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21  Schlußbetrachtungen

Arthur Janov 1970

Wie verblüffend für mich festzustellen, daß die Sprache meiner Gefühle und die Sprache meines Intellekts dasselbe auf verschiedene Weise gesagt haben. Welch ein Beispiel für die Trennung zwischen Verstand und Körper, Fühlen und Denken ... Nicht verstehen zu können, weil man nicht fühlt; nicht fühlen zu können, weil man nicht versteht — die Furcht vor dem Unbekannten.   ---Barbara, eine Patientin---

 

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Die Primärtherapie ist im wesentlichen ein dialektischer Prozeß, bei dem der Patient, wenn er seine kindlichen Bedürfnisse empfindet, reifer wird, warm­herziger, wenn er seine Kälte empfindet, stärker, wenn er sich schwach fühlt, ein Prozeß, bei dem das Fühlen der Vergangenheit ihn völlig in die Gegenwart versetzt und das Gefühl, daß das irreale System abstirbt, ihn wieder ins Leben zurückbringt. Es ist die Umkehrung der Neurose, bei der man Angst hat und sich als tapfer aufspielt, wenig fühlt und sich wichtig tut und ständig die Vergangenheit in der Gegenwart ausagiert.

Ich glaube, die Primärtherapie ist erfolgreich, weil der Patient endlich Gelegenheit hat, zu empfinden, was er sein Leben lang auf tausenderlei Weise ausagiert hat. Er braucht nicht mehr erwachsen und beherrscht zu agieren; er kann sein, was er nie sein durfte, und sagen, was er nie zu äußern wagte. Die Krankheit, behaupte ich, ist die Verleugnung des Fühlens, und das Heilmittel ist das Fühlen.

Früh im Leben war das irreale System notwendig, aber später erwürgt und verbiegt es uns. Es läßt kein Ausruhen und keinen Schlaf ohne Schrecken und Spannung zu. Dieses irreale System ist es, das dem realen System Beruhigungsmittel geben muß, um dessen Aufschrei in einem unbewachten Augenblick zu verhindern. Das irreale System ist es, das das reale mit Essen vollstopft, das dieses weder will noch verdauen kann, und es schleppt das reale System durch einen nicht endenwollenden Kreislauf von Arbeit und Plänen.

Auf eine methodische Weise bringt es die Person buchstäblich um. Und derweil erledigt es seine Aufgabe gewöhnlich gut. Es hält den Urschmerz fern und umgibt das fühlende Selbst mit einem Schutzschild, so daß nichts gefühlt werden kann. Das ganze Leben hindurch bis zum Tode wird nur so getan, als ob man lebt — aber immer mit dem Gefühl nagender Verzweiflung, daß die Zeit vergeht und man noch nicht zu leben begonnen hat.

Solange noch irgendein Teil des irrealen Systems vorhanden ist, wird es stark bleiben und das reale System unterdrücken. Es ist in jedem Sinne des Wortes total, und ich betone das so, weil viele seriöse Therapien sich mit Bruchstücken der Neurose befassen und glauben, sie seien etwas Ganzes und ohne Beziehung zu einem System. So gibt es Kliniken für Raucher und Trinker, spezielle Krankenhäuser für Drogensüchtige, Diätanstalten, Hypnotherapie, Konditionierung von Symptomen mit Hilfe von Schock oder Belohnung, Meditation und Berührungs­therapien.

Die Primärtheorie behauptet, daß das gesamte System ausgemerzt werden muß. Sofern das nicht geschieht, kann es sein, daß wir in einer Elternberatungsklinik einen Vater finden, der schwört, er werde es mit seinem straffälligen Sohn richtig machen, ihm mehr Zeit widmen und ihn nicht mehr kritisieren — und das tut er auch, ungefähr sechs Monate lang, und dann verfällt er wieder in seine Neurose. Oder jemand nimmt in einer Diätanstalt stark ab, nur um dann in wenigen Monaten sein altes Gewicht wieder zu erreichen. Neurotiker können manchmal ihre Fassade eine Zeitlang umgestalten (was auf die Fettleibigen buchstäblich zutrifft), aber auf lange Sicht setzt sich die Neurose durch.

Bei unserer Therapie geht es nur um das Fühlen. Wir befassen uns nicht einfach mit den heutigen Gefühlen, sondern mit diesen alten Gefühlen, die verhindern, daß die Gegenwart empfunden wird. Wir sind auf das Fühlen des Gefühls aus — etwas, was der Neurotiker zurückgelassen hat und das doch Tag für Tag in sein Leben eindringt; das Gefühl: »Pappi, sei nett. Mammi, ich brauche dich.«

Diese Urgefühle sind es, die das tägliche Leben überlagern und anhaltende Unruhe hervorrufen. Diese Gefühle bewirken schlechte Träume, treiben die Menschen zu übereilten Eheschließungen (wir heiraten den Kampf) oder erzeugen übermächtige pervertierte Impulse. Das sind die Gefühle, die durch sechzig- oder siebzigjährige Lebenserfahrung nicht berührt werden. Zur Heilung ist nichts nötig, als sie zu fühlen.

Es ist ein seltsamer Widerspruch, daß der Neurotiker, der in der Vergangenheit befangen ist, in Wirklichkeit keine Vergangenheit hat. Er ist von ihr abgeschnitten durch den Urschmerz. Deshalb muß er Tag für Tag seinen Werdegang ausagieren. Aus diesem Grunde verändert er sich im Lauf seines Lebens nicht sehr. Er ist mit vierzig in etwa derselbe wie mit zwölf — mal kämpft er, dann wieder nicht, erfüllt seine neurotischen Rituale, bekundet mit jedem Wort seine Neurose und findet immer neue Möglich­keiten, bei sich seine frühe Familien­situation neu zu erschaffen.

Der Normale hat eine Vergangenheit, eine Kontinuität des Selbst, die nicht durch Urschmerz kurz­geschlossen ist. Er hat sich ganz.

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Weil der Neurotiker von seiner Vergangenheit mitgeschleppt wird, hinkt seine Entwicklung — die geistige wie die körperliche — oft hinterher. Körper und Geist entwickeln sich nicht flüssig, so daß es zu körperlichen Wachstums­verzögerungen kommen kann. Sobald der Grund für die Verzögerung ausgeräumt ist, findet man den ersten Bartwuchs bei erwachsenen Männern, reales sexuelles Funktionieren und all die von mir beschriebenen unbestreitbaren Beweise für vollständige psychophysische Veränderungen. Eine Reihe psychologischer Theorien untersucht das körperliche Wachstum, aber ich frage mich, ob sie wirklich das Wachstum der gesamten Person meinen. Die dramatische Senkung des Blutdrucks, die Veränderungen der bisherigen Körper­temperatur und die Verminderung der Pulszahl haben mich davon überzeugt, daß postprimäre Patienten nicht nur gesünder leben werden, sondern auch länger. 

Abgesehen von allen anderen Gründen, warum man real werden sollte, glaube ich, daß Irrealität tödlich ist. Sie scheint den Körper buchstäblich entzweizureißen, sie unterdrückt gewisse Hormone, stimuliert andere übermäßig, hetzt den Geist und hält den Körper in einer Tretmühle fest. Real zu sein bedeutet, entspannt zu sein — keine Depressionen, Phobien oder Ängste mehr. Vorbei ist die chronische Spannung, und damit verschwinden Drogen, Alkohol, zu viel essen, rauchen und zu viel arbeiten. Real zu sein bedeutet, nicht mehr symbolisch ausagieren zu müssen.

Real zu sein bedeutet, produktiv sein zu können ohne all die üblichen Blockierungen, die so viele ansonsten kreative Menschen plagen. Es bedeutet, keine ausbeutenden Beziehungen zu unterhalten, so daß endlich das festgelegte Schema aufgegeben wird und wir neue Menschen auf dieser Erde hervorbringen können, die wahrlich zufrieden sind. Real zu sein heißt, daß die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden und man die Bedürfnisse anderer zu befriedigen vermag.

Ein Bedürfnis ist etwas Grundlegendes. Kinder haben Bedürfnisse. Das, womit sie früh im Leben eine Verbindung herstellen können, ist das Bedürfnis. Man kann das Bedürfnis ablenken, unterdrücken, lächerlich machen, ignorieren, aber alles ist vergebens, das Bedürfnis ändert sich kein bißchen. So kann sich das frustrierte Grundbedürfnis später in ein Bedürfnis verwandeln, zu trinken, Sex zu haben oder zu essen, aber das reale Bedürfnis ist immer da und macht die Ersatz­bedürfnisse so zwanghaft und hartnäckig. Darum dreht es sich bei der Primärtherapie — das Bedürfnis zu empfinden.

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Man sollte denken, daß eine normale Gesellschaft, in der reale Bedürfnisse erkannt und befriedigt werden, sich mit wenig irrationalem Verhalten ausein­ander­zusetzen hat. So viele Vorschriften (das <Sollte>) würden gar nicht gebraucht, weil normale Menschen einsehen würden, daß man an Kreuzungen langsam fährt oder anhält, und sie würden kein Bedürfnis verspüren, gefährlich zu fahren. Sie würden das Recht der anderen respektieren und hätten kein Interesse, das Leben anderer zu gefährden.

Die Unterdrückung von Gefühl und Bedürfnis erfordert ein gut Teil Beherrschung. Wenn einem realen System nicht getraut wird, muß jede einzelne Verhaltensweise überprüft, untersucht und schließlich in Schach gehalten werden. Die Beherrschung ist nötig, um das reale System zu unterdrücken. Aber Krankheit verlangt ihre Symptome. Deshalb bedeutet eine Beherrschung hier und da, daß anderswo ein neues Symptom auftaucht. Totale Beherrschung bedeutet, daß sich ein innerer Druck entwickelt, bis das System selbst zusammenbricht oder explodiert.

In einer irrealen Gesellschaft werden diejenigen, die am wenigsten Gefühl zeigen, unter Umständen als Vorbilder hingestellt, während diejenigen, die eine Menge Gefühl erkennen lassen, oft als >hysterisch< oder allzu gefühlsbetont bezeichnet werden. Es erscheint so unnatürlich. Aber in einem irrealen Milieu ist Leidenschaftslosigkeit ungefährlich und Leidenschaftlichkeit suspekt. Das hat so um sich gegriffen, daß sogar die Heilenden in unserer Gesellschaft, die Psychologen und Psychiater, dazu erzogen worden sind, keine Emotion zu zeigen. Sie sind zu unbeteiligten Reflektoren des Fühlens gemacht worden statt zu dessen dynamischen Verteilern. Ein Kind, das von nicht ansprechbaren Eltern, lakonischen Filmhelden, Lehrern und Professoren abgespeist wurde, die oft die Nüchternheit in Person sind, muß schließlich zu einem unbeteiligten Therapeuten gehen, um sich helfen zu lassen.

Die Primärtherapie vertritt nachdrücklich den Standpunkt, daß die reformerischen Maßnahmen der konventionellen Therapien nur dazu beitragen, die Fassade umzugestalten, aber die Neurose intakt erhalten. So, wie ich es sehe, halten die mühseligen und zeitraubenden Gesprächstherapien den Patienten nur in dem Prozeß (genauer gesagt, dem Kampf) des Gesundwerdens fest, aber er wird tatsächlich nie gesund.

Meiner Ansicht nach ist die konventionelle Therapie für Intellektuelle des Mittelstands akzeptabel gewesen, weil dabei alles im großen und ganzen auf wohlerzogene und feine Weise vor sich geht und zwar zum Fühlen angespornt wird, aber die Grund­struktur intakt bleibt. Allzu oft scheint die intellektuelle Krankheit, alles erklären und verstehen zu müssen, unwissentlich durch einen therapeutischen Prozeß verschlimmert worden zu sein, bei dem es sich hauptsächlich um Erklärungen dreht.

Es gehört zur Methode der konventionellen Psychotherapie, daß wir unsere unbewußten Gefühle und Bedürfnisse verstehen und uns dadurch ändern, daß wir sie bewußt machen. Die Primärtheorie ist der Ansicht, daß Bewußtheit das Ergebnis des Fühlens ist; es bringt keine Lösung, wenn Bedürfnisse nur bekanntgemacht werden.

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Der Grund dafür ist, daß Bedürfnisse (und verleugnete Äußerungen, sowohl verbal als auch körperlich, werden zu Bedürfnissen, bis sie aufgelöst werden) nicht in einer Kapsel im Gehirn ruhen. Sie müssen organismisch gefühlt werden, denn Bedürfnisse dringen in den ganzen Körper ein. Wenn dem nicht so wäre, würde es keine psychosomatischen Symptome geben. Wenn es stimmt, daß Spannung das abgetrennte Urbedürfnis ist und diese Spannung sich im ganzen System findet, dann ist es klar, daß Bedürfnisse körperlich sind. Sonst müßten wir zu dem Schluß kommen, daß Bedürfnisse nur in einer Gehirnkammer ruhen und es vollauf genügt, das Unbewußte bewußt zu machen.

Überdies müssen die Bedürfnisse nicht nur auf total körperliche Weise empfunden, sondern so wie sie waren, wiedererlebt werden. Der Grund, warum ein erwachsener primärtherapeutischer Patient sich schließlich von seinen Bedürfnissen befreien kann, ist, daß sie in der Kindheit auftraten und, sobald sie aufgelöst sind, nicht länger echte Bedürfnisse des Erwachsenen sind. 

Ein Patient wurde früh im Leben dadurch Mutters <braver Junge>, daß er sich nie die Hosen naßmachte. Als er größer wurde, mußte er nur selten urinieren. Bei der Therapie urinierte er fast stündlich, bis er die Zeiten wiedererlebte, als er zwar urinieren mußte, es aber zurückhielt, um geliebt zu werden. Nachdem er es wiedererlebt hatte, war das Bedürfnis weg.

Obwohl es heute auf der Welt unbeschreibliche Tragödien gibt, scheint der Sinn für das Entsetzliche nicht auszureichen. Vielleicht ist es neurotisch, wenn wir zulassen, daß solche Grausamkeiten geschehen, weil wir alle so eilig von unserem persönlichen Schrecken davonlaufen. Darum können neurotische Eltern nicht erkennen, welche Greuel sie ihren Kindern antun, darum begreifen sie nicht, daß sie einen Menschen langsam umbringen. Sie sehen diesen Menschen gar nicht. Das gesell­schaftliche Ergebnis dieses Massen-Verleugnungs­mechanismus ist dem ähnlich, was bei einzelnen geschieht — ein Verhalten, das mit der Realität nicht mehr in Einklang ist. Das ermöglicht so vielen von uns, sich einer Gehirnwäsche zu unterziehen: wir hören und sehen nur, was unseren Urschmerz lindert, und berauben unsere Körper des Fühlens.

Wenn ein irreales System Bedürfnisse nicht befriedigen kann, muß es statt dessen Hoffnung und Kampf anbieten. Auf diese Weise verzichten manche Menschen bereitwillig auf reale Bedürfnisse, um nach symbolischen Werten zu streben — Macht, Prestige, Status und Erfolg. Aber die symbolische Befriedigung kann nie ausreichen, weil das Bedürfnis bestehen bleibt.

Eine Reihe von Psychologen und Psychiatern hat die doktrinären Schulen der Psychotherapie verlassen, bezeichnet sich nicht mehr als Freudianer oder Jungianer und zieht eine eklektische Methode vor. Offenbar wird nicht ausreichend verstanden, daß dieser Eklektizismus ein invertierter Solipsismus sein kann, wobei fast alles wahr sein kann, weil nichts wahr ist.

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Eklektizismus, würde ich meinen, ist eine Abwehr gegen den Glauben an eine einzige Realität; er nährt den Irrglauben, daß wir für alle Betrachtungs­weisen aufgeschlossen sind. Ich glaube, daß sich die Psychologie vom Fühlen des einzelnen Patienten selbst abgeschnitten und Hypothesen über gewisse Verhaltensweisen ersonnen hat, die auf Tierforschungen beruhen oder auf vor Jahrzehnten aufgestellten Theorien. Diese theoretischen Abstraktionen haben sich bei der Erklärung und Voraussage psychischer Prozesse oft als wenig besser erwiesen als die Ansicht eines Patienten über sein eigenes Verhalten.

Vielleicht sollten wir nicht erwarten, daß Psychologen anders sind als andere Leute. Die von ihnen übernommenen Theorien sind einfach intellektuelle Anschauungen vom Menschen und seiner Welt. Diese Vorstellungen müssen zu den übrigen Vorstellungen des Psychologen passen — das heißt, sie müssen dazu beitragen, das Abwehrsystem zu stärken und den Urschmerz (die Wahrheit) zurückzuhalten. Sofern der Psychologe also nicht ziemlich abwehrlos ist, ist es unwahrscheinlich, daß er eine Betrachtungs­weise übernehmen wird, die darauf aufbaut, daß keine Abwehr­mechanismen vorhanden sind und die Menschen sich dem totalen Urschmerz aussetzen. Wollte man versuchen, einen Psychologen mit einem guten Abwehrsystem dazu zu bringen, eine Reihe neuer Ideen über Individuen zu übernehmen, wäre es ungefähr so, wie wenn man versuchte, einem Patienten seine irrealen Ideen auszureden, ihm seinen Urschmerz auszureden.

Im großen und ganzen hat sich die Psychotherapie bisher mit Interpretation befaßt. Das läßt darauf schließen, daß Psychologen über einen ganz besonderen Schatz von Wahrheiten über das menschliche Dasein verfügen. Weder glaube ich, daß es solche universalen Wahrheiten gibt, die ein Mensch einem anderen übermitteln kann. Psychische Probleme können meiner Ansicht nach nur von innen nach außen, nicht von außen nach innen gelöst werden. Niemand kann einem anderen sagen, welche Bedeutung seine Akte haben.

Und wenn ein Patient zu fühlen vermag, dann bin ich überzeugt, daß alle Kurven, Tests, Diagramme und Schemata, die wir aufgestellt haben, um das menschliche Verhalten zu verstehen, unnötig sind, denn sie scheinen nur die symbolischen Handlungen der Menschen zu symbolisieren. Ich schlage vor, daß wir davon Abstand nehmen, das zu analysieren und zu behandeln, was irreal ist, und gleich zu dem übergehen, was real ist.

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Ich finde es bedauerlich, daß Psychologen so viel Zeit darauf verwandt haben, ihre Beschreibungen des menschlichen Verhaltens (der Tricks und Kniffe) zu vervollkommnen, weil sie glauben, daß eine solche Vervollkommnung Aufschlüsse über das menschliche Verhalten erbringen wird. Aber Beschreibungen bieten keine Lösungen. Sie erklären das Warum nicht; wie ausführlich die Beschreibung auch sein mag, sie bringt uns der Lösung keinen Schritt näher.

 

Nachdem der Leser nun so weit gekommen ist, wird er sich vielleicht fragen, wer die Primärtherapie richtig durchführen kann. Unsere Erfahrungen mit der Ausbildung von Psychologen im Institut für Primärtherapie lassen erkennen, daß nur jemand, der die Therapie durchgemacht hat, sie praktizieren kann. Denn wer den ganzen Prozeß durchlaufen hat, hat die beste Möglichkeit gehabt, die Techniken und ihre Wirkung zu begreifen. Zweitens, und das ist wichtiger, darf kein signifikanter, blockierter Urschmerz da sein, wenn Aussicht bestehen soll, erfolgreiche Arbeit bei einem Patienten zu leisten. Jemand, der psychisch nicht gesund ist, übt vielleicht zu viel Kontrolle aus und steuert den Patienten von seinem Urschmerz weg. Oder wenn er selbst seinen eigenen Urschmerz zurückhält, dann zögert er vielleicht gerade in dem Augenblick, da der Patient einen Anstoß braucht, um an den Rand eines Urerlebnisses zu gelangen. 

Ein neurotischer Primärtherapeut, der sich als <Fachmann> aufspielt, wird den Patienten vielleicht mit Einsichten oder Fachausdrücken bombardieren. Wenn er möchte, daß der Patient ihn gern hat, ist er vielleicht nicht imstande, das Abwehrsystem des Patienten anzugreifen. Was immer er tut, er darf den Patienten nicht seiner Gefühle berauben. Das geschieht nämlich leicht; ich erinnere mich, daß ich zu der Zeit, als ich selbst noch nicht viel Erfahrung mit Urerlebnissen hatte, zu einem jungen Mann sagte, der über die Tragödie seines Lebens jammerte: »Sie sind doch erst zwanzig; Sie haben ja noch ein ganzes Leben vor sich.« Damit beraubte ich ihn des Bedürfnisses, die Tragödie seiner bisherigen zwanzig Jahre zu empfinden.

Ein Primärtherapeut darf keinen Abwehrmechanismus haben. Er muß es zulassen, daß aus seinen Patienten ein entsetzlicher Urschmerz hervorbricht, und das kann er nicht, wenn er selbst noch eine Abwehr (gegen Schmerz) hat. In diesem Fall wird der Therapeut automatisch versucht sein, einen Patienten zu beruhigen und ihm gut zuzureden, wenn genau das Gegenteil nötig sein mag. Ich glaube nicht, daß Patienten überhaupt beruhigt werden wollen. Sie brauchen jemanden, der sie sein läßt, was sie sind — selbst wenn das bedeutet, daß sie unglücklich sind!

Ein irrealer Therapeut wird vielleicht unwissentlich seinen Patienten zwingen, seine Irrealität zu akzeptieren. Sein Prestige und seine Position repräsentieren für den Patienten Realität; selbst wenn er monatelang kaum mit seinem Patienten spricht, wird seine Unzugänglichkeit oft als ein übliches Verfahren akzeptiert. 

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Wenn der Therapeut kühl und unnahbar ist, wird der Patient wieder um Warmherzigkeit kämpfen; ist der Therapeut intellektuell dominierend, wird implizit erwartet, daß sich der Patient dem Intellekt unterwerfen muß. Der Patient sollte sich dem Therapeuten gegenüber auf keine bestimmte Weise verhalten müssen; er darf nie fühlen, daß der Therapeut Bedürfnisse hat, die er bewußt oder unbewußt befriedigen muß.

Wie steht es mit den beruflichen Qualifikationen eines Primärtherapeuten? Er muß etwas von Physiologie und Neurologie verstehen, damit er nicht einen organischen Gehirnschaden als etwas Psychisches behandelt. Er muß Verständnis für wissenschaftliche Methodologie haben und wissen, worin ein Beweis besteht. Er muß lernen, nicht abstrakt über das zu spekulieren, was in den Menschen vorgeht, sondern muß aufgeschlossen genug sein, um den Patienten ihm sagen zu lassen, was real ist.

Er muß sowohl sensibel als auch auffassungsfähig sein. Das bedeutet natürlich, daß er seinen ganzen Urschmerz empfunden hat. Dadurch wird es ihm automatisch möglich, andere zu verstehen. Wenn er den Rhythmus seines eigenen Lebens spürt, wird er imstande sein, die Zusammenhanglosigkeit bei anderen zu spüren. Er wird fühlen können und daher wissen, wenn ein anderer nicht fühlen kann. Kurz, er wird Eigenschaften haben, die viele von uns in den ersten Lebensjahren eingebüßt haben: Ehrlichkeit, Offenheit, Güte und Warmherzigkeit.

Ich glaube nicht, daß ein Neurotiker (ein nichtfühlender Mensch), wie viele theoretische Kenntnisse er auch besitzt, einem neurotischen Patienten ehrlich helfen kann. Er kann es nicht wissen, wann der Patient das Fühlen blockiert oder wann er es zum Ausdruck bringt, wenn er (der Therapeut) das Fühlen blockiert. Neurotisch zu sein bedeutet, nicht in der Gegenwart zu leben. Der Primärtherapeut muß jede Sekunde bei seinem Patienten sein. Er muß es spüren, wenn das Gefühl im Aufsteigen ist, und wissen, wie man ihm weiterhilft. Das kann er nicht, wenn er sich komplizierte Erklärungen für seinen Patienten ausdenkt.

Wie irreal der Therapeut ist, mag bestimmen, wie real der Patient werden kann, genau wie es weitgehend von der Irrealität eines Elternteils abhängt, wie real ein Kind wird. Nicht nur darauf kommt es an, was der Therapeut tut, sondern auch darauf, was er ist!

Es gibt bestimmte primärtherapeutische Techniken, doch diese Techniken sind zwecklos in der Hand eines Neurotikers, selbst wenn der Betreffende viel von Physiologie, Soziologie und psychologischen Theorien weiß.

Der Primärtherapeut hat es nicht mit einem <analytischen> Patienten mit Überich-Schwächen zu tun und auch nicht mit einem <existentiellen> Patienten mit einer Lebenskrise; er befaßt sich, kurz gesagt, nicht mit Kategorien oder theoretischen Typen.

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Wenn ein Patient zur Therapie kommt, wissen wir, daß er gewöhnlich unrealistisch handelt. Wir halten es nicht für nötig, diese Handlungen zu klassifizieren oder etwas anderes aus ihnen zu machen — z.B. mangelhafte psychosexuelle Identifikation. Der Primärtherapeut behandelt nicht einen Zwangsneurotiker oder Hysteriker; er behandelt einen Menschen, der auf eine bestimmte Weise seine Gefühle verbirgt. Womit er sie verbirgt, interessiert den Therapeuten höchstens beiläufig; er befaßt sich allein mit der zugrunde hegenden Realität. Das Mißliche für den neurotischen Patienten ist, daß er sein Leben lang irreale Dinge getan hat und das vermutlich bei der Wahl eines Therapeuten fortsetzt. Er sucht sich unter Umständen Pseudopsychotherapien und Pseudopsychotherapeuten aus, um so zu tun, als werde er gesund ohne Urschmerz, der, wie er im Grunde seines Herzens weiß, notwendig ist, um wirklich gesund zu werden. 

Die Therapie ist allzuoft wie sein sonstiges Leben — symbolisch für das einzig Wahre, aber nicht das einzig Wahre. Er beteiligt sich vielleicht an Traumanalyse und besonderen Gruppentherapien, die von Laien geleitet werden. Allzuoft mag der Neurotiker, der Zeit seines Lebens in Eile ist, zu <Schnell>-Therapien neigen — Wochen­endseminare, sechswöchiges Sensitivity Training oder Selbst­erfahrungsprogramme. Häufig sind diese Programme darauf ausgerichtet, aus den Teilnehmern neue Menschen zu machen, während das Problem meiner Ansicht nach darin besteht, sie zu dem zu machen, was sie sind.

Eingang und Ausgang der therapeutischen Praxisräume zu trennen, ist ein Vermächtnis aus der Frühzeit der Psychoanalyse. Die Tatsache, daß kein Patient einen anderen sieht, hat vielleicht in Verbindung damit, daß im Sprechzimmer keine Uhren vorhanden sind, dazu geführt, daß der Therapie etwas Gespenstisches anhaftet und der Patient den Eindruck gewinnt. Gemütskrankheiten seien gewissermaßen schmählich und geheimzuhalten.

Tatsächlich verläßt der Patient das Sprechzimmer des Arztes oft mit geröteten Augen und zerzaustem Haar, aber ich sehe keinen Grund, warum andere Patienten diese Realität nicht auch sehen sollen. Wenn der Patient beim Weggehen wütend und deprimiert ist, warum es verbergen? Die Patienten berichten sogar oft, daß es ihnen geholfen habe, wenn sie andere sahen, die das Sprech­zimmer in Erregung verließen. Auf diese Weise erfahren sie, daß hinter den geschlossenen Türen zum Fühlen ermutigt und nicht davor zurückgeschreckt wird.

Man kann sich fragen, warum es bei den normalen Therapeuten nicht oft spontan zu Urerlebnissen kommt. Ein wichtiger Grund könnte sein, daß ein überlasteter Therapeut sich wahrscheinlich nicht die Zeit nehmen wird, die erforderlich ist, damit ein einzelner Patient zu einem tiefen Gefühlserlebnis gelangt. Oft mag der Patient gerade im Begriff sein, zu etwas Wichtigem zu kommen, wenn die fünfzig Minuten um sind und er gehen muß.

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In einer Gesellschaft mit dem Wahlspruch <Zeit ist Geld> ist es oft schwierig, jemanden zu finden, der genug Zeit hat, um etwas gründlich zu tun. Primärtherapeutische Patienten erwähnen übereinstimmend, wie entspannend es sei zu wissen, daß sie in der Drei-Wochen-Periode der einzige Patient in Einzeltherapie sind und nur ihre Gefühle das Ende der Sitzung bestimmen.

Zeit ist nicht die einzige Erwägung. Wenn etwas Ungewöhnliches in der konventionellen Therapie geschieht, zum Beispiel ein beginnendes Urerlebnis, wird der Therapeut allzuoft versuchen, das Ereignis irgendeiner vorher ersonnenen theoretischen Interpretation anzupassen, statt die Natur ihren Lauf nehmen zu lassen. Der Primärtherapeut muß bereit sein, fast ebensosehr die Beherrschung zu verlieren wie sein Patient. Er muß es zulassen, daß die Ereignisse sich ereignen, für die er nicht sofort eine Erklärung parat hat. Außerdem wird dieses ungewöhnliche Ereignis wahrscheinlich nicht im Zusammenhang mit der Psycho­therapie geschehen, bei der nur die Seele des Patienten beteiligt ist. (Man bedenke nur die schlichte Tatsache, daß der Patient auf dem Fußboden liegt und nicht auf einem Stuhl sitzt.) Auch der Therapeut muß bereit sein, sich aus seinem Sessel zu erheben und herumzugehen.

Wenn der Therapeut den Versuch aufgeben könnte, seinen Patienten zu <verstehen>, dann würde er vielleicht Zeit haben, eine wichtige Entdeckung zu machen: Es gibt nichts zu verstehen. Der Patient, der seinen Urschmerz fühlt, wird ihn ohne Hilfe ganz verstehen. Zu viele von uns Fachleuten sind zu sehr daran interessiert, recht zu haben, zu beweisen, daß unsere Theorien stimmen, und haben unsere Patienten zu fest an die Kandare genommen. Damit soll nicht gesagt sein, daß Theorie nicht wichtig sei; wir rufen Tag für Tag Urerlebnisse hervor, weil wir eine Theorie haben, die uns leitet. Aber die Theorie sollte sich aus der Beobachtung ergeben.

Ich halte es für möglich, daß in absehbarer Zeit ein großer Durchbruch in der Behandlung psychischer Krankheiten erzielt werden wird. Nachdem die Primärtherapie erst relativ kurze Zeit angewandt wurde, sehe ich keinen Grund, warum wir noch länger in einem Zeitalter der Angst leben müssen.

Da wir die Mitarbeit und Hilfe der Fachleute für Psychohygiene brauchen, sei eine Warnung ausgesprochen: Man hüte sich davor, die Primärtheorie in Theorien einzubauen, mit denen Therapeuten im Laufe der Jahre vertraut wurden. Wenn eine frühe Terminologie angewandt wird, um Urerlebnisse zu erklären, und die Primärtheorie mit etwas verglichen wird, was jemand vor Jahrzehnten sagte, dann bedeutet das, sich an dem neurotischen Kampf zu beteiligen, etwas Neuem einen alten Sinn zu verleihen. Obwohl die Primärtheorie Ähnlichkeit mit vielen unterschiedlichen Methoden hat, möchte ich doch bitten, daß sie unter Verwendung ihrer eigenen Termini für das, was sie ist, untersucht werde.

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Natürlich glaube ich, daß es eine Wahrheit gibt — eine Realität. Die Voraussagbarkeit der primär­therapeut­ischen Technik läßt mich annehmen, daß das Urschmerzprinzip eine der großen Wahrheiten sein mag, die das menschliche Verhalten diktiert. Allem Anschein nach gibt es eine Reihe Gesetze, die das menschliche Verhalten und insbesondere neurotische Prozesse regeln und nicht weniger exakt sind als die Gesetze der Naturwissenschaften.

Es gibt nicht zahlreiche Erklärungen für die Schwerkraft, und es sollte auch nicht tausenderlei Betrachtungs­weisen geben, wie die Neurose zu erklären ist. Ich kann nicht einsehen, daß es eine große Zahl psychologischer Theorien geben soll, von denen jede gleich stichhaltig ist und jede etwas Wichtiges und Wahres beisteuert. Wenn eine Theorie stichhaltig ist, und ich glaube, daß die primärtheoretischen Begriffe stichhaltig sind, dann sind andere Betrachtungsweisen eben nicht stichhaltig. Wenn ich sage, daß Neurose das symbolische Ausagieren verborgener Gefühle ist und wir die Neurose dadurch beseitigen können, daß die Gefühle freigelegt werden, und wenn wir Gefühle freilegen und durchweg und voraussagbar das neurotische Ausagieren beseitigen, dann beweisen wir damit unsere Hypothesen. Ich glaube, der Grund, warum es so viele Betrachtungsweisen der Neurose gibt, ist, daß wir keine voraussagenden Theorien aufgestellt haben.

Daß es keine unbegrenzten Möglichkeiten gibt, das Verhalten zu erklären, mag manche Leute abstoßen. Nach liberaler Tradition glauben wir, daß jedes Ding zwei Seiten hat und niemand allein im Besitz der Wahrheit sein kann. 

Die Leute werden die physikalischen Gesetze nicht in Zweifel ziehen, die ihnen Elektrizität ins Haus liefern, aber sie möchten vielleicht glauben, daß der Mensch zu kompliziert sei, um von naturwissenschaftlichen Gesetzen gesteuert zu werden. Eine Lösung zu akzeptieren bedeutet, den Kampf um die Wahrheit aufzugeben. Wir scheinen uns im Kampf wohler zu fühlen.

Manche von uns ziehen das neurotische Wolkenkuckucksheim vor, wo nichts absolut wahr sein kann, weil es uns von anderen persönlichen Wahrheiten entfernen kann, die so weh tun. Der Neurotiker ist persönlich daran interessiert, die Wahrheit zu verleugnen, und das müssen wir in Kauf nehmen, wenn wir behaupten, eine Wahrheit sei gefunden worden. Die Wahrheit zu finden heißt, Freiheit zu finden. Es bedeutet, die neurotische Wahlfreiheit zu eliminieren, die nicht mehr ist als rationalisierte Anarchie. Der Neurotiker, der möchte, daß es ihm freisteht, alle Seiten zu sehen, kann oft nicht glauben, daß er auch direkt zu dem gelangen kann, was wahr ist — nicht meine Wahrheit, sondern seine. Er muß nur die Reise in sein Inneres antreten, das sehr viel näher ist als Indien.

Wissenschaft ist das Streben nach Wahrheit, was nicht von vornherein ausschließt, daß sie gefunden wird. Allzuoft haben wir in den Sozial­wissenschaften uns mit statistischen statt mit menschlichen Wahrheiten begnügt und Fälle gesammelt, um unseren Standpunkt zu <beweisen>, während wissenschaftliche Wahrheit, wie mir scheint, letztlich auf Voraussagbarkeit beruht — bewirken, daß Heilung eintritt, nicht einfach theoretische Grundprinzipien aufstellen, um später zu erklären, warum sich der Zustand eines Patienten bei dieser oder jener Therapie besserte.

Wir brauchen noch sehr viel weitere Forschungen über die Primärtheorie und Primärtherapie und planen, diese durchzuführen. Indes sind die bisherigen Ergebnisse vielversprechend genug, um mich zu überzeugen, daß die Primärtherapie bei den Patienten anhaltende Wirkungen hervorrufen wird, weil sie nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als die Person zu dem zu machen, was sie schon ist. Sobald das geschieht, kann der Betreffende sich nicht mehr in seine Irrealität zurückziehen, selbst wenn er wollte. Nach der Primärtherapie wieder der Neurose zu verfallen, würde darauf hinauslaufen, daß man die Körpergröße einbüßt, die man erlangt hat, den Bart verliert, der schließlich gewachsen ist, oder daß die Brüste wieder auf den Umfang zusammen­schrumpfen, den sie vor der Therapie hatten — unwahrscheinliche Geschehnisse und ein wichtiger Hinweis darauf, daß wir nicht eine Geisteskrankheit heilen, sondern eine psychophysische.

Meine größte Hoffnung ist, daß Fachleute eine revolutionäre Betrachtungsweise der Neurose in Betracht ziehen und vielleicht einsehen werden, daß jetzt fast ein Jahrhundert der Psychotherapie vergangen ist, ohne daß ein signifikanter Fortschritt bei Geistes­krankheiten erzielt wurde. 

Ich glaube, wir müssen uns darüber klar werden, daß Flickwerkmethoden, um ein irreales System zu beseitigen, nicht erfolgreich sein können und es niemals waren. Dem leidenden Neurotiker, der vielleicht glaubt, die Primärtherapie sei zu umwerfend oder zu schwierig, um sie durchzumachen, möchte ich nur sagen, daß die herkulische Aufgabe darin besteht, zu sein, was man nicht ist. Man selbst zu sein ist das Aller­einfachste.

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Ende

 

 

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