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17  Der Ursprung von Zorn und Furcht  

 

Arthur Janov 1970

 

 

  Zorn   

280-309

Einer der Mythen über die Menschen besagt, daß wir unter unserem friedlichen Äußeren ein brodelnder Kessel voll Wut und Gewalttätigkeit seien und allein durch die Gesellschaft in Schach gehalten werden. Wenn das Überwachungssystem versage, breche die dem Menschen angeborene Gewalttätigkeit hervor und habe Kriege und Massenvernichtungen zur Folge.

Mir fällt indes immer wieder auf, wie unaggressiv und verträglich Menschen sind, wenn ihre sogenannte zivilisierte Fassade beseitigt wird. Primärtherapeutische Patienten, die reizoffen und abwehrlos sind, sind nicht zornig. Es gibt keine Wut. Vielleicht ist es gerade der Zivilisations­prozeß, der bewirkt, daß die Menschen untereinander so unzivilisiert sind, und Frustration und Feindseligkeit erzeugt. Zivilisiert zu sein bedeutet oft, daß man seine Gefühle in der Gewalt hat, und diese Beherrschung mag der Ursprung der inneren Wut sein.

Ich glaube, der zornige Mensch ist der ungeliebte Mensch — der Mensch, der nicht sein durfte, was er war. Er ist gewöhnlich zornig auf seine Eltern und zornig auf sich, weil er diese Verleugnung des Selbst fortsetzt. Aber das Bedürfnis ist der Ausgangspunkt; Zorn ist sekundär — er tritt erst auf, wenn das Bedürfnis nicht befriedigt wird. Wenn wir den Verlauf der Primärtherapie betrachten, sehen wir eine Aufeinanderfolge, die mit ihrem Mangel an Abweichungen fast mathematisch ist. Bei den ersten Urerlebnissen handelt es sich um Zorn, die zweite Gruppe von Urerlebnissen hat mit Schmerz zu tun, und die dritte mit dem Bedürfnis nach Liebe. Das Bedürfnis und seine nicht erfolgte Befriedigung sind gewöhnlich der größte Schmerz.

Die Reihenfolge der Urerlebnisse ist wie das Leben in umgekehrtem Ablauf. Zuerst kam früh im Leben das Bedürfnis nach Liebe, dann der Schmerz, weil die Liebe nicht zu haben war, und schließlich der Zorn, um den Schmerz zu lindern. Oft hat der Neurotiker die erste und zweite Stufe vergessen und sieht sich jetzt einem unerklärlichen Zorn gegenüber. Aber der Zorn ist, wie Depression, eine Reaktion auf Schmerz, nicht eine grundlegende Eigentümlichkeit des Menschen.

Manchmal ist es für ein kleines Kind einfacher, Zorn zu verspüren, als dieses entsetzliche Gefühl von Einsamkeit und Ablehnung zu ertragen, das dem Zorn zugrunde liegt, und deshalb tut es so, als ob sein Gefühl, ungeliebt und einsam zu sein, etwas anderes sei: Haß. Aber in der Primärtherapie sind die Patienten selten lediglich von Haß gegen ihre Eltern erfüllt. Es ist eine Sache des »Liebt mich, bitte. Warum könnt ihr mich nicht lieben, ihr Scheusäler!« 

Wenn der Neurotiker erwachsen ist, neigt er zu der Annahme, sein einziges Gefühl sei Haß, aber in der Therapie entdeckt er, daß Haß nur ein weiterer Deckmantel ist, den er über das Bedürfnis gebreitet hat. Sobald das Bedürfnis empfunden ist, bleibt kaum Zorn zurück. In primärtherapeutischen Gruppen findet man zum Beispiel fast nie den Austausch von Feindseligkeiten unter den Mitgliedern wie vielleicht in konventionellen Gruppentherapien. Auch gibt es keinen Zorn auf den Therapeuten. Nur eine große Menge Schmerz.

Wut hat man nach Ansicht der Primärtheorie auf jemanden, der einem nach dem Leben trachtet. Wir dürfen nicht vergessen, daß in einer Beziehung neurotische Eltern unbewußt ihre Kinder umbringen; sie morden das reale Selbst ihrer Sprößlinge; der psycho-physische Tod ist ein realer Prozeß, bei dem ihnen das Leben abgepreßt wird. Das Ergebnis ist Haß: »Ich hasse euch, weil ihr mich nicht leben laßt.« Wer etwas anderes ist als er selber, der ist tot.

Wenn der Neurotiker das Bedürfnis nach Liebe unterdrückt und nur Zorn empfindet, dann wird er vielleicht tagtäglich versuchen, den Zorn an symbolischen Objekten auszulassen, an seiner Frau, seinen Kindern oder seinen Angestellten. Weil er nicht die richtige Verbindung zum Ursprung seines Zorns herstellt, läßt er ihn vielleicht auf irreale Weise aus. Ein Patient, ein gewöhnlich höflicher und zurückhaltender Mann, war zum Beispiel entsetzt über das, was er gerade seiner Frau angetan hatte: er hatte ihr ins Gesicht gespuckt. Warum? Weil sie ihm nicht glauben wollte, als er ihr sagte, wo er eines Morgens hingegangen war. In der Primärtherapie empfand er seine Wut darüber, daß ihm seine Eltern nie etwas geglaubt hatten. Jahre später hat er es dann leider an seiner Frau ausgelassen.

Wenn man Zorn real macht, verschwindet er. Bis das geschieht, werden viele Zornesausbrüche gegen Leute in der Gegenwart ein bloßer Akt und daher nicht real sein. Natürlich gibt es auch realen Zorn, der nicht aus der Vergangenheit herrührt. Wenn jemand bei der Reparatur Ihres Wagens pfuscht, kann Zorn berechtigt sein, aber tägliche unangemessene Wutanfälle bedeuten, daß die Vergangenheit die Oberhand hat. Und das bedeutet, daß der Neurotiker immer nahe daran ist, jetzt zu fühlen, was er damals verleugnete. Was in der Kindheit unaufgelöst blieb, wird in fast alles eindringen, was jemand später im Leben tut, bis es aufgelöst ist.

Ich halte die Unterscheidung zwischen realem Zorn und symbolischem Zorn für wichtig. An einem Beispiel läßt sich das deutlich machen.

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Eine junge Lehrerin mit einem ständigen Lächeln auf den Lippen und einem gewinnenden Wesen kam wegen anhaltender Muskelverspannung zur Therapie. Bei ihrem zweiten Besuch sprach sie davon, daß ihr Vater sie immer kritisiert und verspottet, sich über sie lustig gemacht und sie ausgelacht habe. Plötzlich wurde sie wütend und schlug mehr als fünf Minuten lang auf das Kissen. Nachher fühlte sie sich entspannt und sagte, sie habe keine Ahnung gehabt, daß so viel Zorn in ihr war.

Die Spannung hielt indes an. Bei ihrem fünften Besuch sprach sie wieder von früheren Ungerechtigkeiten, und die Gefühle stiegen erneut in ihr auf. Diesmal ließ ich nicht zu, daß sie auf das Kissen schlug, sondern drängte sie: »Sagen Sie, was es ist.« Sie begann heftig und unbändig zu zittern und faßte gleichzeitig ihren Haß in Worte - daß sie sie erwürgen würde, daß sie ihren Vater umbringen würde wegen all dem Schmerz, den er ihr zugefügt hat, ohne daß sie sich je verteidigen konnte, daß sie ihre Mutter erdolchen würde, weil sie es zugelassen hat usw. All das wurde geschrien, und dabei wand sie sich, stöhnte, hielt sich den Magen und hatte ihre Selbstbeherrschung völlig verloren. Auf dem Höhepunkt dieses Geschehens schrie sie: »Jetzt weiß ich es, jetzt weiß ich es - meine Muskeln waren verspannt, um mich davon zurückzuhalten, sie anzugreifen«, und dann gab es noch mehr verbale Gewalttätigkeit.

Diese Frau kann sich nicht erinnern, daß sie je in ihrem Leben die Stimme erhoben hatte. Sie wurde immer ermahnt, leise zu sprechen, denn in einem vornehmen Haus wie dem ihren hatten sich junge Damen gesittet zu benehmen. Nach diesem letzten Urerlebnis sagte sie, daß sie sich zum erstenmal in ihrem Leben gelöst und unberechenbar gefühlt habe. Sie hatte all diese Jahre an ihrem (irrealen) Selbst festgehalten, um zu verhindern, daß ihre Eltern sie völlig ablehnten, falls sie je ihren Gefühlen freien Lauf lassen und ihr (reales) Selbst werden sollte.

Die Therapie dieser Frau mußte notwendigerweise in Etappen vor sich gehen. Erstens war sie ihr Leben lang in einer vagen und diffusen Spannung gewesen, die zu Knotenbildung führte. Beim ersten Urerlebnis handelte es sich darum, hinter diese Spannung zu kommen und den physischen Teil des Zorns zu spüren, überhaupt zu erkennen, daß sie zornig war. Später schlug sie auf ein Kissen, weil sie den geistigen Zusammenhang noch nicht hergestellt hatte. Daß sie das Kissen schlug, war symbolisches Ausagieren. Der Zorn wurde empfunden, aber nicht in die richtige Richtung gelenkt (das ist der Grund, warum jeder hartnäckige Zorn weiterbesteht). Natürlich war sie nicht auf das Kissen wütend; das Kissen war ebenso ein symbolischer Gegenstand ihrer Wut, wie manche Kinder der Prügelknabe für zornige Eltern sind. Im Fall des abwehr- und hilflosen Kindes können die zornigen Eltern leider gewöhnlich irgend etwas finden, das nicht in Ordnung ist und somit ihre Wut rechtfertigt.

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Nachdem diese Frau einmal die wichtige Verbindung hergestellt hatte, verschwanden ihr Zorn und selbst­verständlich auch die chronische Muskel­verspannung, die sie den größten Teil ihres Lebens geplagt hatte. Sie hätte tage- und jahrelang auf das Kissen schlagen können, ohne daß es an dem Zorn etwas geändert hätte. Möglicherweise hätte sie vorübergehend Erleichterung verspürt, aber nach einiger Zeit wäre der Zorn wieder dagewesen.

In ihrer früheren Therapie war die Frau ermuntert worden, ihre Feindseligkeit Angehörigen der Therapiegruppe gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Sie hatte das Gefühl, daß sie in ihrer Therapie Fortschritte machte, eine selbstbewußte Person zu werden, aber die Verspannung und Schulterschmerzen hielten an. Das lag daran, daß ihr realer Kleinmädchenärger anhielt. Gleichgültig, wie <erwachsen> man in der Therapie oder im Leben agiert, es kann nur ein Akt sein, der wenig Einfluß auf die eigene Reife hat, solange das <kleine Mädchen> nicht gefühlt worden ist.

Meiner Ansicht nach wird nichts weiter geschehen, als daß das reale, hilflose und passive Selbst so tut, als sei es selbstbewußt, besonders in der gefahrlosen Atmosphäre der Gruppentherapie. In der Therapie bringt ein <braves> Mädchen seinen Zorn ebenso zum Ausdruck, wie es ihn zu Hause als braves Mädchen unterdrückt. Beide Verhaltensweisen sind immer noch der Kampf um Liebe. Das könnte auch erklären, warum die in der Gruppe an den Tag gelegte Aggressivität sich so selten auf die Fähigkeit übertrug, sich im täglichen Leben zu behaupten.

Der Unterschied zwischen realem und irrealem oder symbolischem Zorn ist wichtig, denn ich glaube, die fehlende Unterscheidung hat zu einer Reihe therapeutischer Verzerrungen geführt. So wird in der Kinder-Psychotherapie viel Zeit auf das Punchingball-Boxen der Kinder verwandt. Auf der Ebene der Erwachsenen sind es die sogenannten Kampfkliniken, in denen Ehepartner in einen Raum gesetzt werden, wo sie lernen, wie sie sich bei Auseinandersetzungen untereinander anzugreifen und zu verteidigen haben.

All das ist symbolisch und kann daher meiner Meinung nach nichts auf reale Weise auflösen. Die Frau, über die ich oben gesprochen habe, war zornig auf ihre Gruppengenossen, aber sie war nicht in Wirklichkeit zornig auf sie. Etwas, was sie taten, löste ihren alten Zorn aus. Als sie von ihnen ignoriert, kritisiert, unterbrochen oder unterdrückt wurde, wurde die Wut auf ihre Eltern ausgelöst, nur wußte sie nicht, daß es ein altes Gefühl war. Die Heftigkeit ihres Zorns auf Gruppenmitglieder war, nachdem er einmal in Worte gefaßt war, tatsächlich unmäßig und irrational. Es ist ähnlich, wie wenn man in der Zeitung liest, eine Frau habe ihren Mann ermordet, weil er den Müll nicht hinausbringen wollte — etwas aus der Vergangenheit löste die Gewalttätigkeiten aus. Es trägt auch zur Erklärung bei, warum manche Eltern davor Angst haben, ihr Kind wegen irgendeiner Kleinigkeit zu verhauen.

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Sie begründen das damit, daß ihre Auffassung von Kindererziehung ihnen verbiete, ein Kind zu schlagen, während sie in Wirklichkeit davor zittern — aber nicht zugeben, daß es Angst ist —, daß irgend etwas Belangloses, das ein Kind tut, ihre gesamte latente Gewalttätigkeit freisetzen könnte.

Einer der Gründe, warum es Kampfkliniken gibt und in der Gruppentherapie zu feindseligen Äußerungen ermuntert wird, ist möglicherweise, daß Zorn oder Gewalttätigkeit als etwas Natürliches angesehen werden, das von Zeit zu Zeit einer Abfuhr bedarf - >Aggressionstrieb< ist der Freudsche Ausdruck. Es ist für Psychologen besonders verlockend, an diesen sogenannten Trieb zu glauben, weil wir bei unseren Patienten tatsächlich viel Feindseligkeit sehen. Wir sehen diese Gewalttätigkeit und sonst wenig, weil wir den Patienten nicht tiefer in sein Fühlen, in sein Bedürfnis versetzt haben. Was wir sehen, ist das, was über dem Bedürfnis liegt, nämlich die Frustrationsreaktion auf das Bedürfnis.

Weil wir an einen aggressiven Trieb glauben, haben wir bei unseren Therapien oft Zeit darauf verwandt, den Patienten zu helfen, mit ihren Aggressionen >fertigzuwerden<, das heißt, sie in Schach zu halten. Ich glaube, wir müssen das Gegenteil tun. Wir müssen den Zorn voll empfinden, um ihn auszumerzen. Wenn jemand sich selbst fühlen kann, statt seine Gefühle symbolisch auszuagieren, wird er wahrscheinlich weder impulsiv noch aggressiv agieren. Die Dialektik des Zorns ist wie beim Urschmerz, daß er verschwindet, wenn er empfunden wird, und wenn er nicht empfunden wird, bleibt er bestehen und wartet darauf, empfunden zu werden.

Der Begriff, mit sich selbst fertigzuwerden, schließt die neurotische Spaltung ein. Eben die Spaltung ist gefährlich, denn sie bedeutet, daß verleugnete Gefühle in Schach gehalten werden müssen. Deshalb ist ein sprunghafter, spontaner und unbeherrschter Mensch am wenigsten inneren Aggressionen ausgesetzt.

Ich möchte noch einmal klar herausstellen, daß Spontaneität Fühlen bedeutet, während Impulsivität die Folge der Verleugnung von Gefühlen ist. Ein impulsiver Mensch wird daher tatsächlich leicht aggressiv ausagieren und braucht Beherrschung. Im Lauf der Jahre haben wir den impulsiven Menschen vielleicht als frei und anarchisch angesehen und dabei vergessen, daß er gewöhnlich der Gefangene alter Gefühle ist, die er auf eine bestimmte Weise ausagiert, und daß er keineswegs Freiheit oder Anarchie ausagiert, wie es scheint.

Jemand kann tagtäglich aus der Haut fahren und sich gar nicht darüber klar sein, daß er ein zorniger Mensch ist. Gewöhnlich versteht er es, die Dinge so zu deichseln, daß der Zorn gerechtfertigt erscheint und er dessen Ursprung nicht zu fühlen braucht. Wenn der Neurotiker nichts finden kann, das seinen Zorn rechtfertigt, dann können wir sicher sein, daß er irgend etwas Harmloses mißdeuten wird, um einen Abfluß für seinen überströmenden Zorn zu haben. Mißdeutung scheint im allgemeinen auf ein unterdrücktes Bedürfnis hinzuweisen und ist nicht einfach eine Frage der Semantik.

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Was den Neurotiker in Zorn bringt, hängt von der frühen Situation ab, die seine Verletzung verursachte. Eine Patientin wurde zum Beispiel wütend, weil ihre Kinder ihr nicht im Haus halfen. Sie verprügelte sie heftig, weil sie nicht hinter sich aufräumten. Wie sich dann herausstellte, war ihr Gefühl: »Ich habe so schwer gearbeitet, und allen scheint es egal zu sein, und niemand erkennt meine Leistung an« - und das war ein Gefühl, das sie ihrer Mutter gegenüber gehegt hatte, für die sie, seit sie acht Jahre alt war, den Hausputz erledigen mußte.

Ein anderer Patient wurde wütend, wenn man ihn warten ließ. Jedesmal, wenn er als Kind seinen Vater bat, mit ihm zu spielen, antwortete der Vater: »Später. Ich hab gerade was zu tun.« Das <später> kam nie, dafür aber Wut. 

Das Problem ist oft, daß das Kind frustriert und wütend wird und dann seine Gefühle nicht einmal zeigen darf, so daß es zu Ersatzfreisetzungen gezwungen wird - Prügeleien in der Schule, Kopfschmerzen, Allergien usw. Auf diese Weise wird ein Kind seiner Bedürfhisse beraubt und dann wiederum seiner Gefühle über die Nichtbefriedigung seiner Bedürfnisse; es büßt zweimal etwas ein. Und zu alledem kann es auch passieren, wenn das wütende Kind dann mißmutig aussieht, daß ihm gesagt wird: »Lächle! Warum machst du so ein Gesicht?« 

So ist es dann dreimal beraubt und zieht sich weiter in sich selbst zurück, um die Gefühle zu verbergen.

 

Hoher Blutdruck ist möglicherweise eine Folge dieser tiefen Verdrängung von Zorn. Wenn Patienten, die zu hohem Blutdruck neigen, ihre zornigen Urerlebnisse hinter sich haben, stellen wir oft eine Blutdrucksenkung fest. Wenn man sich das als ein Hineinpumpen von immer stärkerem Druck in den Organismus vorstellt, bis sich dieser Druck auf das ganze Blutsystem auswirkt, dann ist es leicht verständlich, wie heftig der Betreffende möglicherweise werden kann, wenn die Hemmungen fortfallen. Umgekehrt wird eine Druckerhöhung verständlich, wenn ständig Hemmungen auferlegt werden.

Die heutige Spaltung in der amerikanischen Kultur zwischen der Familienethik und der Gesellschaftsethik ist besonders scharf. Der >brave< Junge zu Hause gibt nie freche Antworten oder läßt seinen Eltern gegenüber Zorn erkennen, während der >brave< Junge in der Gesellschaft für sein Vaterland tötet. Der eine wird die Voraussetzung für den anderen; derselbe Junge unterdrückt vielleicht sich selbst und vernichtet andere, um >brav< zu sein.

Zorn wird oft von Eltern gesät, die ihre Kinder als eine Verleugnung ihres eigenen Lebens sehen. Daß sie früh geheiratet haben und sich jahrelang für anspruchsvolle Säuglinge und Kleinkinder aufopfern mußten, ist etwas, womit sich diejenigen Eltern nicht abfinden können, die niemals wirklich Gelegenheit hatten, frei und glücklich zu sein.

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Darunter muß dann oft das Kind leiden. Es muß dafür bezahlen, daß es lebt, denn die bloße Tatsache seines Daseins stellt eine Verleugnung der Freiheit seiner Eltern dar. Das Kind wird bald genug bestraft. Es darf seine Wünsche (die <Forderungen stellen> genannt werden) nicht erkennen lassen, es darf nicht wimmern, schreien oder überhaupt gehört werden. Später bekommt es dann einen ganzen Schwall von Befehlen, die ausgeführt werden müssen, damit es sich das Recht verdient, am Leben zu sein. Es wird tagtäglich darauf vorbereitet, für sich selbst zu sorgen, nicht um Hilfe zu bitten, und zu guter Letzt die Pflichten und Verantwortlichkeiten der Eltern zu übernehmen. 

Es wird schon früh im Leben spüren, daß es im Wege ist, und verzweifelt versuchen, für ein Verbrechen zu büßen, das es nicht begangen hat. Es wird zu schnell groß werden, zu viel auf sich nehmen, bloß um reizbare Eltern zu beschwichtigen, die es ohne jeden Grund hassen. Ein Patient, der der Anlaß war, daß seine Eltern als Teenager heiraten mußten, sagte: »Ich habe zeit meines Lebens nach Gründen für mein chaotisches Leben geforscht. All diese Vorwürfe und Standpauken bei den harmlosesten Dingen, die ich tat. Schließlich studierte ich dann Philosophie, um nach dem Grund des Lebens zu forschen - ich meine, um die Tatsache zu verhüllen, daß es keinen vernünftigen Grund für das gab, was bei uns zu Hause vorging.«

Es gibt so wenig postprimären Zorn, glaube ich, weil Zorn invertierte Hoffnung ist. Die Hoffnung bei dieser Art Zorn besteht darin, aus den Eltern anständige, fühlende Menschen zu machen. Die Phantasie einiger meiner Patienten, die schon eine konventionelle Therapie hinter sich hatten, war zum Beispiel, sie wollten ihre Eltern aufsuchen und sie mit allen Kränkungen konfrontieren, die sie von ihnen einstecken mußten. Aber mit inbegriffen in dieser Konfrontation ist die Hoffnung, daß die Eltern einsehen werden, wie entsetzlich sie sich benommen haben, und nun bessere, liebevolle Menschen werden.

Wenn primärtherapeutische Patienten noch zornig sind, dann halte ich das für ein Zeichen von Neurose. Erstens, weil es auf irreale Hoffnung hinweist. Zweitens, weil Zorn bedeutet, daß das kleine Kind noch die Eltern haben will und sich nicht von ihnen gelöst hat. Es gibt keinen erwachsenen Zorn, wenn der Patient jetzt wirklich ein realer Erwachsener ist, und zwar aus demselben Grunde, aus dem der Patient sich über die neurotischen Mätzchen irgendeines anderen, den er trifft, nicht ärgern Würde. Er wäre ein Erwachsener, der die Neurose seiner Eltern objektiv erkennt. (Objektivität ist das Fehlen unbewußter Gefühle, die bewirken, daß jemand die Realität von seinem Urschmerz ab- und auf die Bedürfniserfüllung lenkt).

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Sie wären für ihn einfach zwei weitere neurotische Erwachsene. Zorn auf die Eltern gibt es nur, wenn jemand will, daß seine Eltern sich ändern und werden, was er braucht. Wenn die Bedürfnisse empfunden werden und vergehen, dann ist auch der Zorn vergangen.

Was in den primärtherapeutischen Patienten zurückbleibt, ist die starke Empfindung von der tragischen Öde ihrer Kindheit. Gleichzeitig sind sie überaus erleichtert, daß der lebenslange Kampf vorbei ist. Diese Patienten sind nicht daran interessiert, sich für die Vergangenheit zu rächen; sie sind mehr daran interessiert, ihr jetziges Leben in der Gegenwart zu fuhren.

 

   Eifersucht  

 

Eifersucht ist Zorn in anderer Gestalt. Auch sie wird dadurch verursacht, daß die fehlende elterliche Liebe empfunden wird. Weil das Kind den Eltern gegenüber keine direkte Feindseligkeit bezeugen darf, wird diese auf die Geschwister abgelenkt. Aber gewöhnlich ist das Kind auf seine Brüder oder Schwestern nicht zornig; sie sind nur Symbole, auf die sich der Haß konzentriert.

Warum ist ein Kind so zornig und eifersüchtig? 

Vielleicht, weil die Eltern den Kindern früh im Leben die Vorstellung vermitteln, daß Liebe gewissermaßen eine beschränkte Quantität ist, die sich rasch verbraucht. Sie sagen zum Beispiel: »Schau deinen Bruder an. Er hat seinen Teller leergegessen (eine Tugend, die mir nie eingeleuchtet hat). Er wird das größte Stück Kuchen bekommen.« Oder: »Schau dir deine Schwester an. Sie hat ihr ganzes Zimmer aufgeräumt, deshalb darf sie ins Kino gehen.« Weil ein Kind bald erkennt, daß Liebe ausgeteilt wird, wenn man >brav< ist, und nicht, wenn man böse ist, glaubt es vielleicht, Liebe sei ein besonderes Geschenk. Eifersucht bedeutet, daß das Kind das Gefühl hat, es bekomme seinen Anteil nicht. Diesem Gefühl hegt die implizite Annahme zugrunde, daß es Anteile gibt. Diese Annahme Hegt nahe in neurotischen Familien, wo die Eltern nicht freigebig sind, sondern alles an >Bedingungen< knüpfen. Die Kinder müssen dann um alles kämpfen. Sie kämpfen auf dieselbe Weise wie Frauen beim Ausverkauf in einem Kaufhaus. Das Kind ist vielleicht auf andere Menschen zornig, weil sie ihm scheinbar seinen Anteil streitig machen.

Ganz und gar geliebt zu werden bedeutet, nicht eifersüchtig zu sein. Meiner Ansicht nach sind Kinder nicht von Natur aus eifersüchtig, ebensowenig wie sie von Natur aus zornig sind. Sie lassen es vielleicht an ihren Geschwistern aus, aber die Eltern sind es, die meistens fordern, kritisieren und dem Kind vorenthalten, was es braucht. Die Eltern sind es, die durch kindliches Verhalten leicht ungeduldig und nervös werden und vielleicht ein Kind dem anderen vorziehen.

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Was neurotische Eltern sehen, wenn sie ihre Kinder anschauen, ist Hoffnung: ein Bild dessen, was sie brauchen (Respekt, Schmeicheleien, Aufmerksamkeit). Sie unterhalten Beziehungen zu einem Symbol, nicht zu dem Kind. Das Kind, das das bekommt, was für Liebe gehalten wird, ist dasjenige, das diesem Bild nahekommt, das daher ein symbolischer Neurotiker wird statt einer Person, deren gesamten Gefühle ihre eigenen sind. Im großen und ganzen ist es das bevorzugte Kind, das in Grund und Boden zerstört wurde, und dennoch ist es dasjenige, das im Leben recht gut funktionieren kann. Das rebellische Kind, das sich nicht anpaßt und unterwirft, hat womöglich nie richtig funktioniert und ist dennoch dem Menschsein vielleicht viel näher als seine gut funktionierenden Geschwister.

Das arme Kind, das vorgezogen wird, wird oft von dem nicht vorgezogenen Kind geschlagen und muß in seiner Jugend für ein Verbrechen büßen, das seine Eltern begangen haben. Dafür, daß es ist, was seine Eltern brauchen, muß es den Preis bezahlen, daß es von seinen Geschwistern verspottet und aufgezogen wird. In einer Beziehung ist diese Eifersucht die Art und Weise, wie das benachteiligte Kind seinen Anteil zu bekommen versucht: Wenn es dem Lieblingskind schaden und es ausschalten kann, wenn es nur deutlich machen kann, daß das andere Kind etwas Böses getan hat, dann wird es selbst vielleicht ein wenig mehr geliebt.

Die Kindheitseifersucht (<Ich will meinen Anteil.>) setzt sich im späteren Leben fort. Das von seinen Eltern nicht beachtete, eifersüchtige Kind hat dann später selbst Kinder, die vom Vater verspottet und bestraft werden, wenn sie von ihrer Mutter Beachtung fordern. Seine Kinder werden den Preis dafür bezahlen. Dieses eifersüchtige Verhalten wird meiner Ansicht nach anhalten, bis der Betreffende den richtigen Kontext seines Zorns herausfindet und ihn voll empfindet. Dann brauchen seine Kinder nicht länger darunter zu leiden, daß ihr Vater in seiner Kindheit vernachlässigt wurde. Oft wird aus dem eifersüchtigen Kind der ehrgeizige Erwachsene, der immer mehr will, als alle anderen haben, der sich mit den Schwächen seines Kindes nicht abfinden kann, weil er >das beste< haben muß.

Das kleine Kind ist nicht nur zornig, weil es nicht geliebt wird, sondern auch frustriert, weil es niemandem Liebe schenken konnte. »Wenn sie nur gewußt hätten, wieviel ich ihnen zu geben hatte«, stöhnte ein Patient. »Statt dessen habe ich meine ganze Liebe dem Hund zugewandt.« Dazu kommt noch Verbitterung, weil das Kind nicht um die Liebe bitten durfte, die es brauchte. »Etwas zu brauchen war bei mir zu Hause ein Verbrechen«, sagte ein Patient. »Ich spürte, daß mein Vater, wenn ich zu ihm gesagt hätte: <Nimm mich in den Arm, Pappi>, mich ausgelacht und gesagt hätte, ich benehme mich wie ein kleines Mädchen.«

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Denjenigen, die glauben, Eifersucht und Feindseligkeit seien Naturtriebe des Menschen, kann ich versichern, daß die Träume von postprimären Patienten (ebenso wie ihr Tagesverhalten) frei von Zorn und Eifersucht sind. Wenn es ihnen gelingen würde, ihren Zorn tagsüber zu beherrschen, dann wäre anzunehmen, daß er nachts zum Vorschein kommt, wenn die Beherrschung gelockert ist. Das tut er offensichtlich nicht, und es ist ein Hinweis darauf, daß die Vorstellung von einem Aggressionsfundus irrig zu sein scheint; wenn es einen derartigen <Trieb> gibt, dann den, geliebt zu werden — das heißt, man selbst zu sein.

 

   Furcht  

 

Als mein Sohn zehn Jahre alt war, bekam er plötzlich nachts Angst, und ich konnte nicht verstehen, warum. Er fürchtete sich vor einem Mann im Schrank. Diese Furcht trat einen Monat lang immer wieder auf, und dann beschloß ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Eines Abends, als er ins Bett ging und mich bat, Radio und Licht anzulassen, brachte ich ihn zu einem Urerlebnis. Ich ließ ihn sich in das erschreckende Gefühl versenken und sich davon überrollen. Er begann zu zittern, seine Stimme wurde schrill und >gespenstisch<. Er sagte dauernd: »Ich will das nicht tun, Pappi, es ist zu erschreckend.«

Ich beharrte darauf. Als er sich in diesen Schrecken versenkte, drängte ich ihn, das Gefühl hinaus zuschreien. Schließlich sagte er: »Es gibt keine Wörter, Pappi. Mammi hält mich an meinen Windeln nach unten und versucht mich festzunageln oder dergleichen.« Er hatte Angst, er würde festgenagelt und fühlte sich völlig hilflos. Er sagte: »Weißt du, ich habe nie das Gefühl gehabt, daß der Mann im Schrank mich mit einem Revolver erschießen würde. Ich hatte das Gefühl, er würde mich festhalten und erwürgen.«

Was hat das hervorgerufen? 

Eines Nachmittags, kurz bevor die Furcht begann, habe ich mit ihm gerungen und seine Schultern auf den Boden gedrückt. Es schien nichts Traumatisches zu sein, und wir beide vergaßen es — bis zu seinem Urerlebnis. Während des Urerlebnisses ging seine Erinnerung zurück bis zu der Zeit, als er acht Monate alt war. Er erinnerte sich an die Form und Farbe der Wickelkommode. Nach dem Baden zappelte er so viel, als meine Frau ihn wickeln wollte, daß sie ihn schließlich gereizt und ärgerlich fest nach unten drückte. Dieses Erlebnis hatte ihn erschreckt.

Vom Standpunkt der Primärtheorie ist eine gegenwärtige, anhaltende, aber scheinbar irrationale Furcht im allgemeinen das Anzeichen für eine ältere und oft tiefere Furcht. Es ist eine Furcht von damals, nicht von jetzt, so daß der Versuch, jemandem eine irrationale Phobie, wie die Furcht meines Sohnes, auszureden, gleichbedeutend wäre mit dem Versuch, ihm eine Erinnerung auszureden. Die Furcht meines Sohnes bestand weiter, glaube ich, weil sich Gefühle von Hilflosigkeit mit dieser Erinnerung verbanden, die damals überwältigend waren.

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Der Grund für das Weiterbestehen einer Phobie ist, daß sie vom Urfundus der Furcht zehrt. Um ein altes Thema noch einmal aufzugreifen: Neurotische Ängste sind symbolische Ängste. Die realen Ängste können nicht ohne Hilfe und Unterstützung erreicht werden, so daß sich der Betreffende auf Ersatz konzentrieren muß. So kann es sein, daß er vor Fahrstühlen, Kellern, Höhen, Hunden, Steckdosen oder Menschenmengen Angst hat, wahrend seine Ängste in Wirklichkeit aus der Vergangenheit stammen. Man könnte sagen, die jetzigen Ängste sind wie Träume — ein Versuch, verallgemeinerte lebenslängliche Gefühle rational zu machen, die im gegenwärtigen Kontext irrational sind.

Indes handelt es sich um mehr als nur darum, alte Gefühle jetzt rational zu machen. Vielmehr werden diese Ängste auf symbolische Weise behandelt und in Schach gehalten. Irgendwie muß der Neurotiker glauben, wenn er sich in der Gewalt hat und >kühl< bleibt, dann brauche er sich nicht mehr zu ängstigen. Deshalb weicht der Neurotiker dem aus, was er fürchtet — oder was er zu fürchten glaubt. Er fliegt nicht mehr und vermeidet Höhen.

Diese Aktivitäten tragen oft dazu bei, die Ängste in Schach zu halten, indem sie isoliert und abgesondert werden. Doch sollte jemand einem scheinbaren Gegenstand seiner Furcht nahekommen, zum Beispiel einem hohen Balkon mit einem niedrigen Geländer, dann steigt die reale Furcht auf, die durch die gegenwärtige Situation symbolisiert wird. In Wirklichkeit wird der Neurotiker auf diesem Balkon vielleicht fürchten, die Kontrolle über selbstzerstörerische Gefühle zu verlieren, und nicht einfach Angst vor der Höhe zu haben.

Gegenwärtige Ängste — die oft einen Kern von Vernünftigkeit enthalten, zum Beispiel die Angst vor dem Fliegen — sind dem Neurotiker oft behilflich, der Tatsache auszuweichen, daß er einfach ein ängstlicher Mensch ist. Wäre er gezwungen, seine ständige Angst zu fühlen, würde das Leben womöglich unerträglich.

Ich glaube, es gibt zwei entscheidende Gründe für die Wahl einer irrealen Furcht (Phobie). Der erste ist das tatsächliche Auftreten eines realen Traumas, etwa ein Autounfall oder ein schwerer Sturz von einem Dach. Bei einem Neurotiker, der ein solches Erlebnis gehabt hat, kann die Furcht vor dem Autofahren oder vor Höhen länger bestehen, als es sich mit der Vernunft erklären läßt; sie kann lebenslänglich werden.

Oft überträgt der Neurotiker die Schlußfolgerungen aus einem einzelnen realen Erlebnis auf eine ganze Gruppe von Erlebnissen, die mit der ursprünglichen Furcht gar nicht in Zusammenhang stehen. Wer einmal von einem Dach herabstürzte, wird vielleicht später hohe Balkone vermeiden, obwohl beides nichts miteinander zu tun hat.

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Auf diese Weise sieht sich der Neurotiker genötigt, seine Ängste auszuweiten, weil ein einzelner Vorfall den Urfundus der Furcht geöffnet hat. Es ist dasselbe wie bei dem Neurotiker, der schlechte Erfahrungen mit seiner Mutter gemacht hat und daraus schließt, daß alle Frauen so seien. Verallgemeinerungen sind die Folge, wenn auf ursprüngliche Gefühle nicht reagiert wurde und sie nicht als das, was sie waren, aufgelöst wurden.

Der zweite Grund für die Annahme einer Phobie ist häufig der symbolische Wert der jetzigen Furcht. Wenn jemand niemals vom Dach gefallen ist oder einen Autounfall gehabt hat, dann erfordert seine Furchtsamkeit immer noch, daß er einen geeigneten Brennpunkt für seine Ängste findet. Im allgemeinen wird er etwas auswählen, das für die reale Furcht symbolisch ist. Jemand, der sich durch seine Eltern erdrückt fühlte, hat vielleicht Angst davor, in kleinen Räumen, etwa einem überfüllten Fahrstuhl, eingeschlossen zu werden.

Wer sich völlig vernachlässigt und von den Eltern nicht angeleitet vorkam, hat vielleicht Angst vor großen, offenen Flächen, wo er sich womöglich verirren und sich verloren fühlen (also das ursprüngliche Gefühl des Verlorenseins empfinden) könnte. Derselbe Mensch könnte übrigens eine Frau heiraten, die alles in die Hand nimmt und sein Leben lenkt und leitet, so daß er weiterhin ausagieren kann und sich nicht unangeleitet und verloren fühlt. Das ist meiner Ansicht nach signifikant, denn eine neurotische Furcht ist ein Teil des gesamten neurotischen Systems, nicht ein isoliertes Geschehnis. Versuche, die spezifische Furcht ohne Verbindung mit dem gesamten System zu behandeln, würden nur den betreffenden Teil des neurotischen Systems fortbestehen lassen und die Aufmerksamkeit des Patienten von der wahren Ursache ablenken.

Kürzlich wurde eine Frau zur Therapie überwiesen, weil sie eine ungewöhnliche Furcht vor Insekten hatte — nicht vor irgendwelchen Insekten, sondern vor großen schwarzen Spinnen. Wir befaßten uns nicht direkt mit der Furcht, aber nach mehreren Wochen der Behandlung begann die Patientin von ihren Gefühlen ihrem Vater gegenüber zu sprechen. Sie entdeckte, wie sehr sie sich gewöhnlich vor ihm geängstigt hatte. Sie erinnerte sich insbesondere einer Szene, bei der er wegen irgendeiner Belanglosigkeit über sie herfiel — er war ganz unberechenbar. Als sie die Szene wiedererlebte, war sie voller Furcht vor ihm und schrie: »Pappi, mach mir keine Angst mehr.« Das bahnte den Weg für ein anderes Gefühl: »Pappi, laß mich Angst haben.«

Er hatte sich immer so über ihre Gefühle lustig gemacht, daß sie sich scheute, Angst erkennen zu lassen. Das führte wiederum dazu, daß sie ganz intensiv empfand, daß seine Augen und sein >Aussehen< sie ihre ganze Kindheit hindurch erschreckt hatten. Später kam sie sich verwirrt vor, denn sie empfand zwei Gefühle fast gleichzeitig. Das erste war: »Rühr mich nicht an, Pappi!«, und das zweite: »Nimm mich in den Arm, damit ich mich in der Dunkelheit nicht so allein fühle.«

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 Diese tiefen Gefühle brachen hervor, als ihr in schneller Folge Erinnerungen an ihn kamen. Kaum konnte sie ihre Furcht vor dem Vater hinausschreien, da wurde sie von Einsichten überflutet: »Jetzt begreife ich das alles. Ich hatte immer Angst, aber die Angst war so unmerklich und erschien so unbegründet. Eines Tages sah ich im Badezimmer diese große schwarze Spinne, und ich schrie auf und rannte weg. Endlich konnte ich meine Furcht hinausschreien — ich hatte einen Grund gefunden. Meine Furcht war immer real gewesen. Ich hatte sie nur mit etwas in Verbindung gebracht, das nicht real war.«

Ein zufälliges Geschehnis hatte ihr ermöglicht, ihre latenten Ängste auf etwas Spezifisches zu konzentrieren. Die Primärtherapie leitete die Ängste dann wieder zu ihrem Ursprung zurück: »Ich habe Angst vor dir, Pappi.«

Vage Angst empfinden primärtherapeutische Patienten, wenn ihre Abwehrmechanismen angegriffen werden. Als ich einem Hauptmann des Marine Corps untersagte, bei der Behandlung zu fluchen, bedrohte das seine Pose als >Mordskerl<. Er kam dadurch der Tatsache näher, daß er ein kleiner, verletzter Junge war. Er wußte nicht genau, was er fürchtete, nur daß er Angst hatte (abwehrlos war), wenn er nicht fluchen konnte. Die neurotische Angst ist die Furcht, abwehrlos gegen den Urschmerz zu sein. Das neurotische Verhalten dient dazu, die Verletzungen zu verhüllen. Aber es war das reale Selbst, das abgelehnt, mißhandelt und gedemütigt wurde, deshalb ist es kein Wunder, daß Furcht auftaucht, wenn das reale Selbst nahe ist. Nicht nur der eben erwähnte Patient gehörte zum Marine Corps, sondern auch sein Vater und seine Brüder. Um sich in dieser Familie durchzusetzen, mußte man zäh, selbständig und ohne Emotionen sein. Eine >Heulsuse< zu sein, die es nötig hatte, von Pappi in den Arm genommen zu werden, war für ihn ein unerträgliches Gefühl. Das verschüttete Bedürfnis hielt ihn in Spannung. Als seine Abwehr geschwächt wurde, wurde diese Spannung zu Angst.

Umgekehrt wurde ein anderer Mann von Furcht befallen, wenn er sich aggressiv durchsetzen mußte. Die Furcht war: »Ich werde nicht Mamas wohlerzogener Sohn sein, wenn ich wütend werde.« Jedesmal, wenn er zornig wurde, befiel ihn daher eine unerklärliche Furcht.

Furcht ist ein Mittel zum Überleben. Furcht ermöglicht uns nicht nur, wegzuspringen, wenn etwas auf uns zu fallen droht, sondern erhält auch das Kind am Leben, indem sie nicht zuläßt, daß es die katastrophalen frühen Gefühle empfindet, die es am Leben verzweifeln lassen könnten. Furcht trägt zur Erzeugung von Neurose als Schutz gegen Katastrophen bei. Menschen, die nicht mehr neurotisch zu sein vermögen, werden oft furchtsam oder ängstlich. Wenn wir in der Therapie verhindern, daß die Patienten ausagieren, fühlen sie sich schlechter.

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Ebenso, wie jeder Neurotiker zornig sein muß, weil er nicht geliebt wird, muß jeder Neurotiker innerlich furchtsam sein. Manche verleugnen die Furcht, andere übertragen sie auf Phobien, und manche agieren die Furcht als Gegenphobie aus. Furcht ist ein Zeichen, daß Urschmerzen nahe sind. Ein Hinweis darauf ist, daß, wenn Urschmerzen aufsteigen, nachdem ein Abwehr­mechanismus geschwächt wurde, auch Furcht aufsteigt.

Die neurotische Furcht ist die Furcht, das bisherige Leben der Lüge nicht fortsetzen zu können. Jedes Infragestellen der Lüge erweckt Furcht, weil die Lüge Hoffnung enthält. Wenn ein Mädchen versucht, für ihren Pappi ein Junge zu sein, sich für ihn im Sport hervortun will und es ihr mißlingt, dann bekommt sie Angst, weil ihr <reales Ich> zum Vorschein kommt. Wenn ein Junge vorgibt, Mamas <wohlerzogener Sohn> zu sein, bekommt er vielleicht Angst, wenn sie seine jungenhafte Sprache als <unfein und gewöhnlich> bezeichnet. Ein Patient erklärte es so: »Ich habe immer gefürchtet, wenn ich mein Leben auf meine Weise führte, wenn ich täte, was ich wollte, und sagte, was ich dachte, daß meine Eltern nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Ich mußte sein, was sie erwarteten. Wenn ich nicht mehr ihr Leben (ein Leben der Lüge) führte, dann hätte das bedeutet, im Stich gelassen oder völlig abgelehnt zu werden. Das machte mir Angst. Ich bekam Angst vor mir.«

Der primärtherapeutische Patient hat am meisten Angst, wenn sein ganzes neurotisches Spiel so gut wie vorbei ist. Unser Ziel ist es, diese Ängste wachzurufen, damit wir ihn darüber hinwegbringen und in seine realen Gefühle versetzen können. Er hat Angst, real zu sein; darum ist er neurotisch.

Die Beziehung zwischen Furcht und Schmerz ist wichtig. Es wird eine Fassade aufgebaut, um nicht verletzt zu werden. Wenn jemand genau das ist, was er ist, dann kann er nicht verletzt werden und braucht keine Angst. Die Funktion der Furcht, der realen und der irrealen, ist es, uns vor Verletzungen zu bewahren. Die einzige Möglichkeit, die Furcht zu besiegen, ist, die Verletzungen zu empfinden. Solange die Verletzungen nicht empfunden sind, bleibt die Furcht.

 

   Gegenphobie  

 

Von Gegenphobie spricht man, wenn sich jemand genau in das hineinstürzt, was er am meisten fürchtet. Wenn jemand Angst vor Höhen hat, wird er also vielleicht mit Skydiving anfangen, um zu beweisen, daß er keine Angst hat.

Gegenphobische Aktivität muß zwanghaft und anhaltend sein, weil der Betreffende versucht, eine reale Furcht mit einer symbolischen Aktivität zu verleugnen. Ich halte die Gegenphobie für eine schwerere Form der Neurose, weil die realen Gefühle so tief verschüttet sind, daß sie den Betreffenden zwingen, total auszuagieren.

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Gegenphobie deutet daher auf einen totaleren Verdrängungszustand hin. Ein Skydiver, den ich therapeutisch behandelte, hatte eine ungewöhnliche Todesangst. »Jeder Sprung«, sagte er, »war sozusagen ein >Da bin ich eben dem Tod begegnet, und es war gar nicht so schlimm<.« Jeder dieser Sprünge war ein Versuch, die unbewußte Furcht zu ersticken. Zwanghaft wurde seine Aktivität dadurch, daß die realen Ängste tagtäglich neu auftauchten und es dann wiederum eines Beweises bedurfte, daß sie eigentlich nicht existierten. Nachdem er bei einem Sprung ein Bein brach, war er sehr erleichtert, daß er nun die Frage nicht mehr zu beantworten brauchte: »Habe ich Angst?«

Jede gegen ein reales Furchtgefühl gerichtete Tätigkeit kann als Gegenphobie angesehen werden. Sex ist ein gutes Beispiel dafür. Viele Männer fürchten sich vor Sex, dennoch werden sie zwanghaft davon angezogen aus Furcht, sonst keine >richtigen Männer< zu sein. Das trifft insbesondere auf Männer mit latenten homosexuellen Neigungen zu. Um der Welt zu beweisen, daß diese Neigungen nicht vorhanden sind, lassen sie vielleicht kein Mädchen stehen, das sie sehen, reden dauernd mit Frauen über Sex, machen Witze über >Schwule< (das ist unsere Lieblingsgegenphobie) und kämpfen gegen andere Männer. Oder sie heiraten und haben viele Kinder — je mehr Jungen, um so besser —, um ihre Virilität zu beweisen.

Meistens sind zwanghafter Sex und das Reden von Sex eine in die Tat umgesetzte Gegenphobie. Die Furcht kann sein: »Ich bin nicht so sexuell wie andere« (und deshalb muß ich der Tatsache ins Auge sehen, daß ich kein Mann bin).

Zum größten Teil ist neurotischer Zorn eine Gegenphobie. Damit wird auf Furcht reagiert. Eine Mutter schlägt ihr Kind, weil es in ein fahrendes Auto hineingelaufen ist und seine Mutter so erschreckt hat, daß sie zornig wurde. Zorn ist meist die Verleugnung von Furcht. >Männer< zeigen keine Furcht (das wäre unmännlich), sie zeigen Zorn — ein mehr >maskuliner< Zug. Wie viele Männer würden nicht nur sagen, daß sie Angst haben, sondern es auch zeigen?

Um die Gründe für Gegenphobie aufzuzeigen, betrachten wir das Beispiel eines fünfjährigen Jungen, der die Treppe hinaufläuft, um seinen Vater zu suchen. »Pappi, Pappi, wo bist du?« ruft er, als er zum Schlafzimmer seines Vaters kommt. Er macht die Tür auf und sieht, daß sein Vater einen Koffer packt. »Ich gehe für eine Weile weg«, sagt der Vater. »Du wirst mit deiner Mutter allein leben.« Die Vorstellung, daß er seinen Vater nicht wiedersehen wird, mag katastrophal sein. Was macht der Junge mit einem so schrecklichen Gefühl? Da es keinen Ort gibt, es freizusetzen, und niemanden, der ihm zu begreifen hilft, was er durchmacht, wird die Furcht verschüttet.

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Um die nagende, wenn auch vage Spannung loszuwerden, die die verschüttete Furcht hervorgerufen hat, wird sich der Junge später vielleicht Furchtsituationen schaffen, vielleicht wird er Stierkämpfer oder Rennfahrer - Aktivitäten, um latente Furcht zu legitimieren. Endlich hat er etwas, dem er seine Ängste zuschreiben kann. In diesen Situationen, die ein Ersatz für die reale Situation sind — daß er nämlich nie einen Pappi haben wird —, wird er seine Furcht sogar zugeben.

Ein Patient erinnert sich, daß er einmal in einen Teich gefallen ist und fast ertrunken wäre. Als er herauskam, mußte er sofort wieder ins Wasser, um seine Furcht zu überwinden. Sein Vater ließ ihn gegenphobisch agieren.

Gegenphobie ist eine allgemeine Eigenschaft. Gegen eine Art Gefühl zu agieren bedeutet oft, sich im Widerspruch zu verschiedenen Arten von Gefühlen zu verhalten. Auch die Gesellschaft hilft uns, gegenphobisch zu werden. Tagtäglich wird uns gesagt, wie man Angst beherrschen, Frustration überwinden und sich von Unzulänglichkeit befreien kann. Wir brauchen nichts zu tun, als unsere Gefühle zu eliminieren. Aber diese Gefühle machen unser Leben aus. Man kann nicht das Leben überwinden und am Leben bleiben. Das kann letztlich sogar eine wörtliche Bedeutung erhalten, denn ich glaube, daß Gegenphobiker, diejenigen, die ihre Lebensgefühle zu tief in sich unterdrückt haben, es schließlich fertigbringen, ihr Leben auf die eine oder andere Weise auszulöschen.

Gegenphobie ist das, was die Furcht lebendig hält. Furcht zu verleugnen bedeutet, lebenslang symbolisch dagegen zu kämpfen. Der Phobiker erkennt zumindest, daß er Angst hat. Das ist eine Stufe hinauf auf der Leiter zur Gesundheit.

 

    Kindheitsängste   

 

Zu einem großen Teil treten Kindheitsängste auf, wenn das Kind nachts allein im Bett liegt. Kinder können tapfer genug sein, um von einem hohen Sprungbrett ins Wasser zu springen, und dennoch im Dunkeln Angst haben. Teilweise ist der Grund dafür, daß das Kind ganz mit sich allein ist. Die Furcht ist von derselben Art wie diejenige, von der Patienten befallen werden, die wir vor ihren Urerlebnissen in Hotelzimmern isolieren — es ist die Furcht vor dem >Ich<. Das Kind verleugnet die Furcht oft, indem es sie nach außen projiziert und sagt, es habe Angst vor Räubern. Sein Verstand konzentriert sich auf offenbare Ursachen — das Rascheln von Blättern, das Zuschlagen einer Garagentür, ein Schatten an der Wand. Jedes Geräusch oder jeder Schatten trägt dazu bei, eine latente Furcht zu rechtfertigen.

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Eltern müssen darauf achten, daß sie ein Kind nicht seiner Ängste berauben. Es ist leicht zu sagen: »Es gibt nichts, wovor du Angst zu haben brauchst. Im Schrank ist niemand. Sei kein Baby. Ich lasse das Licht nicht an. Hör mit der Albernheit auf.« All das treibt die Furcht nur ins Verborgene, und sie taucht dann womöglich in Form von Bettnässen oder körperlichen Leiden wieder auf. Wenn die Eltern den Grund für die Furcht ihres Kindes nicht begreifen können, ist es besser, das Kind auf jede nur mögliche Weise zu verwöhnen, als die Furcht zu unterdrücken.

Viele von uns litten als Kinder unter Nachtängsten, und die meisten sind diesen Ängsten nie entwachsen. Wir haben immer noch Angst vorm Butzemann, aber nicht mehr vor dem Butzemann im Schrank, sondern unter Umständen vor irgendeiner vagen Verschwörung einer Nation oder Gruppe gegen uns. Der Inhalt der offenbaren Furcht ändert sich, aber der Inhalt ist weitgehend irrelevant. Wir brauchen den Butzemann in dieser oder jener Form, bis wir gesund sind.

Was ist am Alleinsein im Dunkeln so schlimm, daß es Furcht erregt? Es ist das beginnende Wissen, daß der Schlaf nahe ist, und das bedeutet, daß die Abwehr vermindert ist und alle Dämonen durchläßt, die während des Tages vertrieben wurden. Das Alleinsein an sich ist nicht eigentlich erschreckend. Aber der Neurotiker, der vor seinem Selbst davonläuft oder sich dagegen wehrt, hat Angst. Er muß Radio und Fernsehen einschalten, damit er sich nicht allein fühlt. >Allein< bedeutet für den Neurotiker etwas anderes als für den Normalen. >Allein< bedeutet, daß der Mangel an Unterstützung, Schutz und Liebe von den Eltern empfunden wird, und dagegen muß er sich wehren. Kinderängste werden schlimmer, wenn die Eltern zum Beispiel abends ausgehen; dann können Todesängste aufkommen und mit Schlaf assoziiert werden, denn in der Kindheit ungeschützt zu sein, kann Tod bedeuten.

 

   Zusammenfassung   

 

Da die Bedeutung jeder Phobie symbolisch und daher für jeden Menschen individuell ist, gibt es keine allgemeingültigen Bedeutungen von Phobien. Zwei Menschen mit derselben Phobie mögen völlig unterschiedliche Gründe dafür haben. Höhenangst kann bei einem Menschen bedeuten, daß er nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht (nicht unterstützt wird), während sie bei einem anderen auf seine Furcht vor dem Springen hinweist. Man könnte ein ganzes Leben mit dem Versuch verbringen, Bedeutungen von Phobien zu ertüfteln. Entscheidend ist, daß man sich auf das konzentriert, was real ist — die realen Ängste. Wenn die Ängste real gemacht werden, erübrigen sich Phobien.

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Die primärtheoretische Hypothese über Furcht scheint zu bestätigen, daß Phobien verschwinden und in keinerlei Form wiederauftauchen, sobald einmal reale Furcht gefühlt worden ist. Ich möchte betonen, daß ein gegenwärtiges irrationales Verhalten nicht dadurch aufgelöst werden kann, daß man sich mit der Irrealität befaßt; keine Logik, keine Tatsachen können jemanden von irrationalem Verhalten abbringen. Gegenwärtige Situationen rufen bei normalen Menschen kein irrationales Verhalten hervor. Die Basis von Phobien ist etwas Reales (Urfurcht); nur der gegenwärtige Kontext macht die Phobie irrational.

Es ist verlockend anzunehmen, daß jemand auf diese oder jene Weise behilflich sein könne, ein gegenwärtiges Problem zu lösen. Der Gedanke, Neurotiker zu beraten und ihnen Broschüren in die Hand zu drücken, in denen Tatsachen (wie zum Beispiel: Methedrine zerstört das Lebergewebe) dargestellt werden, scheint mir irrig zu sein. Unterrichtung hat gewiß einigen Wert, aber die große Kraft, die dem irrationalen Verhalten zugrundeliegt, ist die Urkraft.

Einige hier und dort eingestreute Tatsachen werden das Blatt nicht wenden. Wenn jemand dahingehend beraten wird, er solle nett zu Frau und Kindern sein, dann wird er damit nicht viel anfangen können, wenn er jahrzehntelang unterdrückte Wut in sich hat, die darauf wartet, befreit und aufgelöst zu werden. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es nicht mit Furcht oder Wut zu tun haben; wir haben mit Menschen zu tun, die Furcht haben. Der Kernpunkt der Primärtherapie ist, den Menschen behilflich zu sein, die große Furcht ihrer frühen Erfahrungen zu durchleben, so daß sie alles, was es jetzt zu erleben gibt, ohne Furcht erleben können.

 

 

   Kim   

 

Das Familienleben in meiner Kindheit enthielt schon den Keim zu meiner Neurose. Das Leitmotiv in all diesen Jahren ist das Versagen meiner Eltern, mir ihre Liebe auf andere Weise zu zeigen als durch materielle Geschenke. Ich entsinne mich keines einzigen Falls, in dem ich als Kind aufgenommen und im Arm gehalten wurde. Und dennoch konnte ich nie zugeben, daß meine Eltern mich nicht lieben. Ich kam mir häßlich vor und war wütend, statt die Auswirkungen und Konsequenzen dieses Mangels an Liebe zu empfinden oder mir bewußt zu machen.

Aber woher weiß ich, daß meine Eltern mich nie geliebt haben und mich auch nie lieben werden? Es ist noch gar nicht lange her, da erzählte mir meine Mutter (in einem Ton, in dem sie auch ein Baseballspiel beschrieben hätte), wie es gewesen war, als mich mein Vater nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg zum erstenmal sah. Er ließ meine Mutter mich wecken, merkte, daß ich wie jedes andere Baby aussah, und verließ das Zimmer. Als ich das hörte, soll ich stundenlang geweint haben.

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Natürlich erinnere ich mich nicht an diese Szene, aber ich weiß, daß ich nach diesem Abend noch ungefähr ein Jahr lang allnächtlich ein Ritual ausführte: ich erhob mich auf alle viere und bumste mit dem Kopf an das Kopfbrett meines Kinderbetts. Ich glaube, ich hatte Angst, verlassen zu werden. Durch den Lärm, wenn mein Kopf an das Bett bumste, wollte ich meine Eltern, die im Nebenzimmer schliefen, an mein Dasein erinnern.

Ein weiterer Hinweis auf diesen Mangel an Liebe ist, daß mein Vater es ganz deutlich machte, daß er einen Sohn haben wollte. Er pflegte meine Mutter damit aufzuziehen, daß sie keinen Jungen zustande brachte. Mein Haar wurde immer kurz geschnitten. Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, mußte ich Jeans und ein T-Shirt anziehen. Später trank ich Bier, wenn ich am Wochenende mit meinem Vater Fußballspiele anschaute. Wenn er einen Sohn haben wollte, dann würde ich dieser Sohn sein, damit er mich liebte.

Schließlich kam es zu einem Zwischenfall, bei dem mein Vater mir ganz offen sagte, daß er mich so, wie ich bin, niemals lieben könne - das heißt, ich mußte mich in jemand anderen verwandeln, um seine Liebe zu erringen. Nach dieser Auseinandersetzung am Telefon - ich war damals im College - schrieb mir mein Vater einen »Versöhnungsbrief«, in dem er mir sagte, ich solle mir keine Sorgen machen über unsere Meinungsverschiedenheit. Er bat mich, in den Sommerferien nach Hause zu kommen, um gemeinsam eine neue »Kim-Basis« zu schaffen — vermutlich eine, die er und ich akzeptieren konnten.

Die Liebe, die mir zuteil wurde, war bestimmt durch sinnlose Einschränkungen und strenge Disziplin, die »zu meinem Besten« waren. Ich mußte bei den meisten Dingen, die andere Kinder ganz selbstverständlich dürfen, um Erlaubnis bitten, zum Beispiel wenn ich einmal bei einer Freundin übernachten, eine Freundin einladen oder gelegentlich länger aufbleiben wollte. Wenn ich morgens aufwachte, fand ich normalerweise eine Liste mit zehnerlei Dingen vor, die ich zu erledigen hatte, ehe ich das Haus verließ. (Ich bin überzeugt, daß meine Mutter nachts wach lag, um diese Listen aufzustellen.) 

All diese Einschränkungen machten mich zu einem nervösen, reizbaren Kind. Wenn ich mich nicht fügte, gab es Hiebe, solange ich klein war, und später, als ich ein Teenager war, scharfe Rügen und Hausarrest bis zu einem Monat. Die »Rechtsprechung« war gewöhnlich von sehr viel Geschrei begleitet. Ich erinnere mich, daß mein Vater mehrfach nach einem Streit in mein Zimmer kam und wissen wollte, warum ich so abscheulich und ungezogen sei, wenn ich doch alles habe, was man sich nur wünschen könne. Was könnte ich denn noch wollen? 

Darauf vermochte ich nie zu antworten. Seine Frage verwirrte mich. Es hatte tatsächlich den Anschein, als habe ich alles.

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Es kam mir nie in den Sinn, ihm zu sagen, das, was ich wirklich wolle, sei, von ihm geliebt zu werden. Offenbar hatte ich aufgehört, Bedürfnisse zu artikulieren. Hätte ich ihn gebeten, mich zu lieben, so hätte das die Gefahr einer Ablehnung eingeschlossen. Und dann hätte ich es mir eingestehen und fühlen müssen, wie sehr es mich nach ihm verlangte und wie weh es tat, ihn nicht zu haben. Statt dessen übertönte ich mein Bedürfnis mit einem vagen, einsamen, doch heftigen Zorn. Auf die Frage meines Vaters gab ich niemals eine Antwort.

Abschließend ist in bezug auf meine Kindheit noch die Atmosphäre in meinem Elternhaus zu erwähnen. Es gab ständig Auseinandersetzungen, in die ich ständig verwickelt war. Der Zweck dabei war, dem jeweiligen Gegner (in meinem Fall gewöhnlich meiner Mutter oder meiner Schwester) etwas zu sagen, was ihn an seiner verletzlichsten Stelle traf. Dank ständiger Übung entwickelte sich diese Kunst bei uns allen fast zu einem Reflex. Diese Wortgefechte endeten gewöhnlich zwischen meiner Schwester und mir mit einer handfesten Prügelei oder seitens meines Vaters mit einer gesalzenen Ohrfeige. Ich erinnere mich an eine Auseinandersetzung zwischen meiner Mutter und mir, als ich zwölf war, bei der sie zu meinem Vater sagte: »Bob, entweder sie geht oder ich.« Ich meldete mich freiwillig. Da das nicht nur gelegentliche Vorgänge waren, lernte ich, ständig auf der Hut zu sein und mich entweder aggressiv zu verhalten oder sarkastisch zu reden, um nicht zeigen zu müssen, wie verletzt ich war. Außerdem ermöglichte mir die aggressive oder sarkastische Abwehr, den Schmerz bei alledem nicht zu spüren.

Der gemeinsame Nenner all dessen ist ein Mangel an Liebe, ein Mangel, den ich nie zugeben oder auch nur fühlen konnte und den ich unter verschiedenen Abwehrmaßnahmen verbarg. Mit Abwehrmaßnahmen meine ich, daß ich mit fast allen verfugbaren Mitteln das Fühlen abschaltete, um nicht den gewaltigen Schmerz fühlen zu müssen, daß ich nie geliebt worden war. Dieses Abschalten war kein bewußt gefaßter Entschluß. Es scheint eher ein Reflex zu sein, den der Körper anwandte, um seine Integrität zu schützen, und zwar schon vor langer Zeit, als ich anfing, mit dem Kopf an das Kinderbett zu bumsen. Seit dieser Zeit war mein Leben (bis zur Therapie) ein sich immer wiederholender Zyklus. Die Motivationskraft bei diesem Abwehrzyklus ist das Nicht-Geliebt-Werden. Es gab keinen Fortschritt; das einzige, was sich änderte, war der Grad der Ausgeklügeltheit meiner Abwehrmechanismen, die mein Bedürfnis und mein Begehren, geliebt zu werden, verdeckten.

Eine Abwehr — ein Teil von mir, seit ich vier Jahre alt war — sind viele chronische Leiden. Als ich vier war, bestrafte mich mein Vater damit, daß er mich (wie einen Fußball) auf mein Bett warf. Ich erinnere mich lebhaft an meine Furcht, als ich durch die Luft flog und halb auf dem Bett und halb an der Wand landete. Kurz darauf bekam ich über zwei Jahre hinweg »ohne ersichtlichen Grund« unerklärliche und unbehandelbare riesige Hautgeschwüre.

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Ich glaube, daß dieses wie auch andere Leiden (Akne, seit ich zehn war, Pilzbefall an den Füßen, Scheiden­entzündung) die Folge von nicht zum Ausdruck gebrachter und nur teilweise gefühlter Furcht waren. Als ich auf mein Bett geschleudert wurde, wurde mir klar, daß mein Vater mich ernstlich verletzen oder sogar umbringen könnte, wenn er wollte. Ich würde mich ändern müssen, um ihn zufriedenzustellen und seinen möglichen Zorn zu beschwichtigen.

Ich erinere mich, daß ich mit meiner Schwester Phantasiespiele spielte. Beide wollten wir immer der Junge sein (in unseren Spielen waren wir beide immer Männer), der, während er anderen half, verletzt wurde. Ihm wurde Liebe und Aufmerksamkeit zuteil. Dieser Wunsch, betreut und im weiteren Sinne geliebt zu werden, konnte in Spielen ausagiert, aber niemals den Eltern gegenüber zum Ausdruck gebracht werden. Das hätte bedeutet, es auf ihre Ablehnung ankommen zu lassen.

Nur wenn ich krank war, schienen sich meine Eltern auf positive Weise um mich zu kümmern (im Gegensatz zu den ständigen Einschränkungen zu meinem »Besten«). Das erklärt, warum ich in meinem ersten Jahr im College, also nicht mehr zu Hause, dauernd krank war. Ich glaube, ich versuchte meinen Eltern indirekt zu sagen, daß ich sie noch brauchte und daß sie sich um mich kümmern sollten.

Eine weitere Abwehr war, daß ich ein sehr kalter Mensch wurde. Ich wies jede auf mich gerichtete Warmherzigkeit als Zeichen von Schwäche oder als Einengung zurück. Für mich bedeutete Liebe nur Einschränkungen. Hätte ich meine ,Liebe zu meinen Eltern oder zu irgendeinem anderen Menschen zu erkennen gegeben, so wäre ich ihren Angriffen gegenüber verletzbar gewesen. Noch wichtiger war, daß ich, wenn ich die Zuneigung eines Menschen akzeptiert hätte, nur an all die Jahre hätte erinnert werden können, in denen ich die Wärme derjenigen entbehrte, die ich am meisten brauchte. Ich hätte dann den ganzen Schmerz fühlen müssen.

Die Ablehnung durch meine Eltern und ganz besonders durch meinen Vater wirkte sich drastisch auf mein Verhältnis zu Männern aus. Bis ich sechzehn war, wetteiferte ich mit Jungen in geistiger und in körperlicher Hinsicht. Ich sah aus wie sie, redete wie sie und war sportlich gewandt wie ein Junge. Später machte ich alle Männer zu dem Reservoir, aus dem ich die Liebe herauszuholen suchte, die ich von meinem Vater nie bekommen hatte. Ein Geist-Körper-Dualismus war da am Werk. Meine Männer mußten sehr groß, sportlich und muskelstrotzend sein. Gleichzeitig mußten sie mir aber geistig unterlegen sein. Ich mußte imstande sein, sie und meine Beziehung zu ihnen gewissermaßen zu beherrschen.

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So konnte ich die ganze körperliche Liebe haben, die mir vorenthalten worden war, ohne seelisch beteiligt zu sein. Ich brauchte nie das Risiko einzugehen, abgelehnt zu werden, wie ich von meinem Vater abgelehnt worden war. Die Folge davon war Promiskuität. Damals konnte ich den unwiderstehlichen Zwang nicht verstehen, der mich veranlaßte, mit jedem athletischen Beau zu schlafen.

Diese Verhaltensweise brach zusammen, als ich von einem meiner Freunde, an dem ich, wenn auch zufällig, wirklich interessiert war, zurückgewiesen wurde. Ich brach völlig zusammen. Danach waren die einzigen Männer, in deren Gesellschaft ich mich wohl fühlte, schwule, sexlose oder alte Freunde. Auch begann ich immer mehr Zeit mit Lesbierinnen zu verbringen. Obwohl ich es nie ausagierte, lesbisch zu sein, fühlte ich mich doch oft so. (Im ersten Therapie-Monat zog ich immer ein Kleid an, um weiblicher zu erscheinen.) Zur selben Zeit bekam ich eine Scheidenentzündung, so daß ich mit niemandem mehr schlafen konnte. Ich hatte versucht, ein Junge zu sein, und doch war es mir nicht gelungen, meines Vaters Liebe zu erringen. Daraufhin tat ich so, als sei ich eine Frau, um so von jedermann geliebt zu werden. Und zu guter Letzt war ich ein Neutrum geworden.

Meine wichtigste Abwehr gegen das Gefühl, ungeliebt zu sein, war die Schule. Diese Abwehr war eng verknüpft mit der Hoffnung, ich könnte meine Eltern dazu bringen, mich zu lieben. Meine Leistungen in der Schule waren tadellos; gute Noten, Schulämter und Auszeichnungen. Ich hoffte, die Anerkennung meiner Eltern zu erlangen, wenn ich ihnen zeigte, daß andere mich anerkannten.

Während Intellektualität das Mittel war, durch das ich etwas so Besonderes zu sein hoffte, daß es mir die Liebe meiner Eltern eintragen würde, war es ebenso das Mittel, durch das ich mich immer einen Schritt von meinem Urschmerz entfernt halten konnte. Wann immer mir als Kind jämmerlich zumute war, ergriff ich das nächstliegende Buch und vertiefte mich darein. Im College studierte ich eifrig europäische Kulturgeschichte mit dem Schwerpunkt auf deutscher Geschichte. Meine Eltern hatten Deutschland immer gehaßt — ein meiner Ansicht nach blindes Vorurteil. Ebenso wie sie mich ohne ersichtlichen Grund nicht mochten. Ich wollte herausfinden, wo Deutschland fehlging. Vielleicht könnte ich dann auch herausfinden, was ich getan habe, das mich meine Eltern kostete. Deutschland, voll Verwirrung und Anarchie im Inneren, trachtete immer nach Macht und Einfluß außerhalb seiner Grenzen. Ich, voller Verwirrung und ungefühltem Urschmerz im Inneren, trachtete immer, mich jedem gegenüber zu bestätigen, der sich anhören wollte, wie gescheit ich sei.

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Als ich zur Universität kam, hatte ich mich mittlerweile von der Illusion freigemacht, schulische Leistungen würden mir das Wohlwollen meiner Eltern einbringen. Außerdem langweilte mich das Studium, und ich brachte nicht mehr die Selbstdisziplin auf, es gut zu machen. Folglich brauchte ich eine neue Abwehr gegen den aufsteigenden Urschmerz. Ich fand sie in den Drogen. Im College hatte ich ein paar Jahre Marihuana geraucht. Ich stellte fest, daß Hasch, wie jämmerlich mir auch zumute war, meine Stimmung besserte. Auch LSD-Trips genoß ich. Abgesehen von den Augenblicken, in denen völlig unerwartet eine unerfreuliche Szene aus meiner Kindheit auftauchte, waren meine Trips angenehm. Ich halluzinierte und erlebte einmal einen völligen Ichverlust. Ichverlust bedeutet ja nichts anderes, als daß man nicht mehr weiß, wer man ist. Nachdem ich meinen ganzen Urschmerz verleugnet hatte, war dieser Ichverlust symptomatisch für meinen Zustand. Sowohl die Halluzinationen als auch der Ichverlust haben jetzt aufgehört, nachdem ich meinen Urschmerz gefühlt und den Kampf aufgegeben habe, die Liebe meiner Eltern zu erringen.

Als ich nach New York an die Universität ging, reichten LSD und Hasch nicht länger aus, um den Urschmerz niederzuhalten. Häufig brach ich völlig unerwartet in Tränen aus. Ich mußte eine Möglichkeit finden, den Urschmerz abzuwürgen und die Einsamkeit und Verzweiflung zu lindern, die ich in New York empfand. Ich griff zu Methedrine, um meine Stimmung zu heben, und zu Heroin, um schlafen zu können. Aber selbst diese Drogen .reichten nicht aus. Der körperliche und seelische Zusammenbruch kam dennoch.

Ich verließ New York wieder und brach völlig zusammen. Zwei Monate später begann ich die Primärtherapie. Ich tat es, weil meine sämtlichen Abwehr­mechanismen abbröckelten und ich mich überhaupt nicht mehr in der Gewalt hatte. Mein Verstand nützte mir nichts. Ich konnte nicht begreifen, warum nichts in Ordnung war, nachdem ich mich doch so gründlich analysiert hatte. Die Primärtherapie lehrte mich, daß das Gefühl, von meinen Eltern nicht geliebt zu werden, nie aufgelöst worden war, und daß der Zyklus von Zusammenbruch und Wiederherstellung, weil ich immer neue Abwehren als Ersatz fand, um mein Bedürfnis zu verhüllen, nie hätte durchbrochen werden können, denn ich war vor meinem Urschmerz immer davongerannt, statt ihn zu fühlen.

Das erste Stadium in der Therapie war das Hinwegsprengen der Reste meines bereits abbröckelnden Abwehrsystems. Allein der Entzug von Drogen und Zigaretten hatte meine Spannung so erhöht, daß ich am ganzen Körper zitterte. Obwohl ich in einer Stadt, in der ich niemanden kannte, allein gelebt hatte, hat erst die in den drei ersten Therapiewochen vorgeschriebene Isolierung bewirkt, daß ich mich wirklich allein fühlte. Ich hatte immer geglaubt, ich sei allein, weil ich es so gewollt hatte, könne diesen Zustand, wenn ich wollte, jedoch jederzeit ändern.

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Jetzt wurde mir klar, daß ich mein ganzes Leben lang allein gewesen war und mir in all den Jahren gewünscht hatte, zu etwas (der Familie) oder genauer gesagt, zu jemanden (meinen Eltern) zu gehören. Ich erkannte, daß ich, obschon ich bisher allein gewesen war, immer das Gefühl gehabt hatte, jemand beobachte alle meine Bewegungen und dringe in meine Gedanken ein. Jetzt glaube ich, daß diese vage Präsenz, die ich früher spürte, die Hoffnung war, meinen Eltern möge an mir liegen. Jetzt fühle ich und weiß es auch, daß ich völlig allein bin.

Nachdem die offenkundigsten Abwehrmechanismen entfernt waren, wurde ich überflutet von Erinnerungen an die Vergangenheit. Alle machten mich traurig — sogar die erfreulichsten, weil es so wenige waren. Ich begann, Szenen aus meiner Vergangenheit wiederzuerleben. Ich erlebte sie von neuem, indem ich mich in eine Szene zurückversetzte und sie wiederempfand - diesmal ohne meine Abwehrmechanismen - und meine Gefühle nun voll zum Ausdruck brachte.

Die Mehrzahl meiner Urerlebnisse in den ersten paar Monaten der Therapie konzentrierte sich darauf, daß ich kalt war. Kaum lag ich da, zitterte mein Körper, die Zähne klapperten, und Hände und Füße wurden blau. Ich hatte Urerlebnisse, die bis zu zwei Stunden dauerten und während derer ich nur zitterte. Zuerst sah ich die Kälte als etwas an, das seine Ursache außerhalb meiner selbst hatte, etwas, das mich »kalt werden ließ«, entweder das Wetter oder ein widerwärtiger Mensch oder ein unerfreuliches Erlebnis. Dann wurde mir klar, daß die Kälte (die Neurose) in mir war — nicht äußerlich auf meiner Haut, sondern in meinem ganzen Körper. Diese neurotischen Eisschichten, die den Urschmerz, wegen der fehlenden Liebe meiner Eltern, überdeckten, mußten beseitigt werden, ehe ich die durch sie verborgenen schmerzlichen Erfahrungen wiedererleben konnte.

Wenn das Zittern sich fast gelegt hatte, wurde ich völlig abwehrlos. Oft, wenn ich meine Eltern besuchte, weinte ich beim leisesten Anzeichen ihrer Mißbilligung. Eines Abends ging ich in eine Vorstellung von Tschechows »Die Möwe«. Während der Szene, in der der Sohn seine Mutter bittet, ihn nicht zu verlassen, spürte ich eine Woge von Gefühl aus meinem Bauch aufsteigen. Da ich wußte, daß ich im Theater kein Urerlebnis haben konnte, versuchte ich, das Gefühl abzuschütteln. Ich wurde ohnmächtig und mußte aus dem Theater getragen werden.

Sobald solche tiefsitzenden Schmerzen frei werden, gibt es keine Möglichkeit, sie aufzuhalten. Wenn man diese Gefühle nicht herauskommen läßt, ist die Folge eine völlige Verwirrung. In meinem Fall nimmt diese Verwirrung oft die Form von zusammenhangloser Rede und einer Art Aphasie an. Eines Abends unterhielt ich mich mit fünf Mitgliedern der Therapiegruppe. Ich konnte nichts von dem verstehen, was gesagt wurde.

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Ich verstand einzelne Wörter, aber wenn ich sie zu Sätzen zusammenfügte, waren sie sinnlos. Ich konnte kaum sprechen. Ich hatte das Gefühl, nicht ganz da zu sein; ein Teil meines Verstandes war woanders. Als ich zu sprechen versuchte, ergab es keinen Sinn. Die aus dem Kommunikationsmangel resultierende Verwirrung trennte mich von allen im Raum Anwesenden; sie war symbolisch für mein Alleinsein. Nachdem ich das erkannt hatte, versetzte ich mich gleich in ein Urerlebnis und bat meine Eltern, mich nicht ganz allein zu lassen. Die Verwirrung legte sich.

Ein andermal verursachte die dadurch entstandene Verwirrung, daß ich ein anstürmendes Gefühl nicht aufsteigen ließ, räumliche Desorientiertheit. Mein Freund war ärgerlich auf mich, und obwohl wir Besuch hatten, wollte er es unbedingt zeigen. Ich begann zu fühlen, daß es sehr bald zu völliger Ablehnung kommen würde. Ich würde wieder allein sein. Ich schaltete das Gefühl ab und versuchte, die gute Gastgeberin zu spielen. Dann drehte ich mich um und rannte gegen die Wand meiner eigenen Küche. Ziemlich lange hatte ich eine gewaltige Beule am Kopf. Sobald ich zuließ, daß das Gefühl, von meinem Freund abgelehnt zu werden, durchbrach, und ich die Verknüpfung mit dem viel stärkeren Urschmerz, nämlich der Ablehnung durch meinen Vater, vornahm, vermochte ich wieder zusammenhängend zu reden und gewann wieder Koordination. Als es schließlich zum Bruch zwischen uns kam, war es relativ schmerzlos, denn ich wurde ja nur von einem Freund abgelehnt und nicht von meinem Vater.

Mein großer Durchbruch kam fünf Monate nach dem Beginn der Therapie. Es war in einer Gruppensitzung. Ich sah plötzlich alles verschwommen, und mir war, als ob ich ohnmächtig würde. So war mir oft vor einem intensiven Urerlebnis zumute. Dann lag ich auf der Couch und schrie lauter als je zuvor. Zuerst nur schrilles Gekreische, dann: »Mammi, Pappi, bitte nehmt mich mit nach Hause. Bitte, ich möchte nach Hause. Mammi, Pappi, ich liebe euch«, und dann schrie ich noch lauter. Während der ganzen Zeit war ich mir meines Körpers nicht bewußt. Mein ganzes Sein war in dieser schreienden Stimme konzentriert. Ich wurde mein Urschmerz. Ich sagte, was ich schon immer hatte sagen wollen, solange ich zurückdenken kann. Meinen Eltern hätte ich das nie sagen können aus Angst, daß sie meine Liebe und mich offen ablehnen würden. Aber da ich abwehrlos war, brachen die Wörter einfach aus mir hervor. Zum erstenmal in meinem Leben war ich völlig abwehrlos und völlig ohne Selbstbeherrschung. Das war der Wendepunkt in meiner Therapie.

In den nächsten drei Monaten bat ich meine Eltern bei meinen Urerlebnissen, mir nicht weh zu tun. Ich hatte ihnen gesagt, daß ich sie liebte — ich war reizoffen und daher meinem Urschmerz schutzlos ausgeliefert.

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Bei einem Urerlebnis schrie ich aus Leibeskräften: »Hör auf, mir weh zu tun, Pappi!« Es muß geklungen haben, als würde ich ermordet. Und so war mir auch zumute. Es stimmte tatsächlich. Ich hatte mein reales Selbst umgebracht und war eine irreale Person geworden, zuerst, um eine Möglichkeit zu haben, die Liebe meiner Eltern zu erlangen, und später, um den Schmerz, die dringend verlangte Liebe nicht erhalten zu haben, zu verhüllen. Der Urschmerz stieg mehrmals täglich in gewaltigen Wellen auf. Oft mußte ich das Klassenzimmer verlassen, weil mir die Tränen kamen. Jede Nacht träumte ich, daß meine Eltern mich ablehnten und sogar haßten. Jeden Morgen wachte ich mit einem Schluchzen in der Kehle auf. Überhaupt aufzustehen fiel mir schwer, und es war mir fast unmöglich, die Woche über meine Pflicht als Lehrerin zu erfüllen. Mir schien, ich würde nie wieder imstande sein, eine Tätigkeit auszuüben angesichts der Wellen von Urschmerz, von denen ich glaubte, daß sie ewig anhalten würden.

Es ist jetzt neun Monate her, daß ich mit der Primärtherapie begann. Ich bin ein neuer Mensch - oder besser gesagt, ich bin ich selber geworden. Meine psychosomatischen Symptome beginnen zu verschwinden. Die schlechte Blutzirkulation in Händen und Füßen hat sich signifikant gebessert, und ich bin die Spannung losgeworden, von der ich glaubte, sie würde für den Rest meines Lebens Teil meiner selbst sein.

Obwohl ich eine Periode der Promiskuität durchgemacht habe, bin ich vorher, währenddessen und nachher frigide gewesen. Ich hätte es nie zulassen können, etwas zu fühlen, nicht einmal sinnliche Lust. Hätte ich überhaupt etwas gefühlt, dann hätte ich all den verleugneten Urschmerz in mir fühlen müssen. Jetzt stelle ich fest, daß ich sexuell frigide bin, wenn ich versuche, das Auftauchen eines Gefühls zu verzögern oder es auf irgendeine Weise zu unterdrücken. Wenn ich dem nahenden Gefühl entgegenblicke — das heißt, wenn ich mich selbst fühlen kann —, bin ich nicht mehr frigide.

Ich brauche auch keine Drogen mehr, um mich vor der Tatsache zu verschließen, daß ich ganz allein bin (und immer war) und niemand mich liebt oder auch nur für mich sorgt. Ich kann nicht gleichzeitig fühlen und Drogen nehmen. Ich habe gelernt, daß ich meinen Urschmerz fühlen muß (statt ihn mit Drogen zu unterdrücken), um mich permanent von ihm zu befreien. Nachdem ich meinen Urschmerz gegenübertreten konnte, statt vor ihm davonzulaufen, erfüllen Drogen keinen Zweck mehr. Ich hörte auf, sie zu nehmen. Ich fühle und erkenne auch, daß meine Eltern mich so, wie ich bin, nicht geliebt haben und nicht lieben werden. Ich habe es vorgezogen, ich selber zu, sein, und will nicht (bewußt oder unbewußt) herauszufinden versuchen, was sie als Entgelt für ihre Liebe haben wollen. Ich bin frei.

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   Selbstmord   

 

Ein Selbstmordversuch wird meiner Ansicht nach dann unternommen, wenn alle Möglichkeiten, den Urschmerz zu stillen, erschöpft sind und zu nichts geführt haben. Wenn die Neurose den Urschmerz nicht zu lindern vermag, ist der Kranke vielleicht zu drastischeren Maßnahmen gezwungen. Es mag paradox klingen, aber Selbstmord ist der letzte Hoffnungsanker des Neurotikers, der entschlossen ist, bis zuletzt irreal zu sein.

Eine junge, neunundzwanzigjährige Frau hatte mehrere Monate, bevor sie zur Primärtherapie kam, einen Selbstmordversuch unternommen. Ihr Freund hatte sie um einer anderen willen verlassen. Sie bat, flehte und drohte ihm, aber alles war vergebens. Dann ging sie nach Hause, räumte die Wohnung auf, duschte, zog ein sauberes Nachthemd an und schluckte neunzig Schlaftabletten. Sie zählte die Pillen gewissenhaft halbdutzendweise ab und hatte dabei das Gefühl, als ob sie das gar nichts anging, was sie tat. Sie sagte später: »Ich fühlte mich merkwürdig losgelöst von alledem, als ob es eigentlich gar nicht mir passierte. Erst als ich merkte, daß mein Atmen langsamer wurde, bekam ich Angst, rief meine Freundin an und bat um einen Arzt.«

Als diese Frau von ihrem Freund verlassen wurde, blieb sie mit dem Gefühl zurück, ungeliebt zu sein. Obwohl sie sich eingeredet haben mag, daß sie sich wegen der gegenwärtigen Geschehnisse umbringen wolle, schien der Verlust des Augenblicks die Erinnerung an die Jahre ausgelöst zu haben, in denen sie sich ungeliebt fühlte. Sie begann von neuem die Leere zu empfinden, die sie als Kind empfunden hatte. Von ihren Eltern abgelehnt, war sie sich allmählich häßlich und unliebenswert vorgekommen; sie war überzeugt, daß es ganz und gar an ihr liegen müsse, wenn sie so vernachlässigt werde. Ihr Freund diente ihr dazu, dieses häßliche Gefühl zu verhüllen. Aber als er sie verließ — er erkannte die Unmöglichkeit, die durch lebenslange Ablehnung entstandene Leere zu füllen —, wurde sie wieder in diese Gefühle von Ablehnung und Hoffnungslosigkeit hinein gezwungen. Sie versuchte sich umzubringen, ehe diese Gefühle mit voller Wucht auf sie einstürmten.

Das oft berichtete Unbeteiligtsein bei Selbstmordversuchen untermauert die Hypothese der Primärtheorie, daß Selbstmord ein Abspaltungsvorgang ist, dessen Ziel selten die unwiderrufliche Selbstvernichtung ist. Es ist ein Versuch, das Selbst zu erhalten durch Vernichtung des Urschmerzes, den die Neurose nicht länger zu verhüllen vermag. Diese Frau hat nie geglaubt, daß sie sterben würde; das beweist die Tatsache, daß sie, als ihr der Tod unmittelbar bevorzustehen schien, um Hilfe rief. Offenbar versuchen Neurotiker, sich symbolisch umzubringen, wie sie überhaupt alles symbolisch tun.

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Manche sind bereit, ganze Arbeit zu leisten, um die Neurose intakt zu erhalten. Ein Patient drückte es so aus: »Selbstmord ist nicht so irrational, wenn man bedenkt, daß jede Neurose der Kampf ist, das zu behalten, was man nicht will.«

Neurose ist psychischer Selbstmord. Wenn man einen Teil seines Lebens oder sein ganzes Leben (seine Gefühle) aufgegeben hat, um von den Eltern geliebt zu werden, dann ist der nächste Schritt nicht allzu groß, dieses Selbst in einer mehr buchstäblichen Weise umzubringen. Wenn die Neurose es nicht schafft, wird Selbstmord erwogen.

Viele Neurotiker scheinen lieber sterben zu wollen als so zu leben, wie sie leben. Ich glaube, daß weniger ein realer Todestrieb den Suizid hervorruft, als vielmehr das Gefühl, nicht zu wissen, was man sonst tun könnte, um den Urschmerz zu lindern. Der Betreffende ist ganz aus dem Kämpfen heraus. Entweder braucht er einen neuen Kampf, der vorübergehend Erleichterung bringt, oder er muß in der Primärtherapie mit dem Kämpfen ganz Schluß machen.

Die Neurose - das darf nicht vergessen werden - rettet und tötet. Sie schützt das reale Selbst vor weiterer Auflösung, aber indem sie das tut, verschüttet sie das reale Selbst. Das Kind wächst dann heran und klammert sich an ein irreales Selbst, das es paradoxerweise erwürgt. Wenn wir uns das als eine Progression vorstellen, wird der Vorgang vielleicht klarer. Zuerst versucht das kleine Kind, als das geliebt zu werden, was es ist. Wenn das mißlingt, bemüht es sich dadurch um Liebe, daß es etwas anderes ist. Doch wenn dieses andere (das irreale Selbst) auch keine Liebe erlangt, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Früh im Leben mag es Psychose sein. Später im Leben mag es Selbstmord sein.

Selbstmord ist Hoffnung; er ist ein Ausagieren in der Weise, daß das Gefühl aufsteigender Hoffnungslosigkeit abgewürgt wird. Oft ist es ein verzweifelter Versuch, dem katastrophalen Gefühl zu entgehen, daß kein einziger Mensch auf der Welt sich wirklich um einen kümmert. In eben dem Augenblick, da der Betreffende durch seinen Versuch sagt: »Ich gebe auf«, sagt er auch: »Ich werde euch schon dazu bringen, euch um mich zu kümmern, wenn es auch meine letzte Verzweiflungstat ist.«

Manchmal führt der Versuch zu dem gewünschten Ergebnis. Freunde rufen an; die Familie kommt vielleicht; jedem scheint es leid zu tun, daß er nicht erkannt hat, wie verzweifelt der Betreffende war. Aber wenn die Freunde ihre Besuche einstellen, wenn die Familie wieder abreist, dann ist der Möchte­gern­selbst­mörder wieder allein mit dem Selbst, das er lieber vernichten als empfinden will.

Im allgemeinen ist der Selbstmord die Tat eines Menschen, der außerhalb von sich und durch andere gelebt hat (weil er nicht innerhalb seiner eigenen Wünsche und Gefühle leben durfte).

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<Die anderen> sind der Sinn seines Lebens geworden, und wenn er sie verliert, entfällt dieser Sinn. 

Der Mittelpunkt des Daseins von Selbstmordanfälligen liegt oft außerhalb von ihnen. Sie sind so stark, wie die Unterstützung durch andere, und so annehmbar, wie die Beurteilung durch andere es zulassen.

 

Ein junger Mann berichtete in der Primärtherapie von der zunehmenden Unruhe seiner Mutter, mit der er zusammenlebte. Je besser es ihm ging, um so deprimierter wurde sie. Fast sein Leben lang hatte dieser Patient für seine Mutter gesorgt, die gewöhnlich zu krank war, um viel zu tun, und ein vages Leiden nach dem anderen hatte. Als er selbständig wurde, war sie verzweifelt. Er plante das gemeinsame Zuhause aufzugeben und für sich zu leben. An diesem Punkt versuchte seine Mutter, ihn mit einem neuen Auto zu bestechen, dann mit Bitten, Drohungen und Krankheiten. Als alles mißlang, unternahm sie einen halbherzigen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten. Indes rief sie fast in derselben Minute, als sie sie nahm, eine Freundin an, so daß sie in keiner wirklichen Gefahr war.

Die Mutter dieses Patienten fand es unvorstellbar, für sich selbst sorgen zu müssen. Sie lebte seit vielen Jahren von ihrem Mann getrennt und versuchte, aus ihrem Sohn einen neuen Ehemann zu machen. Seit ihren ersten Ehejahren hatte sie alle Leute so geschickt behandelt, daß sie ausagieren konnte, das unselb­ständige Kind zu sein — genau das, was ihre Mutter mit ihr gemacht hatte. Mit fünfzig Jahren versuchte sie immer noch, das Baby zu sein, das sie nie sein durfte. Sie wollte sich umbringen, um diesen Akt fortzusetzen. Das Baby in ihr war es offensichtlich, das glaubte, nicht ohne jemanden auszukommen, auf den sie sich stützen konnte.

Natürlich gibt es auch ernsthafte Selbstmordversuche, die zum gewünschten Erfolg führen. In solchen Fällen mag der Betreffende an einer so schweren Geistesstörung gelitten haben, daß er zwischen real und irreal nicht mehr zu unterscheiden vermag. Doch selbst hier, in den inneren Bereichen seines kranken Geistes, hegt er vielleicht die Hoffnung, sein Tod möge schließlich bewirken, daß <die anderen> es einsehen und fühlen.

Wenn wir Selbsthaß und die daraus folgenden Selbstvernichtungsversuche genau untersuchen, stellen wir fest, daß das irreale Selbst echt ungeliebt ist. Weil Selbstmord meistens ein irrealer Akt ist, müssen wir annehmen, daß er vom irrealen Selbst verübt wird. Zum Selbstmord scheint es zu kommen, wenn weder das irreale noch das reale Selbst geliebt werden kann. Dem Selbstmordkandidaten muß meiner Ansicht nach dazu verholfen werden, das Selbst, das er vernichten will, zu fühlen und das Gefühl: »Wenn mich niemand liebt, will ich sterben« ganz intensiv zu empfinden. Sobald er fühlt, daß das ungeliebte Selbst in Wirklichkeit keine Bedrohung für seine Weiterexistenz ist, wird er es wahrscheinlich nicht mehr vernichten wollen.

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Dem Selbstmordkandidaten und demjenigen, der tatsächlich einen Selbstmordversuch unternimmt, wird gewöhnlich nur insofern Hilfe gewährt, als eben die Gefühle, denen sie nahe sind, verhüllt werden. Vielleicht finden sie den Weg zu einer <Krisenklinik>, wo Anstrengungen unternommen werden, die Dinge zurechtzuflicken, die Patienten zu beschwichtigen und funktionsfähig zu erhalten. Oft werden Medikamente verschrieben, um den Patienten zu beruhigen, wodurch er von seinen Gefühlen nur weiter entfernt wird.

Doch sind es eben diese Gefühle, die empfunden werden müssen, damit das irrational agierende, irreale Selbst beseitigt werden kann. Die Gefahr, behaupte ich, geht von dem irrealen, ausagierenden Selbst aus, und dieses irreale Selbst wird offenbar durch die <Krisenmethode> gestärkt. Ich bin der Meinung, daß die Selbstmordgefahr minimal ist, solange der Betreffende am Therapeuten einen Halt hat. Aber wenn der Patient die Therapie verläßt, welcher Grund bestünde dann anzunehmen, daß er nicht immer noch selbstmordanfällig ist? Wenn er nicht die Qual jenes ungeliebten, hoffnungslosen kleinen Kindes in sich empfunden hat, wird er es vielleicht unwissentlich umbringen.

Wir müssen auch die gesellschaftlichen Folgen bedenken, wenn man zuläßt, daß ein potentieller Selbstmörder frei auf den Straßen herumläuft. Wenn er am Steuer eines Autos sitzt und Schluß machen will, kann er noch andere gefährden. Ein Mensch, dem sein eigenes Leben nichts wert ist, wird vermutlich auch das Leben anderer nicht unbedingt als kostbar erachten.

In diesem Zusammenhang ist es signifikant, daß primärtherapeutische Patienten Selbstmord gar nicht in Betracht ziehen. Sie kennen ihren Wert und denken nicht daran, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie lernen, daß das reale Selbst ein »gutes« Selbst ist und sehen keinen Grund, ihm Schaden zuzufügen.

Es klingt widersinnig, wenn man sagt, das Ziel beim Selbstmord sei, am Leben zu bleiben, aber nach meinen Erfahrungen mit Selbstmord­versuchen ist es schwierig, zu einem anderen Schluß zu kommen. Es gibt Ausnahmen — zum Beispiel chronisch Kranke —, aber in der Regel ist der Selbstmordversuch eine weitere neurotische Bitte, geliebt zu werden. In diesem Sinne ist der Freitodversuch ein Schrei um Leben.

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