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12 b  Der postprimäre Patient: gary  

 

Arthur Janov 1970

 

 

149-191

Der nachstehende Fall von Gary wird in aller Ausführlichkeit wiedergegeben, um den Verlauf der Primärtherapie aufzuzeigen. So umfangreich der Bericht ist, so ist er doch aus Raumgründen stark gekürzt worden.

Gary war zu Beginn der Behandlung recht paranoisch. Seine erste Gruppe war gekennzeichnet durch einen Streit mit einem anderen Gruppenmitglied; Gary glaubte, der andere und ich hätten gegen ihn konspiriert, damit er sich übergangen fühlen sollte. Sein Gefühl, nicht dazuzugehören, verbarg er unter Wut. Wir geboten der Wut Einhalt, und das brachte ihn zu seiner seelischen Verletzung und weg von der Paranoia. 

Ich nenne Gary den <Straßenkämpfer>, denn das war seine Hauptbeschäftigung als Teenager. Jetzt »kann er nicht wütend werden«. Diese Veränderung spiegelt sich in seiner Sprache und in seinem Gesicht wider. Als er zuerst zu mir kam, redete er wie ein Rabauke und sah auch so aus. Jetzt kann man seine Erscheinung und Redeweise nur als <sanft> bezeichnen. Vor der Therapie hatte er deutlich nach vorn geneigte Schultern gehabt, was zu Rückenbeschwerden führte. Jetzt sind die Rückenschmerzen weg, und er hat eine aufrechte Haltung.

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25. Februar  Heute explodierte ich zum erstenmal. Es ist ein Gefühl, als ob einem ein großes Gewicht von der Brust genommen sei und man ein Erguß von sich selbst werde. Alles kam in Wellen, Strömen und Sturzbächen aus mir heraus. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich es irgendwann bewußt zurückhalten wollte; ich bin nicht sicher, ob ich mich gereinigt fühle — und ob das überhaupt das richtige Wort ist —, aber jedenfalls fühle ich mich erleichtert, ein klein bißchen entlastet, ein bißchen weniger unbehaglich. Nachher kam ich mir ausgelaugt vor, kraftlos, weniger feindselig, ganz gewiß ohne Wut auf irgend jemand.

Der ganze Erguß schien von selbst in Gang zu kommen; zumindest kann ich mich nicht erinnern, was Janov oder ich getan hätten, um ihn in Gang zu bringen — aber ich bin sicher, daß das ganze verdammte Ding schon in den letzten etwa achtzehn Jahren losgehen wollte und von mir unterdrückt wurde. Und dann war ich mittendrin, ging mit, wie man bei einem Orgasmus mitgeht, und preßte unter Wutgeheul und Wehgeschrei und Stöhnen und Fluchen jede Einzelheit heraus. 

Ich habe Dinge von mir gegeben, von denen ich geglaubt hatte, ich hätte sie mir schon längst aus dem Kopf geschlagen und akzeptiert, aber jetzt weiß ich, daß ich sie einfach im Bauch aufbewahrt hatte, und daß sie in all den Jahren an mir nagten. Ich habe Dinge gesagt, die ich wahrscheinlich schon früher tausendmal hatte sagen wollen, aber gewaltsam verdrängt hatte.

Jetzt, heute abend, spüre ich etwas von der Einsamkeit und dem seelischen Schmerz, die ich abzuwehren versucht hatte. Jetzt weiß ich, daß seelischer Schmerz etwas Körperliches ist, denn wenn man gezwungen wird, ihn hervorzubringen, dann würgt man daran, weil es so ekelhaft ist, ihn noch einmal zu erleben; der seelische Schmerz, den ich mir aufbewahrt habe, muß nach all den Jahren stinkig, verfault und giftig sein, und ich weiß, daß ich ihn aus mir herausbringen muß, damit ich eine anständige Chance habe, zur Abwechslung mal ein anständiges Leben zu fuhren.

Ich finde es immer noch schwierig, mit mir allein zu sein. Heute habe ich bis eins ungefähr eine Stunde lang geschlafen, halb gedöst, und ich bin eigentlich den ganzen Tag bis zum Abendessen für mich geblieben. Ich kann mich immer noch nicht dazu bringen, die Dinge wirklich zu fühlen. Ich zergrüble mir den Kopf darüber, womit ich meinen Geist beschäftigen kann, etwa ein paar Zeilen von einem Gedicht oder Lied. Ich kämpfe, glaube ich, immer noch gegen mich, um keine Gefühle zu empfinden. Das Alleinsein ist das schwierigste. Vermutlich lerne ich, daß ich ein stinklangweiliger Gesellschafter bin.

Der weitere Nachmittag war nicht so schlimm. Ich lag größtenteils auf dem Rücken und versuchte wiederzu­erleben, was ich heute erlebt hatte, aber ich konnte es nicht. Ging abends zur Gruppe, kam zehn Minuten zu spät, wurde deswegen von Janov angeschissen, der sagte: »Ich meinte nicht neurotische Zeit.« So hatte ich das nie betrachtet. Mit der Gruppe war es anders; jetzt weiß ich, wie krank ich bin, denn alle diese Leute hatten keine Angst und schämten sich nicht, sich auf den Boden zu legen und ihre Sache zu machen. Einer hat mich innerlich ganz verspannt gemacht, und ich spürte, wie ich in meinem Bauch verbissen gegen mich selbst kämpfte, aber ich konnte nicht herauskommen. Als ob ich nicht wirklich sicher sei, daß irgend jemand dort etwas in mir heraufbrachte. 

Mir wird immer klarer, daß ich selbst dagegen ankämpfe, Gefühle zu empfinden — die Spannung in meinem Bauch ist der Fingerzeig, den ich brauche, um das zu erkennen. Als ich ins Motel zurückkam, versuchte ich, selbst ein Urerlebnis zuwege zu bringen. Ich konnte es nicht, bloß ein paar Tränen. Ich versuchte, die Bedingungen wiederzuschaffen, die es mir ermöglichten, eins zu haben - konnte es nicht. Ich wußte, daß mir alles weh tat, weil ich eine entsetzliche Spannung im Bauch hatte, ich meine, richtig verspannt diesmal. Ich versuchte die Pappi-Geschichte — nichts.

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Schließlich, ein wenig später, wichse ich und fühlte mich besser. Fühlte mich so viel besser, daß ich etwa eine Stunde später ein zweites Mal wichste. Ich versuchte es wiederum mit dem Urerlebnis, aber es ging nicht; die Spannung war noch da, aber nicht mehr so schlimm. All das dauerte ungefähr von zehn bis halb eins.

 

26. Februar Wieder konnte ich nicht fest schlafen, es sind jetzt schon drei Nächte hintereinander; nichts geträumt, habe mich nur dauernd herumgeworfen und umgedreht und bin ein paarmal aufgewacht. Ohne Wecker wachte ich ungefähr um 2, um 6 Uhr 45 und um 8 Uhr 15 auf; stand um 8 Uhr 30 auf. Leichtes Frühstück, hörte mir Bolero an, während ich das tippe, und werde bis zur heutigen Sitzung um zwölf mit mir allein sein.

Das heutige Urerlebnis war verheerend. Ich war erstaunt, wieviel Schmerz in mir aufgespeichert war. Das ist typisch für die Primärtheorie — man ist immer erstaunt, wieviel Gift man im Körper angesammelt hat. Ich glaube, in meinem Fall werde ich jetzt zu einer Menge Leute >Leck mich< sagen, so laut und gehässig, wie ich nur kann. Als Junge konnte ich das nicht, weil ich abwehrlos war. Zweitens beweist einem die Primärtherapie, daß Gefühle/Urschmerz etwas real Physisches sind: Es ist genau hier im Bauch und reißt einen in Stücke, oder es sitzt zwischen den Schulterblättern oder in der Brust. Wenn man den Mund aufmacht, um zu atmen, bringt es einen zum Würgen — Urschmerz ist ekelhaft. Heute war mir, als ob ich Amok laufen würde. Ich konnte nicht aufhören, gegen meine törichte alte Dame oder den Alten zu wüten. Dann ging es gegen die Kinder los; ich bin froh — erleichtert, entlastet —, daß ich sie angeschrien habe. Ich bin so verdammt krank, es ist schrecklich. Ich bin wirklich psychisch krank. Ich muß mich wirklich zusammenreißen.

Nach einem leichten Lunch fuhr ich hinaus zum Meer. Ich glaube, ich bin Hunderte von Malen am Strand gewesen, aber diesmal waren es einfach ich und der Strand, zusammen und allein. Ich ging ein paar Meilen am Ufer entlang, lavierte mich zwischen Muscheln und Treibholz hindurch und steckte die Füße in den klumpig-kalten, feuchten Sand. Der Wind war das schönste — ein böiger Wind, der mir durch den Mantel und die Haut bis in die Knochen drang. Es war köstlich, ihn einzuatmen; ich bekam ganz rauhe Wangen davon. Ich kann nicht sagen, warum, aber da draußen kam ich mir heute lebendig vor, ein Gefühl, das ich lange nicht gehabt habe. Ich kam mir schlichtweg lebendig vor.

Das Alleinsein ist jetzt nicht so schlimm. Ich stelle fest, daß ich länger allein stillsitzen kann, ohne kribbelig zu werden, und ich bin längere Zeit an dem interessiert, was in meinem Körper vor sich geht. Ich brauche jetzt keine Krücken wie Radio oder ein Buch mehr. Aber stundenlang halte ich es immer noch nicht aus. Heute abend wieder allein. Hoffe, daß ich schlafen kann, aber vielleicht ist es besser, wenn es wieder eine verkorkste Nacht wird, weil das die einzige Möglichkeit ist, überhaupt jemals zu guten Nächten zu kommen.

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Mir ist gerade aufgefallen, daß meine Ausdrucksweise, wenn ich phantasiere, obszön wird, aber das ist nicht das Interessante dabei; was ich wirklich interessant finde, daß meine Sprache das städtische Getto-Englisch wird, das ich früher sprach; lauter seltsame Interjektionen, Bruchstücke, halb Frage, halb Aussage, und Slang. Es ist fast, als ob ich absichtlich die Art von Sprache gewählt habe, die sie, wie ich weiß, verstehen werden. Ich glaube auch, daß die Ausdrucksweise wirklich real ist — jetzt ist es nicht nötig, nach dem angemessenen Wort zu suchen; das Wort, das bereit ist, aus meinem Bauch aufzusteigen, muß das richtige Wort sein.

Ich denke gerade daran, daß noch etwas signifikant zu sein scheint. Wenn ich ein Urerlebnis habe mit einem der alten Herrschaften, dann boxe ich regelrecht und richte meine Fäuste direkt auf ihre Gesichter; aber heute, bei meinen Brüdern, kann ich mich nicht erinnern, das getan zu haben. Ich habe vielmehr wie wild auf die Couch geschlagen, aber ich glaube, es ist signifikant, daß ich meine Fäuste nicht gegen sie richtete. Und wenn ich mich recht erinnere, dann habe ich auch keinem von ihnen Schimpfwörter an den Kopf geworfen. Über noch etwas mache ich mir Gedanken: Wenn ich meinem alten Herrn etwas ganz deutlich machen will, dann neige ich immer dazu, mich selbst heftig und viel zu schlagen. Zwar tue ich mir nie weh, aber es ärgert mich gewissermaßen, daß ich mich selbst schlage, und warum eigentlich? Wahrscheinlich Schuldgefühl; ich habe so viele Schuldgefühle, daß ich mich heute tatsächlich dabei erwischte, daß ich meine Eltern entschuldigte und mit allerhand Erklärungen zu vertuschen versuchte, wie sie wirklich sind. Aber was immer sie sind oder waren, Art hat recht, wenn er sagt, daß sie mich verletzten, und das ist real genug. Ich weiß es, denn ich habe den Urschmerz.

 

27. Februar   Gestern abend war es gar nicht schlimm. Ich hatte nachts gut und tief geschlafen. Ich weiß nicht, ob das für die Therapie gut oder schlecht ist. Ich war etwas über vier Stunden hintereinander allein, und die Zeit verging mit relativ wenig Unbehagen. Ich versuchte mehrmals, mich zu einem Urerlebnis zu bringen, aber mehr als Tränen kamen dabei nicht heraus. Die heutige Sitzung war, glaube ich, ganz in Ordnung. Ich habe keine derartig starken Erlebnisse gehabt wie in den letzten drei Tagen. Immerhin gab es noch eine Menge Schreien, Herumschlagen und Schattenboxen. In den letzten beiden Tagen scheine ich mehr »Verbindungen« herstellen zu können. Ich weiß nicht, ob ich sie herstellen soll, aber ich werde mir dabei über eine bestimmte Sache klar und kann sie dann mit etwas, das dafür von Belang ist, verknüpfen.

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Kein Tränenausbruch heute; ich fühlte mich einfach nicht nach Weinen. Wenn ich >fühlen< sagte, dann meine ich wohl das Gefühl eines physischen Drangs, der tatsächlich in mir >lebt<. Ich sage >lebt<, denn wenn ich mich in diesen Drang versenke und mich ihm überlasse, dann strömt es aus mir heraus wie ein Fluß, lebendig mit pulsierender Unmittelbarkeit. Ich werde nie wieder die Tatsache bezweifeln oder in Frage stellen, daß Gefühle reale physische Geschehnisse sind, die sich in mir ereignen und sich auch außerhalb ereignen können, wenn ich sie fühle und hinauslasse. Seltsam ist folgendes: Sobald ich das Gefühl mehrere Male empfunden habe, verläßt es mich sozusagen. Heute war mir zum Beispiel gar nicht danach zumute, über Einsamkeit zu weinen, während dieses Gefühl in den letzten Tagen entsetzlich viel Tränen hervorgelockt hat.

Heute habe ich es sozusagen ausgesprochen. Ich bin etwas unsicher, was das eigentlich bedeutet. Es könnte bedeuten: 1. daß ich das Fühlen blockierte, was ich bezweifle, weil Janov es bemerkt haben könnte; oder 2. daß das Gefühl und ich zusammen leben könnten, ohne daß ich darüber zu weinen brauche, falls das verständlich ist. Was ich meine, ist folgendes: wenn beispiels­weise eine Frau das Gefühl empfinden muß, daß sie wegen Krebs eine Brust verlieren wird, dann weint sie immerzu darüber und empfindet tiefen Kummer, aber wenn sie die Brust verliert, dann kann sie mit dem Schmerz über den Verlust leben, sobald sie den Schmerz versteht oder empfindet. Ich glaube, das ist einigermaßen einleuchtend.

Ausgesprochen mies war heute, daß ich die Tatsache verdauen mußte, Janov angelogen zu haben. Ich hatte Schmerzen im Hinterkopf und in der Schläfengegend. Janov sagte, das sei ein >nicht-gefühlter Gedanke<. Verdammt recht hatte er: Der Gedanke war das Wissen, daß ich gelogen hatte und es geheimhielt, und der Schmerz kam daher, daß ich das Gefühl nicht fühlte; kurz und gut, ich war krank. Ich brachte es heraus (daß ich letzte Nacht zu Hause und nicht im Motel war), und fast sofort verging der Schmerz — zwei oder drei Minuten, nachdem ich die Wahrheit gesagt hatte. Natürlich habe ich nun dadurch meine Therapie tatsächlich erschwert. Ich tat es wegen des Geldes — wollte es nicht ausgeben, wie mein Vater.

Aber wenn sich wirklich herausstellt, daß ich trotz meiner verzweifelten Versuche, nicht wie mein Vater zu sein, ihm noch in anderer als der mir schon bekannten Weise ähnlich bin, dann werde ich wirklich stinkwütend auf mich sein, weil ich es zugelassen habe, so krank zu werden. Das Verblüffende an der Primärtherapie ist, daß man den Therapeuten nicht anlügen kann, oder vielmehr kann man ihn anlügen, aber dann quält man sich so lange damit herum, bis man ihm einfach die Wahrheit sagen muß. Zu guter Letzt will man nicht mehr lügen. Für mich ist das wirklich gut, denn ich war fast mein Leben lang ein geschickter Lügner, und damit möchte ich tatsächlich aufhören.

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Heute von 1 Uhr 45 bis 5 Uhr 30 allein; 6 bis Mitternacht allein. Es war nicht so schlimm, es wird leichter, aber vielleicht arbeite ich auch nicht richtig an der Sache, denn es sollte mit mehr Schmerz und Leiden verbunden sein. Vielleicht stimmt eben das nicht mit mir und ich habe das Gefühl, ich müßte mich für irgend etwas bestrafen.

 

1. März  Samstagmorgen war ich in der Gruppe irgendwie gereizt oder überempfindlich. Der erste, der dran war, rief bei mir eine Menge Angst hervor — mein Bauch spannte sich; die Kehle wurde trocken; mein Körper wollte sich einfach strecken. Als Janov mir ein Zeichen gab, war es eher ein Seufzer der Erleichterung als Furcht, daß ich nun an der Reihe war. Ich tat mein Bestes, aber wie gut es war, weiß ich nicht. Die ganze Sache war abenteuerlich für mich. Ich meine, es war das erstemal in meinem ganzen Leben, daß ich so viel Lamentieren, Weinen und Schreien hörte und nichts davon mich in Schrecken versetzte. Ich schien dabeizusein, dazuzugehören, und damit hatte es sich.

Eine schreiende Person gab den Anstoß für eine zweite, und kaum beruhigte sich die Lage, da fing wieder einer an, und das Ganze ging von neuem los. Schließlich legte sich der Lärm, ohne daß ein Zeichen gegeben worden war; es schien, als habe die Sache ihren natürlichen Abschluß gefunden. Auch das ist einmalig bei der Primärtherapie: der Therapeut bricht nicht beim leisesten Schrei oder Stöhnen der Patienten zusammen. Er fördert es sogar. Da ist Janov, steigt schwungvoll über ausgestreckte Körper hinweg und drum herum, redet freundlich erst mit einem und dann mit dem nächsten, gibt seiner Frau irgendein Zeichen, und rings um ihn kreischen Menschen und schreien ihren Schmerz hinaus. Und bei all diesem bizarren Durcheinander trinkt er Kaffee. Ich weiß nicht, was mich davon abhielt, in schallendes Gelächter über die ganze Sache auszubrechen — es war einfach zu irreal. Und da dämmerte es mir, daß mein Leben — mein <gehirngewaschenes> Leben mich zu der Annahme gebracht hat, dergleichen sei irreal. Als reines, wirklich reales menschliches Leiden könnte nichts realer sein. Bloß sagte meine ganze dumme Erziehung: »Nein, Leute weinen nicht, wenn sie Schmerzen haben. Sie verbergen ihren Schmerz wie brave kleine Deppen.« Es war also real. Nachher fühlte ich mich gereinigt, sauber, müde. Ich hatte nicht so viel Tränen vergossen wie andere, aber mehr als manche — doch selbst das ist unwichtig.

Verbrachte einige Zeit am Strand und wollte mir etwas Gutes antun, deshalb erstand ich ein paar Muscheln. Als ich das Zeug kaufte, schwätzte der Verkäufer mit affenartiger Geschwindigkeit, und es wollte kein Ende nehmen. Mir kam es unendlich lange vor, aber vielleicht waren es nur ein paar Minuten.

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Jedenfalls wurde ich zunehmend ungeduldiger und nervös. Ich fühlte mich hilflos, meine Kehle war wie zugeschnürt, und mein Magen begann zu revoltieren. Ich wollte einfach weg von dem Kerl und wieder zurück zu Sand und Wasser, wollte den Geruch der Flut in der Nase haben und das Wasser an meinen Füßen plätschern lassen. Ich erwog sogar, einfach wegzugehen und ihn mitten im Satz mit meinen unbezahlten und eingepackten Muscheln auf dem Ladentisch stehen zu lassen. Aber ich tat es nicht. Ich wollte — wirklich — mir und meiner Frau Susan zur Abwechslung etwas Gutes gönnen. Nach dem Abendessen ging ich ins Wohnzimmer und blieb ein paar Stunden da; es geschah nicht viel. Immerhin fühlte ich mich recht entspannt. Sah Wilde Erdbeeren und weinte. Darauf war ich nicht vorbereitet — es kam einfach aus mir heraus. Ich vermute, die Beziehung des Mannes zu seinem Vater (dem Arzt) löste etwas bei mir aus, und der Arzt selbst, der nicht zu fühlen vermag und es bei seinem Sohn erstickt, erweckte auch Gefühle in mir. Ging um zwei ins Bett, nachdem ich noch eine Weile allein im Wohnzimmer sitzen geblieben war.

 

3. März  Die zweite Woche Einzeltherapie beginnt. Die letzten fünf Nächte (mit Ausnahme von Freitag) habe ich sehr ungestört geschlafen. Immerhin gibt es einen Unterschied. Unmittelbar vor der Therapie und sehr lange Zeit vorher (kommt mir wie Jahre vor) war mein Schlaf >betäubt< — das heißt, ich schlief nicht nur wie ein Murmeltier, sondern war auch ebenso schwer aufzuwecken wie ein Murmeltier. Ich glaube, ich benutzte den Schlaf, um meinen Schmerzen und Problemen zu entgehen. Besonders im letzten halben Jahr war mein Schlaf eine Flucht. Aber jetzt schlafe ich tief und ruhig und kann auch prompt aufwachen und aufstehen, ohne es schrecklich und quälend zu finden.

Überlegung: Wenn ich, sagen wir, noch dreißig Jahre lebe und weiter so viel rauche wie jetzt (1 1/2 Päckchen pro Tag), dann werde ich 6000 Dollar dafür ausgeben. Selbst wenn mich die Therapie einige Tausend Dollar kostet, bin ich finanziell und gesundheitlich besser dran, denn die Therapie wird dazu beitragen, daß ich das Rauchen aufgebe. Tatsächlich habe ich es schon aufgegeben. Vielleicht werde ich dann sogar noch länger als dreißig Jahre leben.

 

Die heutige Therapiesitzung war recht gut. Ich hätte fast <erfreulich> gesagt, aber was ich wirklich meine, ist, daß ich etwas tue, um mir dabei zu helfen, psychisch gesund zu werden. Es ist seltsam mit meiner Familie: ich schwanke zwischen Haß und Trauer, Mitleid und Empörung, Verachtung, Abwehr, Haß usw. Das war/ist sehr verwirrend. Jetzt weiß ich, daß sie waren und sind, was sie sind. Nichts kann das je ändern. Nichts kann an der seelischen Verletzung und dem Schmerz je etwas ändern, die sie mir zugefügt haben.

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Und etwas ist neu für mich: Auch ich habe sie verletzt, vielleicht nicht so schwer, vielleicht nicht so verheerend, aber verletzt habe ich sie. Bei mir begann es defensiv und wurde dann offensiv. Angefangen mit dem Verletzen, Unterdrücken und der Einsamkeit haben sie. Und was bei alledem jetzt herauskommt, ist einfach folgendes: Traurigkeit, eine große Öde, eine Tragödie. Ich empfinde nun die entsetzlich traurige menschliche Tragödie von Leuten, die in großer Enge zusammenleben und sich gegenseitig tief verletzen und sich seelische Wunden beibringen. Jetzt empfinde ich, wie traurig das alles ist. Ich meine, es bringt mich dazu, viele, aber nicht bittere Tränen zu vergießen, doch ganz echt traurige Tränen. Ich weine nicht um die verlorene Jugend oder um <Was hätte sein können> oder <hätte sein sollen>, wie letzte Woche. Jetzt weine ich einfach, weil ich die entsetzlich tragische menschliche Öde empfinde, den Verderb und das Leid.

Heute rief ich meine Eltern an. Zuerst, als mein Vater am Apparat war, versagte meine Stimme. Dann kam sie wieder, und ich bin gewissermaßen überrascht, daß es mir so leicht fiel, mit dem Mann zu reden. Bei meiner Mutter war es ein wenig anders. Ich sagte ihr im Laufe des Gesprächs, daß ich einen >Zusammenbruch< hatte. Sie hörte mich nicht — das heißt, sie hat gelernt, mich nicht zu hören, und das wollte sie nicht hören. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist; es ist, als ob >ihr kleines Baby< nie zusammenbrechen könnte oder dergleichen. Dann machte ich ihr sehr deutlich klar, daß es ein seelischer und körperlicher Zusammenbruch war, und an diesem Punkt brachte sie etwas zum Ausdruck, was man Besorgnis oder Interesse nennen könnte, aber nicht Bestürzung. Sie reagierte mit ihren abgedroschenen, hausgemachten Redensarten wie »Na, man kann eben nicht dauernd mehr tun, als der Körper aushält« — »Ich sag' ja immer, wie es kommt, so kommt's« — »Du mußt dich pflegen«. Alles in allem war es recht unbefriedigend.

Den restlichen Nachmittag war ich allein und spannte aus. Susan hatte sich morgens nicht sehr gut gefühlt, deshalb beschloß ich, heute das Abendessen zu machen. Ich kochte Curryreis und Muscheln und machte Salat. Die Muscheln waren köstlich; ich fing gerade mit ihnen an, als Susan nach Hause kam, so konnten wir beide zusehen, wie sie sich im Dampf öffneten. Ich machte sogar ein paar albern-närrische Witze dabei und behauptete, die sich öffnenden Muscheln seien menschliche Wesen, aber häßlich usw. Ich kicherte viel und fühlte mich zum erstenmal seit langer Zeit sorglos und albern-leicht. Den restlichen Abend verbrachte ich allein.

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4. März  Bei der heutigen Sitzung war ich mir überhaupt nicht darüber klar, was ich meinen Eltern gegenüber empfinde. Ich fühle den Schmerz von Verletzungen, den Schmerz des Schmerzes, den Schmerz der Traurigkeit. Und jetzt kann ich empfinden, wie schmerzlich traurig — wirklich traurig — die ganze menschliche Öde und Tragödie ist. Ich wollte vermutlich, daß meine Mutter gestern mit einiger Anteilnahme und wirklicher Besorgnis reagierte. Ich weiß, hätte mein Sohn angerufen und gesagt, er habe einen psychischen Zusammenbruch erlitten, dann hätte mich das veranlaßt, etwas zu tun, irgend etwas, das er von mir gewollt hätte. An diesem Punkt begann ich ein Gefühl für meine Mutter zu bekommen, ein Gefühl, das besagte, sie wisse nicht mehr, wie man fühlt, und sie wisse nicht, wie man reagiert. Zum Teil machte ich mir deswegen Vorwürfe, sagte, ich hätte mich früher gegen ihre Liebe gesträubt, und an ihren Ratschlägen sei meist nicht viel dran gewesen, sie klangen immer so lächerlich. Ich war verwirrt, wußte nicht mehr, wem und was ich sagen sollte. Ich konnte nur die tragische Traurigkeit der ganzen Misere empfinden.

Ich vergaß zu erwähnen, daß ich gestern auch meinen Bruder Ted anrief, nachdem ich mit meiner Mutter gesprochen hatte. Ein oder zwei Minuten lang klang die Unterhaltung mit ihm verrückt. Ich sagte Ted, was mir mit der Therapie bevorstehe, und berichtete die ganze Geschichte, und er war überrascht. Insbesondere wollte er wissen, warum ich da überhaupt hingehe. Ich sagte ihm, wie unglücklich ich sei, und daß ich mir wie ein kompletter Versager vorkomme. Er konnte das nicht begreifen. Dann sagte ich, er solle sich mal erinnern, wie ich in Brooklyn war, als ich ihn verprügelte, als ich ihn und Bill und die anderen quälte, gemein, vorsätzlich, grausam, widerlich. Seine Antwort verblüffte mich: »Alle Brüder tun das — so ist das nun mal bei Heranwachsenden.«

Er konnte das wichtige Problem einfach nicht begreifen — was es bedeutet, mit all dem unempfundenen Urschmerz zu leben, was das im Inneren und im Kopf eines Menschen anrichtet. Ich erwähnte das ihm gegenüber. Seine Antwort war, daß er, wenn ihm beschissen zumute sei, einfach daran denke, welch Glück er habe, daß es ihm nicht noch schlechter gehe. Ich nehme an, er glaubt auf diese Weise seine Schwierigkeiten zu bereinigen, aber ich bezweifle das sehr stark. Wahrscheinlich schluckt er den Urschmerz hinunter, wie so viele andere, und lebt weiterhin mit dem unempfundenen Schmerz.

Er sagte dann, daß er und ich und unsere Familie Glück haben, daß die Lage nicht noch schlimmer sei; immerhin sei es ein Glück, daß wir unsere Eltern nicht bei einem Brand oder Autounfall verloren hätten. Für einen Augenblick brachte er mich tatsächlich auf den Gedanken, ob ich mich selbst bemitleide. Aber dann erkannte ich es: Was real ist, ist real, und der Urschmerz, weil man verletzt wurde, ist real, und der Prozeß der psychischen Abwehr und der Abdämmung von mehr Urschmerz dadurch, daß man überhaupt nicht fühlt, ist auch real. Und das ist die reale Wirklichkeit dessen, gegen das ich nun kämpfte.

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Es nützt mir also nichts, wenn ich mir vorstelle, ich sei glücklich, indem ich mein Unglück mit einem theoretischen und abstrakten Unglück vergleiche. Das fördert kein Fühlen. Es bietet einem nur eine zerebrale Erfahrung — den Gedanken, nicht das Gefühl —, daß die Lage noch schlimmer sein könnte. Was mein Bruder tut oder zu tun behauptet, ist, daß er sich gegen die Schmerzempfindung anästhesiert, indem er sich etwas ausdenkt, über das er nachdenken kann. Es wäre wirklich phantastisch, wenn jeder, der Schmerzen hat, sich vorstellt, es könnte noch schlimmer sein, und dadurch den Urschmerz lindert, aber das klappt einfach nicht. Man muß diesen Urschmerz empfinden oder wiedererleben oder sogar zum erstenmal erleben, damit man ihn aus dem System herausbekommt.

 

Jedenfalls berichtete ich Janov in der Sitzung von der Unterhaltung mit meinem Bruder. Noch jetzt ist mein Kopf entsetzlich verwirrt. Dieser Schmerz setzte ein, eben dieser Schmerz, den ich früher schon tausendmal gespürt habe. Der Schmerz ist mehr ein Pochen oder Bohren. Wenn er bei mir auftritt, bin ich gewöhnlich in einem Zustand der Unruhe oder Gereiztheit oder Verdrossenheit oder Unentschlossenheit. Mit anderen Worten, irgend etwas macht mich verrückt, und ein Entschluß oder ein Vorsatz muß gefaßt werden, und ich kann offenbar nicht tun, was nötig ist.

Dann bekomme ich diesen Schmerz im Kopf, und nicht der Schmerz, sondern das Wissen, daß ich mir den Schmerz selbst eingebrockt habe, macht mich sehr erregt. So erregt, daß ich schreien könnte oder durchsetzen, daß mein Standpunkt gehört wird, oder etwas hinknalle usw. Gewöhnlich werde ich den Schmerz dadurch los, daß ich einen Wutanfall bekomme oder Luft ablasse und mich dann hinlege, um mich zu entspannen und zu erholen. Jetzt, an diesem Punkt, hatte ich den Schmerz, und ich wurde ganz kribbelig und unwirsch; auch mein Körper wurde erregt — er zitterte krampfhaft. Mir war, als sei ich sozusagen in einen elastischen Kokon eingesponnen, und meine Arme und Fäuste und der ganze Körper bemühten sich herauszukommen. Ich wollte mir über diese Konfusion in bezug auf meine Eltern klar werden oder zu einem Entschluß kommen. Da wurde ich immer erregter, und als Janov mich aufforderte, das Gefühl zu nennen, da sagte ich: »Nervosität«, denn mit diesem Wort glaubte ich diesen Unwirschheit-Reizbarkeit-leichte-Panik-Frustration-Verletzung-Schmerz am besten auszudrücken. Er sagte: »Folter«. Ja, Folter war sicher das richtige Wort, wirklich das einzig beschissene Wort. Ich wurde gefoltert von mir selber und von Gedanken und Gefühlen und Schmerz. Und nach etwa einer Minute oder noch weniger war mein Kopf völlig schmerzfrei.

Nachmittags besuchte ich Ted. Er ist arbeitslos und fühlt sich verratzt. Er ist verratzt. Das ist ungefähr alles, was ich sagen kann. Ich mag ihn sehr gern, aber es gibt kaum etwas, womit ich ihm gerade jetzt helfen kann. Was er brauchen könnte, ist eine Unterstützung für seine Familie, aber ich bin kein Unterstützungsgewährer.

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Die meiste Zeit saß ich nur da und hörte ihm zu, er bestritt den größten Teil der Unterhaltung. Er klang ganz vermasselt, wußte nicht, wie er irgend etwas machen sollte, suchte nach einer Tankstelle, »weil das das einzige ist, wo ich weiß, wie man's macht«. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, daß er seine Ziele so niedrig steckt. Will er nichts Großes im Leben erreichen? Ich vermute, mit ihm ist's aus und vorbei. Man kann ihn nur bedauern.

Abends dachte ich darüber nach, daß ich glaube, nicht gesund zu werden. Ich meine, ich hatte mit dem Berserkergebrüll aufgehört, und nun schien es mir nicht schnell genug zu gehen. Janov sagte mir noch einmal, daß das meine Krankheit sei — diese Vorstellung, daß ich alles gut machen müsse, daß ich immer versuche, mich hervorzutun, bei allem, was ich mache, tüchtig zu sein. Was zum Teufel muß ich überhaupt beweisen?

 

5. März   Heute war es geradezu entsetzlich, geradezu schrecklich. Zuerst war von homosexuellen Phantasien die Rede, von meinem gestrigen Besuch bei meinem Bruder. Was zum Henker stimmt bei mir nicht? Ich bin nicht sein Vater, und es ist nicht meine Angelegenheit, so zu tun, als ob ich sein Vater sei — das ist krank.

Jedenfalls wollte ich hinter diese homosexuelle Geschichte kommen, weil ich vermutete (oder wußte/fühlte), daß ich ein Opfer dieser Verrücktheit war, wie so viele Männer hierzulande. Ich wollte es einfach ein für allemal klarstellen. Es ist nichts als verlogener, intellektueller Quatsch zu behaupten, der Mensch stamme von Mann und Frau ab, und deshalb habe er natürlich durch genetische Übertragung oder Vererbung etwas >Weibliches< in sich. Dieses >natürlich< ist der Quatsch, denn es trifft das nicht, worauf es ankommt. Das weiß ich. Fürchterlich. Wirklich. Wenn ich gefragt worden wäre, wie mir am ersten Tag in der Primärtherapie zumute war, dann hätte ich gesagt: »Voll Furcht.« Heute, nach der heutigen Geschichte, würde ich sagen, der erste Tag war kaum erschreckend, denn erst heute sah und fühlte ich das Entsetzen. Okay, ich fing also mit dem Thema an, brachte mich in einen Erregungszustand, und als Janov sagte: »Nennen Sie das Gefühl«, da sagte ich: »Es sagt Furcht.« Das stimmt; ich meine, nicht ich sprach das Wort >Furcht< aus. Die FURCHT sagte >Furcht<. Klingt das verrückt? Es ist nicht verrückt. In der Primärtherapie scheint das reale Gefühl alles selber zu sagen; man muß nur die Lippen formen und das Wort vom Bauch heraufholen und durch den Kehlkopf und den Mund hinauslassen. Es sagt sich selber und ist, was ich sage. Das Wort, das das Gefühl selber ist, kommt aus dem Bauch (wenn man es zuläßt) und sagt sich selber. Es ist wirklich so. Mit anderen Worten, man kann in der Primärtherapie nicht lügen, ohne daß man es weiß.

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Ja, man kann lügen, wenn man will, aber man fühlt, daß man gelogen hat, und das muß an die Oberfläche kommen. Gestern erlebte ich dasselbe mit dem Wort-Ding-Urschmerz >Haß<. HASS kam aus meinem Mund.

Nun gut, ich machte weiter. Und nach einer Weile sagte ich: »Angst, ich bin schwul.« Das war unglaublich, denn das sind nur die Wörter, aber ich war nicht sicher, was ich sagte. Es hätte sein können: 1. Angst? Ich bin schwul — als ob ich mit der Angst selber sprach. Oder es hätte sein können: 2. (Ich habe) Angst, ich bin schwul — wobei ich das sehr wichtige >ich habe< ausließ.

Dann zwang mich Janov, Pappi zu sagen, daß ich schwul sei. Aber irgendwann zu dieser Zeit verlor ich die ganze Sache aus den Augen. Ich wette, es war so verdammt schrecklich, daß ich vor allem davonlief, was ich in meinem Bauch fühlen würde. Die nächste halbe Stunde quälte ich mich ab. Habe Schmerz und Schreien durchexerziert, und das war allerdings sehr real. Aber etwas ist erstaunlich: Jedesmal, wenn ich ein Urerlebnis beende, blieb ein Katzenjammer zurück, ein <katzenjämmerliches> Wissen oder Fühlen, daß ich nicht das getan hatte, was ich hätte tun sollen. Es war wirklich phantastisch. Mein Selbst sagte mir, daß ich kein richtiges Urerlebnis gehabt hatte, daß das große Ding, dem ich ins Auge sehen mußte, immer noch da sei, und daß ich ihm ins Auge sehen müsse. Einmal kam ich der Sache vielleicht nahe, so nahe, daß ich würgte und glaubte, ich müsse mich übergeben. Ich glaube, ich habe drei angebliche Urerlebnisse gehabt, ehe ich von meinem Körper laut und deutlich die Botschaft bekam, daß das alles Schwindel sei und ich nicht bis zu der realen Geschichte vordringe, wo es wirklich geschah. An dem Punkt bekam ich Angst. Ich glaubte oder sagte es zumindest, daß ich verrückt würde. Aber jetzt weiß ich, warum ich das sagte: Weil ich nicht gegen mein Selbst kämpfen konnte, das mir dauernd sagte, es sei noch etwas da, dem ich ins Auge sehen müsse. Mit anderen Worten, ich konnte dem nicht ausweichen, was mein Selbst sagte, und ich wurde sehr erregt. Janov sagte dauernd: »Geben Sie den Kampf auf.« Vermutlich meinte er den Kampf gegen das, wovon man weiß, daß man es fühlen muß. Aber ich wollte oder konnte den Kampf nicht aufgeben. Ich war wirklich voll Angst.

Was mich ängstigte — oder so annähernd, wie ich es sagen kann — war die lauernde Vorstellung von mir als einem homosexuellen Menschen. Ich sah im Geist, wie Vater mich an sich drückte und es mir gefiel, und dann blickte ich auf und sah, daß es das Gesicht eines Mannes war, und es ekelte mich. Die Wörter >Scham<, >Abscheu<, >Ekel< kamen mir über die Lippen. Ich bin nicht sicher, was mich dann eigentlich völlig aus der Fassung brachte. Vielleicht wußte ich, daß ich die körperliche Berührung eines Mannes genoß; es könnte sein, daß es mir gefiel. Es könnte das Gefühl in meinem Bauch gewesen sein, das dem dringenden Wunsch zu ejakulieren gleichkam, denn ich hatte immer noch das Gefühl im Fimmel, unbedingt urinieren zu wollen.

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Janov sagte, ich könne nicht, denn das wäre ein Wegpissen von Gefühlen, und weil ich dem Mann vertrauen will, halte ich das Pissen zurück und werde dadurch sehr erregt. Es könnte ein Gefühl gewesen sein — der Beginn eines Gefühls —, als ob ich ein hilfloses, frauenähnliches Sexualobjekt sei. Das kommt meinem Gefühl ziemlich nahe, glaube ich: Daß ich im Begriff war, das Gefühl zu bekommen, ich genösse es, mich wie ein weibliches Sexualobjekt zu fühlen, und hasse es, mich so zu fühlen wegen Ekel, Scham, Haß und daß mir meine Entrüstung, so mißbraucht zu werden, gegen den Strich geht. Jetzt habe ich den letzten Satz noch einmal durchgelesen, weil ich irgendwie von Abscheu erfüllt war, als ich ihn tippte und mich an einer Stelle nicht einmal erinnern konnte, was ich tippte. Und jetzt sehe ich, daß ich erregt war, als ich tippte.

Na, wenigstens weiß ich nun, womit ich mich auseinandersetzen muß. Dahin gehen wir, sagte Janov. In das wirklich Schreckliche.

Etwas ist wirklich phantastisch. Als ich heute einmal in großer Angst oder Furcht oder Entsetzen oder dergleichen war, begann ich zu fühlen, wie mein Körper innen funktioniert - besonders die Herzgegend, Magen und unterer und oberer Darmbereich. Wirklich phantastisch. Ich fühlte, wie Körpersäfte abgesondert wurden; ich fühlte das Pochen einer hammerähnlichen Maschine; ich fühlte die Auf-und-Ab-Bewegung von etwas anderem; ich fühlte Rhythmus, Bewegung, Ruhe. Aber das wirklich Einzigartige war, daß ich das alles fühlte, als ob es sich auf verschiedenen Ebenen in meinem Körper abspiele. Zu Janov sagte ich >Schichten<, aber jetzt erkenne ich, daß ich fühlte, wie ein Apparat sozusagen über einem anderen arbeitete, der darunter etwas anderes tat. Keins dieser Organe, die ich fühlte, kann ich benennen, aber ich fühlte eindeutig Bewegung und Rhythmus und eine Art harmonisches Zusammenarbeiten in mir. Die Ebenen oder Schichten, von denen ich spreche, sind ungefähr so: Eine ist parallel zum Rücken und ihm ziemlich dicht; eine zweite ist parallel dazu und irgendwo in meiner Mitte; und die dritte ist parallel zu den beiden anderen und dichter an meiner Haut, oder sie ist auch die erste Schicht. Phantastisch.

Die zweite Sache war heute, daß ich regelrecht aus den Fugen ging und dauernd schrie, ich würde in ein Mädchen verwandelt, eine >Heulsuse<. Ich kam mir lethargisch vor, und mein ganzer >Kampfgeist< schien mir neuerdings abhanden gekommen zu sein.

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6. März   Die ganze letzte Nacht über blieb ich auf und stellte alle halbe Stunde den Wecker, so daß ich, falls ich einschlief, nie länger als eine halbe Stunde schlafen würde. Es muß ungefähr halb sieben gewesen sein, als ich dann einschlief. Ich träumte, ich flirtete oder war irgendwie amourös beschäftigt mit einer Frau, die mehr eine Nutte oder Hure als alles andere war. Sie hatte eine gewaltige Fotze, die ich mit beiden Händen hielt und drückte und bearbeitete. Es war, als hätte ich einen großen Schwamm in der Hand; dann hielt ich die Fotze an meinen Fimmel und rieb sie wahrscheinlich dran. An diesem Punkt wurde ich wach oder halbwach, ejakulierte in die Hose und fühlte mich, wie immer, vermasselt.

Heute erzählte ich Janov von dem Traum, und er fragte mich, ob meine Einstellung zu Frauen so sei, daß ich sie alle für Fotzen halte. Ich sagte nein, aber später in der Unterhaltung sprach ich von meiner Mutter als einer dummen Fotze, und dann fiel mir ein, daß das meine Lieblingsbezeichnung für Susan und ihre Mutter war, und daß ich eben dieses Wort am Abend zuvor in mein Tagebuch geschrieben hatte. Das ist nicht ohne Bedeutung. 

Die heutige Sitzung kam in keiner Weise dem Schrecken nahe, den ich erwartet hatte. Offenbar konnte ich heute an nichts ganz tief unten heran, konnte nichts herausschreien. Nur ein paar abgequetschte Tränen. Das beunruhigte mich, denn ich glaubte, es bedeute, daß ich nicht weiterkomme. Ich habe Janov erzählt, daß ich nicht mehr rauche, und tatsächlich habe ich auch gar kein Verlangen mehr danach (vielleicht gelegentlich ein bißchen Verlangen). Ich habe auch nicht mehr dieses magenaufwühlende Gefühl, wenn meine Frau etwas tut, das mich früher irritierte und quälte; ich bin nicht mehr allzu begierig, da gleich einzuhaken und es wegen irgendeines belanglosen Quatsches zu einem verbalen Kampf mit Susan kommen zu lassen. Ich sehe unser Verhältnis jetzt in einem anderen Licht; ich kann mich jetzt hinsetzen und meiner Familie zuhören und bin ihnen gegenüber nicht mehr so ungeduldig und intolerant. Tatsächlich scheinen meine Glieder gar nicht mehr imstande zu sein, sich zu straffen, aggressiv zu werden. Natürlich ist es lächerlich zu behaupten, daß ich mich nicht bessere. Ich höre auf, Dinge zu tun, die ich seit Jahren getan habe, und das nach nur neun therapeutischen Sitzungen. Dazu kommen all die anderen kleinen Veränderungen und Neueinschätzungen und die in einem Dutzend verschiedener Bereiche beginnenden Veränderungen bei mir. Ich muß verrückt sein, wenn ich daran zweifle, daß ich auf dem Weg zur Gesundung bin. Vermutlich will der >kranke< Mensch es nicht glauben, wenn er im Begriff ist, >real< und gesund zu werden, daß er sich vielmehr weiterhin für krank halten will.

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7. März   Die heutige Sitzung war großartig, einfach großartig. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich eigentlich zu dem einzig Wahren kam, aber es muß gewesen sein, nachdem ich mich schon fast eine Stunde lang mit Dingen beschäftigt hatte, die bei mir gar nichts zutage förderten. Was ich dann schließlich bekam, war das Gefühl der Einsamkeit, des Alleinseins. Mir kam der Gedanke, daß die Philosophen, die Existentialisten und all die anderen, gar nicht wußten, wovon sie redeten, als sie das Alleinsein zu beschreiben versuchten. All diese vielsilbigen Ausdrücke, die sie gebrauchen, sind gar nicht nötig. Im Grunde genommen haben sie überhaupt keine blasse Ahnung. Ich begann also, mich mit diesem Gefühl herumzuquälen. Die Augen hatte ich geschlossen, und dann geschah etwas wirklich Großartiges.

Ich sah mich als kleinen Jungen von fünf oder sechs Jahren neben der Frisiertoilette meiner Mutter stehen, und ich blickte zu ihr auf. Sie stand vor dem Spiegel, ihre Hängebrüste wohlverstaut im Büstenhalter, und schnürte sich das Korsett. Ich guckte mir die Augen aus. Dann wuchs ich. Dieser >Wachstumsprozeß< war sehr ähnlich wie die Technik von Walt Disney, wenn er zeigen wollte, wie eine Blume aufblüht - Zeitrafferaufnahme. Mit anderen Worten, ich sah mich selbst heranwachsen, das heißt, im Handumdrehen wurde ich größer und sah wie ein Teenager aus. Dann legte ich die rechte Hand auf die Hüfte und schien meiner Mutter eine Minute lang Frechheiten zu sagen. Dann machte ich mich an ihre Titten. Ich saugte eigentlich nicht an ihnen, sondern fuhr mir damit übers ganze Gesicht und vor allem über die Augen. Das war verblüffend. Janov sagte, ich solle den Jungen fragen, was er da mache. Ich tat es, bekam aber keine Antwort. Ich schrie ihn an: »Was machst du denn da ?« in einem Ton völliger Ungläubigkeit. Man stelle sich vor, fährt er da mit den Titten über seine Augen. Er antwortete nicht, machte aber noch eine Weile weiter. Ich sprach von anderen Dingen, doch sah ich noch ab und zu hin und beobachtete den Jungen und was er tat. Mit anderen Worten, praktisch >existierte< er in der Zimmerecke und beschäftigte sich dort wie gehabt. Aber für mich war er sehr weit weg, und ich blinzelte unter geschlossenen Lidern, um zu sehen, was er trieb (natürlich hatte ich ihn vor meinem geistigen Auge). Dann >schrumpfte< der Junge wieder auf Kindergröße zusammen. Er saß auf seinen Unterschenkeln, beugte sich nach vorn und hielt seine kleinen Hände vor das Gesicht, während Sturzbäche oder Ströme von Tränen herausschössen oder flössen. Er zerfloß buchstäblich in Tränen.

An diesem Punkt erzählte ich Janov etwas, das Hunderte von Malen in meinem Leben geschehen war. Wenn ich schläfrig war, tauchten vor meinem geistigen Auge sinnlose Wörter auf, die ich auch lesen konnte. Aber weil sie so unverständlich und schwer auszusprechen waren, konnte ich sie nicht sagen. Ich versuchte einmal in The Bald Muckybullyfoo darüber zu schreiben, wie spaßig das sei. Einige der Wörter lauteten zum Beispiel smlplgh, oxwyong, hmply. 

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Janov forderte mich auf, ihm zu sagen, welche Wörter ich sehe. Ich sagte ihm, sie seien hinter einem Schirm oder Vorhang, ähnlich einem Theatervorhang. Er sagte, ich solle den Vorhang aufziehen und ihm sagen, was ich sehe. Ich erinnere mich, daß ich ein Grauen davor hatte und es mir sauer wurde, es zu tun. Schließlich sah ich ein paar >Wörter < und versuchte, sie auszusprechen. Dann sah ich eine Ankündigung, die über dem nach vorn gebeugten kleinen Jungen hing, etwa in der Art wie in Stummfilmkinos, wo ein schriftrollenähnlicher Apparat von einer Frau gedreht wurde, um den Zuschauern anzukündigen, welche Szene jetzt kommt usw. Das Ding über dem Jungen lautete: »Ich krie-krie-kriege nichts ...« Mit anderen Worten, das war es, was er mir antwortete, als ich ihn fragte, was los sei, warum er so heftig weine und so viele Tränen vergieße. »Ich krie-krie-kriege nichts ...« konnte er nur stottern-sagen-weinen. Stottstottern-sagen. Stottstotternsagen. Stottstotternweinen. Stottstotternweinen.

Während dieses ganzen Erlebnisses war es mir offenbar unbewußt, daß ich mich in einem Zustand des >höchst phantasievollen Sehens und Erlebens< befand. Ich meine damit, ich wußte, daß ich in Janovs Sprechzimmer war, daß ich aber alles sah und hörte, was in dem Theater in meinem Geist hinter den geschlossenen Augen vorging. Ich erlebte ein Stück, das sehr symbolisch war, und ich kapierte es wirklich. Es verging noch einige Zeit, in der ich die Geschehnisse beschrieb — den Jungen, der Ströme von Tränen vergoß. Auch ich weinte an diesem Punkt <vollständig>. 

Dann fragte mich Janov: »Was sehen Sie noch?« Und das war bemerkenswert. Ich sah meine alte Nightingale Street voller Leute, aber die Leute sah ich nur so, wie eine Filmkamera sie sehen würde, von der Taille aufwärts. Es war, als ob ich einen Film von meiner Straße voller Menschen sähe, ungefähr ein Dutzend Menschen nebeneinander, die aneinander vorbeigingen. Alle schwiegen, alle waren ohne Emotionen, alle waren bedrückt und müde, keiner beachtete den anderen. Da wußte ich, warum der kleine Junge nie etwas bekam. Das etwas war natürlich Liebe — das Gefühl sagte mir das. Er bekam niemals Liebe, weil niemand — weder seine Mutter noch sein Vater — jemals Zeit hatten. All diese Leute (die Welt) gingen aneinander vorbei, schenkten einander nie Aufmerksamkeit; die Welt drehte sich zu schnell, und der kleine Junge bekam nie etwas. Janov sagte, ich solle ihm das sagen, um ihn zu trösten. Ich streckte den rechten Arm aus und klopfte ihm auf den Rücken, auf die Schultern, streichelte ihm den Kopf und sagte es ihm, und das war ganz einfach. Zerbrich dir nicht den Kopf, warum du keine Liebe bekommst — du bekamst sie eben nicht, na wenn schon. Mach jetzt etwas Gutes aus deinem Leben. Du liebst ein Mädchen, nun lebt liebevoll zusammen. Und weiter in demselben Stil. Ein oder zwei Minuten sprach ich mit Janov über etwas anderes.

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Dann sprang der Junge plötzlich auf und rannte wütend auf mich zu. Ich meine, der Junge rannte wirklich. Jahrelang schien er zu rennen. Ich bekam es mit der Angst — ich weiß nicht warum. Ich begann zu schreien: »Bleib weg, bleib weg von mir, bleib weg!« Ich kickte nach ihm mit beiden Füßen und hielt meine Hände vor mich, um ihn abzuwehren. Aber er kam immer näher. Plötzlich war er weg. Er war praktisch über mir, kam in mich herein, und dann war er weg. Ich öffnete die Augen und sagte voller Verblüffung: »Wo ist er ? Er ist verschwunden.« Janov sagte, ich solle nach ihm suchen. Das tat ich, schaute mich überall im Zimmer nach ihm um und sagte Janov, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Janov meinte, der kleine Junge sei in mir. Im Grunde wußte ich das, wollte es aber nicht glauben. Ich schloß die Augen und versuchte, mir das Bild noch einmal auszumalen und den kleinen Jungen wieder ganz zu sehen. Ich versuchte das nach Kräften, aber natürlich ohne Erfolg. Ich wußte, wo der kleine Junge war und wer er war. Dann weinte ich herzhaft.

Vor mir ausgebreitet hatte ich mein Leben gesehen, vielleicht sehr symbolisch, aber dennoch war es mein Leben, da gab es keinen Zweifel. Ich lag da, war sehr erschöpft und sogar ein wenig glücklich. Ich fühlte mich befreit und glücklich. Ich akzeptierte alles, was geschehen war — mußte es akzeptieren — es war sehr real. Ich glaube, dieses Urerlebnis war ein Schritt in der Richtung, die ich bei allen meinen Urerlebnissen einschlagen sollte. Es war qualvoll, aber das muß wohl so sein. Hinterher fühlte ich mich entspannt und erleichtert. Es ist, als hätte ich eine entsetzlich schwere, schmerzende Last abgeladen, und jetzt bin ich ein bißchen leichter, freier.

Dennoch habe ich heute einen nagenden Zweifel, ob ich mich mit den entsetzlich schrecklichen Dingen, die ich am Mittwoch und Donnerstag zur Sprache gebracht habe, auch schon richtig auseinandergesetzt habe. Im großen und ganzen handelt es sich um homosexuelle Ängste oder dergleichen, und ich glaube, ich habe es irgendwie vermieden, der Sache ganz auf den Grund zu gehen.

Später verbrachte ich einige Zeit am Strand, machte ein paar Besorgungen und ging dann nach Hause. Susan sprach nicht mit mir, und mir machte das nichts aus. Immer mehr erkenne ich ihre Krankheit. Was mich besonders stört, ist ihre Selbstsucht, mit der sie mich quält, wo sie doch wissen sollte, wie unerhört wichtig diese ganze Primärgeschichte für mich ist. Dennoch tut sie, was sie nur kann, um mir Steine in den Weg zu legen.

 

10. März  Die heutige Sitzung war sehr wichtig. Ich hatte wiederum ein >bewußtes Koma<, wie Janov das nennt, ein sehr schöner Ausdruck. Ich bezeichnete es am Freitag als einen >Zustand< oder >Trance< oder einen >Zustand phantasievollen Erlebens< oder >Theater im Geist<.

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Aber >bewußtes Koma< ist natürlich der Ausdruck, der hier anzuwenden ist. Ich begann damit, daß ich zu berichten versuchte, was gestern alles geschehen war. Es fiel mir schwer, ein reales Gefühl aufzubringen. Ich wurde von diesem unwirschen, verdrossenen, gereizten Gefühl geplagt. Ich konnte nichts zum Ausdruck bringen. Es klappte einfach nicht. Ich schwieg lange. Und dann begann ich einen Sinn in dem zu spüren, was geschah.

Erstens wußte ich, daß unter dem Unmut Schmerz verborgen ist, den ich nicht empfinden wollte. Unmut und Ausagieren sind Ablenkungstaktiken, die wir anwenden, damit tiefer Schmerz oder eine seelische Verletzung nicht real gefühlt zu werden brauchen. Mit anderen Worten, jeder bemüht sich, so mit dem Ausagieren oder dem Unmut einer Person zu wetteifern, daß es dieser gelingt, ihren Urschmerz nicht empfinden zu müssen. In der Primärtherapie weiß man das, denn man hat es auf der Couch erlebt, und wenn man gesund werden will, rennt man nicht vor dem Urschmerz-Fühlen davon. Ich wußte also, daß ich ein Gefühl blockiert hatte. Aber ich wußte nicht, wie oder warum. Ich lag da. Dann spürte ich, wie und warum.

Ich mußte pissen. Da fühlte ich die Wahrheit, die sagte, daß alles, was ich in Wirklichkeit fühlte, das Bedürfnis war, dem Gefühl durch Wegpissen zu entgehen. Tatsächlich war das Pissen in Anbetracht der Flüssigkeitsmenge, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden zu mir genommen hatte, nicht wirklich nötig, zumal ich sowieso fünfmal gepißt hatte. Was ich tat, war also, den Pißdrang hervorzubringen, um auf diese Weise dem Fühlen eines bestimmten, nicht gefühlten Urschmerzes in mir zu entgehen. Ich schob den Urschmerz durch den Fimmel hinaus; mit anderen Worten, statt den Urschmerz heraufzubringen, schob ich ihn nach unten und weg. Das war so einfach zu verstehen, daß ich erstaunt war, es niemals vorher begriffen zu haben. Dann wurden mir noch andere Dinge klar: die Tatsache, daß mich mein Leben lang viele Leute gefragt hatten, warum ich so oft uriniere, womit sie Anteilnahme an meiner Gesundheit bekunden wollten; andere beglückwünschten mich zu einer so gut funktionierenden Blase. Alles Quatsch, ich pißte meine Verletzungen und die Schmerzen meines Lebens weg.

Gleichzeitig geschah noch etwas. Als ich versuchte, das Gefühl durch meinen weit offenen Mund nach oben zu atmen, würgte ich; dann >bekam< ich ein wenig Bronchialhusten. Nun wußte ich ganz genau, daß kein Grund für einen Bronchialhusten bestand, denn ich hatte seit zwei Wochen keinen einzigen Zug geraucht. Der verdammte Husten war also auch eine Ablenkungstaktik, die mein Körper anzuwenden gelernt hatte, um die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten und meine schmerzlichen Verletzungen nicht fühlen zu müssen.

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Ich war ehrlich entsetzt. Während ich ruhig dalag, war ich auf all das gekommen, und jetzt begann ich diese wichtigen Dinge miteinander zu verknüpfen, (1): Schmerz ist vorhanden; (2): Ich möchte vermeiden, ihn zu fühlen; (3): Denn ihn zu fühlen tut weh; (4): Mein Körper >fabriziert< den Harndrang als Ablenkungstaktik; (5): Also konzentriere ich meine Kraft darauf, den Urin zurückzuhalten; (6): Jetzt kann ich meine Kraft nicht dafür einsetzen, mir behilflich zu sein, das Gefühl zu empfinden, denn ich brauche sie, um den Urin zurückzuhalten, der aus meinem Penis zu kommen droht, wenn meine Kraft, ihn zurückzuhalten, nachläßt, und schließlich kann ich nicht Janovs Couch vollpinkeln; (7): Bloß um mich zu vergewissern, ob alle meine Kräfte abgelenkt sind, >fabriziere< ich ein bißchen Husten; (8): Jetzt muß ich mich darauf konzentrieren, Pissen und Husten zurückzuhalten, und habe keine Kraft, das Gefühl zu empfinden, denn dann müßte ich meiner Blase freien Lauf lassen, und das darf ich nicht. Also habe ich mich selbst vor dem Fühlen geschützt, indem ich meinen Körper zu einer Falle machte. Ich lag da und war völlig verblüfft über diese Erkenntnis.

Nun erinnerte ich mich, daß ich etwa fünf Minuten vorher dieses unwirsche, verdrossene, gereizte Gefühl gehabt hatte. Jetzt fällt mir ein, daß ich mich reckte und streckte, als ob ich mich aus den Klauen der Verdrossenheit befreien wollte, aber in Wirklichkeit überließ ich mich der Verdrossenheit und verschaffte mir dadurch Ruhe. So hatte ich mich selbst seit Jahren, seit Jahren, zum Narren gehalten. Natürlich wurde ich ruhiger, wenn ich so verfuhr. Aber jetzt wußte ich, daß es keine Ruhe war, weil der Urschmerz empfunden war, sondern daß ich mich gewissermaßen gegen die Empfindung des Urschmerzes anästhesierte. Ich lag da und war wirklich erstaunt, daß ich diese Wahrheit über mich herausgefunden hatte. Eine ziemlich lange Zeit lag ich so da — vielleicht zwanzig Minuten —, und allmählich begann das reale Gefühl wieder aufzutauchen, und diesmal ging ich mit.

Das Gefühl sagte Verlassenheit. »Sagen Sie es Mammi«, sagte Janov. Das tat ich, aber sie schien da nichts machen zu können. Sie stand da mit traurig gesenktem Kopf und hängenden Armen. Ich sah sie in meinem bewußten Koma. Das dauerte ein oder zwei Minuten. Dann begann sie wegzugehen. Ich folgte ihr und war gespannt, was geschehen würde. Ich rief ihr nach: »Warte, geh nicht weg. Bleib stehen. Komm zurück.« Ich bemerkte, daß ich die Hände bittend ausgestreckt hatte. Sie ging weiter und verschwand ganz langsam; dann war sie nicht mehr zu sehen. Dann kam ebenso langsam eine neue Gestalt (Gestalten) auf mich zu, aber wirklich schrecklich langsam. Zu guter Letzt sah sie wie Susan und ihre Mutter aus. Ich bekam Angst und schrie: »Bleib weg.« Sie kam aber direkt auf mich zu, und auch meine Mutter war da. Ich atmete etwa eine Minute lang sehr heftig und hielt das durch, bis ich mich von dem Schreck erholt hatte, daß ich meine Frau von dort herkommen sah, wo meine Mutter verschwunden war.

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Nun sollte ich hier daraufhinweisen, daß auch ich, als ungefähr fünf Minuten zuvor das Fühlen begonnen hatte, aus mir herausging und folgende Worte rief, die aus meinem Inneren zu kommen schienen: »Keine (nicht) Liebe — krankes Bedürfnis — ich heiratete meine Mutter.« Ich sagte diese Worte ein paarmal, und dann wurde mir das Bild natürlich ganz verständlich. Das Theater in meinem Geist agierte für mich die Tatsache aus, daß ich in einer anderen Frau meine Mutter geheiratet hatte. Das war natürlich ungeheuerlich. Aber dieses Gefühl würde nicht weggepißt werden können. Außerdem, wenn man in einem bewußten Koma ist, dann will man es nur empfinden; man weiß, daß nichts dabei zum Fürchten ist, denn man ist schon darin. Das Hineinkommen ist das Schwierige.

Okay, da stehen also meine Mutter und meine Frau nebeneinander, und beide sagen zu meinem Nutz und Frommen oder die eine zur anderen zu ihrem Nutz und Frommen, wie wundervoll sie beide seien und wie sehr sie mich mögen.

 

14. März   Heute, Freitag, war es einfach unglaublich. Ich weiß selber nicht, wieviel ich von dem glaube, was geschehen ist, aber ich muß es wenigstens zu Papier bringen. Vor allem erzählte ich Janov vor) meinem gestrigen Nachmittag und Abend. Es war wirklich Klasse, denn ich habe ungefähr sieben Stunden klassische Musik gehört - Böhmische, Rumänische und Ungarische Rhapsodie, Sonaten von Enesco, Konzerte, Symphonien. Ich war von jedem Stück, das ich hörte, völlig gefangen. Manchmal stand ich auf und tanzte, oder ich wanderte umher oder marschierte durch das Zimmer; manchmal ahmte ich den Klang einiger Stücke nach — ich wurde das Orchester. Ich genoß das unsagbar, in der Dimension Klang/Musik eingeschlossen zu sein. Nichts anderes existierte mehr. Ein paarmal weinte ich, und zwar, als ich mir darüber klar wurde, daß die Einzel-Primärtherapie am Freitag vorbei sein würde; als ich mich, bloß mit der Musik im Zimmer, allmählich doch sehr einsam fühlte; als ich den Wunsch verspürte, jemanden anzurufen, aber es gab absolut niemanden, mit dem ich am Telefon sprechen wollte. Ich war sehr beschwingt, fast in Ekstase. Dann kam Susan nach Hause und brachte einen Hauch von Schwermut und Trübsal mit sich. Danach pendelte ich zwischen vielen gegensätzlichen Gefühlen hin und her: Ärger, Verachtung, Verlassenheit, Reizbarkeit, Einsamkeit, Humor, Eigennutz, die Nase-voll-Haben. Ich empfand Susans Kommen als einen feindlichen Überfall, als eine Störung meiner Stimmung, meiner Szene, und nachher mit ihr war es auch nicht mehr dasselbe.

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Nachdem sie ins Bett gegangen war, blieb ich allein im Dunkeln sitzen, dachte über Century City nach, sah mir schließlich ein bißchen Joey Bishop und Johnny Carson an und dann ein Stück eines Films, der The Gangster hieß, mit Barry Sullivan in der Hauptrolle, ungefähr 1947. Es war insofern ein ungewöhnlicher Film, als er zeigte, wie der Mensch auf den Hund kommen kann — d.h. der durch Verbrechen (das Böse) zugrunde gerichtete Mensch. Ja, sehr hübsch.

Dann hatte ich eine unruhige Nacht mit viel Hin- und Herwerfen und Herumwälzen. Ich habe immer mehr symbolische Komas gehabt, und jetzt symbolische Träume. Dieser war unglaublich. Ich war in einem riesigen Raum, einem Ballsaal ähnlich, wo eine Party im Gange war. Dieser Raum war eine vieldimensionale Angelegenheit; das heißt, er muß ungefähr fünf Dimensionen gehabt haben — vielleicht drei oder vier verschiedene Ebenen. Die Leute waren teils senkrecht, teils nicht senkrecht, einer parallel zum anderen/zu einigen/zu vielen. So verrückt war es. Es läßt sich kaum angemessen mit Worten beschreiben, und die von mir gewählten Wörter scheinen die Szene, die ich schildern wollte, zu zerstören. Die Lebewesen in diesem Raum waren sonderbar. Es waren unzählige Leute/Lebewesen in sonderbaren Kostümen. (Oder vielleicht waren sie so und gar nicht kostümiert.)

Eine Person war eine wandelnde Schießscheibe — ein Bullauge mit einem schwarzen und weißen Kreis; eine andere war ein Häschen mit schlaff herabhängendem Schwanz; eine war das Noxzema-Mädchen vom Fernsehen; etwas war ein wandelnder Zementblock (Brett vorm Kopf); ein magerer, pervers aussehender Typ mit pickligem Gesicht; ein Mädchen mit entstellten Zügen, weil ihr Säure ins Gesicht geschüttet worden war. Und immer noch mehr dergleichen. Was ich sah, war eine verrückte Welt. Donnerstagabend hatte ich darüber nachgedacht. Ich hatte darüber nachgedacht, wie schwierig es ist, zurückzukehren in eine Welt der Sinnlosigkeit und der Krankheit und der menschlichen Possen. Ich sah mich, nicht sie, als Einzelgänger, weil ich realer war. Auch war dieser riesige Raum bevölkert mit allen Verrücktheiten von Fernsehen und Film, Leuten aus Werbesendungen, zum Beispiel eine Ansagerin (die in ihr kurzes Kleidchen ein Loch für ihre Fotze geschnitten hatte, und Männer gingen zu ihr, steckten Strohhalme in die Fotze und tranken draus).

Okay, ich bin also mittendrin in all dieser Verrücktheit — die mehr als symbolisch ist. Ich befinde mich in/auf einem merkwürdigen Bett, und ein Mann im Kostüm eines indischen Nabobs oder Prinzen ist neben mir. Er trägt einen Turban mit funkelnden Juwelen, und auch sein kostbares Gewand ist juwelenbesetzt. Etwas rollt auf mich zu - eine Gestalt. Ich wende mich an den Mann und frage: »Wer ist denn das ?« Er sagt: »Es ist ...« Ich kann mich nicht erinnern, ob er einen bestimmten Namen nannte, aber es schien mir jedenfalls ein weiblicher zu sein.

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Um das nachzuprüfen, griff ich dort hin, wo die Brüste hätten sein müssen, und fand eine feste, fleischige Titte in meiner Hand. Dann machte ich mich an dieses Wesen heran, das mich an eine kräftig gebaute Brueghelsche Frauengestalt erinnerte und mit einer Art Pyjama aus gelbem Flanell bekleidet war. Sie/es war wie ein dickes Mädchen/Teddybär. Ich packte ihre Fotze mit beiden Händen und begann damit über einen Penis zu streichen, und dann erwachte ich, immer noch ejakulierend. Ich kletterte aus dem Bett, glaubte, ich hätte verschlafen und meinen Termin bei Janov verpaßt, aber es war erst 6 Uhr 20.

 

Nachdem ich Janov die ganze Geschichte erzählt hatte, versuchte er, mich dazu zu bringen, etwas zu fühlen, auf dieses Thema Verlassenheit und Alleinsein zurückzukommen. Ich versuchte immer wieder, irgendein Gefühl, das ich in mir spürte, auszusprechen, aber ich kam nicht weiter. Aus Erfahrung wußte ich, daß ich gegen mich selbst kämpfte; indes sind meine Abwehrmechanismen so raffiniert und subtil, daß es für mich nicht leicht ist, es zu merken. Dann kam ich drauf- ich meine, es dämmerte mir. Ich schrie laut: »Hör auf zu husten! Hör auf zu husten!« Das setzte ich eine Weile fort und sagte mir, mit dieser verdammten Angewohnheit zu husten, um Gefühle zu vermeiden, müsse nun Schluß sein. Es klappte. Dann gewann ich etwas Realität. Diese Verlassenheitsgeschichte war noch da. Ich schien mir das Hirn zu zergrübeln. Ich begann ferne Signale oder Zeichen von meinen allerinnersten Körperteilen zu bekommen, die mir sagten, daß noch etwas gefühlt werden müsse - etwas sehr Wichtiges, und daß ich wieder einmal eine Ausflucht gebrauche, um mich dagegen zu wehren. Ich setzte das eine Weile fort und wand mich, kämpfte und wimmerte unwirsch. Dann ließ ich es schließlich zu, daß ein Gefühl über mich hinwegfegte oder mich >überflutete<, wie Janov vorschlug. Der Ausdruck gefällt mir besser als >sich darin versenken< denn für mich ist er anschaulicher, und ich kann meine Phantasie richtig arbeiten lassen, so daß mich die Sache wirklich >überflutet<. Ich bekam stechende Schmerzen im Herzen, im Kopf, am Schläfenbein. Diese Schmerzen wechselten während des größten Teils der Sitzung miteinander ab. Ich hatte auch Bauchgrimmen. Ich versuchte, ein Gefühl heraufzubringen, und mir war, als müßte ich über die ganze Couch und den Fußboden erbrechen. Jetzt wußte ich, daß das da drinnen wirklich ein schlimmes Gefühl war.

Ich sprach über Sex, denn Hinweise und Zeichen und Wörter vor meinen Augen schienen auf das sexuelle Thema zu deuten. Ich sprach von Sylvia und wie schön es damals gewesen war und wie beschissen es dann für mich wurde, und ich sprach von meiner sexuellen Vergangenheit im großen und ganzen und sagte, ich tauge einfach nichts oder nicht genug. 

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Ich sprach von allem möglichen und davon, wie ich meine Frau sexuell zu natürlichem Empfinden bringe, wenn ich über Sex spreche ... und dann sah ich die Wörter: »liebt ... mich ... innig lieben« oder dergleichen. Ich konnte keinen Zusammenhang herstellen. Ich wußte, daß ich auf dem Weg zu etwas Wichtigem war, und ich war jetzt wirklich sehr erpicht darauf, aber das Verknüpfen und Verbinden war sehr schwierig, vergeblich. Ich schien immer abzuschweifen. Ich begann, an die Ehepaare zu denken, die ich kannte, und ich sah jedes von ihnen vor meinem geistigen Auge und merkte, bei welchen die Frau stärker und dominierender war als ihr unglückliches Gespons. Ich ließ mich eine Weile über dieses allgemeine Thema aus, dann ging ich zur Ehe meiner Eltern über und sagte, in dieser Ehe sei mein alter Herr immer der Boß gewesen. Ich sah ihn in der Rolle, die sich manche Zyniker anmaßen - die Frau ist immer barfuß und schwanger. Mit anderen Worten, eine Frau ist ein Stück Scheiße. Dann sprach ich von meiner eigenen Einstellung zu Frauen. Aber immer noch bereitete es mir entsetzliche Qualen, Zusammenhänge herzustellen.

Dann brachte mich Janov darauf, von Mammi zu reden, weil ich ihm vom Leben mit Mammi erzählt hatte. Ich erkannte, daß sie mich gewissermaßen geschlechtslos gemacht, oder genauer gesagt, entmännlicht hat, indem sie mich wie ein kleines Mädchen behandelte, sie sagte, ich sei so >hübsch<, daß ich eigentlich ein Mädchen hätte sein sollen, nahm mich im Kaufhaus mit auf die Damentoilette usw. Janov sagte: »Sagen Sie es ihr.« Ich sprach mit ihr und fragte sie, warum sie mich so behandelt hat. Da sagte sie auf einmal, sie wolle ihren Pappi (ihre Antwort). Sie setzte sich hin, die Beine übergeschlagen, den Kopf gesenkt, schlug sich mit den Fäusten auf den Schoß und schrie immerzu: »Ich will meinen Pappi . . .« Ich wurde so erregt, daß ich laut brüllte: »Er ist tot!« und noch ein paar Freundlichkeiten. Dann begann sie langsam wegzugehen. Ich rief ihr nach: »Komm zurück.« Dann >traf< sie ziemlich weit weg meinen Vater. Sie schrie immer noch nach ihrem Pappi und glaubte, Vater sei ihr >Pappi<, während mein alter Herr sie auszuziehen begann. Dann legte er sie auf den Rücken und bumste sie. Mir drehte sich dabei der Magen um - ich wollte es nicht sehen; ich bildete mir sogar ein, das quabschende Geräusch zu hören, das sie dabei erzeugten - wie ein Kolben, der in weiche, feuchte Hafergrütze eindringt. Das schien eine Weile so weiterzugehen, und ich berichtete es Janov. (Mit anderen Worten, mein alter Herr hatte mit meiner alten Dame schon eine ganz hübsche Zeit - vielleicht jahrelang - gevögelt, ehe sie heirateten. Sie war damals schon fast Dreißig. Es ist eine ziemlich naheliegende Schlußfolgerung, daß sie womöglich eine Schreckschraube war und auf dem besten Weg, eine alte Jungfer zu werden, und die einzige Möglichkeit, unter die Haube zu kommen, war schwanger zu werden. Meine Spekulation.)

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An diesem Punkt geschah etwas Erstaunliches. Ich sah mich selbst, wie ich in ihrem Leib empfangen wurde. Mit anderen Worten, als ichjanov anschrie, wurde ich gerade >gemacht<. Ich erholte mich noch von dem Bild, da sah ich Mammi und Pappi die Barbary Avenue hinuntergehen, Leute grüßten sie und Männer tippten vor Mammi an den Hut. In der nächsten Szene sagt Mammi: »Ich will es nicht ...« womit sie das Baby meinte. Der alte Herr sagt, sie wollen heiraten. Ich sehe, wie sie in einer Wohnung getraut werden. Ich berichte das Janov. Nächste Szene: sie ist im Krankenhaus und bekommt ihr Kind. Aber dieses verdammte Kind bin Ich. Ich bin verblüfft, erstaunt! Es ist wirklich unglaublich. Noch jetzt bin ich nicht sicher, ob ich Phantasien, Halluzinationen oder ein bewußtes Koma hatte. Ich hoffe, das letztere stimmt. Sie kreischt/schreit. Der Arzt hält mich hoch. Woher weiß ich, daß ich es bin? Na, da ist die Fotze meiner Mutter und ihre fleischigen Schenkel, und gerade bin ich aus ihr herausge-flutscht. Zweitens hat sich mir bei der Geburt die Nabelschnur um den Hals geschlungen. Mammi schreit: »Stirb ... ich will es nicht ... laßt es sterben«, irgend so ein hysterischer Quatsch. Der Arzt schreit: »Es erstickt ... es ist ein blaues Baby ...« oder dergleichen. Übrigens war das damals tatsächlich so.

An diesem Punkt stellte ich verblüfft fest, daß ich heute wirklich bis zum Tag Eins zurückgegangen bin. Ich kann nicht mit allzuviel Gewißheit sagen, wieviel vom heutigen Tag bewußtes Koma war oder wieviel auf übermäßige Einbildungskraft oder Phantasieren zurückzuführen ist. Soviel kann ich sagen: Nach meinen anderen Erfahrungen mit bewußten Komata würde ich meinen, das heutige Erlebnis war ein bewußtes Koma. Einmal, vielleicht zweimal, war ich mir für einen Augenblick des Eindringens einer >anderen Realität< bewußt. Ich sage >eine andere Realität<, weil der Zustand eines bewußten Komas ein Zustand jener Realität ist, in der ich mich im Augenblick befinde. Praktisch bin ich in ihr real. Indes bedarf es nur eines scharfen, befehlenden »Okay, Gary«, um mich wieder in die andere Realität zurückzubringen. Das Eindringen dieser anderen Realität spürte ich, als ich auf der Couch um mein Leben zu kämpfen begann und ein Stichwort bekam, das besagte: Dies ist eine Couch in Dr. Janovs Sprechzimmer. Ich bin hier abgeschweift, weil ich durch das, was ich heute erlebt habe, ganz durcheinander bin. Wenn es stimmt, daß der Verstand fähig ist, sich an sich selber zu erinnern, selbst vor dem bewußten Leben, dann sind wir wirklich hinter etwas gekommen.

Jedenfalls kämpfte ich heftig um mein Leben. Ich erinnere mich, daß ich die Arme nach oben gestreckt hatte. Ich gab Töne von mir wie ein neugeborenes Baby: waa-aa-aa ... maaa ... gaaa-haa ... Irgend so was. Ich schrie Janov zu, daß ich ersticke; diese Worte, die ich sagen wollte, um den Ärzten zu beweisen, daß ich lebe, kamen mir sehr schwer von den Lippen. Schließlich war ich geboren!

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Ich atmete. Oh, ich erinnere mich auch, daß ich an den Knöcheln hochgehalten wurde mit dem Kopf nach unten. Dann kam Ruhe über mich, und ich lachte. »Ich hab's geschafft ... ich hab's geschafft ... ich hab's geschafft, ich bin am Leben.« Ich atmete sehr kräftig und überließ mich schließlich der Ruhe. Dann versuchte ich, einzelne Stücke miteinander zu verbinden. Ich sah mich deutlich als ein ungewolltes/gewolltes Kind, als meiner Mutter Sohn/Pappi. Dann sah ich Bilder von mir, wie ich mit ihr heranwuchs. Ich muß sagen, diese Bilder von mir, die ich noch jetzt, während ich tippe, vor mir sehe, sind in Wirklichkeit Fotografien von mir und meiner Mutter, die sie noch heute besitzt. Ich >wuchs< auf seltsame Weise. Früher, in einem Koma, war ich schon einmal gewachsen, und zwar vertikal. Jetzt wuchs ich -aber horizontal - vom Babykörbchen in eine kleine Wiege, in ein kleines Bett, in ein Bett von Hollywood-Ausmaßen. Erstaunlich ! Jedenfalls spielte meine Mutter bei einer Szene mit meinem Fimmel, als ob er ein Spielzeug sei. Ich schrie auf und fragte, wofür sie mich eigentlich halte, ein Spielzeug?

Und dann kam ich zu der Erkenntnis, daß sie mich für eben das hielt, mich so betrachtete. Bei einer anderen Szene liege ich im Bett und höre, wie Damen, die in einem anderen Zimmer Karten spielen, sich unterhalten und lachen. Ich deutete sogar mit dem Zeigefinger auf das Zimmer, während ich sprach. Sie reden von ihren Söhnen und wie sie mit ihnen umgehen und mit ihnen spielen. Irgendwie kommen sie darauf, Witze darüber zu machen, daß sie mit den Fimmels ihrer Söhne spielen; dann bringen sie diesen kleinen Witz mit ihren Ehemännern in Verbindung. Sie genießen die Schlüpfrigkeit. Ich höre Bruchstücke wie: »Du auch, Bella? ... Mein Sam ... Mein Solly ...« Jemand, meine Mutter, wie ich feststelle, macht einen Witz darüber, daß sie es zwar auch tue, daß das Ding aber zu klein sei oder dergleichen. Das bezieht sich auf mich, aber ich kann mich im Augenblick nicht entsinnen, was sie genau sagte. Etwas wie: Sie würde, wenn sie es finden könnte ... Jedenfalls steht mir plötzlich eine Szene aus Night Garnes vor Äugen, einem Film, in dem eine Mutter ihren Sohn demütigt, indem sie ihn erst so reizt, daß er erigiert und unterm Laken zu wichsen beginnt, dann reißt sie ihm die Decke weg, erwischt ihn, beschimpft ihn, schlägt ihm auf die Hand und läßt ihn dann allein. Ich entsann mich nun derselben Szene zwischen meiner Mutter und mir: sie schlägt mir aufs Handgelenk und sagt: »Laß das, Gary«, in dem typischen Tonfall jüdischer Frauen — zänkisch und weinerlich-kehlig. Ich kann mich nicht erinnern, ob sich diese Szene zwischen uns im wirklichen Leben jemals abspielte; wenn nicht, dann kann ich mir nicht erklären, warum sie in meinem bewußten Koma auftauchte.

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Irgendwann an diesem Punkt kam ich ein bißchen heraus und lag da, sozusagen bestürzt über das ganze Erlebnis, ganz zu schweigen davon, daß ich völlig erschöpft war. Mir schwebten immer noch eine ganze Menge Einzelheiten vor. Ich folgerte, daß ich noch tiefer eindringen und Mammi die Leviten lesen müsse, ehe ich sexuell potent werden könne. Aber ich weiß nicht — vermutlich wurde mir klar, daß es in meinem Leben keine Männer gegeben hat, denen ich auf positive Weise hätte nacheifern können; bloß mein Alter, der mir allerdings genug beibrachte, um mich völlig zu verkorksen, und eine Menge biedere Arbeiter in der Nachbarschaft, die nicht gerade ein >Vorbild für eine erfolgreiche Rolle< boten, dem ich hätte nacheifern können. Jetzt erinnere ich mich auch, obwohl es nicht in diesen Zusammenhang gehört, daß ich schon zu Beginn der heutigen Sitzung davon gesprochen habe, wie mich meine Gedanken über Frauen beschäftigten, und daß ich von meiner Tante zu träumen pflegte. Träume, in denen ich kopfüber von einer riesigen Fotze verschlungen wurde, während ihre gewaltigen Schenkel mich festhielten; Träume von ihrer Fotze, die Beine hatte und mir nachlief! Träume, daß ich in ihre Fotze hineinrannte, die mit einem rosa Schlüpfer bedeckt war, und daß ich mein Gesicht daran rieb ... Genug.

Das war es. Ich hatte einen schalen, trockenen Geschmack in der Kehle und im Mund - so ekelhaft wie die ganze Geschichte, und dort, wo dieser Geschmack herkam, mußte noch mehr davon da sein.

 

Teilauswahl von für die Primärtherapie 
wesentlichen Verknüpfungen

 

15. Mai  Am 7. und 8. Mai, irgendwann gegen 10 Uhr abends, fühlte ich mich lebendig. Ich fühlte mein ganzes Dasein. Ich fühlte es nur kurze Zeit — vielleicht fünf Sekunden. Wenn ich sage, daß es anregend, köstlich, anstrengend, elektrisierend war — dann kommt all das zusammen dem nahe, was ich tatsächlich empfand. Ich bin nicht sicher, ob die Sprache das geeignete Vokabular besitzt, denn wie könnte eine Gesellschaft von nicht-fühlenden Menschen (die also nicht so fühlen, wie unseres Wissens nach das Fühlen sein sollte) einen geeigneten Wortschatz aufbauen, der etwas zum Ausdruck bringt, was diese Gesellschaft nie empfunden hat ? In eben dem Augenblick, in dem ich mein Empfinden beschrieb, hatte ich das Gefühl, daß es nicht in die richtigen Worte gekleidet werden könne. Ich stelle einige Spekulationen darüber an: Besteht das Problem darin, daß wir noch nicht über die Sprache verfügen, die das Fühlen ausdrückt, oder ist es überhaupt kein Problem, da es gut und gerne möglich ist, daß das Fühlen ein eigener Bereich ist, der sich nicht in bloße Wörter übersetzen läßt und dem von Menschen erfundene Wörter nicht gerecht werden? Mich selber zu fühlen war für mich nicht nur ein inneres Erleben.

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Es war ein totales Erleben: das totale Sein. Ich lag auf dem Fußboden, nachdem ich einige einleitende Empfindungen des Hineinversenkens gespürt hatte, als ich plötzlich merkte, daß sich mein Rückgrat anders anfühlte. Ich ging dem Gefühl immer wieder nach und sagte dann, mein Rückgrat fühle sich gewissermaßen aufrecht an. »Aber was ist es?« fragte Janov. »Ich habe das Gefühl, ich bin gerade«, sagte ich. Dann weinte ich. Ich weinte bloß, weil es so schön war, zum zweitenmal in meinem Leben das Gefühl gehabt zu haben, gerade (zusammengehörig) zu sein. Denn ich begann Verbindungen herzustellen, und mir wurde klar, daß ich mich wirklich nur ein einziges Mal gerade oder zusammengehörig gefühlt hatte, und das war im Augenblick meiner Geburt. Kein Wunder, daß mir die Worte fehlten, das Gefühl auszudrücken — ich hatte es nur einmal gespürt, und das war fast siebenundzwanzig Jahre her. Was ich hier in einem einzigen Absatz beschrieben habe, erforderte in Wirklichkeit zwei Monate der Therapie, die dann zu diesem Gefühlniveau totaler Bewußtheit führten. Es erforderte quälende Stunden der Selbstkonfrontation, des Ausagierens von Mätzchen, des Weinens, der Bauchschmerzen.

Wie dem auch sei, mich total zu fühlen bedeutet für mich, daß ich genau fühlte, wo ich mich auf der Welt befand. Ich öffnete alle Schleusen. Zum Beispiel wurde mir sofort bewußt, daß ich die Festigkeit, die Kraft meiner Beckengegend spüren konnte. Mit anderen Worten, ich konnte meinen Körper, mein >Ich< spüren. Da spürte ich dann auch, daß mein Rückgrat gerade war. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, Fühlen sei ein totales Erleben. Ich bin jetzt überzeugt, daß echte und vollständige Gesundheit geistige oder emotionale und physische Zusammengehörigkeit bedeutet. Das fühlende Ich wird alles fühlen. Wahrscheinlich könnte der alles fühlende Mensch einen siebenten Sinn über sich selber entwickeln. Man stelle sich vor, welche Möglichkeiten dieses neue Lebewesen hätte, das diesen Sinn besäße oder tatsächlich imstande wäre, seine eigenen Krankheiten zu diagnostizieren. Völlig gesund, würde ich nicht mehr von psychosomatischen oder psychoneurotischen Leiden geplagt. Zum Beispiel könnte ich das Wachsen eines Tumors in meinem Inneren oder im Gehirn fühlen. Wahrscheinlich würde ich die Veränderung der Magenschleimhaut spüren, die ein Magengeschwür ankündigt. Andererseits würde ich von solchen Leiden womöglich gar nicht befallen, wenn ich total gesund und zusammengehörig wäre.

Die Spekulation ließe sich endlos fortsetzen. Betrüblich ist, daß meine Eltern es mir vermasselt haben, je zu dieser Spezies zu gehören, ebenso wie ihre Eltern es ihnen vermasselt haben, und so immer weiter zurück in der Vergangenheit. Ohne es zu wissen, sind wir geprellt worden, und dann prellen wir, ohne es zu wissen, wieder andere. Um die große Tragödie des Menschen­geschlechts zu empfinden, muß ich zuerst mein eigenes Selbst fühlen, die Möglichkeiten meines Seins, die vertan sind; das bedeutet, ich muß meine beklagenswerte Bedeutungslosigkeit spüren und empfinden, was wir Menschen hätten sein können.

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Am selben Abend wurde ich dann durch meine ganze Existenz in einen Gefühlszustand getrieben, in dem ich für den Bruchteil eines Augenblicks sah, wie die Spezies sein könnte, wären ich und andere Menschen gesund. Die Begeisterung, in die mich dieses Gefühl versetzte, war für mein ganzes System nicht weniger verblüffend als das Gefühl, mich gerade zu fühlen. Ich überfliege eben diese Seite und finde, daß meine Ausdrucksweise reichlich glorifizierend oder gekünstelt ist. Ich wähle die Wörter nicht; das kann ich tatsächlich gar nicht. Was mir eben jetzt widerfährt, ist, daß ich die belebende Erregung empfinde, voll höchster Begeisterung mich-mich-mich zu spüren!

Ich sah die Möglichkeit vor mir, daß das Leben vielleicht bis zu hundertfünfzig Jahren währen könnte. Ich sah das Ende der Krankheiten vor mir, und ich sah, daß die Menschheit ihre wissenschaftlichen Anstrengungen darauf konzentriert, die Krankheiten in und aus der Umwelt zu verbannen. Ich sah mich selbst befreit von all dem Schiet in meinem Kopf, und mein Kopf täte dann das, wofür er bestimmt war: Ohne Streß und den durch ungefühlte Gedanken erzeugten Druck, ohne daß mein Schädel mit meiner Vergangenheit vollgestopft wäre, könnte mein innerer Kopf wachsen. Die Visionen dieser menschlichen Größe, das Gefühl meiner eigenen Nichtigkeit — meine Tragödie — brachten mich zum Weinen. Intellektualismus ist der Fluch der Menschheit. Ich fühlte, daß mein eigenes verrücktes Streben nach <Erkenntnis> seit so vielen Jahren mich paradoxerweise nur weiter davon entfernte. Denn jetzt weiß ich, daß es nur eine Art Erkenntnis gibt: Selbsterkenntnis: woran ich bin: zusammengehörig: gerade.

Als ich mich in diesen kurzen Sekunden selber fühlte, fühlte ich meine Schönheit, fast meine Majestät, mein Sein, meine Grandeur. Das bedeutet, dessen bin ich sicher, mein Ich zu lieben. Dabei habe ich das Gefühl, vollständig zu sein, ganz vollständig, und dann und nur dann kann ich einen anderen lieben. Dann habe ich etwas Liebe, die ich schenken kann. Sobald ich mich habe, sobald ich mich immer lieben kann, kann ich auch eine Frau und Kinder lieben. Liebe bedeutet für mich Schenken und die Gnade zu empfangen, nicht zu wollen oder zu nehmen. Nehmen bedeutet für mich jetzt, die Arme auszustrecken, eine Gebärde des Wegnehmens. Empfangen ist einfach die Fähigkeit, ohne neurotisches Wollen zu empfangen. Liebe zu empfangen würde sofort der Bedingungen stellenden Liebe ein Ende bereiten, oder auch dem Zwang, der auf Kinder ausgeübt wird, für die Eltern etwas zu leisten oder unterhaltend zu sein. Empfangen ist einfach, von anderen zu empfangen, was sie zu geben vermögen, ohne Bewertung oder Beurteilung oder Vergleich.

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Das heißt, es würde keine Enttäuschung geben, wenn man nicht genug bekommt — damit wäre es vorbei. Man würde wissen, woran man ist, und würde anderen das zugestehen, was sie wollen, und man würde jenen aus dem Weg gehen, die einem schaden könnten. Das stimmt: Der gesunde Mensch muß sich von kranken Menschen fernhalten, denn kranke Menschen können ihn mit ihren kranken Wünschen verkorksen. Aus Enttäuschung darüber, daß er von seinem Pappi nicht so innig geliebt wird, wie er möchte, könnte ein kranker Boß einen gesunden Arbeiter feuern; ein kranker Verwandter könnte einem gesunden Menschen schaden, wenn der Gesunde die kranken Mätzchen des Kranken nicht mitmacht.

 

Das ist nicht alles. Eine sehr wichtige Verbindung war für mich die Verknüpfung zwischen mir und meinen Eltern, Schleim, Phlegma, Atmen, Leben, Pinkeln, Husten, Ersticken, körperliche und geistige Krankheit. In den letzten zwei Monaten bezogen sich meine Urerlebnisse auf diese Faktoren, manchmal auf einzelne und manchmal auch auf mehrere. Aber heute abend hatte ich sie alle zusammen. Diese unendlich komplizierte und dennoch erstaunlich simple Verbindung kam zustande, als ich alles das fühlte, um was es bei der Verknüpfung ging, und als ich dann in mir registrierte, um was es bei der Verbindung ging. Ich hustete dicken Schleim aus, der mich zu ersticken schien. 

Auch meine Nase fühlte sich an, als ob ich das verdammte Ding wegschneuben müßte; mit anderen Worten, ich hatte das Gefühl, sie sei verstopft. In Wirklichkeit war die Nase völlig frei, und was ich fühlte, war mein bis in den Kopf hinauf verstopfter Nasengang und mein Kopf, der ganz verstopft war. Erst als ich mich ganz tief in ein würgendes und erstickendes Fühlen versenkte, das mittlerweile meine ganze Brust erschütterte, vermochte ich das Gefühl zu benennen. »Mammi« - das brachte ich hervor. Ich hustete die erstickenden Klumpen Scheiße heraus, die mich mein ganzes Leben gequält hatten. Ich hustete Scheiße. Für mich bedeutet das Wort Scheiße: abgelehnt zu werden, nicht beachtet zu werden, brutal behandelt zu werden, durch das Gerede meiner Eltern gekränkt zu werden. All das hinterläßt einen schlechten Geschmack und ein mieses Gefühl. Aber die Scheiße meiner Mutter war in meinem Bauch konzentriert. Jetzt konnte ich die Bedeutung fühlen, warum ich immer gehustet habe. Mein Leben lang habe ich an der Scheiße gewürgt, die heraus wollte. Als ich zur Welt kam und Liebe brauchte, bekam ich Scheiße (schon damals so bezeichnet), und so ging es fast mein ganzes Leben weiter. Jetzt spürte ich diese Masse Scheiße in mir. Ich sollte auch erwähnen, daß ich heute abend gleich als erstes meinen Gefühlen freien Lauf ließ. Das ist sehr wichtig. Bisher hatte ich meinen Körper in der Gewalt gehabt, mit anderen Worten: verschlossen, starr, d. h. nicht fühlend. Jetzt gab ich meinen Körper frei: ich lockerte die Herrschaft über Pimmel, Darm und Brust.

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Ich war mir nie richtig bewußt gewesen, wie sehr ich mich selbst in der Gewalt hatte. Sobald ich mich in das Gefühl versenken konnte, überließ ich mich ihm. Der Hauptgrund für meine lebenslängliche Starrheit und Verschlossenheit war, daß ich irgend etwas aus meinen geheimen Öffnungen nicht hinauslassen wollte. Dieses >etwas< waren in Ausscheidungsprodukte verwandelte Gefühle. Jetzt, als ich mich gehen ließ und nichts herauskam, spürte ich einfach die große Masse Scheiße in mir. Mit dem hm-hm-Räuspern, das ich viele Jahre lang an mir hatte, drängte ich die in meine Kehle aufsteigende Scheiße zurück. Jetzt fühlte ich mein gesamtes Kontrollsystem: Räuspern, Schnüffelnase und das Abschließen. Dieses ausgeklügelte System, um hart und unangreifbar zu bleiben, hatte ich aufgebaut, damit ich keine Verletzungen erleide, die ich hätte fühlen müssen. Jetzt, zum ersten (eigentlich zum zweiten) Mal in meinem ganzen Leben, war alles aufgesperrt, geöffnet. Da meine Energie und Kraft nun nicht mehr auf die Aufrechterhaltung meiner Starrheit abgelenkt waren, vermochte ich meine Scheiße zu fühlen. Quälend, natürlich.

16. Mai  Mit jedem Tag wird mir klarer, daß, je gesünder ich werden kann, die anderen um so mehr annehmen, daß etwas mit mir nicht stimme. Meine Kleidung, Farbe und Schnitt seien einfach nicht ich, sagte meine Frau. »Das ist nicht der Gary, den ich kenne«, sagt sie. Dasselbe widerfuhr mir nach einem besonders gigantischen Urerlebnis; die Spannung und der Druck des Nicht-fühlens verschwanden aus meinem Gesicht, und als sich die Haut entspannte, sah ich jünger aus. Schon am nächsten Tag fragten mich Leute, was ich habe, ob ich krank sei? Ich halte es für eine offensichtliche Obsession der meisten Menschen, daß sie immer genau wissen, was mit anderen los ist (oder jedenfalls glauben sie das gern). Das macht die zwischenmenschlichen Beziehungen (wenn man sie überhaupt so nennen kann) in dieser Gesellschaft reibungslos. Die Menschen scheinen miteinander auskommen zu können, indem sie Informationen, Charakterzüge und andere Tatsachen aneinanderreihen, damit sie sich irgendein Bild von einem Menschen machen können. Wenn dieser Mensch dann etwas tut, was man an ihm nicht kennt, dann werfen ihm die Leute vor, er sei anders. Dabei hat er vielleicht nur sein inneres Ich ein wenig durchblicken lassen.

 

17. Mai  Bei mir beginnen sich Verbindungen herzustellen. Ein heftiger Schmerz im Bauch war das erste, was ich fühlte. Ein Schrei wollte sich in mir lösen (das Baby Gary, der reale Gary wollte geboren werden), aber offenbar konnte ich nicht alle Teile von mir vereinigen, um diesen welterschütternden Schrei herauszubringen. Alles, was ich herausbekam, war ein lautes Quieken. Als ich mit all meiner Kraft fühlte, wie das System arbeitet, und

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die Intensität des Schreies spürte, der herauskommen wollte, den ich aber nicht heraufbringen konnte, weil mir die ungeheure Energie dafür fehlte, da stellte ich die Verbindung her, daß meine Krankheit meine Wahl war. Es bedurfte nur eines mächtigen, hervorbrechenden Schreies von lungenpumpender Lebendigkeit, um lebendig zu werden, geboren zu werden. Ich kämpfte damit, wie mir schien, sehr lange Zeit. Schließlich stand ich auf und ging ins Nebenzimmer, um allein zu sein. Der Wunsch allein und ungestört zu sein, war ein Grund, warum ich aufstand. Der zweite Grund war, daß ich offenbar die Unterhaltung der anderen Leute mit einer neuen, kristallenen Klarheit hörte.

Immer noch brachte ich nur dicke Fäden von Speichel/Schleim heraus. Ich war voll davon — Bauch, Kopf und Nase. Es war die vertraute Scheiße, die ich seit ungefähr einer Woche fühlte. Es schien eine Verbindung zu bestehen, daß ich diese ungeheure Masse Scheiße herausbringen mußte, ehe ich geboren werden könnte. Ich mußte die Scheiße fühlen, ehe ich sie vom Bauch herauf zur Kehle und dann zum Mund hinausbefördern könnte. Die Scheiße fühlen bedeutete zu fühlen, daß ich Mammi und Pappi wollte. Und Mammi und Pappi wollen heißt krank sein. Meine Krankheit, die ich jetzt empfinden konnte, war nicht nur die Krankheit, daß ich verrückt war, sondern auch das physische Gefühl, am ganzen Körper krank zu sein und es tief in meiner Kehle schmecken zu können, und es schmeckte sehr scheußlich — krank.

Plötzlich begann ich zu fühlen, daß sich mein ganzes Selbst zu einem kolossalen Schrei aufraffte, der sich genau an meinem Schwerpunkt, tief drinnen in der Magengrube, zu sammeln schien. Mein Körper zog sich offenbar zusammen, um Kraft zu sammeln, und als mich der Schrei erschütterte, klappte mein Körper wie ein Taschenmesser zusammen. So erging es mir noch bei mehreren Schreien, und jeder brachte den krankhaften Wunsch nach Mammi und Pappi herauf, und er nahm die Form von übermäßigem, klebrigem Speichel/Schleim an. Der Schmerz im ganzen Körper war heftig, und war es seit langer Zeit gewesen. Dauernd rief ich Mammi und Pappi aus meiner tiefsten Tiefe, und jedesmal, wenn ich einen dieser Schreie ausstieß, spürte ich dasselbe ekelhafte Kranksein: die krankmachende Ablehnung, das krankmachende, hoffnungslose und nutzlose Wollen, das krankmachende nicht gesehen, nicht bemerkt, nicht gehört werden, die krankmachende Verzweiflung. All das hätte ich nie fühlen dürfen, sonst hätte es mich permanent verrückt gemacht. Etwas später spürte ich, daß sich ein weiterer Schrei regte. Er sammelte Kraft im Bauch, und als ich mich von ihm erschüttern ließ, schien er nicht ganz heraufzukommen — ich konnte den Schrei nach Gary nicht ganz herausbringen. Derselbe Schleim stieg auf, aber mir kam er wie klarer, sauberer Schleim vor.

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Dann, in eben dem Augenblick, da ich das Feuchte in meiner Hand fühlte, spürte ich, daß der Schrei wieder in meinen Bauch zurückfiel. Er fühlte sich an wie ein Ei oder vielmehr wie ein einzelnes Dotter. Verzweifelt versuchte ich ihn heraufzubringen, denn mir schoß der Gedanke durch den Kopf, daß er das Leben selbst sein könnte. Hoffnungslos an diesem Punkt, denn ich war völlig erschöpft.

Ich schlief vielleicht drei Stunden und ging dann zur Gruppe. Ich war sehr groggy, aber derselbe Schrei nahm alle paar Minuten von neuem Anlauf, um ausgestoßen zu werden. Jedesmal, wenn ich nachfaßte und ganz tief bis zu meiner Körpermitte vorstieß und schrie, fühlte ich eine Spur Erleichterung im Bauch. Auch hatte dieser ungeheure Druck des Schreiens meine verstopften Nasen- und Ohrengänge völlig durchgeblasen. Jedenfalls geht es für mich jetzt darum: den Kampf um mich zu fuhren, geboren zu werden, um mein Leben zu kämpfen. Alles, was ich seit gestern abend gefühlt habe, zeigt, wie krank ich in meinem Inneren bin. Urerlebnisse lösen die verhärtete Krankheit bröckchenweise.

Freitagabend und Samstag früh fühlte ich wirklich, wie abgrundtiefdumm und krank ich bin. Da war ich nur noch um die Länge eines Schreies davon entfernt, der Gesundheit einen Schritt näher gekommen zu sein, und ich brachte ihn nicht zustande. Die große Krankheit, über die ich nachher weinte, war die Tragödie, daß es zwar in meiner Macht stand, gesund zu werden, daß ich es aber vorzog, krank zu bleiben. Jetzt mache ich mich daran, ganz und gar und gründlich. Mein Trieb und Drang, gesund zu werden, sind seit diesem Erleben stärker geworden. Ein gesunder Mensch würde gern weiter zu diesen Dienstag- und Samstagsitzungen kommen. Ich möchte da um Gottes willen möglichst schnell heraus.

 

20. Mai Die Gruppe am Dienstagabend war gut für mich, weil sie so schmerzhaft war. Es war eine Fortsetzung dessen, was ich Samstag früh nicht beendet und seitdem in mir angesammelt hatte. Ein Schrei nach meiner Mutter brach aus meiner Kehle hervor, und das wiederholte sich während der ganzen Sitzung. Im Bauch fühlte ich die bittere Enttäuschung und die Leere, weil Mammi mich nie mit dem erfüllt hatte, was ich brauchte. Ich weiß, daß ich mit einem totalen Bedürfnis zur Welt kam, und als ich die erste Ablehnung erfuhr, brachte mich das für den Rest dieser Jahre aus der Fasson.

Mein Weinen und meine Schreien erreichten gestern abend eine neue Tiefe. Ich meine damit, daß ich spüren konnte, wie der Schrei aus meinem gequälten Bauch kam, aus meiner Mitte. Dieses Gefühl brachte mich dazu, noch unbeherrschter zu weinen und mir klar zu werden, daß ich nichts als ein kleiner Junge bin, wirklich ein Kind. All das tut weh — tut wirklich weh, und anscheinend bleibt nichts anderes übrig, als es zu fühlen. Aber ich bin froh, daß ich zu diesem tieferen Schrei gelangt bin, denn ich vermochte die Qual dieses kranken Wollens nun wirklich zu spüren.

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24. Mai  Heute war ein wichtiger Tag, denn ich konnte meinen Schrei vertiefen. Die Schreie heute waren unkontrollierbar, sie kamen genau aus meinem Zentrum und erschütterten mich. Ich vermute, es ist wirklich das erste Mal, daß ich zuließ, das große Bedürfnis zu fühlen und die große Leere, weil ich Pappis Liebe nicht erhielt. Am Dienstag war ich auf demselben Weg, als ich Mammis Liebe wollte und sie nicht bekam. Die Schreie gehen tief, tiefer als je zuvor. Weil Pappis Scheiße in meinem Kopf angesammelt ist, entleerte sich meine Nase ganz von selbst wie eine Springquelle. Alle Tränen, die zu weinen mir >untersagt< war, und alle Tränen, die ich in all den Jahren in meinen Kopf zurückgesaugt hatte, wurden aufgescheucht und aufgestöbert und durften endlich fließen. Was meine Mutter betrifft, so ist die Krankheit in meinem Bauch konzentriert, und wenn ich sie fühle, führt es zu einem heftigen Aushusten von all dem Schleim und der Galle, die ich immer hinuntergeschluckt habe, um das Gefühl nicht aufkommen zu lassen.

Aber mein Weinen heute! Es ist, als hätte ich wirklich in meinem ganzen Leben nicht so geweint. Gelegentlich fiel mir auf, daß ich so, wie ich heute weinte, als Junge viele Male geweint hatte. Ich hörte meinen realen Kummer, die reale Bedeutung, die es für mich hatte, beraubt worden zu sein, und daß ich jetzt die verzweifelte Leere empfinde. Es war das Weinen um meinen Vater, das bittende Weinen, das zugibt, daß ich ihn will. Als schließlich ein gewisses Maß von Ruhe und Frieden bei mir eingekehrt war, konnte ich einfach daliegen und mir über alle Einzelheiten klar werden.

Der letzte Freitagabend brachte mich wirklich in eine neue Phase des Fühlens und Erlebens. Die Phase zwei ist eine größere Intensität, ein tieferes Gewahrwerden, ein heftigerer Schmerz und Leiden, ein verstärkter Sinn oder Trieb, gesund werden zu wollen, ein geschärftes Gefühl für die eigene Krankheit, eine mehr allgegenwärtige Müdigkeit, ein wachsameres Augenmerk darauf, mich aus der Verrücktheit der anderen herauszuhalten, ein erfreulicheres Gefühl, wenn ich allein bin. Ich vermute, diese Phase zwei ist einfach das, was vorher kam, aber mit größerer Tiefe, Dimension und Höhe. Und alles zusammen läuft darauf hinaus, daß ich mich schlechter fühle als bloß mies.

 

1. Juni  Daß ich eine Zigarette will, ist deshalb so schön, weil ich keines anderen Hinweises bedarf, um zu wissen, daß ich die Gefühle unterdrücken will. Jetzt werde ich unwirsch, möchte etwas kaputtschlagen — ein weiteres Mätzchen, zu dem Zweck, nichts zu fühlen.

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Was in diesem Augenblick wirklich da ist, ist ein ungeheurer Schrei. Er ist so groß wie mein Körper und so laut, wie ich ihn nur machen kann. Der Schrei bin ich, und die Tränen, die fließen wollen, sind die Tränen von Jahren, die Tränen, die aufgespeichert wurden. Warum ich jetzt schreien/weinen will, weiß ich nicht genau. Aber ich habe ein Gefühl oder eine Empfindung von Armseligkeit, Hilflosigkeit, von Fehlbarkeit.

In meinen Träumen sind in den letzten paar Wochen seltsame Dinge geschehen. Es ist für mich nicht nur schwierig, mich meiner Träume zu erinnern oder sie zu rekonstruieren, sondern ich bin auch nicht sicher, ob überhaupt etwas in ihnen geschieht. Tatsächlich war mein Schlaferleben in den letzten paar Wochen unheimlich. Es ist, als ob ich wach und mir bewußt sei, daß ich schlafe, während ich schlief, und wußte, daß ich schlief. So verrückt ist es tatsächlich. Ein oder zweimal bin ich aufgewacht (glaube ich) und habe gefragt: »Bin ich wach?« In dieser Erlebens-<Dimension> habe ich geschlafen. Jetzt weine ich, weil ich mir noch verrückter vorkomme, daß ich das zu Papier bringe. Aber tatsächlich scheint es, als ob Schlaf für mich in einem neuen Sinn eine dreidimensionale Angelegenheit sei — als ob sozusagen ein undefinierbarer siebenter Sinn am Werk sei. Seltsame Dinge gehen mit diesem Sinn vor sich. Nichts ist erinnerbar.

Zweimal habe ich es jetzt erlebt, daß ich weiß, daß ich schlafe. Mit anderen Worten, ich glaube, daß etwas im Verstand — vielleicht wieder dieser undefinierbare siebente Sinn — beim Schlafen tätig sein kann. Ich habe nicht geträumt, daß ich schlief. Ich habe wirklich geschlafen, und es war, als sei ich innerlich wach, während ich äußerlich im Bett lag und schlief.

 

2. Juni  Heute fühlte ich, wie ich von einer Bewegung erfaßt wurde, der Bewegung und dem Rhythmus irgendeines Gefühls, das ich nicht benennen konnte. Schließlich — es muß nach einer halben Stunde oder vierzig Minuten gewesen sein — tauchte das Gefühl auf. Es schien etwas mit Wollen zu tun zu haben, nicht mit dem Wollen von etwas Bestimmtem, sondern bloß Wollen. Es schien völlig in meinem Mund konzentriert zu sein. Zuletzt wich dieses Wollen einem lauten Bitten. Plötzlich verspürte ich den Drang, meine Eltern zu rufen, und ich rief und rief und rief. Das Rufen war eine gewaltige Sache, als ob mein Leben davon abhänge, gehört zu werden. Ich fühlte, wie meine Schreie aus meinem tiefsten Inneren heraufkamen — und dennoch nichts, keine Befriedigung. In diesem Bruchteil einer Sekunde des Nichts, als ich eben dieses Gefühl empfand, spürte ich die totale Erkenntnis, daß ich gehört worden war. In diesem Bruchteil einer Sekunde schien es, als ob mein Körper die Leere schon gefühlt habe, als ob mein Verstand aber drei Alternativen durchgehen müsse, um eine Verbindung herzustellen: (1) Ich konnte nicht gehört werden. (2) Ich wurde nicht gehört. (3) Ich wurde gehört.

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Nummer 3 war die sofortige Verbindung: Ich wurde gehört, aber sie wollten es nicht hören — es lag ihnen einfach nicht genug an mir. Ich sage >sie<, denn an diesem Punkt des Urerlebnisses schien das Wollen nicht auf einen bestimmten Elternteil konzentriert zu sein. Die volle Wucht dieser totalen Erkenntnis rief einen verzweifelten Tränenstrom bei mir hervor. Die Tränen flossen einfach, und zugleich öffnete sich meine Nase, und ich konnte atmen. 

Ich hörte mich an diesem Punkt heulen. Für mich ist das die einzige Art des wirklichen Weinens, die es gibt — das Weinen meines ganzen Ich. Meine Lippen oder vielmehr mein Mund schien sich selbständig zu machen. Ich spürte den Drang zu saugen, wirklich zu saugen. Das zu tun war sehr schwierig für mich. Schwierig, weil eine Bewußtheit sich einzumischen oder einzugreifen schien, die Zweifel bedeutete: »Habe ich dieses Saugen wirklich gefühlt?« 

Von Janov angespornt, begann ich zu saugen und überließ mich dem, was mein Mund tun wollte. Ich spürte im Bauch ein gewisses Unbehagen. Was ich wollte, waren einfach Mammi oder Mammis Titten, das war alles. Der Schmerz im Bauch war der übliche Schmerz, den ich immer habe, wenn ich mich meinem Bedürfnis nach ihr/dem sie Wollen überlasse — Leere. Das war der Grund, warum ich weinte. Dann begann mein Mund die Frage zu formulieren: »Warum hast du dich nicht um mich gekümmert?« Ich hatte die niederschmetternde Ablehnung schon empfunden, daß nämlich nicht für mich gesorgt wurde — d.h. ich bekam ihre Brust nicht oft genug, wurde nicht aufgenommen und an ihrer Brust gehalten. (Das ist der entscheidende Teil und die Hauptbedeutung dieser Empfindung: nicht oft genug. Ich bin sicher, daß meine Mutter ihrem Temperament entsprechend für mich gesorgt hat, aber nicht entsprechend meinen totalen Säuglingsbedürfnissen.) 

Und heute abend überließ ich mich einer weiteren Phase dieser Ablehnung — daß es ihr gleichgültig war, daß sie mein Weinen nicht hören wollte. Da formte ich also mit dem Mund diese stumme Frage und machte den Mund so weit auf wie möglich. Ich konnte das nicht einsehen, nicht verstehen. Es war ein stummer Aufschrei: »Warum hast du dich nicht um mich gekümmert?« Und mir wurde klar, daß das ungezielte Wollen von vor einer Stunde jetzt auf meine Mutter gerichtet war. Es waren einfach die Warzen ihrer strotzenden Brust, die ich zwischen meine gierig suchenden Lippen und zahnlosen Kiefer geschoben haben wollte. Und heute abend empfand ich, wahrscheinlich erst zum zweitenmal in meinem Leben, dieses total gierige Wollen. (Zum erstenmal empfand ich es, ehe ich vor sechsundzwanzig Jahren abschaltete, und zum zweitenmal heute abend.) Alle wesentlichen Faktoren einer vollkommenen Erkenntnis dessen, was mit mir in eben diesem Augenblick >los war<, kamen irgendwie zusammen. Die Bedeutung meines Urerlebnisses traf mich von hinten.

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Es war, als diese Bedeutung von meinem Bauch herauf in meinen Hinterkopf schoß und zum Mund hinaussprang: »Ich kann nicht sprechen«, schrie ich. Offenbar wurde mein Wollen stumm, weil es da gewesen war, ehe ich es in Worte fassen konnte; ich hatte ja noch nicht sprechen gelernt. Als ich dann später sprechen konnte, hatte ich schon abgeschaltet und war so unsicher, was Liebe betraf, daß ich nicht darum bitten konnte. Ich mußte das ganze niederschmetternde Gefühl, als Säugling stumm nach Liebe geschrien zu haben, empfinden, ehe mein eigenes Wollen einen Sinn für mich ergab. Nun wurde alles klar. Heute abend empfand ich das, was ich als Säugling zu fühlen mir nicht hatte erlauben können : die entsetzliche, verheerende Leere, die mir für mein Flehen und Jammern und Schreien und echten Säuglingskummer zuteil wurde. Und außerdem spürte ich die Erkenntnis, daß sie mich hörten, daß ihnen aber nicht genug an mir lag, um mir diese Liebe zu bieten, besonders meine Mutter, deren Liebe - oder vielmehr nicht vorhandene Liebe — ich heute abend am stärksten empfand.

Bald danach, als ich da lag, wurde mir klar, daß mein ganzes Leben wirklich völlig anders hätte verlaufen können, wenn meine Bedürfnisse als Säugling befriedigt worden wären. Wenn ich damals an ihrer Brust und in seinen Armen gehalten worden wäre, als mein Körper sie brauchte.

 

8. Juni  Ich ließ meinen Körper aus allen fernen Teilen von mir herankommen und forderte ihn auf zu einem donnernden Ruf oder Schrei oder Weinen. Diesen Ruf hatte ich schon früher immer wieder ausgestoßen — aber natürlich war ich nie gehört worden. Der Grund, warum ich ihn am Samstag wieder ausstieß, war, daß ich auch nicht den Schatten eines Zweifels daran lassen wollte, daß ich wirklich laut genug geschrien hatte, um gehört zu werden. Darum ist mein Schreien so tief und so anhaltend. Glauben zu müssen, daß ich gehört wurde und sie sich nicht darum kümmerten, hätte für mich bedeutet, mich allein fühlen zu müssen, und dieses Gefühl versuchte ich zu vermeiden. Auch das Gefühl, daß ich den Kampf, etwas zu bekommen, aufgeben könnte, daß ich einfach mit Kämpfen aufhören könnte, hätte bedeutet, die verheerende Erkenntnis zu empfinden, daß ich immer sehr viel allein war und es niemals etwas gab, das ich bekommen könnte, daß es nie etwas derartiges gegeben hatte, daß ich dazu verfuhrt wurde, mein Leben lang mich selbst fertigzumachen, um etwas von meinen Eltern zu erhalten, was sie einfach nicht hatten — Liebe.

Aber ich versuchte es jedenfalls. Zuerst auf eine quälende bettelne Weise bei meiner Mutter und dann bei meinem Vater. Bei beiden nichts. Bei meiner Mutter gab es einen Augenblick, da glaubte ich, ich würde ein paar Tröpfchen pissen.

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Dann dämmerte es mir, daß es Sperma sein würde, und das war durchaus einleuchtend. Wiederum war alles, was ich gefühlt hatte, daß ich sie mit dem Körper meines sechsundzwanzigjährigen Selbst wollte, und das Wollen war zugleich mit meinem Sexualtrieb gewachsen. Darum kann ich sexuell nicht potent sein — denn mein Fimmel ist Mammi hörig: Als ich ihre Liebe so wahnsinnig wollte, habe ich alles in den Kampf geworfen, um sie zu bekommen, einschließlich meines Pimmels.

In den letzten paar Stunden habe ich etwas sehr Merkwürdiges erlebt. Ich weiß, daß ich eine Erklärung habe, aber ich fühle die Krankheit nicht. Mit anderen Worten, ich bin lebenslustig, munter und nicht geschwächt. Es ist, als ob ein anderes Ich die Erkältung habe und das reale Ich es genieße, Musik zu hören und diese Geschichte zu tippen. Das ist mir noch nie passiert, abgesehen von dem kurzen Erlebnis gestern. Es ist, als ob kein Grund mehr bestehe, mein Kranksein hochzuspielen, weil keine Mammi mir irgendwelche Aufmerksamkeit schenken wird. So kann ich mich genausogut nur in dem Maße krank sein lassen, in dem mein Körper sich geschwächt fühlt. Mein Geist, mein lebendiges Ich sozusagen, braucht nicht krank zu sein, bloß weil der Körper an einer leichten Erkältung leidet. Natürlich bin ich immer noch krank. Aber beide Male, als ich die Urerlebnisse hatte, sank meine Temperatur beträchtlich (Samstag von 38,6 auf 37 und Sonntag von 37,7 auf 37), und ich fühlte mich besser. Ich bin überzeugt, daß all diese kleinen Erkältungen und Viruskrankheiten und Grippen mein Leben lang nicht so verheerend und schwer hätten zu sein brauchen, wenn ich bei der Geburt geliebt worden wäre ...

Ich werde mir klar, daß es <halb gesund> einfach nicht gibt. Man ist entweder gesund oder immer noch mit einem Teil seiner Neurose behaftet. Was die Abwehrmechanismen betrifft, so glaubte ich auch, daß ich einige haben sollte. Jetzt ist das gar nicht mehr wichtig. Niemand kann mich verletzen, es sei denn körperlich. Deshalb brauche ich keine Abwehrmechanismen. Anscheinend finden manche Leute die Menschen im allgemeinen bedrückend. Das ist nicht ganz meine Einstellung. Ich finde eine Menge Dinge, die die Menschen tun, unerträglich, aber auch sehr traurig. Vielleicht sind diese paar Leute, die so reden, weitaus gesünder als ich, und wenn ich das Stadium erreiche, in dem sie sich befinden, werde ich womöglich auch so empfinden. Jedenfalls komme ich jetzt auf den Straßen gut zurecht. Ich habe es aufgegeben, so übertrieben gesellig zu sein. Seit ich mit der Therapie begann, hat sich mein geselliges Leben auf vielleicht sechs Abende im Kino, einen im Theater, einen im Restaurant, drei Besuche bei alten Freunden und drei Besuche bei den Eltern beschränkt, und dann und wann sprach ich mit jemandem. Unsere Telefonrechnung beträgt jetzt noch nicht einmal die Hälfte von früher, vielleicht ein Drittel.

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Ich habe nämlich nicht mehr ein so großes Bedürfnis oder Verlangen nach Menschen. Gleichzeitig fallt es mir bemerkenswert leicht, einfach schlicht entspannt und nett zu sein. Das bin ich zeit meines Lebens nicht gewesen. Nach außen war ich ein Rabauke, ein übler Bursche usw. Aber jetzt fällt es mir überaus leicht, Leute, die ich kenne, anzulächeln und Guten Morgen oder dergleichen zu sagen. Ich habe etwas von der Tragödie des Lebens empfunden, von der Tragödie meiner Familie, die wir physisch so nahe beieinander leben, doch in unseren Emotionen meilenweit voneinander entfernt sind, voneinander getrennt durch unser Nichtfühlen. Diese profunde Traurigkeit hat sich bei mir irgendwie in Sanftheit umgesetzt. Ich bin gern liebenswürdig.

Jedenfalls gibt es für mich, wie ich mich heute sehe, kein Zurück. Die Leute können sagen, was sie wollen, daß die Leidenschaft für totale Gesundheit ebenso verrückt sei wie totale Verrücktheit, aber ich will das selbst herausfinden. Ich habe mir Magengeschwüre eingehandelt, als ich total verrückt war, und wenn Magengeschwüre eine Begleiterscheinung totaler Gesundheit sind, dann will ich meine eigenen haben. Es gibt kein Zurück für mich, kein Zurück zu dem unwirschen, launischen, schwankenden, unschlüssigen, trübsinnigen, verlogenen, feindseligen, simulierenden, ängstlichen, oberflächlichen, hohlen Heuchler, der ich war. Und damit auch nicht zu meinem Rauchen, psycho-neurotischen Leiden, Verschlafen, Übergewicht. Zum Teufel mit dem Verrücktsein. Zum Teufel mit dem Aufhören. Zum Teufel mit den <Abwehrmechanismen>.

 

14. Juni  Heute endet meine sechzehnte Woche der Primärtherapie. Ich bin nicht sicher, was das eigentlich bedeutet, aber ich denke darüber nach, wie entspannt ich mich fühle und ein wie ungewohntes Gefühl das zeit meines Lebens war.

Am Dienstagabend kam ich zu gar nichts, und wenn ich nach dem heutigen Erleben daran zurückdenke, glaube ich, daß ich an dem Abend versuchte, ein altes Urerlebnis noch einmal zu erleben — irgendein altes Urerlebnis, bloß um ein Urerlebnis zu haben. Meine letzte Woche war sehr gut, obwohl ich körperlich nicht in Ordnung war, weil ich eine Erkältung hatte. Mein geistig/emotionales Ich erkennt die Erkältung nicht an; nur mein krankes und irreales. Ich leide darunter. So waren diese und der größte Teil der vorigen Woche gut.

 

15. Juni  Ebenso wie der Muttertag im vorigen Monat hat der heutige Vatertag bei mir denselben quälenden Schmerz über meine Tragödie und die meiner Familie hervorgerufen. Den Muttertag habe ich einfach übergangen, und mit dem Vatertag mache ich es genauso. Da ist einfach nichts drin. Wenn ich noch rachedurstig wäre, könnte ich glauben, mein Verhalten sei ausgleichende Gerechtigkeit, wie sie immer so schön in Romanen beschrieben wird:

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Sie haben mich vom ersten Augenblick an betrogen, und nun rechne ich mit ihnen ab. Aber das ist völlig verrückt — <mit ihnen abrechnen> oder <es ihnen heimzahlen>, dergleichen gibt es nicht. Vielmehr gibt es gar nichts, und das ist es, was ich empfinde, und es tut sehr weh.

Was die Tragödie noch deutlicher für mich macht, ist der Umstand, daß meine Angehörigen ihre Bemühungen um mich verstärkt haben. Seit ich verheiratet bin, haben sie mich mit Geschenken überschüttet, um mich festzunageln, wie man einen Schmetterling mit Nadeln auf einem Brett festnagelt. Zuerst der Ausspruch meiner Mutter: »Denke dran, du hast hier immer ein Zuhause.« Als ich dann im Friedenskorps war, zwangen sie mich doch tatsächlich, ihnen jede Woche zu schreiben, dabei hatten sie mir im ganzen Leben nicht geschrieben, weder als ich im Lager war, noch in einem anderen Staat oder in Europa. Dann gingen sie dazu über, 10-Dollar-Geschenke zu machen, zu meinem Geburtstag, zu Susans Geburtstag, zu unserem Hochzeitstag, und 50 Dollar zum Einzug ins neue Haus. Scheiße. Sie glauben, das sei einfach ein Zeichen ihrer Liebe und ihres Interesses, die sie mir angeblich zeit meines Lebens bekundet haben. Deshalb können sie nicht verstehen, warum ich sie in den letzten drei Monaten nicht besucht oder angerufen habe. Sie hätten gern, daß ich mich schuldig fühle, glaube ich.

Aber dafür und für vieles andere auch ist es zu spät. Ich kann mich jetzt unmöglich schuldig fühlen, nachdem ich mich stundenlang in Arts Sprechzimmer und noch viele weitere quälende Stunden für mich allein in meinem verrückten Geist mit diesen alten Geschichten auseinandergesetzt habe. Was ich fühle — was ich fühlen mußte, um gesund zu werden, ist die Leere, die mein ganzes Entgelt war, als ich so verzweifelt von meinen Eltern geliebt werden wollte. Ich bin so weit gekommen, daß ich jetzt mich und meine Gefühle verstehe. Verstehen ist nämlich einfach fühlen und Verbindungen herstellen.

Wenn es sich um einen Tag wie heute handelt, wenn Kinder jung und alt >die Eltern ehren<, dann ist das völlig bedeutungslos. Für mich wäre es eine sinnlose Fortsetzung meines neurotischen Bedürfnisses nach Mammis und Pappis Liebe. Es wäre ein Neubeginn des Kampfes, diese Liebe zu erhalten. Es ist vergeblich. Meine Eltern kann ich nicht ehren und auch nicht respektieren. Ich sehe sie als das, was sie immer waren: lieblos, gleichgültig. Aber ich begreife auch, daß sie ebenso ein Opfer von Geschehnissen in ihrer Jugend waren, wie sie mich zum Opfer gemacht haben. Sie waren ahnungslos; sie waren dumm und ohne Einsicht. So kann ich ihnen nichts von alledem übelnehmen. Ich kann sie nicht hassen. Nichts von dem, was geschehen ist, kann ich ihnen zum Vorwurf machen, seit mir die wahre Einsicht zuteil wurde, denn von diesem Tag an bin ich für das Gesundsein verantwortlich.

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Tage wie diese sind also traurig, denn sie führen mir die große Lüge vor Augen, die mir, meinen Brüdern und meiner Schwester und der ganzen Menschheit vorgemacht wurde. Da ist einfach nichts, überhaupt nichts. Ich freue mich, daß ich die Ungebundenheit besitze, das Nichts zu fühlen. Denn wäre ich noch sehr krank, dann würde ich darum kämpfen, einen Sinn zu empfinden, würde darum kämpfen, Anerkennung zu finden für meine mir Geschenke einbringende Kindlichkeit, würde darum kämpfen, die Liebe zu erhalten, die es nie für mich gab, würde darum kämpfen, krank zu bleiben. Nichts ist nicht sehr erfreulich. Nichts ist erfreulich. So ist das nun mal.

 

12. Juli Heute endet die zwanzigste Therapiewoche. Ich bin nicht in der Stimmung, Schlußfolgerungen über mich zu ziehen oder auch nur etwas zu schreiben, das womöglich wie Eigenlob klingt, doch möchte ich einige wichtige Dinge über mich sagen. Vor zwanzig Wochen saß ich in der Tinte. Ich habe schon in diesem Tagebuch beschrieben, worin meine Schwierigkeiten und Verrücktheit(en) bestanden.

 

 

  Wenn ich mich heute ansehe und empfinde, wie es mit mir steht, dann stellt es sich mir so dar:  

1. Ich bin fast völlig frei von zwanghaftem Verhalten. Ich rauche nicht mehr, habe das zu-viel-Essen stark eingeschränkt und esse nie zwischen den Mahlzeiten. Nägel gekaut oder übermäßig viel Alkohol getrunken habe ich nie, so daß das kein Problem war. Allerdings habe ich mir Wein zu den Mahlzeiten versagt, und jetzt, da ich Wein trinken könnte, tue ich es nicht. Früher hielt ich es für >weltmännisch< oder dergleichen, wenn ich zu den Mahlzeiten Wein trank.

2. Ich bin selten feindselig. Früher war ich jedem gegenüber feindselig, mit dem ich in Berührung kam. Das heißt Verkehrspolizisten, Lehrer, Ärzte, Parkplatzwächter, Tankstellenwärter, Kellnerinnen und so weiter. Prügeleien waren in meinem neunzehnten Lebensjahr eine Selbstverständlichkeit und fanden dann und wann auch noch in den beiden nächsten Jahren statt. Ich befleißigte mich, hochnäsig und mißmutig auszusehen, und bediente mich einer dreckigen, gemeinen Ausdrucksweise, mit der ich bei der geringsten Provokation jederzeit jeden überschüttete. Heute — und das begann schon nach zwei Therapiewochen — bin ich praktisch demütig. Ich schäme mich nicht einmal, dieses Wort auf mich anzuwenden. Ich bin einfach ein schlechthin freundlicher Mensch. Meine berufliche Tätigkeit bringt mich in Kontakt mit Erwachsenen, die immer noch kämpfen, und mit anderen, die Kraftausdrücke gebrauchen oder aufreizende Reden führen, und ich bleibe unnahbar. Das ist schön für mich. Ich lasse mich auf keinerlei Streit mehr ein.

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3. Mißgestimmt bin ich nur manchmal, wenn ich Gefühle verleugne. Tatsächlich bin ich so selten mißgestimmt, daß ich mich kaum erinnern kann, wann es das letztemal war. Aber früher war ich dauernd mißgestimmt. Da wachte ich schon mißmutig und angekotzt auf und blieb gewöhnlich verdrossen, meist den ganzen Tag. Früher kam es gelegentlich vor, daß ich heiter war. Jetzt bin ich meistens ausgeglichen und im allgemeinen heiter. Das ist nicht >gemacht< oder überlegt — es ist einfach so. Morgens wache ich gewöhnlich ohne Wecker auf und lächle tatsächlich meine Frau an. Leuten, die ich kenne, sage ich Guten Morgen, und einigen von ihnen lächle ich sogar zu. Für andere mag das selbstverständlich sein, aber für mich und meine Frau ist es neu und wunderbar.

 

4. Ich bin überaus tüchtig (im Gegensatz zu leistungsfähig, das sind nämlich Maschinen) oder produktiv bei allem, was ich tagtäglich tue. Mit anderen Worten, weil ich nicht eine Menge Verrücktheit in Kopf und Bauch habe, die mich zwingt, verrückt zu sein, kann ich zum Dienst gehen und die Arbeit eines Achtstundentages in etwa fünfeinhalb bis sechseinhalb Stunden schaffen. Ich wache später auf, wenn ich will, und gehe früher heim, wenn ich will. Ich habe einen wichtigen Posten inne und bin auf meinem Gebiet der einzige im ganzen Land, der das tun kann, was ich tue. Merkwürdig ist, daß praktisch niemand versteht, was ich tue, dennoch habe ich die neurotische Beflissenheit abgelegt, überall herumzurennen und den Leuten (Eltern) zu erklären, was ich tue, bloß um Anerkennung zu finden. Entweder sie verstehen es oder nicht — das ist allein ihr Bier. Meine Tüchtigkeit erstreckt sich auch noch auf andere Bereiche, zum Beispiel bin ich jetzt geschickter, wenn irgendwo kleinere Reparaturen durchzuführen sind; ich kann präzise Ratschläge geben, wenn ich darum gebeten werde, oder sozusagen etwas >hinbiegen<.

 

5. Mein Leben ist wohlgeordnet, ausgeglichen (im Gegensatz zu gut organisiert). Das mag wie Anti-Leben klingen, aber im Gegenteil, >wohlgeordnet < gewährleistet, daß ich ein genußreiches Leben führe und Zeit habe, es zu genießen. Ich pflegte meine Angelegenheiten ungewöhnlich stümperhaft zu erledigen; alles, was ich tat, war Pfusch. Ich kümmerte mich um nichts - Rechnungen, Strafzettel für falsches Parken bezahlen usw. Jetzt wende ich weniger Energie und Zeit auf, weil ich gleich erledige, was erledigt werden muß, und damit hat's sich. Das ist wirklich eine Art Selbsterhaltung. Weil ich einen gewissen Wert für mich habe, weil ich am Leben bin und es mir gefällt, sorge ich auch gern für mich, und das kann bedeuten sicherzustellen, daß das, was getan werden muß, mit einem Minimum an Mühe und Schweiß getan wird.

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6.  Ich bin ziemlich oft <ganz von selbst> intelligenter. Das mag eingebildet klingen; doch während ich früher <glaubte>, gescheit zu sein, bin ich heute meine Intelligenz. So brauche ich mir nicht den Kopf mit wissenswerten Tatsachen über irgendein Thema vollzustopfen, es sei denn, ich bin daran interessiert, etwas darüber zu wissen — was ich gewöhnlich nicht bin. Ich spreche von Intelligenz in dem Sinne, daß ich weiß, was mit mir vorgeht, woran ich bin. Wenn ich das fühle, dann habe ich eine Art natürliche Gescheitheit. Meine Lektüre hat sich in den letzten zwanzig Wochen auf drei Bücher beschränkt — drei sehr erfreuliche Romane. Früher war ich für meinen gierigen Lesehunger bekannt. Ich verputzte gewöhnlich drei bis vier Bücher in der Woche. Ich besitze die angeborene oder anerzogene Fähigkeit, gut und rasch zu lesen und das, was ich lese, ganz zu verstehen. Jetzt lese ich nicht mehr.

 

7.  Ich mache mir nichts mehr aus Geselligkeit und bin gern einfach mit mir zusammen, allein. Früher sorgte ich dafür, daß ich immer etwas vorhatte, und war der Meinung, Alleinsein sei kennzeichnend für einen trotteligen Spießer. Das hat sich völlig geändert. Allein bin ich, war es immer, werde es immer sein, und das Gefühl, daß es mir freisteht, allein zu sein, ist köstlich. Je länger ich die Therapie fortsetze, um so reiner wird mein Alleinsein. Damit meine ich, daß vor zwei Monaten zum Alleinsein noch gehörte, allein ein Buch zu lesen, allein auf der Couch zu liegen, allein spazierenzugehen. Seitdem ist daraus schlicht Alleinsein geworden, mit anderen Worten: allein absolut nichts zu tun. Das heißt, ich kann allein auf der Couch Hegen, ohne daß der Plattenspieler laufen muß. Allein bedeutet allein, und es ist köstlich.

 

8.  Ich erfreue mich völliger physischer Gesundheit, denn ich bin relativ spannungsfrei. Physische Leiden und Krankheiten gehörten bei mir immer dazu. Ich erwartete - und bekam dann auch - jedes Jahr vier oder fünf sehr schwere Erkältungen und Bron-chitiden. Seit Januar habe ich eine einzige Erkältung gehabt. Jahrelang hatte ich vier- oder fünfmal in der Woche Kopfschmerzen. Jetzt habe ich, seit die Therapie begann, alle drei Wochen einmal Kopfschmerzen gehabt, und dann brauchte ich mich bloß hinzulegen und zu fühlen, was für ein Schmerz das war, und sofort verschwand er spurlos. Auch Magenübersäuerung war eine ständige - wirklich ständige - Schmerzquelle. Ich bin fast völlig frei davon, abgesehen von etwas Sodbrennen nach Orangensaft oder Tomaten usw. Ich lutsche keine Tums oder Rolaids mehr, wovon ich früher eine halbe Rolle täglich konsumierte.

 

9.  Im allgemeinen bin ich alert und habe ein neues Gefühl von Klarheit. Das könnte eine Folge von Nr. 6 sein. Was ich meine, ist, daß ich gewöhnlich deutlich und genau wahrnehme, was um mich herum vorgeht. Ich habe ein Gespür für Gefahr und die Unterhaltungen anderer Leute. Denn wenn ich mich fühle, dann kann ich fast wie ein Hellseher vorausschauen. Das soll nicht heißen, daß ich herumlaufe und etwas aushecke und mir etwa überlege: »Aha, ich weiß, was er sagen wird, also werde ich dies und das sagen.« Es bedeutet einfach, daß ich weiß — fühle —, was vorgeht.

 

10.  Ich bin ein zartfühlender Mensch (im Gegensatz zu meinem früheren <Rabaukentum>) und freue mich an zarten, schönen Dingen. So war ich nie — nichts erschien mir zart und schön. Heute versorge ich gern die Blumen und beobachte, wie sie wachsen; ich höre gern das Lachen der Kinder auf der Straße. Ich streichle gern Hunde. Ich hatte so gut wie gar keine Ehrfurcht vor dem Leben außer dem menschlichen. Zum Beispiel habe ich mit fünfundzwanzig Jahren zum erstenmal ein Kätzchen auf den Arm genommen. Ich habe viel von dem verrohten Gebaren des irrealen Ich verloren und lasse jetzt das reale Ich zum Vorschein kommen.

 

11.  Das Leben ist kein Kampf. Diese Weisheit vermochte ich niemals zuvor zu empfinden. Für mich bedeutet das Leben oder zu leben nicht, einen Kampf oder eine Schlacht zu gewinnen; es bedeutet, den Kampf, das Kämpfen aufzugeben. Wann immer ich zu kämpfen beginne (nicht das Baby sein wollen oder versuchen, irreal zu sein), dann gerate ich in Schwierigkeiten. Ich brauche nichts zu tun als einfach zu sein, und das Leben könnte trotz des Auf und Ab immer schön sein.

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Das ist ungefähr alles, was ich zu Papier bringen wollte. Manches, was ich hier geschrieben habe, erfordert vielleicht eine ausführlichere Darstellung. Ich weiß nur, daß ich es ganz verstehe. Ich habe keinerlei Hemmungen gehabt und ganz unbefangen geschrieben. Ich habe einfach zugelassen, daß ich mich auszog und über die Seiten wanderte: Wenn ich stinke, stinke ich; wenn ich mies aussehe, sehe ich mies aus.

Doch nackt zu sein, war mein erster Schritt, und wenn ich immer noch ein wenig irreal aussehe, dann darum, weil ich es wahrscheinlich bin. Aber wieviel Irrealität bei mir auch noch vorhanden sein mag, es gibt ein neues Gefühl der Unausweichlichkeit in meinem Leben, der Unausweichlichkeit, daß das Ende aller Irrealität erreicht werden wird. Es ist unmöglich, meine Behauptung zu widerlegen, daß mir die Primärtherapie das Leben gerettet hat, und ebensowenig kann ich es einem anderen gegenüber beweisen.

Die ganze Frage des Beweisens ist sowieso belanglos. Für mich genügt es zu wissen, daß sich mein Leben aufs beste verändert hat, denn es ist ein realeres Leben und wird jeden Tag noch realer — langsam, aber sicher. Und ich weiß, daß es realer ist, denn je stärker ich das Böse und Verderbte und die Häßlichkeit und Verzweiflung empfinde, um so mehr fühle ich mich gut, rein, mich selbst liebend, hübsch und liebevoll. Die Dialektik war nie angemessener als bei dieser Therapie.

190-191

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