Start    Weiter

2. Das intrauterine Leben  

 

 

20-34

Über das Leben im Uterus, in der Gebärmutter, liegen nur unzulängliche Untersuchungen vor. Doch wir haben unbezweifelbare Beweise dafür, daß die körperliche Verfassung der Mutter den Fötus, die Leibesfrucht, beeinflußt. Mit anderen Worten, der Keim für eine Neurose wird mit den jeweiligen Lebens­erfahrungen gesetzt, und diese Erfahrungen beginnen nun einmal im Mutterleib

Bereits mit dem zweiten Monat im Uterus arbeitet das Gehirn des Kindes und sendet Nervenimpulse aus, welche die Organe des winzigen Körpers koordinieren. Obwohl das Gehirn noch rudimentär, noch nicht völlig ausgebildet ist, kann es bereits die aus der uterinen Welt stammenden Sinneseindrücke registrieren. Ich wähle mit Absicht den Begriff »registrieren«, weil das winzige Nervensystem in einer Umwelt mit äußeren Einflüssen lebt, mit Einflüssen, die unter Umständen zu einer neurotischen Entwicklung führen, lange bevor sie vom Gehirn des Kindes begrifflich erfaßt werden können. 

Wenn eine Mutter Alkohol zu sich nimmt, können Spuren dieser Substanz in den Organismus des Fötus gelangen. Wenn sie Heroin spritzt, kann der Fötus süchtig werden. Wenn sie raucht, kann von daher eine verzögerte Entwicklung des Fötus resultieren; das Kind kommt dann körperlich kleiner zur Welt, als es der Fall wäre, wenn die Mutter nicht geraucht hätte.

Betrachten wir den einfachen Fall, daß eine schwangere Mutter raucht. Untersuchungen an Affen haben gezeigt, daß Nikotin in kurzer Zeit vom Körper der Mutter in den des Fötus gelangt.*  

* <Effects of Nicotine on the Unborn>, in: The Stethoscope, XXIV, Nr. 4, April 1969, S. 1.

Nikotin beeinträchtigt den Kreislauf des Fötus, indem es den Sauerstoffgehalt des Blutes reduziert. Es verlangsamt auch den Herzschlag des Fötus und senkt seinen Blutdruck. Anders ausgedrückt, eine Nikotininjektion bei einer trächtigen Äffin setzt ihren Fötus Belastungen aus, und man darf getrost annehmen, daß dies auch für den menschlichen Fötus gilt.

Einer Untersuchung an 17.000 britischen Kindern zufolge ist das Neugeborene einer starken Raucherin (täglich zehn Zigaretten und mehr nach dem vierten Schwangerschaftsmonat) in einer schlechteren körperlichen Verfassung als das Neugeborene einer Nichtraucherin; außerdem hat sich gezeigt, daß die soziale Entwicklung des Neugeborenen einer starken Raucherin beeinträchtigt ist.* 

Rauchen senkt nachweislich den Vitamin-C-Gehalt des Körpers und vermag die Zellstruktur nachteilig zu beeinflussen; unter Umständen kann auch die Synthese von Kollagen [Gerüsteiweiß, Eiweißkörper im Bindegewebe, in Sehnen, Knorpeln und Knochen]** beeinträchtigt werden. Raucher benötigen zweimal so viel Vitamin C wie Nichtraucher.

Die Untersuchung an den 17.000 britischen Kindern soll fortgesetzt werden; sie sollen im Abstand von vier Jahren auf ihren körperlichen Zustand und ihr soziales Verhalten hin untersucht werden.***  Eines der jüngsten Ergebnisse dieser Untersuchung: Mütter, die während der Schwangerschaft rauchen, haben 30 % häufiger Fehlgeburten als Nichtraucherinnen. Die überlebenden Kinder der Raucherinnen wurden im Alter von sieben Jahren auf ihre Körperlänge hin gemessen. Sie waren durchschnittlich 3,7 Zentimeter kleiner als die Kinder von Nichtraucherinnen. Außerdem hatten sie in der Schulzeit mehr Leseschwierigkeiten und häufiger psychische Probleme. Schließlich erschienen sie körperlich unausgeglichener und zeigten Unzulänglichkeiten beim Nachzeichnen einfacher Bildvorlagen.

Über die Auswirkungen des Rauchens auf den Fötus wissen wir offensichtlich nicht allzu viel, doch unser heutiges Wissen reicht aus, um sagen zu können, daß schwangere Frauen besser nicht rauchen sollten. Wir wissen nicht, um wieviel ängstlicher und angespannter rauchende Mütter sind als nichtrauchende und auf welche Weise die vom Rauchen ausgehenden Wirkungen dadurch beeinflußt werden. Anders ausgedrückt, Rauchen ist lediglich eine Nebenerscheinung innerer Spannungen; mit diesen Spannungen müssen wir uns befassen und versuchen, sie zu beseitigen, damit eine gesunde Schwangerschaft gewährleistet wird. Da das Nervensystem des Fötus um die Mitte der Schwangerschaft bereits weitgehend ausgebildet ist, kann man sich vorstellen, welchen Eindrücken der Fötus ausgesetzt ist, wenn er stündlich mit Nikotin bombardiert wird, mit einer Substanz, die den Sauerstoffgehalt des Blutes verringert.

  *    >Gravida's Smoking Seen Handicap to Offspring<, in: Obstetrics-Gynecology News 5, Nr.12, 15.Juni 1970, S. 16.
 **    Eckige Klammern enthalten Anmerkungen des Übersetzers.
***   R. Davie, N. Butler u H. Goldstein, From Birth to Seven, C. Longman, London 1972; Bericht dazu auch in der Londoner Times vom 4. Juni 1972. S. 27.

21


Auf einer Tagung der American Association for the Advancement of Science*  im Frühjahr 1970 wurde ein Untersuchungsbericht über trächtige Ratten vorgelegt, die über längere Zeit hin lauten Geräuschen ausgesetzt worden waren. Ergebnis des Experiments: Die Ratten warfen körperlich kleinere Junge. Man darf mithin annehmen, daß Streß (oder Angst) die fötale Entwicklung unmittelbar beeinflußt. Nicht nur die mit lärmenden Geräuschen traktierten trächtigen Ratten hatten einen beschleunigten Herzschlag, auch die Herzschlagfrequenz ihrer Föten war heraufgesetzt.

Das heißt, daß Streß, der auf die schwangere Mutter einwirkt, zur Neurose bei ihrer Nachkommenschaft führen kann. Wir haben Beweise dafür, daß Geräusche unmittelbar auf den Fötus einwirken. In der Säuglingsstation eines Krankenhauses ließ man ein Tonband abspielen, auf dem das Schlagen eines Herzens aufgenommen worden war. Bei dem Experiment ging das Weinen und Schreien der Säuglinge auffällig zurück. Dies dürfte ein Hinweis dafür sein, daß der Fötus den Herzschlag der Mutter registriert und daß die Regelmäßigkeit (oder Unregelmäßigkeit) des Herzschlags das Befinden des Fötus verändert. Der Herzschlag der Mutter während der Schwangerschaft dürfte sich mithin auf die spätere Verfassung des Kindes auswirken.

Es scheint, daß der gleichmäßige Herzschlag einer schwangeren Mutter mit dazu beiträgt, eine kindliche Neurose zu verhindern. Gleichmäßige Töne wirken beruhigend. Wir alle können dabei einschlafen. Unregelmäßige Geräusche hingegen sind beunruhigend. Wenn Erwachsene infolge eines Erbfaktors derartig auf Geräusche reagieren, warum sollte dies nicht auch für den Fötus zutreffen? Geräusche werden von der Haut wahrgenommen, mehr noch: es scheint bewiesen, daß bestimmte Hautpartien sogar die Geräuschquelle lokalisieren können. Der Fötus kann also mit der Haut gleichsam sehen.

Eine Mutter berichtete in der Primärtherapie, sie sei im achten Schwangerschaftsmonat in einen Park mit einem nahegelegenen Schießstand gegangen. Bei jedem Schuß habe sich das Baby in ihrem Leib heftig bewegt. Mit dem inzwischen acht Monate alten Säugling habe sie dann den Park erneut aufgesucht; nach den Worten der Mutter zeigte das Kind bei jedem Schuß eine ungewöhnlich starke Schreckreaktion.

* Amerikanische Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaften

22


Experimenten zufolge, die in Schweden angestellt wurden, reagiert der Fötus selbst auf schwache Geräusche mit einer Beschleunigung des Herzschlags. Erhöhte Herzschlagfrequenz ist als Streßreaktion anzusehen. Der Fötus hat zwar von dem Streß keine begriffliche Vorstellung, doch das bedeutet noch lange nicht, daß er davon unberührt bleibt oder daß der Streß keine langfristigen Auswirkungen auf sein späteres Verhalten ausüben kann. Während des Lebens im Uterus und in der Folgezeit erlebt das Kind Streßsituationen, die ihre Spuren im Organismus zurückgelassen und ein primäres Reservoir von Gefühlen bilden, das eines Tages überfließen und zu Symptomen führen kann.

Der New Yorker Facharzt für Ohrenheilkunde S. Rosen kam bei seinen Untersuchungen zu aufschluß­reichen Ergebnissen: »Wenn das Ohr plötzlich von einem Geräusch getroffen wird, beschleunigt sich der Herzschlag, die Blutgefäße verengen sich, die Pupillen weiten sich, und Magen, Speiseröhre sowie die Därme werden von Spasmen [Krämpfen] ergriffen ... Man mag das Geräusch vergessen, der Körper vergißt es nicht.« (Zeitschrift Life vom Juni 1970) 

Dr. Rosen beschreibt in seinem Artikel eine Streß- oder Angstreaktion. Ein Säugling, der nicht in der Lage ist, sich auf die Geräuschquelle einzustellen oder etwas dagegen zu unternehmen, erfährt eine Streßreaktion. Ob der menschliche Organismus sich im Uterus befindet oder nicht, spielt dabei keine Rolle, soweit es um die körperliche Reaktion auf die Geräuschbelastung geht.*  Während der Schwangerschaft bereitet der Fötus sich auf sein Menschsein vor. Sinneseindrücke lösen bei ihm gesamtkörperliche Vorgänge aus; sie beeinflussen die Sekretion, die Hormonbildung, die Gehirnentwicklung usw.

Das heißt, Sinneseindrücke sind Vorläufer von Gefühlen. Katastrophale Eindrücke können eine Entwick­lungs­störung einleiten, die sich nach der Geburt zu einer Neurose mit all ihren Begleitumständen auswächst. Bei scheinbar genetisch bedingten Unterschieden zwischen Neugeborenen kann es sich durchaus um die bereits durch die Lebenserfahrungen im Mutterleib geformte »Persönlichkeit« handeln. Im Falle einer Raucherin, die ein körperlich kleines Kind zur Welt bringt, hat sicherlich die Belastung des Fötus durch das Rauchen auf irgendeine Weise mit dazu beigetragen, die für das Wachstum notwendige Hormonbildung zu beeinträchtigen.

* Junge Ratten, die über einen längeren Zeitraum hin Lärmbelastungen ausgesetzt worden waren, waren anfällig für Krampf­zustände und Atembeschwerden. (Tagungsprotokolle der American Association for the Advancement of Science vom Juni 1970.) Anderen Untersuchungen zufolge neigen lärmbelastete Ratten häufiger als unbelastete Ratten zu Virusinfektionen.

23


Angesichts der Tatsache, daß Hormone auf komplizierte Weise unsere Gefühle steuern, erscheint es logisch anzunehmen, daß eine gestörte Hormonbildung unsere Gefühlsfähigkeit nachteilig beeinflußt.

Gelegentlich sind katastrophale Sinneseindrücke nicht sofort als solche erkennbar. Wenn zum Beispiel eine schwangere Frau einen hohen Berg besteigt, in einem Flugzeug fliegt, das keine Anlage zum Ausgleich des Luft­drucks in der Passagierkabine besitzt, oder deren Kreislauf aufgrund innerer Spannungen Belastungen aus­gesetzt ist, dann kann es geschehen, daß der Fötus unter Sauerstoffmangel leidet und unangenehme Empf­indungen verspürt. Obgleich die Plazenta [Mutterkuchen] den Sauerstoffmangel mittels verstärkter Eigen­entwicklung auszugleichen sucht, kommt man doch um die Tatsache nicht herum, daß der Fötus den Sauer­stoffmangel auf irgendeine Weise registriert.

Ständiges Unbehagen blockiert oder stört automatisch die Sensitivität des Körpersystems – und führt in dem genannten Fall zum Beispiel zu einer Überentwicklung der Plazenta –, ohne daß mit dem Vorgang die bewußte Wahrnehmung von Schmerz verbunden sein muß. Mit anderen Worten, der Fötus kann Unbehagen (das ich Schmerz nenne) ohne bewußte Wahrnehmung des Schmerzes empfinden. Sinneseindrücke sind entscheidende Bestandteile des Bewußtseins. Heftige Sinneseindrücke können nachträglich Auswirkungen auf das Bewußtsein des Neugeborenen haben. Der Säugling kann weniger rege, aufgeweckt und lebenskräftig sein; die Entwicklung seines Auffassungsvermögens kann sich verlangsamen und dergleichen mehr.

Man hört gelegentlich den Einwand, daß selbst heftige Sinneseindrücke keine anhaltenden Auswirkungen auf den Fötus haben können, weil viele zur Wahrnehmung und Einordnung dieser Eindrücke notwendige Gehirnzellen noch nicht myelinhaltig seien.* Delgado hat jedoch darauf hingewiesen, daß Rattenjunge bereits Tage vor der Geburt Bewegungen ausführen, obwohl die Myelinisation der dafür notwendigen Gehirnstrukturen erst Tage nach der Geburt abgeschlossen ist.**

* Myelin ist eine »fettähnliche«, die Nervenfasern bedeckende Substanz [Lipoid], die anzeigt, daß die Nerven funktionsfähig sind. Der Fötus kann auf den mütterlichen Herzschlag konditioniert werden. Die Tatsache, daß der Fötus nach der Geburt Herzschlagtöne als angenehm und beruhigend empfindet, läßt den Schluß zu, daß sich bereits im Uterus eine Art systematischen Gedächtnisses ausgebildet hat.

** Jose Delgado, Physical Control of the Mind, Harper& Row, New York 1969. Ich werde dieses Thema in einem neuen Buch mit dem Titel Primal Man: The New Consciousness im einzelnen behandeln.

24


Wenn eine Frau für ihr Wohlbefinden Sorge tragen sollte, dann während der Schwangerschaft. Schlechte Ernährung, starker Alkoholkonsum usw. schädigen ihr Kind. Die schwangere Frau hat bereits eine Beziehung zu ihrem Kind aufgenommen. Wenn ihr das Wohl des Kindes am Herzen liegt, dann wird sie dafür sorgen, daß sie in guter körperlicher und psychischer Verfassung ist, nicht herumhetzt, nicht bis zum letzten Augenblick allein im Auto zur Arbeit fährt, nicht alle paar Minuten ihre anderen Kinder anschreit, kurz alles unterläßt, was zu verstärkten inneren Spannungen führt. Ihr Körper muß entspannt sein.

Ungenügende Sauerstoffzufuhr ist nicht die einzige Mangelerscheinung, die einem Fötus widerfahren kann. Als weiterer entscheidender Faktor wäre die falsche Ernährungsweise der Mutter zu nennen. Die gesunde Mutter empfindet die Bedürfnisse des Fötus in ihrem Körper als Teil ihrer eigenen Bedürfnisse. Durch eine geeignete Diät während der Schwangerschaft wird sie diese Bedürfnisse gleichsam intuitiv befriedigen. Sie wird nicht aus Eitelkeit fasten, um schlank zu werden. Eine Mutter, die sich nicht richtig ernährt, fügt ihrem Kind Schaden zu. Seine Bedürfnisse werden nur mangelhaft erfüllt; dieser unterschwellige Mangel kann sich später womöglich in körperlichen Anfälligkeiten niederschlagen. Fasten kann das Nervensystem des Ungeborenen in einer Zeit schneller Entwicklung auf subtile Weise beeinträchtigen.

Wir alle wissen, daß eine falsche Diät unser körperliches Wohlbefinden stört. Doch wir machen uns nicht richtig klar, daß eine schwangere Frau ihrem Kind durch eine falsche Diät Leiden zufügt, auch wenn das Kind aufgrund seines noch unterentwickelten Bewußtseins diese leidvolle Erfahrung nicht wahrnimmt. Eine neurotische Mutter kann ihr Kind auch durch eine Früh- oder Spätgeburt schädlichen Einflüssen aussetzen. Nach meiner Überzeugung werden beide Geburtsarten weitgehend durch neurotische Störungen verursacht. So läßt sich zum Beispiel in den Gehirnbereichen, die bei der Verdrängung eine Rolle spielen, eine Konzentration der blutdrucksteigernden chemischen Substanzen Serotonin nachweisen. 

Eine der Begleitumstände erhöhten Serotonin­spiegels ist das Zusammenziehen der Blutgefäße. Diese von neurotischer Verdrängung verursachte chronische Verengung der Blutgefäße ist in manchen Fällen einer der Gründe für einen Spontanabort oder eine Frühgeburt. Übermäßiger Serotingehalt kann auch die Blutzufuhr in die Planzenta drosseln und damit die Versorgung des Fötus gefährden. Eine Frühgeburt hat stets zahlreiche gesundheitsschädliche Folgen, doch selten wird das psychische Trauma eines solchen Ereignisses berück­sichtigt.

25


Ein primär­therapeutisch behandelter Patient, der durch eine Frühgeburt zur Welt gekommen war, hatte in einem Geburtsprimal das Gefühl, plötzlich in die Welt gestoßen zu werden, ohne dazu bereit zu sein, und er kam aus diesem Primal mit der Einsicht, daß er sich während seines ganzen Lebens an Dinge geklammert, sich um einen dauerhaften Arbeitsplatz und konstante Lebensverhältnisse bemüht hatte und bei jeder Veränderung von Panik ergriffen worden war. Er hatte den starken Eindruck, daß seine Panikgefühle mit seiner Frühgeburt und dem Wunsch zusammenhingen, sich bis zur normalen Geburt im Mutterleib festzuklammern.

Ich bin sicher, daß es eine Reihe noch unbekannter biologischer Faktoren gibt, die eine Frühgeburt zur Folge haben. Doch ich bin gleichfalls sicher, daß zwischen diesen Faktoren und neurotischen Störungen eine enge Verbindung besteht. Patientinnen in der Primärtherapie, die Frühgeburten hinter sich hatten, wußten jedesmal mit Sicherheit, daß sie ihre Kinder frühzeitig zur Welt gebracht hatten, weil sie die Schwangerschaft nicht ertragen konnten und ihre Kinder nicht austragen wollten. Aus zahlreichen Untersuchungen geht hervor, daß Frühgeburten schädliche Folgen haben, angefangen von verzögerter geistiger Entwicklung bis zur größeren Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen der Atemwege. Freilich dürfte für viele dieser Störungen weniger die Frühgeburt als die Tatsache verantwortlich sein, daß frühgeborene Kinder in Brutkästen gelegt und folglich einen Teil der für ihre Entwicklung notwendigen Stimulierung, Wärme und Körperkontakt entbehren müssen. In diesem Zusammenhang sollte man bedenken, daß Frühgeborene in jeder Hinsicht noch Föten sind, die all die vom Mutterleib ausgehenden Stimulierungen benötigen.

Wenn Frühgeborene überhaupt Gelegenheit haben sollen, sich normal zu entwickeln, dann muß man ihnen ein größeres Quantum an taktiler, mit Berührung zusammenhängender Stimulierung bieten, als dies üblicherweise geschieht. Wie wir später sehen werden, beeinflußt solche Stimulierung unmittelbar das Wachstum der Gehirnzellen. In diesem Zusammenhang ist eine von Freedman und anderen durchgeführte Untersuchung an Zwillingen von Bedeutung. Die untersuchten Zwillinge hatten sämtlich ein geringes Geburtsgewicht (was als Folge von Frühgeburten angesehen wurde). Die eine Gruppe der Kinder wurde in ihren Bettchen geschaukelt, die andere nicht. Die stimulierten Kinder nahmen schneller an Gewicht zu als die nicht-stimulierten.*

26


Auch Spätgeburten laufen den natürlichen Bedürfnissen des Kindes zuwider, denn es wird ihm nicht gestattet, was ihm zusteht, nämlich zur richtigen Zeit zur Welt zu kommen. Neurotische Mütter, die sich einer Primärtherapie unterzogen, kamen zu der Erkenntnis, daß sie mit der verzögerten Geburt ihre Ablehnung dem Kind gegenüber zum Ausdruck gebracht hatten, Ablehnung aufgrund mangelnder Bereitschaft, sich um das Kind zu kümmern. Eine der Mütter erklärte, sie sei nur deshalb schwanger geworden, damit man sich um sie kümmere, und sie habe diesen Zustand möglichst lange beibehalten wollen. Das Zurückhalten des Kindes, der Unwille, es in die Welt zu setzen, ist neurotisch motiviert; die Mutter kann mit ihrem Verhalten unter Umständen zu einer allgemeinen Verzögerung der kindlichen Entwicklung beitragen.

Das Trauma der Spätgeburt zeigt sich an der Tatsache, daß die Sterblichkeitsquote spätgeborener Kinder doppelt so hoch ist wie die normal geborener. Da Kopf und Hüfte des Kindes größer sind als gewöhnlich (aufgrund des längeren Verbleibens im Mutterleib), ist die Geburt häufig mit Komplikationen verbunden, die traumatische Auswirkungen haben können. Eine Mutter, die sich nicht bereit fühlt, Mutter zu sein, die innerlich gespannt und verschlossen ist, die dazu neigt, Dinge nicht mitzuteilen, kann in unbewußter Absicht ihr Kind zu lange in sich behalten.

Was uns fehlt, sind Untersuchungen, die Aufschluß darüber geben, welcher Zusammenhang bei schwangeren Frauen zwischen dem Maß innerer Spannungen und der Art der Geburt besteht. Neigen unter stärkeren Spannungen lebende Frauen zu Spätgeburten? Besteht ein Zusammenhang zwischen inneren Spannungen bei der Mutter und größerer Häufigkeit von Hirnschäden und anderen schwerwiegenden Krankheiten beim Kind? Haben mütterliche Spannungen Einfluß auf die Sterblichkeitsquote von Kindern? Bei Tierversuchen ist dies nachweislich der Fall. Bei trächtigen Rattenweibchen, die während der Schwangerschaft häufig gestreichelt werden, ist die Zahl der überlebenden Jungen größer als bei Ratten, die nicht auf diese Weise behandelt werden.**

 

* D. G. Freedman, H. Boverman u. N. Freedman, >Effects of Kinesthetic Stimulation on Weight Gain and Smiling in Premature Infants<, Vortrag vor der Amencan Ortho-psychiatry Association in San Francisco, Kalifornien, im April 1960.

** J. Werboff et al., >Handling of Pregnant Mice<, in: Physiology and Behavior, 3, 1968, S.35-39.

27


Streicheln erzeugt offensichtlich ein Gefühl des Wohlbehagens, entspannt das organische System und läßt seine Funktionen optimal ablaufen. Natürlich ist der menschliche Organismus ein wenig komplizierter, doch nach meiner Meinung gilt für ihn der gleiche Grundsatz. Wenn eine Mutter als Säugling viel gestreichelt und gehätschelt wurde, dann wird ihr Organismus während und nach der Schwangerschaft mit einiger Sicherheit entspannter, ausgeglichener und damit ihrem Kind zuträglicher sein, als dies der Fall wäre, wenn sie selbst als Kleinkind auf Zärtlichkeiten verzichten mußte. Die Erfahrungen der Mutter als Säugling und Kleinkind bestimmen zum Teil ihr späteres Verhalten als Mutter.

Es wäre auch wichtig zu wissen, ob die inneren Spannungen einer schwangeren Frau den Wahrschein­lichkeits­grad erhöhen, daß ihr Kind unter Koliken oder Hauterkrankungen (Ekzemen) leiden wird. Wenn wir von Spannungen sprechen, dann meinen wir einen gesamtphysiologischen Zustand, der den Hormonhaushalt, den Muskelapparat, das Kreislaufsystem usw. umfaßt. Spannung ist lediglich ein Begriff, der den Zustand jener miteinander verbundenen organischen Systeme bezeichnet. Der Grund dafür, daß streichelnde Berührung bei Rattenweibchen die Überlebensquote ihrer Jungen positiv beeinflußt, liegt in der Tatsache, daß die Berührung und die damit einhergehenden Sinneseindrücke sich physiologisch umsetzen, indem sie Veränderungen bei den organischen Schlüsselsystemen bewirken.

Störungen im mütterlichen Hormonhaushalt können zu dauerhaften Schädigungen beim Fötus führen. Sie wirken sich unter Umständen auf die Gemütsverfassung des Kindes aus, das heißt, sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, ob ein Kind aggressiv oder passiv wird. Trächtige Primatenweibchen [höchstent­wickelte Säugetiere, Affen], denen männliche Hormone verabreicht wurden, brachten Junge zur Welt, die ein aggressiveres Verhalten an den Tag legten als die Jungen einer Kontrollgruppe von Primaten, denen keine männlichen Hormone injiziert worden waren. Der Nachwuchs der erstgenannten Primatengruppe zeigte ein ungewöhnlich aggressives Verhalten; diese Charaktereigenschaft scheint unwandelbar zu sein. Der springende Punkt ist, daß eine Neurose den mütterlichen Hormonhaushalt durcheinanderbringen und zu einem Überschuß an Androgenen (männlichen Geschlechtshormonen) führen kann.

28


Als Folge dieser Störung können die weiblichen Neugeborenen als ungewöhnlich aggressive Kinder zur Welt kommen, als vermännlichte Mädchen, die mit ihrer Umwelt in »männlich-harter« Weise umgehen. Bei Menschen kann dieser Umstand der Anfang einer späteren sexuellen Abirrung sein, etwa lesbischer Neigungen. Natürlich dürften in einem solchen Falle viele weitere soziale Faktoren eine Rolle spielen, doch es ist durchaus möglich, daß das Kind bereits während der Schwangerschaft für spätere Verhaltens­störungen prädisponiert, gleichsam vorgeprägt wird.

So ist zum Beispiel nachgewiesen worden, daß männliche Ratten, denen unmittelbar nach der Geburt das weibliche Sexual­hormon Oestrogen verabreicht wurde, für ihr Leben lang feminisiert werden, das heißt weibliche Verhaltensweisen zeigen. Wenn das gleiche Hormon später injiziert wird, ruft es keine derartigen Verhaltensänderungen hervor. Mithin haben Störungen im Hormonhaushalt nur in kritischen Zeitspannen katastrophale Folgen. Die Natur scheint um diese Zusammenhänge zu wissen, denn während der menschlichen Schwangerschaft steigt der Progesterongehalt [weibliches Keimdrüsenhormon] stark an. Das Hormon Progesteron hat in vielerlei Hinsicht entscheidende Auswirkungen: es trägt zur Entspannung der Mutter bei, setzt die nervöse Reizbarkeit des Uterus herab und dürfte schließlich einen beruhigenden Einfluß auf die Leibesfrucht ausüben. Auf die wichtigste Auswirkung des Hormons hat mich Dr. Oscar Janiger hingewiesen.*  

Bei Durchsicht der Fachliteratur stellte Dr. Janiger fest, daß es während der Schwangerschaft selten, wenn überhaupt zu einem psychotischen Schub (Nervenzusammenbruch) kommt. Doch laut Dr. Janiger ist die Literatur voll von Hinweisen auf psychotische Störungen nach der Entbindung — einer Zeit, wenn der Progesterongehalt rapide absinkt. So wird das Abwehr­system der Mutter während der Schwangerschaft automatisch, nämlich aufgrund eines angeborenen Mechanismus, zusätzlich verstärkt; dieser Vorgang muß mit unserem sogenannten Überlebenswillen zusammenhängen: Er schützt die Gesundheit der Mutter, während sie ihr Kind austrägt, und garantiert ihm die beste Lebenschance.

Progesteron scheint eine anästhesierende, das heißt schmerzstillende Wirkung zu haben; das geht aus Berichten hervor, denen zufolge an Patienten, die zuvor eine hohe Dosis Progesteron erhalten hatten, ohne Narkotisierung kleinere Operationen durch­geführt werden konnten.

 

*  Persönliche Mitteilung; Dr. Janiger ist Leiter für psychiatrische Forschung an der Universität von Kalifornien in Irvine.

29


Und hier wollen wir zur Primärtheorie zurückkehren. Während der Schwangerschaft wird im Körper der Frau ein chemischer Stoff abgesondert, der die Schmerzen lindert und damit das Abwehrsystem stützt. Das Fehlen akuter Psychosen in dieser Zeit legt den Schluß nahe, daß dieser im Innern des Körpers gebildete Schmerzlinderer einen beträchtlichen Schutz darstellt — mehr noch, daß Psychosen mit unabgewehrtem Schmerz zu tun haben. Die Krankheits­anfälligkeit der Mutter nach der Niederkunft muß irgendwie mit dem gesunkenen Progesteron­spiegel zusammenhängen.

Progesteron hat noch weitere Funktionen, nicht zuletzt jene, die Differenzierung in männlich oder weiblich zu fördern. Auch hier wiederum können Veränderungen im Progesterongehalt während der Schwangerschaft die besagte Differenzierung derartig beeinträchtigen, daß die basale Einstellung des Neugeborenen gegenüber den Lebensereignissen — seine Grundorientierung — gestört wird. Frauen, die Schwierigkeiten damit haben, ihr Kind auszutragen, erhalten gelegentlich extrem hohe Dosen Progesteron (um den Uterus zu beruhigen), und dies wiederum hat bisweilen zur Folge, daß ihre weiblichen Neugeborenen gleichsam vermännlicht zur Welt kommen (mit starker Körperbehaarung usw.). Mit anderen Worten, Veränderungen im Hormonhaushalt der Mutter übertragen sich auf den Fötus; diesen Tatbestand haben wir zu berücksichtigen, wenn wir über den Neurosenursprung nachdenken. Wir haben uns mit der Genetik beschäftigt, um für den Fall, daß die Schwangerschaftsperiode einmal in allen Einzelheiten erforscht ist, zur Klärung ungelöster Probleme beizutragen.*

So habe ich zum Beispiel darauf hingewiesen, daß ein extrem hoher Serotoningehalt einen Spontanabort oder eine Frühgeburt herbeiführen kann. Vielleicht haben abgesonderte Körperhormone wie Progesteron irgendeine Rückwirkung auf Gehirnhormone wie Serotonin, die ihrerseits dann die Körpervorgänge beeinflussen. Der Körper verfügt über eine komplexe Hormonkette; jede Störung oder Veränderung in einem Kettenglied könnte letztendlich die anderen Kettenglieder beeinträchtigen. Wenn wir nicht die Gesamtperson in unsere Überlegungen einbeziehen, könnten wir zu der Annahme verführt werden, eine einzige Hormonsubstanz sei der »Grund« für diese oder jene Körperverfassung.

 

* Es ist nicht völlig geklärt, ob der Anstieg des Progesteronspiegels unmittelbar zu einer Stärkung des Abwehrsystems führt oder ob er zunächst auf biochemische Elemente einwirkt.

30


Ich bin der Überzeugung, daß Neurosen das gesamte körperliche Interaktionssystem stören und auf der ganzen Linie zu geringfügigen Unausgeglichenheiten im Körperhaushalt führen, zu Gleichgewichts­schwankungen, die ihrerseits das körperliche Wachstum, die Haarbildung, den Sexualtrieb, den Blutzuckerspiegel usw. beeinträchtigen können.* Progesteron dürfte lediglich ein Bestandteil eines psychose­verhindernden, die Körperabwehr stärkenden biochemischen Systems sein. Serotin wäre ein weiterer Abwehrstoff. So ist zum Beispiel bei Psychosen kein Serotinspiegel vorhanden. Wenn wir erst einmal begriffen haben, daß es nicht nur psychische Abwehrfunktionen gibt, wie etwa Projektionen, die unangenehme Vorstellungen abwehren sollen, sondern auch Abwehrformen, die die neurochemischen Vorgänge unseres gesamten Körpers erfassen, dann werden wir verstehen lernen, wie Neurosen den Gesamt­organismus beeinträchtigen.

Das Leben des Fötus im Uterus stellt eine Mutter-Kind-Beziehung her. Der Gedanke erscheint nicht abwegig, daß eine psychisch gesunde Mutter eine bessere Beziehung zu ihrem Fötus hat als eine psychisch gestörte Mutter.

 

* Die durch Neurose verursachten Veränderungen im Hormonausstoß habe ich in Die Anatomie der Neurose, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1974, ausführlicher erläutert. An technischen Einzelheiten interessierte Leser verweise ich auf die kürzlich erschienene Arbeit The Neurobiology of the Amygdala (Symposium in Bar Habor. US-Bundesstaat Maine, Plenum Press). Danach scheint bewiesen, daß die Amygdala [Mandel] den Hormonausstoß des Hypothalamus [hormonbildender Teil des Zwischenhirns] reguliert und auch einen unmittelbaren Einfluß auf das endokrine System [innere Sekretion] haben dürfte. Wenn das limbische System [Zentrum für Triebhandlungen, Emotionen, Lern- und Gedächtnisfunktion], in dem der Hippocampus [zum Riechhirn gehörender Gehirnbereich] und die Amygdala entscheidende Funktionen ausüben, Schmerzen blockiert, dann wird folglich die Energie des blockierten Schmerzes über den Hypothalamus in das System zurückgeleitet und führt zu krankhaften Störungen im Hormonhaushalt.

31/32


HELEN

 

Gestern beim Gruppenabend hatte ich ein sehr merkwürdiges Urerlebnis. Ich hatte das Gefühl, wieder im Mutterleib zu sein. Plötzlich bekam ich einen gräßlichen Schreianfall, doch gleichzeitig war mir alles ein wenig deutlicher bewußt, als das in jener frühen Lebensphase der Fall ist. Heute, genau in diesem Augenblick, geht mir auf, was es mit diesem Urerlebnis auf sich hat. Ich erinnere mich, daß meine Mutter erzählte, sie sei im neunten Schwangerschaftsmonat spätabends über einen Spielplatz vor unserem Hause gegangen und dabei gestolpert. Sie war mitten aufs Gesicht gefallen und hatte sofort befürchtet, ich könnte dabei Schaden erlitten haben. Daher rief sie ihren Arzt an, der ihr jedoch versicherte, ich hätte keinen Schaden erlitten und sei wohlauf. Mir ist heute klar, daß es sich bei dem gestrigen Urerlebnis um eine Wiederbelebung jenes Ereignisses handelt. Gegen Ende des Urerlebnisses, nachdem ich das Gefühl gehabt hatte, ich befände mich wieder im Mutterleib, ein Gefühl, als seien alles Denken und alle Körpervorgänge, selbst das Atmen zum Stillstand gekommen, da verspürte ich plötzlich einen Ruck, der in mir das Gefühl hervorrief, als habe man mich brutal geweckt oder als sei meine Wahrnehmung geschärft worden. Gleichzeitig hatte ich heftige Angst, mir war, als werde nach mir gegriffen oder als zöge sich mein Körper zusammen. Damit war das Urerlebnis vorbei. Anschließend lag ich noch eine Zeitlang da, ohne Gefühl für Raum und Zeit oder irgend etwas anderes. Wenn ich nicht diesen plötzlichen scharfen Ruck verspürt hätte, wäre es mir wahrscheinlich gar nicht erst möglich gewesen, mich an das Gefühl zu erinnern, im Mutterleib zu sein, denn dieses Gefühl war in einer so tiefen unbewußten Schicht verborgen. Oder vielleicht hätte ich mich doch daran erinnern können, wenn ich einfach eingeschlafen wäre. Ich weiß, als Kind bin ich häufig in diesen Zustand entglitten, und später dachte ich mir, dies sei ein Weg gewesen, meiner erbärmlichen Kindheit zu entfliehen, doch heute weiß ich, daß mein Körper versuchte, die erste traumatische Urerfahrung zu mildem. Das panikartige Gefühl gegen Ende des Urerlebnisses war überhaupt keine verstandesmäßige Erfahrung; es war nichts als eine körperliche Reaktion.

Wenn ich als Kind aufgrund jenes »Mutterleibs-Primals« in diesen Zustand der Geistesabwesenheit oder Trance entglitt, dann verschaffte ich mir auf diese Weise eine Möglichkeit, dem Schmerz zu entgehen, den meine Mutter mir zufügte. Doch wenn ich für eine Weile in diesem Mutterleibs-Gefühl verharrte, dann überfiel mich ein intensives Panikgefühl, ein Gefühl schrecklicher Angst, und mein Körper krampfte sich zusammen, wahrscheinlich in Erwartung des ruckartigen Stoßes, den ich geschildert habe. Ich war außerdem das erste Kind meiner Mutter und zog wahrscheinlich deshalb ihre Ängste und Befürchtungen auf mich.

Das Füttern war von Anfang an eine Qual für mich, denn ich wurde nach Plan und nicht nach Bedürfnis gestillt. Wenn ich hungrig war und mein Bedürfnis durch Schreien äußerte, wurden meine Anstrengungen (das Schreien) niemals belohnt.

32/33

Stattdessen wurden meine Bedürfnisse zu Zeiten erfüllt, die mir völlig verrückt erschienen, entweder, wenn ich überhaupt nicht hungrig war, oder, wenn ich schlief, usw. Mein Bedürfnis und die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung (das Füttern) fielen selten zusammen. Sie paßten einfach nicht zusammen. Wenn ich das Bedürfnis verspürte, bekam ich nichts, und wenn ich das Bedürfnis nicht verspürte, bekam ich etwas. Es war einfach verrückt, es wirkte auf mich sinnlos und verwirrend, als sei ich bereits in früher Kindheit aus dem Lebensrhythmus geraten. Mir ist heute klar, daß es mir ähnlich erging, wenn ich das Bedürfnis hatte, in den Arm genommen und geliebt zu werden. Ich konnte dieses Bedürfnis nur so äußern, wie ich es als Kind getan hatte, nämlich durch Schreien und Weinen. Doch meine Mutter nahm mich nicht in den Arm und widmete mir keine Aufmerksamkeit, sondern wurde im Gegenteil wütend auf mich und ließ mich allein in meinem Zimmer. So wird man verstehen, daß es auf mich wirkte, als würde ich jedesmal bestraft, wenn ich Bedürfnisse zeigte. Sie wurden nicht in der Weise beantwortet, wie ich es mir wünschte, sondern genau entgegengesetzt: ich wurde allein gelassen und ausgeschlossen. Kein Wunder, daß ich in den Mutterleib zurückkehren wollte, doch wenn ich einmal das Mutterleibs-Gefühl hatte, dann fühlte ich mich trotzdem nicht lange sicher, denn in jedem Augenblick konnte der ruckartige Stoß wieder einsetzen, und so erfaßte mich selbst bei dem Gefühl, wieder im Mutterleib zu sein, Angst und Schrecken. Die Erinnerung an meine Kindheit besteht nur aus Angst und Schrecken, die mich ständig erfüllten.

Meine Mutter verletzte und ängstigte mich auch, indem sie häufig Wut gegen mich äußerte und mir Schläge verpaßte. Sie prahlte ständig damit, daß ich das am meisten verprügelte Kind des ganzen Wohnblocks sei. Sie befürchtete ständig, mich zu verwöhnen. Heute weiß ich einfach, daß man ein Kind gar nicht verwöhnen kann, wenn man ihm zuviel Liebe gibt. Was mich angeht, so habe ich meinen Sohn ausgiebig verprügelt und ausgeschimpft, doch ich bin schließlich auf den Grund meiner Wut gekommen. Vor einigen Wochen hatte ich ein Urerlebnis, das mit irgendwelchen lächerlichen Kleinigkeiten im Verhalten meines Sohnes zu tun hatte, mit Bagatellen, die mich jedoch wahnsinnig ärgerten, und im Verlauf dieser Erfahrung wurde die Wut plötzlich viel intensiver, bis ich schließlich in einen Zustand völliger Raserei geriet. Die Wut auf meinen Sohn wurde sofort Wut auf meine Mutter, eine Wut über alles, was ich als Kind zu erdulden hatte.

Ich verstehe jetzt, daß immer dann, wenn ich heutzutage in Wut gerate, diese Wut ausgelöst wird durch eine ungeäußerte alte Wut über meine Mutter, wie ich sie in der Kindheit empfunden habe. Mein armer Junge hatte die Hauptlast dieser Wut zu ertragen, wie ich die von meiner Mutter ... und sie von ihrer Mutter.

Ich könnte wirklich ein Buch darüber schreiben, wie übel meine Mutter mir mitgespielt hat und wie ich selbst meinem Sohn zugesetzt habe. Kurz und gut, man kann keine guten Eltern sein, wenn man noch in seiner Vergangenheit verhaftet ist, und das sind die meisten von uns.

34

#

 

 ^^^^ 

 www.detopia.de