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9.  Langfristige Auswirkungen früher Erfahrung

 

 

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Viele Experimente belegen die langfristigen Auswirkungen früher traumatischer Erfahrungen. So haben zum Beispiel Melzack und Thompson nachgewiesen, daß Hunde, die in den ersten Lebenswochen Restriktionen ausgesetzt werden, später nicht in der Lage sind, sich gegen andere Hunde zu behaupten, wenn es etwa darum geht, Knochen in ihren Besitz zu bringen. Bei Auseinander­setzungen erwiesen sich die traumatisierten Hunde als »Verlierer«. Sie erweckten den Anschein ständiger Verwirrung und litten unter »diffuser emotionaler Erregung«.* Sie waren nervös. 

Andere physiologische Untersuchungen über die Auswirkungen von Restriktionen (häufig als »sensorische Deprivation« bezeichnet) lassen erkennen, daß bei Deprivationen in einem Sinnesbereich die entsprech­enden Gehirnareale in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden. So hemmt zum Beispiel der Entzug von Licht und Geräuschen die Entwicklung der visuellen und mit dem Gehörsinn verbundenen Hirnpartien.** Dabei wird nicht nur das Gehirn geschädigt, sondern das Sinnesorgan selbst. Riessen hat in Experimenten festgestellt, daß bei visuell deprivierten Affen das Augengewebe in Mitleidenschaft gezogen wird.

Ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, als ließen sich Symptome in direkter Linie auf eine Ursache zurückführen, sagen wir das Bettnässen auf die Sauberkeitsdressur. In der Wachstumsperiode geschieht so viel mit uns, daß es schwierig ist, eine Episode als ausschließlichen Faktor bei der Entstehung von Störungen herauszustellen. 

Wir können den Zusammenhang zwischen Symptomen und ihren Ursprüngen nur aufgrund von Gefühlen verstehen. Denn Gefühl verbindet auch die entlegensten und unterschied­lichsten Ereignisse im menschlichen Leben. So konnte einer unserer Patienten sich nicht auf seine Schulaufgaben konzentrieren. Dann hatte er ein Urerlebnis, das um den Wunsch kreiste: »Mammi, laß mich nach draußen gehen und mit den anderen Jungen spielen.«

*  R. Melzack und W. R. Thompson, >Effects of Early Experience on Social Behavion, in: Canadian Journal of Psychology, 10, 1956, S. 82-90. 
** E. Gauron und W. C. Becker, >The Effects of Early Sensory Deprivation on Adult Rat Behavior under Competition Streß<, in: Journal of Comparative Physiological Psychology, 52, 1959, S. 689-693.

Dieses Urerlebnis beseitigte seine Lesestörungen, ohne daß das Problem selbst zur Sprache gekommen wäre. Wie war das möglich? Der Patient hatte als Junge immer erst seine Hausaufgaben erledigen müssen, ehe er sich erholen und spielen konnte. Sein ganzes Körpersystem sperrte sich dagegen, irgend etwas zuerst zu tun. Das Lesen bedeutete für ihn eine Aufgabe, gegen die er sich zur Wehr setzen mußte. Dieser Widerstand war ihm nicht bewußt; er hatte vielmehr jedesmal, wenn er sich hinsetzte, um zu lesen, das Gefühl, sein Verstand »wanderte«. Der Widerwille gegen das Lesen drückte den Gedanken aus: »Ich möchte frei sein.«

Als er das frühe unbewältigte Trauma der ständigen Beschränkung auf die elterliche Wohnung wiedererlebt hatte, war er in der Lage, sich geistig wirklich frei zu fühlen. Dann erst konnte er sich in innerer Entspannung auf das Lernen konzentrieren, ohne weiterhin das nagende Zwangsgefühl zu verspüren, sich nach der Lektüre von zwei Absätzen eines Buches seinen Phantasien hinzugeben. Weder erzieherische Maßnahmen, gutes Zureden noch Drohungen konnten seinen Lesewiderstand aufheben; erst als die unterschwellige Gefühlsdynamik geklärt war, löste sich auch sein Widerwille gegen das Lesen auf. Der Zusammenhang zwischen der Lektüre eines Buches und dem Wunsch, nach draußen zu gehen und zu spielen, war tatsächlich undurchsichtig; erst das Gefühl gab dem psychischen Mechanismus einen Sinn.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß mit dem Leben im Uterus unsere Einstellung zur Welt sich zu bilden beginnt. 

Bereits im Mutterleib sind wir aufnehmende, wahrnehmende Lebewesen, und wenn der Mutterleib ein angenehmer Aufenthaltsort war, dann haben wir unter Umständen nach der Geburt von Anfang an eine positive Lebenseinstellung. Wenn der Aufenthalt im Mutterleib unangenehm war, wenn die Mutter unter chronischen inneren Spannungen litt, einen schnellen oder unregelmäßigen Herzschlag hatte, zu abrupten Bewegungen neigte, rauchte, Alkohol trank und Rauschmittel nahm, dann bildet sich bereits im Fötus die unbewußte Einstellung heraus, Welt und Leben seien unsichere Angelegenheiten, denen man nicht trauen könne.

Diese Erfahrung in utero sowie ein schwieriger Geburtsprozeß und falsche Behandlung in den ersten Lebensmonaten verfestigen eine rudimentäre Einstellung gegenüber dem Leben, die ihren Anfang im Mutterleib nahm. Die anfängliche Einstellung wird später in begriffliche Vorstellungen übersetzt, sobald das Kind dazu in der Lage ist; sie kleiden sich in Worte wie: »Man kann niemandem trauen. Die Welt wird von Gemeinheit beherrscht.«

All diese sogenannten paranoiden Gedanken haben einen realen Grund — in der realen Erfahrung des Kindes während seines uterinen Lebens.

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Im Mutterleib »prüft« der Fötus seine Welt nicht mit Augen und Ohren, sondern mit seinem Berührungs­sinn. Erst später bedient er sich zur Prüfung auch seiner anderen Sinne. Bis dahin vermag er zwischen den Sinneseindrücken nicht zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß es sich beim Fötus um einen unterschiedslos Sinneseindrücke wahrnehmenden Organismus handelt, bei dem Traumata die gleiche An von sensorischer Überlastung hervorrufen können, wie sie mit ähnlichem Ergebnis nach der Geburt auftreten kann, mit dem Ergebnis nämlich, daß die Sinneswahrnehmung getrübt wird. Wir dürfen annehmen, daß der Fötus aufgrund seines noch nicht ausgebildeten neurologischen Apparats noch empfindlicher gegen sensorische Überlastung ist.

Sensorische Überlastung vor und unmittelbar nach der Geburt kann zu Veränderungen im Gehirn führen und damit spezifische Fähigkeiten beeinträchtigen. So können die mechanischen Fähigkeiten des Kindes später unzureichend sein. Es mag zum Beispiel unfähig sein, bestimmte Zusammenhänge zu erkennen, unfähig, sich die Beziehung zwischen einzelnen Möbelstücken in einem Zimmer zu veranschaulichen oder das Ineinandergreifen einzelner Geräteteile zu begreifen. Dieses Unvermögen kann das Ergebnis sehr früher, vor der Geburt liegender Erfahrungen sein und nicht so sehr das Ergebnis angeborener Schwächen, wie wir früher geglaubt haben. Natürlich sollten wir den ungeheuren Einfluß von Erfahrungen nach der Geburt nicht übersehen.

Wenn Eltern zum Beispiel ihrem Kind nicht gestatten, Dinge zu berühren und zu erforschen, dann kommen unter Umständen seine mechanischen Fähigkeiten nicht zur vollen Entfaltung. Das heißt, es wird nicht in der Lage sein, seine Umwelt körperlich zu erfahren, eine Erfahrung, die für eine körperlichmechanische Fähigkeit von wesentlicher Bedeutung ist. Wird das Kind etwa im Kinderwagen zur Untätigkeit, zur Passivität gezwungen, dann stumpft seine Wahrnehmungsfähigkeit ab, weil es einfach nicht genügend Gelegenheit erhält, seine Umwelt körperlich zu erkunden. Das Kind ist dann später insgesamt weniger aufgeschlossen für Wahrnehmungen. Aufgrund seines Neugier- und Erkundungsverhaltens in den ersten Lebensmonaten gewinnt das Kind richtige Raumvorstellungen.

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Ein Kind, dem nicht erlaubt wird, seine Körpersinne voll auszuspielen, kann sich genötigt fühlen, seine Aufmerksamkeit abstraktem Denken zuzuwenden, das heißt, sich zu einem Menschen zu entwickeln, für den Denken und begriffliches Vorstellen eine größere Rolle spielen als körperliche Bewegung.

Aus dem Kind mag ein Intellektueller mit einer ausgezeichneten Fähigkeit zu abstraktem Denken und eingeschränkter körperlicher Bewegungsfähigkeit werden. Ein Grund dafür, daß Intellektuelle häufig neurotisch sind, besteht in dem Umstand, daß solche Menschen in der Kindheit von sich selbst abstrahiert, sich selbst entfremdet worden sind. Der entscheidende Punkt ist jedoch, daß ein Kind, dem die volle Entfaltung seiner Körpersinne in den ersten Lebensmonaten versagt wird, zu einem Denk- und Daseinsstil gezwungen wird, der sein ganzes künftiges Leben bestimmt.

Es scheint, daß ein guter Lebensstart dazu befähigt, jeder späteren Belastung zu widerstehen. Ein schlechter Lebensanfang führt mit Sicherheit zu größeren Problemen in der späteren Lebenszeit. Wichtiger noch, ein guter Lebensbeginn kann zugleich ein gutes Lebensende bedeuten, zumindest ein nicht vorzeitig eintretendes Ende. William Berkowitz kommt aufgrund seiner Tierexperimente zu der Schlußfolgerung, daß ausreichend stimulierte Tiere länger leben als ungenügend stimulierte. Ihr Nachwuchs lebt länger, wenn das Leben der Muttertiere in den ersten Monaten »gut« verlaufen war.* 

So können die ersten Lebens­monate durchaus über Leben und Tod entscheiden. In dieser kritischen Zeit muß der Vater sich bereithalten, häusliche Arbeiten zu übernehmen, damit die stillende Mutter sich erholen kann und bei guter Gesundheit bleibt. In dieser Zeit müssen die Eltern zum Nutzen für das Neugeborene für eine entspannte, von Streitigkeiten freie Atmosphäre sorgen, sie müssen verhindern, daß ihr Baby mit lauten Geräuschen bombardiert oder in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, etwa durch eine fest gewickelte Decke, und sie müssen dafür Sorge tragen, daß ihr Kind nicht zu lange Zeit in nassen Windeln liegt, nicht zu lange Hunger oder Durst verspürt. Kurz, die ersten Lebensmonate fordern die ständige Aufmerksamkeit der Eltern. Wer sich mit dem Gedanken trägt, ein Kind in die Welt zu setzen, sollte sich diese Notwendigkeiten vor Augen halten.

Auch die Gesellschaft ist aufgerufen, diese Notwendigkeiten anzuerkennen. Denn in den ersten Lebens­monaten des Kindes sollte weder die Mutter noch der Vater einer Berufstätigkeit nachgehen, sofern dies zu ermöglichen ist. Der Vater sollte eine Art Urlaub erhalten, um sich der wichtigsten Aufgabe von der Welt widmen zu können – dazu beizutragen, daß ein neues Menschenwesen die bestmögliche Lebenschance bekommt.

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 * Bericht auf der Tagung der American Psychological Association in Washington, D.C. September 1971.

 

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