterhin das >Sollte< verschaffen und er nie nach seinen Gefühlen handelt. Diese simple Frage: »Was sollte ich bestellen?« ist oft ein Zeichen der Leblosigkeit des Neurotikers. Sie besagt: »Ich habe keine Wünsche, keine Gefühle, kein Leben. Lebe du für mich.«

Der Normale ist nicht auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, denn der Sinn ergibt sich aus dem Fühlen. Wie tief man sein Leben (das innere Leben) empfindet, hängt davon ab, wie sinnvoll es ist. Der Neurotiker, der sich früh in der Kindheit gegen einen realen, katastrophalen Sinn abschließen mußte, muß bewußt oder unbewußt auf der Suche nach diesem Sinn sein. Vielleicht versucht er, ihn in einem Beruf oder auf Reisen zu finden, und wenn seine Abwehrmechanismen funktionieren, bildet er sich vielleicht ein, sein Leben sei sinnvoll. Andere Neurotiker spüren, daß etwas fehlt, und fahnden dann nach dem Sinn. Vielleicht reisen sie zu Gurus, studieren Philosophie, versenken sich in Religion oder Kulte — nur um einen Sinn zu finden, der bloß einen tiefen Atemzug entfernt liegt.

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Der Neurotiker muß auf der Suche sein, weil realer Sinn Urschmerz ist und vermieden werden muß. Für ihn wird also die Suche der Sinn. Weil der Neurotiker sein eigenes Leben nicht voll empfinden kann, muß er seinen Sinn durch andere oder durch äußerliche Dinge finden. Er findet ihn vielleicht in seinen Kindern oder Enkeln, ihren Leistungen und Erfolgen. Oder der Sinn besteht darin, ein wichtiges Amt zu bekleiden oder große Geschäfte zu tätigen. Wenn die äußerlichen Dinge fortfallen, dann leidet der Neurotiker. Dann taucht bei ihm vielleicht das Gefühl auf: »Was hat das für einen Zweck? Was soll das alles? Was hat das überhaupt für einen Sinn?«

Der Normale ist in seinem Inneren lebendig und hat nicht das Gefühl, daß etwas fehlt; kein Teil von ihm fehlt. Dieses Gefühl muß der Neurotiker haben, wenn er je seinen Kampf einstellt, denn ein Teil von ihm fehlt wirklich. Ein Patient drückte es so aus: »Ich habe einen faszinierenden Beruf. Nur interessiert er mich leider nicht.« Er sah keinen Sinn darin.

Da der Neurotiker den vollen Sinn seines Lebens nicht zu empfinden vermag, muß er oft ein Super- oder künftiges Leben erfinden — Orte, an denen das reale Leben vor sich geht. Er muß sich vorstellen, daß irgendwo der wahre Sinn und Zweck von alledem zu finden sind. Vielleicht glaubt er, daß Gelehrte diesen Sinn für ihn finden können, dabei kann nur er es. Dadurch, daß der Normale seinen eigenen Körper entdeckt, braucht er keinen besonderen Ort zu ersinnen, an dem das Leben wirklich vor sich geht. Wenn der Neurotiker den Psychotherapeuten aufsucht, ist stillschweigend miteinbegriffen, daß er durch diese Therapie möglicherweise ein sinnvolleres Leben findet. Auch das wird eine lange Suche. Der Normale hat eine ganz einfache Entdeckung gemacht: Der Sinn ist nicht etwas, das herausgefunden werden muß, sondern nur empfunden werden kann. 

Deshalb rast er nicht zu Wochenendseminaren, bei denen Themen wie: Wie führe ich ein gutes Leben? Wie findet man Freunde? oder dergleichen behandelt werden. Als Beispiel für die Suche des Neurotikers zitiere ich einen Patienten, der im College als Hauptfach Philosophie belegt hatte:

»Mir lag die Philosophie, weil ich niemals etwas ganz sicher wissen wollte. Ich habe nie begriffen, wie sehr ich mir diesen Zustand der Beschränkung wünschte. Ich konnte nicht fühlen, was im Leben richtig war, und deshalb war dieser Zustand vortrefflich für mich. Ich forschte im Himmel und in den intellektuellen Wolken nach irgendeinem Supersinn — all das, um nicht der Tatsache ins Auge zu sehen, daß mein jahrelanges Kämpfen zu Hause keinen Sinn gehabt hatte. Es war bedeutungslos gewesen. Bei Descartes und Spinoza einen Sinn zu finden war ein erfreulicher Deckmantel für all das.«

Der Normale versucht nicht, aus besonderen Gelegenheiten wie Weihnachten oder anderen Festen einen Sinn abzuleiten. Der Neurotiker ist vielleicht an Feiertagen deprimiert, weil er sich bei den Festlichkeiten nicht geliebt fühlt oder keine reale, warmherzige Familie hat. Der Normale braucht nicht lebendig zu machen, was nicht lebendig ist. Er hat eine umfangreiche philosophische Suche nicht nötig. Er weiß eben, daß er lebendig ist und lebt, mehr braucht er nicht.

Man könnte den Rest dieses Buches damit füllen, den Normalen zu beschreiben. Normal ist einfach, was normale Menschen tun — und nicht, endlose Löcher zu graben, um aus ihnen herauszuklettern.

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