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7  Die Bedürfnisse 

Oralität (117) Psychische und physische Bewegung (123) Das Bedürfnis nach Stimulierung (131) Körperkontakt (132)  Kritische Perioden (136)

 

  Oralität  

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Sigmund Freud war der Auffassung, das infantile Leben bestehe aus einer Reihe von Entwicklungs­phasen, die einen bestimm­enden Einfluß auf das Kind ausübten. So gehe das Kind zunächst durch die orale Phase, anschließend durch die anale und gelange schließlich zur sexuellen Reife in der Genitalphase.

Freud nahm an, Fixierungen auf der jeweiligen Entwicklungsstufe legten die spätere Persönlichkeit des Kindes fest — als oralabhängige, anal-sadistische usw. Mangelnde Befriedigung in einer der Entwicklungsphasen binde das Kind für immer an diese Phase. In einer Hinsicht hat Freud recht. Befriedigungs­mangel hat Fixierungen zur Folge — unaufhörliche Versuche, den erlittenen Mangel im späteren Leben auszugleichen. Aber es gibt keine Fixierungs-»Phase«.

Wir haben es mit so vielen frühen Bedürfnissen zu tun, mit Bedürfnissen, die nebeneinander bestehen und sich überlappen, daß man jene Kindheits­perioden nicht mittels eines einzelnen Bedürfnisses charakterisieren kann. So wird zum Beispiel ein Kind, dem nicht genügend Bewegungsspielraum gegeben wird, das fest in Windeln eingepackt oder anderweitig ständig eingeengt wird, traumatisiert oder »fixiert«. Das kann durchaus in der Freudschen oralen Phase geschehen.

Wenn das Kind während dieser Zeit nicht auf den Arm genommen wird, dann hat es auch unter Entbehrungen zu leiden. Anschließend wird es vielleicht ständig herumlaufen und irgendwelche Gegenstände berühren. Wir können die Entwicklung nicht in Phasen aufgliedern, weil wir uns als ein Gesamtwesen mit einer Vielzahl von Bedürfnissen entwickeln, die alle auf jeder Stufe der Entwicklung befriedigt werden müssen. Zu Freuds Zeiten war die Nahrungsaufnahme von Wichtigkeit. Damals wußte man wenig über das Bedürfnis nach Körperkontakt. Besonders im Wien Freuds war es keine weitverbreitete Praxis, körperliche Zuneigung und Anziehung zur Schau zu stellen, und so ist es denn kein Wunder, daß das Bedürfnis nach Körperkontakt zugunsten der oralen Bedürfnisse heruntergespielt wurde.

Sehen wir uns einige der Bedürfnisse von Säuglingen und Kindern näher an, damit wir erkennen können, von welch entscheidender Bedeutung sie sind. Dabei werde ich mich zur nachdrücklichen Bekräftigung meiner Beobachtungen auf viele Untersuchungsergebnisse berufen, die Newton und Levine kürzlich veröffentlicht haben.*

Seitz stellte Untersuchungen mit Katzen an, die früh, normal und spät entwöhnt wurden. Hier seine Untersuchungsergebnisse: 1. Früh entwöhnte Katzen zeigen Ausdauer und Zähigkeit, doch bei der Nahrungssuche und -beschaffung zeigen sie Desorgani­sations­erscheinungen; 2. sie verhalten sich am wenigsten zielgerichtet, sind am wenigsten in der Lage, Nahrung mit anderen zu teilen, und sie sind argwöhnischer, ängstlicher und aggressiver im Umgang mit anderen Katzen; 3. sie zeigen am meisten Angst in neuen Situationen.** 

Alle diese Verhaltensweisen kann man einem einzigen Zentraltrauma zuordnen. Es liegt auf der Hand, daß frühe Entbehrung in einem spezifischen Bereich allgemeines neurotisches Verhalten mit sich bringt, denn diese spezifische Deprivation erzeugt eine allgemeine Spannung – nicht nur Spannung im Mundbereich. Der Organismus, und nicht nur die Mundhöhle, leidet unter der Bedürfnisversagung. Vielleicht wird dies deutlicher, wenn wir daran denken, in welche inneren Spannungen wir geraten, wenn wir über einen längeren Zeitraum auf sexuelle Befriedigung verzichten müssen. Dabei geht es nicht nur darum, daß Sexualimpulse nicht befriedigt, die Genitalien nicht erregt werden, vielmehr wird dem gesamten Organismus Entspannung versagt. Die Haut kann sich entzünden, Kopfschmerzen können auftreten, und es kann zu ständiger Gereiztheit kommen. Sexuelle Entbehrung verursacht allgemeine Spannung.

Wir sehen hier eine Dialektik am Werk: spezifische Befriedigungs­defizite haben ein allgemeines Verhalten zur Folge, und allgemeine Spannung zwingt zu spezifischen neurotischen Handlungen. Das Spezifische, Besondere ist stets Teil des Allgemeinen, das heißt, allgemeines Verhalten enthält stets das spezifische. Um das spezifische Verhalten zu ändern, ist es notwendig, das allgemeine zu ändern. Das ist mehr als Wortspielerei, denn das Beseitigen von spezifischen Ursachen amorpher neurotischer Spannung führt zur Auflösung dieser Spannung; nur so kann diese Spannung beseitigt werden.

 *  Grant Newton und Seymour Levine, Early Experience and Behavior, Charles Thomas, Springfield, Illinois 1969.
**  P. F. D. Seitz. >Infantile Experience and Adult Behavior in Animal Subject<, in: Psychosomatic Medicine, 21, 1959, S. 353-378.

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Wenn man sich nur mit dem allgemeinen, dem offenkundig neurotischen Verhalten beschäftigt, bleiben die spezifischen Ursachen weiter bestehen. Die oben erwähnten Untersuchungen an Katzen sind in zweifacher Hinsicht wichtig: 1. zeigen sie, daß spezifische Deprivation zu allgemeinem Verhalten führen kann, und 2. lassen sie den Schluß zu, daß frühe Deprivation langfristige Auswirkungen hat.

Newton und Levine schreiben über Tiere, denen das normale Saugen vorenthalten wird:  »(Sie) zeigen die gleichen Formen stereotyper Handlungen, unabhängig von großen Unterschieden in anderen Aspekten ihrer Sozialerfahrung. So können Haustiere, Tiere, die in offenen Käfigen gehalten werden, und Tiere, die in völliger Isolation aufwachsen, alle die Gewohnheit annehmen, an den Pfoten zu saugen, und Zwangshandlungen unterliegen.«* Wir dürfen jedoch aufgrund dieser Untersuchungsergebnisse nicht einfach schlußfolgern, Kinder, die ständig an irgendwelchen Gegenständen saugen, seien zu früh entwöhnt worden. Saugen ist für den Säugling eine der wenigen Möglichkeiten, sich von Spannungen zu entlasten, die aus jeder beliebigen Quelle gespeist werden können – es ist ein triebhaftes Beruhigungsverhalten.

In der Primärtherapie können wir häufig Urerlebnisse beobachten, bei denen die Patienten mit beträchtlicher Intensität am Daumen lutschen, eine nicht vom Willen gesteuerte Handlung, die sich über eine oder zwei Stunden hinziehen kann. Gewöhnlich berichtet der Patient später, daß er den Eindruck gehabt habe, als seien in dieses zweistündige Saug-Urerlebnis Monate von Erfahrungen zusammengedrängt worden. Häufig erklären die Patienten anschließend, ihr früheres Bedürfnis zu rauchen sei verschwunden.

Die wiedererlebte Erfahrungsabfolge erschloß das ganze Bedürfnis, das sich in der Geschichte des Organismus niedergeschlagen hatte und in der Physiologie des Patienten wortwörtlich festgeschrieben worden war. So mag ein Homosexueller sein Leben lang an Penissen saugen, ohne dieses Bedürfnis auflösen zu können, es sei denn in einem zweistündigen Urerlebnis, wo er das Bedürfnis im Kontext seines Säuglingsdaseins wiedererlebt und aufzulösen vermag. Damit will ich sagen, daß das Bedürfnis von dem Patienten so empfunden wurde, wie es von Anfang gelagert war, das heißt, als ein Bedürfnis, das ursprünglich auf ein anderes Ziel gerichtet war; so lange dies nicht geschieht,

* Op. cit, S. 448.

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wird das Bedürfnis nicht verschwinden, unabhängig davon, wie lange es symbolisch ausagiert worden ist. Bei Menschen ist das Bedürfnis zu saugen natürlich von anderen Bedürfnissen überlagert, mit anderen Worten: ein Mensch, der sich der Gewohnheit hingibt, an Penissen zu saugen, tut dies nicht aufgrund eines Saugebedürfnisses, sondern auch aufgrund des Bedürfnisses nach menschlicher Wärme.

Es erscheint mir daher wichtig zu verstehen, daß ein elterlicher Fehler das Kind nicht irreversibel schädigt. Es geht nicht um den einen besonderen Tag, an dem das Baby zu lange weinte oder zu spät trockengelegt wurde. »Es ist so«, erklärt ein Patient, »als wenn mein Körpersystem versucht hätte, ein Entwicklungs­bedürfnis nachträglich zu befriedigen. Es war so, als wenn mein Körper nach einer Brust schrie und immer noch schreit, die niemals da war, wenn ich sie brauchte. Ich konnte tun, was ich wollte, das Bedürfnis war nie zum Schweigen zu bringen, und so tat ich das Nächstliegende — ich schlug immer mit dem Kopf gegen irgend etwas. Daher kommt wahrscheinlich, daß ich heute so viele masochistische Phantasien habe.«

An der Fallgeschichte eines unter Stottern leidenden Patienten wird die Komplexität neurotischer Symptome sichtbar. Seine ersten Urerlebnisse kreisten um das Thema, daß er etwas sagen sollte, ehe er Worte bilden konnte – zum Beispiel: »Sag Großmutter!« Nachdem es ihm unter großen Anstrengungen gelungen war, Worte, die von ihm erwartet wurden, auszusprechen, bedachte seine »Zuhörerschaft« ihn mit großem Beifall. Der Patient war also in der Mundregion traumatisiert worden. Doch warum stotterte er? Abgesehen von einer möglichen Prädisposition neurologischer Art, einer Empfänglichkeit für bestimmte Krankheiten, in diesem Fall für das Stottern — welche Umstände hätten seine Schwierigkeiten sonst noch verursachen können?

Im Falle unseres Patienten ließ ein Urerlebnis über das Problem, sprechen zu sollen, ehe er dazu in der Lage war, eine vage Ängstlichkeit wiederauftauchen, die der Patient im Kinderkörbchen erlebt hatte. Er erinnerte sich daran, daß er Furcht empfand und zu weinen begann, als ihm plötzlich etwas in den Mund gesteckt wurde, nämlich eine Flasche; das versetzte ihn in Panik. Er wurde nicht gestreichelt, nicht auf den Arm genommen, hörte kein besänftigendes Wort; seine Mutter hatte ihm lediglich in Eile und Ungeduld die Flasche in den Mund gestoßen.

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Nicht nur, daß die Flasche ihn nicht beruhigte, sie traumatisierte vielmehr seine Mundregion – zweifellos ein weiterer Faktor bei der Entstehung seines Stotterns. Das routinemäßige Verabreichen der Flasche war allerdings kein isolierter Vorgang, sondern es geschah immer wieder, bis der kleine Junge sein Weinen einstellte, um die von ihm als beängstigend empfundene Handlung zu vermeiden. Doch seine Furcht blieb bestehen. Er stotterte fortan nicht nur, sondern hatte auch ständig Angst vor der Dunkelheit, eine Angst, die mit einem Ereignis oder einer Ereigniskette einsetzte, an die er sich nicht mehr erinnern konnte.

Zwei weitere Beispiele mögen verdeutlichen, was ich meine. Übermäßige Nahrungsaufnahme und Alkoholismus sind in den Augen psychoanalytischer Theoretiker von oraler Abhängigkeit zeugende neurotische Verhaltensweisen. Danach können sich Kinder während des ganzen Tages zufrieden und wohl fühlen, doch wenn sie allein gelassen werden, dann tauchen in ihnen sofort Gedanken an Essen auf. Daran ändert auch nichts, wenn man sie auf Diät setzt, denn wenn man sie allein läßt, dann wird häufig jener frühe Lebensabschnitt wieder aktiviert, als sie gezwungen waren, nach einem Zeitplan zu essen, als sie zwischen den vorgeschriebenen Mahlzeiten Hunger verspürten und aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten noch nicht ausreichend verstehen konnten, daß ihre Mutter in ein oder zwei Stunden wieder bei ihnen sein würde. Damals vermochten sie nur das Gefühl von Alleinsein und Angst zu empfinden.

Es ist eine Tatsache, daß viele von uns in ihrer Kindheit gezwungen worden sind, sich an bestimmte Essenszeiten zu halten, und daß aufgrund dessen Vielesserei ein [nicht nur] in den Vereinigten Staaten weitverbreitetes Syndrom [Krankheitsbild] und als Diät verstandenes Fasten sozusagen eine nationale Fixierung darstellt. Problematisch am Fasten, an Diätvorschriften ist, daß der Betreffende sich in gewissem Sinne wieder als Kind fühlt, das Hunger verspürt, und daß der Hunger seinerseits die ursprüngliche Angst (und das verzweifelte Verlangen nach Nahrung) erzeugt.

Wenn es uns gelänge, uns in die Lage von Kindern zu versetzen. könnten wir diese traumatischen Erlebnisse vermutlich besser verstehen. Kinder können nicht rational denken. Sie können nicht in Zeiträumen von Stunden denken. Hunger zu verspüren und, von Schmerz erfüllt, allein im Dunkeln gelassen zu werden, das bedeutet für sie, sterben zu müssen. Sie haben keine begriffliche Vorstellung davon, wann der Schmerz aufhören wird, und so können sie sich gegen den Schmerz nicht in verstandesmäßiger Weise wehren.

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Wir hatten kürzlich einen Alkoholiker in Behandlung, der seit zwanzig Jahren getrunken hatte. Alkohol war für ihn ein Beruhigungs­mittel. Nun liegt zwar auf der Hand, daß die Flüssigkeit seine Mundhöhle passierte, doch das Primal, das er schließlich erlebte, handelte davon, daß er sich so entsetzlich durstig fühlte, daß seine Zunge während des Urerlebnisses über zwei Stunden lang aus seinem Mund hing. Nach dem Erlebnis fühlte er sich vor Durst schier verschmachtet. Er war nicht oral fixiert, wie sein früherer Analytiker ihm hatte weismachen wollen, sondern er war traumatisiert worden aufgrund des Durstgefühls, das er in den ersten Lebenswochen verspürt hatte; diese Entbehrungen und dazu der Umstand, daß seine Eltern gefühlskalt und versagend gewesen waren, hatten bei ihm zum Alkoholismus geführt. Die Aufnahme von Flüssigkeit zur Beruhigung war das prototypische Abwehrverhalten gegenüber einem prototypischen Trauma.

Wenn das prototypische Trauma sich um Nahrung dreht, dann kann jedes spätere Unbehagen das Kind dazu veranlassen, ständig kleine Bissen zu sich zu nehmen und zu naschen, denn in einem solchen Falle weckt das gegenwärtige Unbehagen ein früheres.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich klarzumachen, daß es nicht notwendig ist, jedes Trauma wiederzubeleben, um eine Neurose zu beseitigen. Jedes Trauma steht in Verbindung zu einem zentralen, besonders gewichtigen Gefühl, sagen wir von Hilflosigkeit, und wenn dieses Gefühl wiederbelebt wird, dann bringt es ein Übermaß an schmerzvollen Erinnerungen an die Oberfläche, die alle um das Zentralgefühl gruppiert sind. So mag ein einziges Urerlebnis den Schmerz einer traumatischen Erfahrung lindern, die wiederholt erlebt wurde. Diese Erkenntnis läßt uns die Komplexität der zahlreichen zu neurotischen Symptomen führenden Ereignisse und Traumata abschätzen. Wir beginnen einzusehen, wie sinnlos es ist, das Symptom als eine isolierte, von anderen Faktoren unabhängige Einheit zu behandeln.

Zum Schluß möchte ich sagen, daß wir uns hüten sollten, Entwicklungskategorien zu verwenden, denn wir Menschen entwickeln uns nicht in Kategorien. Auch ein in seinen Bewegungen eingeengtes oder bewegungslos gehaltenes Kind kann auf dieses Trauma »fixiert« werden. Jedesmal wenn es eingeengt wird, kann es in Angst geraten und unter dem Zwang stehen, sich freizumachen und seine Bewegungen fortzusetzen. Doch zweifellos würden wir diese Lebensperiode nicht »km ästhetische [auf den Bewegungssinn bezüglich] Phase« nennen.

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    Psychische und physische Bewegung  

 

Bewegung dürfen wir uns nicht als ein basales Bedürfnis vorstellen. Doch wenn sie nicht ermöglicht wird, dann kann das genauso weh tun, als wenn man keine Liebe erfährt. Das Bedürfnis, sich zu bewegen und die Umgebung zu erkunden, ist nicht nur psychischer Natur, sondern für die Gehirnentwicklung unumgänglich. Nur durch Bewegung lernen wir richtige visuelle Wahrnehmung, entwickelt sich unser Gefühl für Gleichgewicht und Bewegungskoordination; nur so spüren wir überhaupt, daß wir uns bewegen. Vielleicht ist das Bedürfnis, zu Beginn unseres Lebens geschaukelt zu werden, das Anfangsbedürfnis nach Bewegung, nach einer Bewegung, zu der das Neugeborene selbst noch nicht fähig ist.

Auf jeden Fall halte ich es für einen Bestandteil des Bedürfnisses nach Stimulierung. Dorothy Burlingham kommt zu der Feststellung, daß »die wohlbekannten rhythmischen Bewegungen wie Schaukeln ... sich unseres Wissens verstärken, wenn Kinder in ihren Kinderwagen oder Körbchen zu stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.«* Andere Wissenschaftler haben beobachtet, daß Kinder schaukelnde Bewegungen vollführen oder den Kopf hin und herwerfen, wenn ihnen ausreichende Bewegung verwehrt wird. Kulka meint, dieses Verhalten werde ausgelöst von »einem Versuch ... kinästhetische Bedürfnisse zu befriedigen«.**

Es gibt zahlreiche Erklärungsversuche dafür, warum Kinder zwanghafte Kopf- oder Schaukelbewegungen ausführen. Die Symptomwahl und die Begriffe prototypische Ängste und Abwehrverhalten habe ich im Kapitel über die Geburt ausführlich erläutert. Ein Grund für Verhaltensweisen wie Schlagen mit dem Kopf mag darin liegen, daß der Kopf während des Geburts­prozesses gegen den Schambogen schlug und dieser Vorgang sich traumatisierend auf die Kopfregion auswirkte. Jeder später erfahrene Streß kann dann das ursprüngliche Trauma wieder aktivieren und die genannten Kopfbewegungen auslösen. Das Symptom ist ein Zeichen für ein frühes Trauma, das sich im Körpersystem des Kindes niederschlug.

* Dorothy Burlingham, <Notes on Problems of Motor Restraint During Illness>, in: Loewenstein, Drives, Affects, and Behavior, University Press, New York 1953, Bd.1, S. 169-175.
** A. Kulka et al., »Kinesthetic Nedds in Infaneys in: American Journal of Orthopsychiatry, 30, 1960, S. 306-314.

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Ein Kind kann in seinem Körbchen zwanghafte Schaukelbewegungen ausführen, weil es in einer viel weiter zurückliegenden Zeit extreme körperliche Einschränkungen zu erdulden hatte – zum Beispiel, indem es zu eng in eine Decke eingewickelt wurde. Auch kann es zwanghaft hin und herschaukeln, weil seine Eltern es während der ersten Lebenswochen nicht ausreichend geschaukelt haben. Das traumatisierte Kind versucht damit, sich eines frühen Traumas zu »entledigen«. Dabei handelt es sich um den primären »Wiederholungs­effekt«.

Ein Kind, das in den ersten Lebensmonaten, zu einer Zeit also, wo körperliche Einschränkungen die Gehirnentwicklung tiefgehend beeinflussen, haltungskorrigierende Gurte tragen mußte, kann unter Umständen in seinem späteren Leben einen zwanghaften Bewegungsdrang entwickeln und zu Überaktivität neigen. So kann jede mit Einengungen verbundene Situation (zum Beispiel der Aufenthalt in einem Klassenzimmer) die infolge der Korrekturgurte als Einschränkung erfahrene frühere Situation wieder aktivieren und Angst sowie das Bedürfnis nach Bewegung hervorrufen.

Aufgrund von Untersuchungen dürfen wir annehmen, daß zahlreiche Sehstörungen bei Kindern auftreten, denen nicht erlaubt wurde, genügend herumzukrabbeln. (In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Arbeit von Carl Delcato verweisen.) Der Wieder­holungs­effekt scheint das ganze Leben zu beeinflussen – bei dem davon betroffenen Kind folgen auf das Schaukeln im Kinderbettchen Überaktivitäten auf dem Spielplatz und im Klassenzimmer, und auch als Erwachsener ist es gezwungen, sich ständig in Bewegung zu halten. Im späteren Leben kann jede einschränkende Situation, etwa still in einem Lesesaal sitzen zu müssen, das frühe Trauma wieder wachrufen und Angst sowie ein vages Bedürfnis »rauszukommen« erzeugen. Nervöse Fußbewegungen und Trommeln mit den Fingern sind weitere Äußerungen dieses körperlichen Wiederholungseffektes. Man kann sich nur fragen, welch verheerende Auswirkungen die im Orient übliche Praxis des Kinderwickelns mit sich bringt.

Nicht nur in körperlicher Hinsicht wird das Kind Einschränkungen unterworfen. Noch häufiger sind psychische Einschränkungen. Dem Kind wird nur gestattet, »erlaubte« Gedanken zu äußern. Beinahe von dem Tag an, da es Worte zu stammeln vermag, wird es in eine psychische Zwangsjacke gesteckt. Es muß gläubig sein und religiöse Gedanken haben, wenn seine Eltern es so wünschen. Oder es darf nur Gutes über die Leute sagen und niemals Kritik üben. Diese Art der Beschränkung kann zu einer anderen Abwehrform führen – zu Gedankenflucht, die man auch als Phantasieren oder Tagträumen bezeichnet.

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Eingesperrt in ein langweiliges Klassenzimmer, kann das Kind in einem solchen Falle sich in Phantasien verlieren; es sucht der Situation mit dem Kopf zu entfliehen. Bei geistiger Einkerkerung entwickelt sich ein psychischer Wiederholungszwang.

Die Vorstellung einer rein »psychischen« Zwangsjacke ist natürlich irreführend. Ein Gefühl und sein gedankliches Gegenstück unterdrücken heißt, körperlichen Druck erzeugen; so kann man sich seinen Phantasien hingeben und gleichzeitig nervös mit den Füßen auf den Boden klopfen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß Gedanken keine eigenständigen Einheiten sind, die in einem geistigen Raum umherschweben. Sie sind untrennbar an unsere Körper und unsere Gefühle gebunden, sie sind Teile von beiden; mithin bedeuten unterdrückte Gedanken die Unterdrückung von neurophysio­logischen Funktionen.

Das heißt, daß man »verkehrt« aufwächst, wenn man sein eigenes »Selbst« sich nicht entfalten läßt. Das Gesicht, der Mund und der Körper verformen sich, um »andere« zu werden; dies kann man ganz wörtlich nehmen. Bei vielen rein körperlichen Urerlebnissen vollführen die Patienten unfreiwillig Bewegungen, die den Eindruck von Drehen und Herauswinden vermitteln; unter starkem Schmerz haben sie das Gefühl, von der ideologischen Zwangsjacke ihrer Eltern buchstäblich eingeschnürt zu werden. Manche Patienten hatten noch zusätzlich das Gefühl, ihre Angst hocke auf ihrer Schulter, nage sich in ihre Brust usw.

Wie oft hören wir Eltern sagen: »Nun bleib hier sitzen und verhalte dich ruhig!«? Zu viele Eltern vergessen, daß Kinder von Natur aus rege und ausgelassen sind. Eltern, die sich in Roboter verwandelt haben, suchen ihre Kinder dem »toten« Bild, das sie von sich haben, anzugleichen und entsprechend zu formen. Ihnen entgeht, daß man die Erfahrung des Kindes einschränkt, wenn man seinen Körper einschränkt. Unser ganzes Muskelsystem ist mit sensorischen »Empfängern« übersät, die unser Gehirn mit Informationen füttern. Wenn wir unsere Muskeln betätigen, dann betätigen wir in gewissem Sinne auch unser Gehirn. Bewegung ist eine Erfahrung. Durch spontane Bewegung lernen wir auch spontanes Fühlen. Bewegungsmangel bedeutet Erfahrungsmangel, und diese Erfahrung wiederum beeinflußt die Gehirnbildung, vor allem in der ersten Lebenszeit. Kindern Freiheit zu gewähren sollte nicht als eine »nette« Sache für »aufgeklärte« Eltern angesehen werden. Freiheit ist eine biologische Notwendigkeit! Kinder, die ständig getadelt werden, wenn sie herumrennen und ihre Umgebung erkunden, schränken alsbald automatisch ihre Bewegungen ein und bewegen sich dann nur noch vorsichtig und in engen Grenzen.

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Kinder, die nicht sagen dürfen: »Ich glaube, ich kann meine Lehrerin nicht ausstehen, und die ganze Schule hängt mir zum Halse heraus«, gewöhnen sich bald daran, jeden ihrer Gedanken zu überprüfen, genauso wie jede ihrer Bewegungen. Vorsicht schleift sich ein, tritt schließlich automatisch auf, und die Spontaneität jedes Gefühls und jeder Bewegung geht verloren. Daraus kann später Frigidität werden, nicht aufgrund mangelhafter sexueller Betätigung, sondern weil dem Kind niemals gestattet wurde, seine Erregung zu fühlen und zu zeigen. Einer unserer Patienten erlebte eine Szene wieder, in der er, damals sechs Jahre alt, sich über irgendetwas erregte. Er schaute seinen Eltern in die Augen, und ihm wurde in diesem Augenblick blitzartig klar, daß sie beide gleichsam leblos, wie abgestorben waren. Er wußte sofort, daß er »tot« sein mußte, um zurecht zu kommen. Er unterdrückte seine Ausgelassenheit und wurde wie seine Eltern. Wenn man seinen Eltern später geraten hätte, ihn zu ermuntern, sich unbefangener zu geben, hätte das vermutlich wenig Sinn gehabt.

Wenn ein Kind seine Gedanken einschränkt, dann verschwinden diese Gedanken und ihre körperlichen Pendants nicht einfach. Sie bleiben abgespalten bestehen und üben wachsenden Druck aus. Dieser Druck treibt die Gedanken auf Nebenwege, und der betreffende Mensch hat über fast alles »neurotische«, unaufrichtige Gedanken, denn er kann nicht aufrichtig sein, ohne zugleich Schmerz und Angst zu empfinden; Aufrichtigkeit an sich wird zur Gefahr. Daher ist das Verhalten von unaufrichtigen Leuten in vielen Lebenssituationen so gleichbleibend unrealistisch.

Der von den wirklichen Gefühlen ausgehende Druck führt auch zu Tagträumen, die ihrerseits Abkömmlinge der wirklichen Gefühle sind. Tagträume sind psychische Geschichten, bizarre Gedankenbildungen, hervorgebracht durch unterdrückte Gedanken und Gefühle. Warum sind diese bizarren Gedankengebilde unrealistisch? Weil der Betreffende schlicht und einfach seine Gefühle empfinden würde, wenn seine Gedanken real wären. Wenn unterschwellige Gefühle unrealistische Vorstellungen wie Tagträume hervorbringen können, dann ist natürlich klar, daß sie auch andere Formen unrealistischen Denkens nach sich ziehen können.

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Als Beispiel für den im Körperinnern herrschenden Druck aufgrund eingeschränkter Bewegungsfreiheit möchte ich ein kürzlich von uns beobachtetes Urerlebnis anführen. Der Patient erlebte eine Szene wieder, bei der er von seinem Bruder während eines Ringkampfes fünfzehn Minuten lang auf dem Boden festgehalten worden war, ein Erlebnis, das ihn in einen Zustand panikartiger Angst versetzt hatte. Von jener Erfahrung konnte der Patient nicht loskommen, er konnte sie nicht bewältigen. Und immer dann, wenn er später Angst verspürte, hatte er ein schmerzhaft prickelndes Gefühl in seinen Armen. Die Wiederbelebung dieses Gefühls in seinem Kontext brachte es zum Verschwinden.

Eine beinahe überall gebilligte Methode, Kinder »festzuhalten«, besteht darin, sie in Laufställchen einzusperren. Diese Praxis engt die Bewegungsfreiheit des Kindes erheblich ein. Nur wenige Mütter können verstehen, daß diese Einengung des Bewegungs­raumes für ihre Kleinen eine Art Gefängnis darstellt. Man nimmt sogar an, Kinder würden das Eingesperrtsein mit Zufriedenheit aufnehmen. So hört man Mütter sagen: »Ich kann nicht jede Sekunde bei meinem Kind sein, und wenn es nicht im Ställchen steckt, dann krabbelt es herum und tut sich weh.« Laufställchen sind zweifellos eine Annehmlichkeit. Doch es wäre besser, wenn wir uns einfallen ließen, wie wir Räume und Gärten anlegen, in denen die Kinder frei herumkrabbeln können, ohne sich der Gefahr von Verletzungen auszusetzen.* 

Das heißt auch, daß Mütter sich befleißigen müssen, wirklich Mütter zu sein, und ihren Kindern viel mehr Zeit widmen sollten, anstatt sie in Laufställchen einzusperren, um auf diese Weise ihrer Haushaltsarbeit nachgehen zu können. Das gilt genauso für den Vater, wenn er zu Hause bleibt, während die Mutter arbeitet. Nach der Entwöhnung spielt es keine Rolle, wer zu Hause bleibt, ob Mutter oder Vater; wichtig ist, daß Eltern wirklich Eltern sind, die ihre Kinder nicht zu etwas Nebensächlichem machen, das man ins »Gefängnis« stecken oder herausnehmen kann, wenn es einem gerade paßt.

Eine Anthropologin, die in Afrika das Verhalten von Schimpansen erforscht hat, zog ihr Kind auf, wie sie es bei den Affen erlebt hat. Sie verzichtete auf ein Laufställchen, ließ ihr Kind gewähren und bot ihm weitgehende Freiheit.

 

* So könnte man zum Beispiel das Kinderzimmer mit alten Matratzen ausstatten, so daß das Kind ungehindert herumkrabbeln kann. Im Primärinstitut haben wir einen vollständig ausgepolsterten Raum »zum Austoben«, der etwa zwei mal drei Meter mißt. Nach Angaben der Patienten ist der Raum zum Teil deshalb so beliebt, weil sie darin frühere Szenen in Laufställchen und in kleinen beengenden Zimmern wiedererleben können, wo sie sich nicht frei bewegen konnten. Nun können sie herumkriechen, um sich schlagen und sich hier und dorthin werfen, ohne befürchten zu müssen irgendwo gegenzulaufen oder sich zu verletzen.

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Nach den Worten der Wissenschaftlerin war ihr Kind mit dieser Erziehungsmethode höchst zufrieden. Generationen sind im »Kinder-Gefängnis« aufgewachsen; das Ergebnis dieser Praxis haben wir in der Primärtherapie beobachten können. Unsere Patienten haben ihr Leben als Erwachsene damit zugebracht, sich durch Ausagieren frei zu fühlen, indem sie beständig auf Reisen waren, häufig ihren Arbeitsplatz wechselten und sich dem sogenannten freien Sexualleben verschrieben. Einige begaben sich am Wochenende zu Vergnügungszentren und beteiligten sich dort an Spielen, bei denen sie sich buchstäblich »freie Bahn« erzwangen, indem sie sich durch eine Gruppe von Menschen, die sie umgab, hindurchdrängten. Doch das Ausagieren von Freisein hält natürlich die innere Beschränkung nur aufrecht; wer hingegen jene frühen , Beengtheiten gefühlsmäßig erfährt, kann schließlich zur wahren inneren Freiheit gelangen.

Einem Kind die volle Bewegungsfreiheit vorenthalten ist eine Form sensorischer Deprivation. Das heißt, das Kind erfährt nicht genügend innere Stimulierungen. Seinem Gehirn wird eine nicht ausreichende Menge an inneren Reizen zugeführt. Die Auswirkungen dieser sensorischen Deprivation haben wir weiter oben erläutert. Eine der auf Bewegungsmangel empfindlich reagierenden Gehirnstrukturen ist das Kleinhirn. Es ist bei der Geburt noch ziemlich unausgebildet und wird bei fehlender Stimulierung in seiner Entwicklung beeinträchtigt.

Auch hier sehen wir wieder, wie sehr die eigentliche Gehirnentwicklung auf Freiheit angewiesen ist (in diesem Fall auf Bewegungs­freiheit). Das überaktive Kind kann mit eben diesem Verhalten auf ein Bedürfnis reagieren, indem es auf diese Weise versucht, einen Mangel an Freiheit und Stimulierung zu kompensieren, den es in den ersten Lebensmonaten erfahren hat. Das heißt, es hat ein Abwehr­verhalten angenommen, das zu einer früheren Zeit lebensnotwendig gewesen ist. Sein Körpersystem nimmt das Bedürfnis nach Stimulierung und Bewegung wahr, doch seine Eltern halten daran fest, es dafür zu bestrafen, und gehen mit ihm zu Ärzten, die dann versuchen, die übermäßige Aktivität mit Hilfe von Medikamenten einzudämmen. Das Bedürfnis nach körperlicher und geistiger Freiheit ist in psychophysiologischer Hinsicht von entscheidender Bedeutung. In der Tierforschung ist dieses Bedürfnis nachgewiesen worden. Bernhaut fand aufgrund von Experimenten heraus, daß in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Tiere träge und apathisch werden.* 

 

* M. Bernhaut, E. Gellhorn und A. T. Rasmussen, >Experimental Contributions to Problems of Consciousness<, in: Journal of Neurophysiology, 16, 1953, S. 21-35.

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Nach Bernhauts Auffassung dämpft frühe Einschränkung das Weckzentrum des Gehirns, das retikuläre Aktivierungs­system; die Folge ist ein ungenügender Ausstoß von Informationen, der seinerseits zu einer allgemeinen Bewegungs­trägheit und Teilnahmslosigkeit führt. Die von Bernhaut angestellten Untersuchungen erlauben den Schluß, daß in den ersten Lebensmonaten ein Optimum an Stimulierung (und Bewegung ist Selbststimulierung) unerläßlich ist, wenn das retikuläre System seine volle Funktionsfähigkeit erreichen soll.

Untersuchungen von Carpenter haben gezeigt, daß totale körperliche Einschränkungen bei jungen Ratten selbst während eines einzigen Tages spätere Verhaltensstörungen zur Folge haben, und zwar Störungen, die sich als schwerwiegender herausstellten als die, mit denen zu rechnen ist, wenn Ratten während des gleichen Zeitraums Licht- und Gehörreize entzogen werden.** Wichtiger noch: bei USC angestellte Untersuchungen lassen vermuten, daß körperlich eingeschränkte Tiere krebsanfälliger sind. Eines Tages werden wir vermutlich zu der Erkenntnis gelangen, daß Freiheit aufgrund der katastrophalen Krankheiten, die auftreten können, wenn sie fehlt, im wahrsten Sinne des Wortes eine Frage von Leben und Tod ist.

Es stellt sich immer deutlicher heraus, daß in den ersten Lebensmonaten ein fundamentales Bedürfnis nach Bewegtwerden besteht. Affen, die in Käfigen aufwuchsen, in denen sich nur ein bewegliches Pendel befand (das sie umklammern konnten), entwickelten sich schneller, nahmen stärker an Gewicht zu und waren sozial angepaßter als Affen, die in ihrem Käfig ein unbewegliches Pendel hatten. Jungaffen, die nicht an einem Pendel hin und herschwingen konnten, zeigten Angst vor Menschen, schienen weniger neugierig zu sein und waren allgemein fehlangepaßt. Die Frage ist: warum? Wir erkennen, daß es nicht ausreicht, wenn während der frühen Kindheit Bewegungen ermöglicht werden; es bedarf rhythmischer Bewegungen. Mit anderen Worten, die fundamentalen Bedürfnisse, die sich unmittelbar nach der Geburt äußern, müssen auf jene Bedingungen treffen, die den Lebensbedingungen im Mutterleib am nächsten kommen... ein stetiges Geräusch wie der Herzschlag, Bewegung, Körperwärme und viel körperlicher Kontakt.

 

** P. B. Carpenter, >The Effect of Sensory Deprivation on Behavior in the White Rat<, Dissertation, Florida State University 1959.

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Je mehr von diesen Bestandteilen fehlen, zum Beispiel Schaukeln oder rhythmische Bewegung, desto stärker wird die kindliche Entwicklung beeinträchtigt, desto größer ist die Gefahr von Schädigungen in irgendeiner Form. Die Untersuchungen an Affen und anderen Primaten können uns dabei behilflich sein, einige basale Bedürfnisse zu bestimmen, die wir bis jetzt noch nicht erörtert haben. Natürlich liegen uns heute auch schon hilfreiche Untersuchungen an Menschen vor. Frühgeborene Kinder entwickeln sich sowohl körperlich wie psychisch besser, wenn sie in Brutkästen gelegt werden, die schaukelnde Bewegungen ausführen. Brutkästen, die Bedingungen aufweisen, die den intrauterinen gleichen, bieten dem Kind die größte Überlebenschance. Das bedeutet: das Leben nach der Geburt ist eine Fortentwicklung des Lebens vor der Geburt, und je weniger die Lebens­bedingungen nach der Geburt von denen vor der Geburt abweichen, um so besser für das Kind.

Real sein heißt, in der Lage sein, sich frei bewegen zu können. Es heißt nicht, ständig in Bewegung sein, angetrieben von innerer Spannung. Es heißt auch nicht, sich beim Tanzen auszutoben, im Zimmer herumzurennen und sich wild aufzuführen. Vielmehr kommt es darauf an, einen geschmeidigen, entspannten Körper zu besitzen, der als ein Ganzes reagiert, dessen Bewegungen koordiniert sind, so daß man fähig ist, auf natürliche Weise in den meisten Sportarten gute Leistungen zu erbringen, und etwa beim Tanzen von seinem Körper vollen Gebrauch zu machen versteht. Nach meiner Überzeugung sind normale Kinder von Natur aus gute Sportler. Das bedeutet freilich nicht, daß Sportler von Neurosen verschont bleiben. Ein guter Läufer kann durchaus immer noch unfähig sein, seinen Körper als eine Einheit zu empfinden und einzusetzen, so daß er nicht in der Lage ist, auf gefühls­geladene Stimulierungen wie Musik zu reagieren. Jemand, der mit seinem Körper gut umzugehen weiß, kann trotzdem eine Neurose haben, die sich dann allerdings in psychischen Störungen äußert. Natürlich kann man einzelne Verhaltensweisen nicht aus dem Zusammenhang reißen und losgelöst betrachten. Doch wenn jemand völlig ungeschickt im Werfen ist, wenn er nicht imstande ist, schwimmen zu lernen, dann darf man annehmen, daß es sich um neurotische Symptome handelt, auch wenn sonst keinerlei Störungen zu bemerken sind.

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Ich bin keineswegs sicher, daß ein Neurotiker den Mangel an körperlicher Koordinierung mit Hilfe von Urerlebnissen vollständig beseitigen kann. Sobald die Neurose sich erst einmal im Körper »festgesetzt« hat und zu Koordinierungsmängeln führt, die sich über Jahre hin einschleifen, dann ist der Schaden häufig nicht mehr völlig zu beheben. Der Neurotiker kann nie die Leistungen erzielen, die er in jahrelanger sportlicher Betätigung hätte erreichen können, wenn er von vornherein richtig aufgewachsen wäre. Nichtsdestoweniger haben wir als Folge von Urerlebnissen bemerkens­werte Änderungen in der Koordinierung feststellen können.

 

Das Bedürfnis nach Stimulierung 

Dem Bedürfnis eines jeden Kindes entspricht ein optimales Maß an Stimulierung. Ob ein Kind über- oder unterstimuliert wird, in beiden Fällen kann Urschmerz auftreten. Ein Kind, mit dem die Eltern sich aus Ängstlichkeit zu häufig beschäftigen, kann durchaus unter Leidensdruck stehen, weil es Gefühle hat, die sich in die Worte kleiden ließen: »Laßt mich allein!«, und weil es, vor allem in der frühen Kindheit, nicht die Kraft hat, sich gegen das Verhalten der Eltern zur Wehr zu setzen. 

Mehrere unserer Patienten hatten Urerlebnisse, bei denen sie unter dem Eindruck standen, sie würden ständig gekniffen, in die Luft geworfen, zu allen möglichen Handlungen veranlaßt und immer daran gehindert, genügend Ruhe und Erholung zu finden. Das hängt damit zusammen, daß alles, was die Eltern, Großeltern oder Bekannte taten, in keinerlei Beziehung zu den Bedürfnissen des Kindes stand. Um es zu wiederholen, Neurotiker können nicht von ihren eigenen Bedürfnissen absehen. Überstimulierung kann die vielfältigsten Formen annehmen. Sie kann von Eltern ausgehen, die durch unablässiges Einreden auf das Kind Spannungen lösen. Sie geben dem Kind keine Zeit, sich eigene Gedanken zu machen, keine Zeit, nachzudenken und zu fühlen. Auch ständiges Hätscheln und Streicheln können das Kind überstimulieren. Eltern, die zu laut sprechen, können ihr Kind überstimulieren, denn übermäßige Sinneseindrücke verursachen Schmerz, ganz wörtlich genommen. Wie erkennt man, ob die Stimulierung zu stark oder zu gering ist? Das hängt von dem Bedürfnis des jeweiligen Kindes ab. Ein normales Kind weiß seine Bedürfnisse zu vermitteln. Und normale Eltern, das heißt Eltern, die nicht von Spannung getrieben werden, ersparen ihrem Kind Überstimulierung.

Doch Überstimulierung ist gewöhnlich das geringere Problem. Viel häufiger ist Unterstimulierung; ein anderes Wort für Ablehnung.

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Wir wissen, daß Stimulierung Wachstum und Dichte der Hirnrinde fördert, und somit hat der kindliche Organismus ein Bedürfnis nach Erfahrung schlechthin. Da man zuallererst sich selbst erfährt, ist die Lebenserfahrung um so reicher, je offener man sich selbst gegenüber ist. Oder um es anders auszudrücken: je mehr man von den Lebensprozessen des Körpers erfährt, desto mehr erfährt man vom Leben. Newton und Levine weisen darauf hin, daß »Erfahrungsbeschränkung die Sozialentwicklung von kleineren Affen wie von Schimpansen beeinträchtigt«.* Mangel an Stimulierung hat bei Affen stärkere, sich diffus äußernde Reizbarkeit und größere Ängstlichkeit zur Folge. Außerdem werden ihre sozialen Reaktionen auf unpassende Objekte fixiert; so richtet sich ihr Sexualtrieb auf diese Objekte statt auf ihre Artgenossen. Bei Menschen würden wir solche Objekte »Fetische« nennen. Aus den Untersuchungen an Primaten können wir folgern, daß Umwelteinschränkungen während der frühen Kindheit dazu führen, daß der Organismus sich eher an Gegenstände als an Menschen bindet. Das ist eine Frage unterschiedlicher Prägung: wenn einem Kind statt menschlicher Wärme ein Gegenstand wie eine Flasche oder ein Spielzeug gegeben wird, dann wird es unter Umständen zeit seines Lebens auf Objekte fixiert sein.

 

Körperkontakt

Es scheint, daß ein Index dafür, wieviel Stimulierung von welcher Art wir brauchen, die Größe des Gehirnbereichs darstellt, der mit dem jeweiligen Bedürfnis zu tun hat. Das Bedürfnis nach Körperkontakt, nach Berührung ist zum Beispiel an weite Bereiche des Gehirns gebunden. Nach meiner Ansicht ist dieses neurologische Faktum gleichsam ein Vermächtnis der Evolution, das die Wichtigkeit des Körperkontakts bezeugt. Häufige Berührungen des Kindes verhindern Schmerz, wie er auftritt, wenn das Kind unter einem Mangel an Körperkontakt zu leiden hat. Das Kleinkind kann somit den Körperkontakt mit anderen intensiv erfahren, weil es auf diese Weise zur intensiven Erfahrung seiner selbst gelangt. Ein Kind, das nur selten Körperkontakt erlebt, leidet unter dieser Versagung, ob es nun darum weiß oder nicht, denn dabei kommt sein physiologisches Bedürfnis – ein Bedürfnis so wichtig wie das Essen – zu kurz.

 

* Op. cit., S. 468.

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Schmerz drückt dem Erleben von Körperkontakt seinen Stempel auf, so daß das Kind in seinem späteren Leben Berührungen und Zärtlichkeit abwehrt und »nichts« zu fühlen vermag. Zuviel Körperkontakt kann freilich genauso schmerzvoll sein wie zu wenig, denn übermäßiges Berühren und Anfassen können das Kind derart überstimulieren, daß es sich innerlich dagegen verschließt. Überstimulierung ist kein Eingehen auf ein Bedürfnis, denn sie basiert keineswegs auf dem Bedürfnis des Kindes, sondern auf dem seiner Eltern.

Das Hautempfinden ist eine der wenigen sensorischen Funktionen, die bereits bei der Geburt voll ausgebildet sind. Der Fötus kann bereits nach einer Entwicklung von nur zwanzig Wochen Hautsensationen empfinden. Das ist insofern verständlich, als die Haut das größte Sinnesorgan darstellt; sie repräsentiert einen weitgefächerten Bedürfniskomplex. Es scheint, daß sich bestimmte Areale des kindlichen Gehirns in Einklang mit der Entwicklung der menschlichen Spezies früher ausbilden als andere. So dürfte die Myelinisation [Markscheidenbildung] des mit dem Hautsinn zusammenhängenden Gehirnbereichs früher beendet sein als die derjenigen Bereiche, die an der Denk- und Vorstellungsfähigkeit beteiligt sind. Im Evolutionsprozeß trat das Denken erst spät in Erscheinung; das gleiche wiederholt sich in der menschlichen Ontogenese, in der Entwicklung des Menschen von der Eizelle zur Geschlechtsreife. Auf die Gehirnentwicklung bezogen, heißt dies, daß die eher »animalischen« Bedürfnisse — die Bedürfnisse, die wir mit den Tieren gemeinsam haben — vor anderen den Vorrang haben. Vielleicht haben aus diesem Grund Untersuchungen an Tieren über den Mangel an Hautkontakt besondere Relevanz für das menschliche Verhalten. Doch die Tierforschung allein reicht für unser Verständnis menschlicher Neurosen nicht aus, die so unabweisbar mit Sprache, Denken und Bedeutung verknüpft sind.

Spitz hat Kinder untersucht, die selten körperlichen Kontakt mit Pflegepersonen hatten; er fand bei diesen in Heimen untergebrachten Kindern eine größere Anfälligkeit für Ekzeme.* Aufgrund anderer Untersuchungen wissen wir, daß die gleiche Vernachlässigung von Kindern zu allergischen Hautreaktionen und -erkrankungen führen kann. Nach Bakwin haben künstlich ernährte Kinder eine höhere Anfälligkeitsquote für Ekzeme wie für Erkrankungen der Atemwege.**

 

*  R. A. Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind, Klett, Stuttgart 1969.
** H. Bakwin, >Feeding Programs for Infants<, in: Federation Proceedings, 23. S. 66 ff.

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Ashiey Montagu berichtet über den Fall eines an Akne erkrankten Mädchens, das »durch eine Behandlung geheilt wurde, zu der auch taktile Stimulierung in einem Schönheitssalon gehörte; dorthin hatte es ein scharfsichtiger Arzt geschickt, nachdem jede Form orthodoxer medizinischer Behandlung versagt hatte.«* Der Arzt hatte den Traumabereich behandelt. Berührung ist ein Beruhigungs­mittel für die Haut.

Es ist also offenkundig, daß der Körper erkrankt, wenn er Versagungen ausgesetzt wird; nicht ganz so einsichtig ist, warum der Körper in solchen Fällen auf spezifische Weise erkrankt. Warum bekommen Kinder bei fehlendem Körperkontakt Ekzeme? Der Grund, glaube ich, liegt darin, daß die Haut zugleich den Bereich des Bedürfnisses wie der Versagung und folglich den Brennpunkt des Schmerzes darstellt. Natürlich müssen wir auch hereditäre, das heißt erbliche Prädispositionen als Faktoren der Symptom­bildung berücksichtigen. Nicht genug Körperkontakt erfahren heißt, nicht geliebt zu werden, gleichgültig, wie nachdrücklich die Eltern das Gegenteil behaupten. Mangel an liebevoller Zuwendung ist kein ausschließlich psychologisches Problem, sondern vielmehr ein psychophysiologisches. Daran ist nicht zu rütteln, trotz aller Äußerungen wie: »Sie haben mich wirklich geliebt, doch sie konnten nicht zärtlich sein.«

Harlow ist einer der Pioniere bei der Erforschung von Auswirkungen mangelnden Körperkontakts auf das spätere Verhalten von Primaten.** Seine Experimente haben gezeigt, daß Affenjunge, die ohne Mütter aufwachsen, im späteren Leben dauerhaft verhaltensgestört sind. Affenjunge, denen aus Stoff gefertigte »Mütter« in den Käfig gestellt wurden, entwickelten sich besser als eine Kontrollgruppe, die sich mit einem Drahtgestell begnügen mußte, mit einer »Mutter« also, deren Beschaffenheit nicht einmal einen ersatzweisen Körperkontakt zuließ. Die »kontaktlosen« Affen waren später weit ängstlicher und weniger erkundungs­freudig. Bei späteren Experimenten stattete Harlow die Stoff-Mutter mit einem Heizgerät aus.*** Die Zufuhr von Wärme führte zu signifikanten Unterschieden. Affenjunge, denen eine Mutter beigegeben war, die keine Wärme spendete, entwickelten sich weniger gut.

*  Ashley Montagu, Touching, Columbia University Press, New York 1971, S. 207.
**  Harlows Untersuchungen habe ich im Kapitel »Liebe« in Der Urschrei, Frankfurt am Main 1973, ausführlich behandelt.
***  H. Harlow, American Psychologist, Februar 1970.

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Hingegen waren mit einem Wärmespender aufgezogene Affen eher bereit, sich an ihre »Mütter« anzuklammern, wenn sie in Angst gerieten. Wenn die Tiere zu lange mit einer kalten »Mutter« aufwachsen mußten, dann stellten sich dauerhafte Schäden ein; die Jungtiere scheuten jeden Kontakt, selbst wenn ihnen eine »warme Mutter« in den Käfig gestellt wurde. Harlow meint: »Das Aufwachsen mit einer kalten Mutter hatte bei ihm (dem Affenjungen) offensichtlich zu einer allgemeinen Gefühlskälte gegenüber Müttern geführt, selbst solchen Müttern gegenüber, die Wärme und Behaglichkeit ausstrahlten.«*

Wenn wir die Untersuchungen von Harlow auf unser Thema übertragen, dann können wir festhalten, daß eine im späteren Leben erfahrene wärmespendende Umwelt frühe Traumata nicht auszulöschen vermag, sondern sie lediglich abmildert. Eine gefühlskalte Mutter in den ersten Lebensmonaten hinterläßt in ihrem Kind eine dauerhafte Ängstlichkeit, denn es hatte in der entscheidenden Zeit niemanden, an den es sich wenden konnte, um mit seinen furchterregenden Erfahrungen fertig zu werden. So dürfte ein Kind, das im achten Lebensmonat adoptiert wird, in seinem späteren Leben Schwierigkeiten haben, wenn es die ersten acht Monate in einer relativ kalten Anstaltsumgebung zubringen mußte. 

Das Fehlen einer warmherzigen Mutter in der ersten Lebenszeit führt zu einer Überlastung des Kindes mit Furcht, die in Form einer vagen Ängstlichkeit weiterbesteht. Wenn das Kind später gefragt wird: »Wovor hast du Angst?«, könnte es keine einigermaßen plausible Antwort geben, denn erstens empfand es keine spezifische frühe Furcht, die im Vordergrund gestanden hätte, und zweitens traten die Befürchtungen zu einem Zeitpunkt auf, ehe das Kind sich begrifflich klarmachen konnte, vor was es Angst hatte oder daß es überhaupt Angst verspürte. Es wäre ein Fehler, dem Kind, das sich jetzt vor »neutralen« Gegenständen wie Hunden, hohen Gebäuden oder Aufzügen ängstigt, vorhalten zu wollen: »Das ist doch gar nichts, wovor du Angst haben müßtest.« Das Kind reagiert jetzt aufgrund einer vergessenen, jedoch weiterhin wirksamen frühen Lebensgeschichte. Um seinen Zustand allgemeiner Ängstlichkeit zu mildern, hätte es vieler Erfahrungen frühen Körperkontakts, vornehmlich gefühlswarmen Kontakts bedurft.

* Ibid., S. 167.

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Für Harlows Schlußfolgerungen bietet das menschliche Verhalten überreichlich Beweise. Mütter, von denen es heißt, sie seien »kalte« Frauen, sind durch ihren eigenen Schmerz derart blockiert, daß sie in der Tat auf Körperkontakt gefühlskalt reagieren. Ihr Körper hat sich mit verlangsamtem Blutkreislauf und niedriger Körper­temperatur auf den Schmerz eingestellt. Keine noch so große Anzahl von Vorträgen oder Artikeln über mütterliche Gefühlswärme vermag diese Form weiblicher Kälte zu ändern. Die Gefühlskalte der Frau ist nicht schlicht eine Verhaltens­einstellung, sondern sie ist in ihrem Körpersystem verankert.

 

Kritische Perioden  

Häufiger Körperkontakt allein reicht nicht aus; es gibt auch bestimmte kritische Zeiten, in denen die Kleinkinder diesen Kontakt erfahren müssen. Ein Anstaltskind, das im achten Lebensmonat von einer Gefühlswärme ausstrahlenden Familie adoptiert wird, hat bereits ein Trauma erlitten, das sein weiteres Leben beeinflußt.

Während der ersten acht Lebensmonate, wenn das Nervensystem besonders empfänglich ist und andere sensorische Funktionen noch nicht vollständig ausgebildet sind, vermag kein Körperkontakt lebenslange Schädigungen hervorzurufen. Wir bezeichnen die kritischen Perioden, in denen Stimulierung sich optimal auswirkt, als Prägungsperioden. Wenn Enten etwa fünfzehn Stunden nach dem Ausschlüpfen mit einem beweglichen Objekt zusammengebracht werden, dann werden sie auf dieses Objekt geprägt und folgen ihm (zum Beispiel einem Menschen) ihr Leben lang. Dieser Effekt kann völlig ausbleiben, wenn man mit einer vier Tage alten Jungente auf gleiche Weise verfährt. 

Denenberg hat in einer Untersuchung nachgewiesen, daß Jungratten, die in den ersten fünf Lebenstagen Körperkontakt erfahren, Belastungen länger ertragen können als Ratten, denen bis zum sechsten Lebenstag körperliche Berührungen vorenthalten werden.* Das bei Jugendlichen und Erwachsenen zu beobachtende Verhalten dürfte in direkterer Verbindung zu den Geschehnissen in den ersten Lebensmonaten stehen als zu irgendeiner späteren Störung der Eltern-Kind-Beziehung. Eine »gut« verlaufene frühe Kindheit kann entscheidend dazu beitragen, spätere Mißgeschicke bewältigen zu können; dies kann eine Erklärung dafür sein, daß ein Kind »es schafft«, ein anderes nicht.

* V. H. Denenberg, >An Attempt to Isolate Critical Periods of Development in Rats<, in: Journal of Comparative and Physiologien! Psychology, 55, 1962, S. 813 ff.

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Tapp und Markowitz haben festgestellt, daß körperlicher Kontakt im Frühleben sich unmittelbar auf die Gehirnentwicklung auswirkt.* Nach Ansicht der beiden Wissenschaftler geschieht dies während besonderer Entwicklungs­phasen. Auch besteht zwischen der stimulierten Körperzone und dem Wachstum des entsprechenden Gehirnareals eine direkte Beziehung. Bei geblendeten Ratten ist der mit der Sehfähigkeit verbundene Teil der Gehirnrinde verkümmert. Wenn ein Kind in der ersten Zeit seines Lebens keinen ausreichenden Körperkontakt oder nur mangelnde Pflege erhält, dürften diese Entbehrungen sich auf seine spätere Intelligenz tiefgreifender auswirken als jede formale Erziehung und Bildung. Erzieher sollten sich klarmachen, daß es nicht darauf ankommt, wie wir die Köpfe der Kinder mit Wissen füllen, sondern wie wir ihre Bedürfnisse erfüllen.

Über die Frage des Körperkontakts liegen mittlerweile Tausende von Untersuchungen vor. Nachweislich sind »liebevoll« behandelte Ratten später ausgeglichener und weniger reizbar.**. Andererseits hat sich gezeigt, daß isolierte, ohne Körper­kontakt lebende Ratten außerordentlich reizbar sind, wenn sie zum erstenmal in die »Gesellschaft« eingeführt werden. Wenn ihnen Chlorpromazin [Beruhigungsmittel] verabreicht wird, werden sie verträglicher.***

Um deutlich zu machen, wie wichtig Körperkontakt ist, möchte ich noch einige weitere Untersuchungen zitieren. Casler befaßte sich 1965 mit einer Gruppe von Heimkindern; über zehn Wochen hin gab er ihnen täglich eine zwanzig Minuten dauernde, körperlich stimulierende Behandlung.**** Bei anschließenden Tests stellte sich heraus, daß diese Kinder sozial angepaßter waren als jene Kleinkinder, die nicht zusätzlich körperlich stimuliert worden waren. Die stimulierten Kleinkinder zeigten auch weit weniger Neigung, die ihnen zugeführten Speisen wieder zu erbrechen.

*  J. T. Tapp und H. Markowitz, >Infant Handling: Effects on Avoidance, Learning, Brain Weight and Cholinesterase Activity<, in: Science, 140, Mai 1963, S. 486 f.

**  Lindsley vermutet, daß frühe Deprivation das Gleichgewicht des Weckzentrums im Gehirn verändert, jenes Zentrums, das die Hirnrinde in Richtung spezifischer Aktivität hin organisiert. Mit geringerer Organisation der Hirnrinde kommt es somit zu diffuserer, zufälliger Reizbarkeit. Bei Menschen sprechen wir von »frei flottierender« Angst. Nach Lindsleys Vermutung ist ein weniger ausgebildetes und organisiertes Gehirn anfälliger für Überlastung, selbst bei Reizen, die unter gewöhnlichen Umständen nicht schädigend wären. (Vgl. die Arbeit von Donald Lindsley über die Funktion des retikulären Aktivierungssystems im Gehirn — Neuropsychiatric Institute, UCLA.) 

***  David Symnes vom National Institute of Mental Health hat in der Tat festgestellt, daß in Isolierung aufgewachsene Affen einen Defekt des retikulären Aktivierungssystems haben — daß es chronisch übererregt ist. Ein Anzeichen dafür ist der Mangel an tiefem (wir können hinzufügen »erholsamem«), mit niedrigen Hirnstromwellen einhergehenden Schlaf.

****  L. Casler, >The Effects of Extra Tactile Stimulation on a Group of Institutio-naiized Infants<, in: Genetic Psychology Monograph, 71, 1965, S. 137-175.

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Eine für die Primärtheorie aufschlußreiche Untersuchung ist von Melzack und Scott durchgeführt worden.*  Danach waren isoliert gehaltene Hunde nicht in der Lage, auf Schmerz normal zu reagieren. Die gleiche Apathie hat Bowlby in seinen klassischen Unter­suchungen an Heimkindern beschrieben.**  Nach meiner These ist es außerordentlich schmerz­erregend, wenn frühe Bedürfnisse über einen ungewöhnlich langen Zeitraum nicht befriedigt oder vernachlässigt werden; in solchen Fällen macht das Körpersystem aus Gründen des Selbstschutzes den Organismus unempfindlich gegen diesen Schmerz; dabei handelt es sich um einen mechanisch sich vollziehenden Vorgang. Es bedarf daher später einer erheblichen Menge an Stimulierung, um die Schutzbarriere zu durchdringen.***  Frühe Traumata können nicht nur die Empfindlichkeit für Schmerz dämpfen, sondern auch zu einer Form agitierten Verhaltens führen, das es dem Organismus nicht ermöglicht, längere Zeit Schmerz zu ertragen.

Der Neurotiker hat das Bedürfnis, sich zum Schutz gegen den Schmerz immer mehr abzustumpfen.

Es ist daher kein Wunder, daß Heimkinder den Anschein erwecken, als seien sie »tot«. Abschließend läßt sich sagen: die ständige Zunahme an Schmerz führt zu den meisten späteren Symptomen psychischer Störungen wie manische Erregung, katatone (bis zu völliger Lähmung gehende) Zustände und vom Druck des körperlichen Schmerzes verursachte Gedankenflucht. Der gleiche Druck äußert sich auch in Wahnvorstellungen und Halluzinationen – in einer Vorstellungsausweitung als Folge der Überschwemmung des Körpersystems mit Schmerz.

Newton und Levine kommen nach Würdigung der großen Zahl von Untersuchungen über die Bedürfnis­deprivation zu dem Schluß: »Je höher die jeweilige Spezies auf der Evolutionsleiter steht, desto größer sind die vielfältigen Auswirkungen der Reizdeprivation.«* Das heißt, daß Menschen am stärksten unter frühen Versagungen zu leiden haben.

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*  R. Melzack und W. R. Thompson, >The Effects of Early Experience on the Response to Pain<, in: Journal of Comparative and Physiological Psychology, 50, 1957, S. 155-161.

**  J. Bowiby, Maternal Care and Mental Health, World Health Organization Monograph Series, 2,1951.

***  Über diese Empfindungslosigkeit schreiben Newton und Levine: »Da die Nervenbahnen von der Haut zum Zentralnervensystem früher zu funktionieren scheinen als andere sensorische Nervenbahnen, aktiviert die Stimulierung der Haut eher als andere Arten von Stimulierung das Koordinationssystem (formatio reticularis).« Das heißt, daß geringere Stimulierung die Tätigkeit des Weckzentrums reduziert. Ich frage mich, ob nicht das Gegenteil der Fall ist; daß nämlich ungenügende Stimulierung eine Überreaktion des Weckzentrums hervorruft, um auf diese Weise den Schmerz, des vernachlässigten Bedürfnisses abzumildern. Das Gehirn wird in Alarmzustand versetzt, weil das Leben buchstäblich gefährdet ist, wenn das Bedürfnis nicht befriedigt wird. Vgl. auch J. C. Lilly, >Mental Effects of Reduction of Ordinary Levels of Physical Stimuli on Intact, Healthy Persons<, in: Psychiatrie Research Reports, 5, 1956, S. 1—9; die oben angeschnittene Frage wird hier eingehend behandelt.

****  Op. cit.,  S.  710

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