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6  Mythos und Wirklichkeit — Die Studentenbewegung

 

Hubertus Knabe 1999

 

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Für manche war es wie eine Gotteslästerung: Als der Historiker und ehemalige Frankfurter SDS-Funktionär Wolfgang Kraushaar im April 1998 einen Aufsatz mit dem Titel <Unsere unterwanderten Jahre> veröffentlichte, erntete er empörte Reaktionen. Der <Stern>, in dessen Auftrag er den Beitrag geschrieben hatte, weigerte sich, ihn abzudrucken, so daß sich Kraushaar zum ersten Mal in seiner publizistischen Laufbahn an die <Frankfurter Allgemeine Zeitung> wenden mußte — ein Blatt, das in Achtundsechziger­kreisen bis heute als <Flaggschiff der Reaktion> gilt. Dort legte er den Finger auf eine Wunde, die auch sieben Jahre nach Öffnung der Stasi-Akten für viele noch ein Tabu ist: die »barbarische und gar nicht schöne Infiltration der Studenten­bewegung durch die Organe der Staats­sicherheit«.1

Tatsächlich ist die <Außerparlamentarische Opposition> (APO) in der alten Bundesrepublik bislang vor allem als eine zwar zuweilen überzogene, in ihrer befreienden Wirkung für die westdeutsche Nachkriegs­gesell­schaft aber gar nicht hoch genug zu veranschlagende Emanzipationsbewegung rezipiert worden. Die überfällige Reform des Bildungswesen, die Auseinandersetzung mit dem National­sozialismus, die sexuelle Revolution und die Demokratisierung großer gesellschaftlicher Lebensbereiche — all das wird der westdeutschen Studenten­bewegung bis heute als bedeutendes Verdienst angerechnet.

Für manche stellt sie deshalb die tiefgreifendste Zäsur in der Geschichte der Bonner Republik dar. Auch drei Jahrzehnte später ist der Mythos der Studentenbewegung, jedenfalls im Westen Deutschlands, weitgehend ungebrochen, obgleich die politischen Aktivitäten der Studierenden seinerzeit nur einen kleinen Teil der Gesellschaft erfaßten und ihre Ideologie — der Marxismus — an den meisten Schauplätzen dieser Erde alles andere als befreiend wirkte.

Es lag in der Logik der Blockkonfrontation, daß ein Aufbegehren gegen den Bonner Staat, zumal wenn es von links kam, automatisch das Interesse der SED-Führung und des von ihr gelenkten Staatssicherheits­dienstes hervorrufen mußte. Von Anfang an suchte die kommunistische Machtzentrale in Ostberlin nicht nur über die ab 1956 illegale KPD im Westen Deutschlands Einfluß auszuüben. Vor allem linke Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Studenten wurden zielstrebig als Bündnispartner umworben, genutzt und mißbraucht.


Mit großem Aufwand wurden Gewerkschaften, Parteien und Organisationen infiltriert, um sie zu Verstärkern der kommunistischen Politik umzupolen oder zumindest in ihrem Innern eine »linke« Opposition zu schaffen.2) Die SED unterhielt für diese Art von »Westarbeit« (bis zum Mauerbau: »gesamtdeutsche Arbeit«) einen zentral gelenkten Apparat, der auch die Bezirke und die Massenorganisationen der DDR umfaßte und systematisch in der Bundesrepublik Einfluß nahm.3)

Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS)4) stand spätestens seit dem Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD vom November 1961 bei der SPD weit oben auf der Liste der potentiellen Verbündeten im Kampf gegen den Klassenfeind. Während politische Kontakte zur SED im Westen bis weit in die sechziger Jahre tabu waren, kam es zwischen SDS und FDJ frühzeitig zur Zusammenarbeit.5) Auch die Anti-Atom-Ausschüsse der fünfziger Jahre und die 1955 als Studentenblatt entstandene Zeitschrift Konkret wurden massiv von der DDR unterstützt. Die von Klaus Rainer Röhl verantwortete Zeitschrift war, wie man heute weiß, vom Zentralrat der FDJ gegründet worden und wurde alsdann mit Erfolg zum organisatorischen Zentrum kommunistischer Einflußnahme auf die westdeutsche Studentenschaft ausgebaut.6

Bei der Infiltrierung und Nutzung des »progressiven« Potentials an den westdeutschen Universitäten ging die SED in einer Zangenbewegung vor. Während die Partei und ihr Jugendverband für politische Propaganda, Einladungen, Kontakte, »Aktionsbündnisse« und die Werbung von Genossen für die illegale Arbeit im Westen zuständig waren,7) operierte das MfS parallel dazu im verborgenen mit eingeschleusten Agenten. Auf diese Weise waren die politischen »Gesprächspartner« in Ostdeutschland nicht nur über alle wesentlichen Interna im Westen informiert, sondern erhielten regelmäßig Hinweise auf Ansatzpunkte für die Instrumentalisierung der linken Opposition in Westdeutschland.

Beide Ebenen der Durchdringung waren überwiegend konspirativ organisiert und sind bis heute nur punktuell aufgearbeitet. Da die Forschung zur Studenten­bewegung bislang vor allem von ehemaligen Achtundsechzigern bestimmt wurde, wirken auch in der Zeitgeschichtsschreibung die alten Mythen fort.8) Über die Infiltration der linken Gruppierungen in der Bundesrepublik durch das Ministerium für Staatssicherheit sind freilich auch nur vereinzelte Unterlagen überliefert, denn zuständig war dafür in erster Linie die HVA. Das Vorgehen der Stasi läßt sich jedoch vergleichsweise detailliert am Beispiel Westberlins rekonstruieren, da hier auch Diensteinheiten der sogenannten »Abwehr« in starkem Maße involviert waren — insbesondere die Hauptabteilung XX (bis 1964: Hauptabteilung V), die systematisch in den SDS eindrang. Dem Berliner Landesverband des SDS kam dabei eine Schlüsselrolle zu, weil er mit etwa 200 Mitgliedern rund ein Viertel der Gesamtmitgliedschaft stellte.9)

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    Unterwanderung des SDS   

 

Die ersten Dokumente über die Infiltration des SDS durch die Staatssicherheit stammen bereits aus den späten fünfziger Jahren. Damals war es DDR-freundlichen Kräften gelungen, innerhalb des Studenten­verbandes beträchtlichen Einfluß zu gewinnen. Die Methode war, daß man sich an Universitäten, an denen es keinen SDS gab, einschreiben ließ und eine neue SDS-Gruppe gründete, der automatisch zwei Delegiertenstimmen zustanden.10) Mit Oswald Hüller war infolgedessen auf der Delegiertenkonferenz im Oktober 1958 erstmals ein Vertreter der orthodoxen Linken zum Bundesvorsitzenden gewählt worden.

Ein Vierteljahr später, am 3. und 4. Januar 1959, organisierten die studentischen Anti-Atomausschüsse in Westberlin einen Kongreß, der, wie der Chefredakteur von Konkret, Klaus Rainer Röhl, später offenbarte, mit ähnlichen Mitteln manipuliert wurde.11) Die meisten Studenten, so heißt es in einem Spitzelbericht aus dieser Zeit, hätten dank geschickter Regie »für etwas gestimmt, wofür sie gar nicht stimmen wollten«.12)

Mit Verfahrenstricks (Röhl: »Wir wollten den Sieg, obwohl wir nicht die Mehrheit besaßen«) setzte man eine Resolution durch, die direkte Verhandlungen mit der DDR und die Prüfung der »möglichen Formen einer interimistischen Konföderation« zwischen beiden deutschen Staaten bis zum Abschluß eines Friedensvertrages verlangte — Forderungen, die der politischen Generallinie der SED entsprachen und in der Öffentlichkeit seinerzeit einen Sturm der Entrüstung auslösten.13) Mit einem von Hüller eigenmächtig in Auftrag gegebenen Flugblatt stellte sich der SDS-Vorstand anschließend hinter die umstrittenen Kongreß­beschlüsse.

Der Text wurde in hoher Auflage gedruckt und bundesweit an den Universitäten verteilt. Geradezu beschwörend hieß es darin: »Der Studentenkongreß hielt in seinem gesamten Verlauf streng die demokratischen Spielregeln ein; alle Beschlüsse kamen nach ernster und eingehender Diskussion legitim zustande.« Schon damals wurde im SPD-Parteivorstand mißtrauisch gefragt, woher die Geldmittel für die Flugblattaktion stammten, die später in der wissen­schaftlichen Literatur der achtziger Jahre als erster Ansatz einer »studentischen Gegenöffentlichkeit« gefeiert wurde.14)

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Der SDS-Vorsitzende Eberhard Dähne, in den siebziger Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) in Frankfurt am Main, ließ freilich dem SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer unter Androhung einer Geldstrafe von 100.000 DM gerichtlich die Behauptung untersagen, daß der SDS in Berlin »einen eindeutig von der SED infiltrierten Kongreß veranstaltet« und »dabei Geld aus dem Osten empfangen« habe — der SPD fehlten die Beweise.15)

Nach dem Erfolg in Berlin initiierte Hüller im Mai 1959 in Frankfurt einen weiteren Kongreß, der unter dem Motto stand <Für Demokratie — gegen Restauration und Militarismus>. Aus Furcht vor einer erneuten Überrumpelung verweigerten die übrigen Mitglieder des Bundesvorstandes zunächst die Zustimmung zu Hüllers Plänen und erhoben dann, weil die Referenten bereits eingeladen worden waren, zur Bedingung, daß keine Resolutionen beschlossen werden dürften. Gleichwohl setzte die <Konkret>-Fraktion in einer Kampfabstimmung eine Entschließung durch, in der mit scharfen Formulierungen der zunehmende »Militarismus« in der Bundesrepublik gebrandmarkt und ein einseitiger Abbau der Bundeswehr gefordert wurde.16)

Eine andere Stoßrichtung bildete der propagandistische Kampf gegen echte oder vermeintliche Nazis in der Bundesrepublik. Die seit Ende der fünfziger Jahre vom Zentralkomitee der SED generalstabsmäßig geführte Kampagne zur »Entlarvung« des Bonner Staates fand im SDS beträchtlichen Widerhall. Zu den Schlüsselfiguren zählten dabei die SDS-Mitglieder Wolfgang Koppel und Reinhard Maria Strecker. Koppel, der 1954 aus der DDR in die Bundesrepublik kam, war ein enger Mitstreiter Hüllers aus Karlsruhe. Er gründete im November 1959 ein »Organisationskomitee«, das — unter Umgehung des Bundesvorstandes — eine vornehmlich auf östlichen Quellen beruhende Ausstellung mit dem Titel »Ungesühnte Nazijustiz« an den Sitz der Bundesanwaltschaft holte.17)

Der Parteivorstand der SPD, der ein abermaliges Fait accompli der Konkret-Fraktion fürchtete, lehnte die Ausstellung ab und schloß Koppel im Januar 1960 wegen parteischädigenden Verhaltens aus der SPD aus. Im Nachgang zu der Ausstellung veröffentlichte Koppel ein halbes Jahr darauf eine umfangreiche Dokumentation mit Urteilen bundesdeutscher Richter aus der Nazizeit.18) Später wurde er Funktionär der von der DDR unterstützten »Deutschen Friedensunion« (DFU).19) In den sechziger Jahren gab er noch eine Reihe weiterer Publikationen über ehemalige Nationalsozialisten in der Bundesrepublik heraus.20)

Koppels Verbindungen in die DDR liefen, den bisher bekannten Unterlagen zufolge, nicht zur Stasi, sondern zu »offiziellen« Einrichtungen wie der Staatsanwaltschaft und dem Nationalrat der Nationalen Front. Eine MfS-interne Recherche vom Dezember 1966 weist ihn jedenfalls im zentralen Personenspeicher als nicht »erfaßt« aus.21)

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Ausgelöst worden war die Überprüfung durch eine Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, ob man Koppel, wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen, Material über einen ehemaligen Regierungsrat des Reichs­sicherheits­hauptamtes übergeben könne. Der zu ständige Mitarbeiter des Nationalrates, Wolfgang Steinke, hatte dies zuvor ab gelehnt. Die Vorbehalte seien entstanden, weil er mit dem sogenannten Freundeskreis des Deutschen Widerstandes Aktionen gestartet habe, »aus denen man nicht ganz schlau werden konnte«.22) Jetzt sollte die Stasi entscheiden.

Dabei ging es wahrscheinlich um die Mitwirkung der Gruppe an der Kampagne gegen Bundespräsident Lübke, an der sich der »Freundeskreis« mit einer Pressekonferenz beteiligt hatte. In einem Maßnahmeplan der Westabteilung der SED vom August 1966 findet sich im Zusammenhang mit einer weiteren Pressekonferenz zu Lübke darüber hinaus der Hinweis: »Eventuell erfolgt diese Aktion in Zusammenarbeit mit dem Publizisten Koppel aus Karlsruhe.« Tatsächlich gab Koppel wenig später eine achtzehnseitige Broschüre »Der Fall Dr. Heinrich Lübke« heraus und forderte öffentlich den Rücktritt des Bundespräsidenten.23)

Im August 1967 veröffentlichte dann eine »Antifaschistische Arbeitsgemeinschaft« in Karlsruhe eine Dokumentation »Heinrich Lübke — Präsident der Deutschen?« und gab bekannt, daß das seit April 1967 gegen den Studenten Wolfgang Koppel laufende Ermittlungsverfahren wegen Verunglimpfung des Bundespräsidenten eingestellt worden sei.24

Vor diesem Hintergrund teilte der »Genosse Günther Döring« vom Nationalrat der DDR im Dezember 1967 mit, daß die gegenüber Koppel geäußerten Bedenken »heute nicht mehr bestehen«. Es hätte sich erwiesen, daß Koppel richtig gehandelt habe. Der Nationalrat stehe deshalb auf dem Standpunkt, »daß Herr Koppel ohne Bedenken weiter unterstützt werden soll«, und lasse ihm auch selber jede erdenkliche Unterstützung zuteil werden.25 Die Stasi blieb allerdings bei ihrer ablehnenden Haltung zu Koppels Anfrage, weil, falls Koppels Verdacht gegen den ehemaligen Regierungsrat richtig sei, »sich zwangsläufig andere Schritte als die Übersendung der Materialien an Koppel notwendig machen«.26 Die Ausstellung zur »Nazijustiz« hatte der Student Reinhard Maria Strecker zusammengestellt, der zur SDS-Gruppe an der Freien Universität Berlin gehörte. Die Delegiertenkonferenz des SDS hatte ihm 1959 grünes Licht für diese Aktion gegeben. Gestützt auf Archivmaterialien aus der DDR stellte Strecker wenig später Strafanzeige gegen dreiundvierzig sogenannte Blutrichter. 1961 veröffentlichte er dann im Verlag Rütten&Loening eine Sammlung von 288 belastenden Dokumenten über den Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, der zu dieser Zeit im Mittelpunkt der DDR-Propaganda gegen Bonn stand.27)

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Strecker hatte Kontakt zum DDR-Ausschuß für Deutsche Einheit und trat im Dezember 1961 zusammen mit dem »Staranwalt« von SED und MfS, Friedrich Karl Kaul, im (Ost-)Deutschen Fernsehfunk (DFF) auf. Das Ministerium für Staatssicherheit lobte Streckers Aktivitäten, zeigte sich ihm gegenüber später aber auch mißtrauisch wegen seiner angeblich undurchschaubaren Geldquellen. In einem Auskunftsbericht vom März 1962 heißt es: »Das Gesamtverhalten Streckers und sein Auftreten in der Öffentlichkeit unterstützt bisher objektiv (unabhängig von den Beweggründen, die St. dabei verfolgen mag, und seiner persönlichen Einstellung zur DDR) die propagandistische Linie unserer Partei über die Entlarvung der Blutrichter und Antisemiten in der Westzone.«28

Einer erneuten MfS-Recherche vom September 1966 zufolge war Strecker inzwischen für die Abteilung X der HVA »erfaßt«. Der Leiter der Abteilung, Wagenbreth, teilte über ihn mit, daß er derzeit Material über NS-Verbrechen für eine neuerliche Dokumentation sammele. Im Verkehr mit ihm empfahl er Vorsicht, da er »trotz einer ganzen Reihe progressiver Tendenzen, die in seinem Bestreben, die in Diensten des Bonner Staates stehenden Beamten zu entlarven, zum Ausdruck kommen, eine äußerst zweifelhafte Person« sei.29

Die Unterwanderung des SDS führte dazu, daß in der SPD die Bestrebungen wuchsen, den SDS nicht länger zu unterstützen und einen anderen, parteiloyalen Studentenverband ins Leben zu rufen. Um einem entsprechenden Beschluß des Parteispitze vorzubeugen, sah sich die Mehrheit des Bundesvorstandes im Juni 1959 veranlaßt, Hüller und den Pressereferenten Gerhard Bessau von ihren Ämtern zu suspendieren und die Mitgliedschaft im SDS mit einer Mitarbeit bei der Zeitschrift Konkret für unvereinbar zu erklären.

Gleichwohl suchte die FDJ, namentlich in Berlin, ihren Einfluß auf den SDS durch Veranstaltungen, durch Vorschläge für gemeinsame Aktionen sowie durch die speziell für Westberliner Studenten gemachte Zeitschrift <tua res> zielstrebig auszubauen — das Blatt wurde damals vom späteren Präsidenten des Schriftstellerverbandes der DDR, Hermann Kant, ediert, dessen IM-Karriere gerade begann.30 Das MfS schleuste in dieser Zeit weiterhin gezielt Agenten in den SDS ein.

 

    Ein IM im Bundesvorstand   

 

Einer von ihnen war der damalige Student an der Freien Universität (FU) Berlin, Peter Heilmann.31 Der ehemalige FDJ-Funktionär hatte sich 1956 in einem DDR-Gefängnis zur Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet und war nach seiner Entlassung im Auftrag der Stasi nach Westberlin »geflohen«. Dort nahm er auf Geheiß des MfS ein Studium auf, knüpfte Kontakt zu sozialdemokratischen Kreisen und engagierte sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).

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Auch im Internationalen Studentenbund, im Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) und in einer Unterorganisation dieses Verbandes, dem Studentischen Arbeitskreis, war Heilmann für die Stasi tätig. Heilmann, der seine Berichte zunächst unter dem Decknamen »Julius Müller«, später dann als »Adrian Pepperkorn« verfaßte, war bis zum Ende der achtziger Jahre als Agent aktiv und erhielt bereits in den fünfziger Jahren zwischen 400 und 600 DM »Monatsgehalt« sowie »Spesen« und einmalige Sonderzahlungen.

Im Berliner Landesverband des SDS gehörte Heilmann bald zum inneren Zirkel, zu dem seinerzeit auch die Studenten Klaus Meschkat, Ansgar Skriver, Manfred Rexin, Erik Nohara und andere zählten. Als eifriger Berichterstatter des MfS agierte er nach außen mit einer Position der »gemäßigten Mitte«. Vor allem zwischen 1959 und 1961 lieferte er der Staatssicherheit regelmäßig Einschätzungen zur Situation im SDS, übermittelte interne Beschlüsse und Sitzungsprotokolle und gab taktische Hinweise, wie der Verband von der SED am wirkungsvollsten instrumentalisiert werden könnte.

Heilmann, der 1959 an dem umstrittenen Frankfurter Kongreß teilgenommen hatte, warnte seinerzeit die Stasi, daß durch das Vorpreschen der Hüller-Fraktion der Bogen überspannt werden könnte. In seinem Bericht monierte er, daß die Konkret-Gruppe Forderungen gestellt habe, die sogar weit über die der Sowjetunion hinausgegangen seien, und teilte der Stasi mit: »Es ist ganz selbstverständlich, daß eine solche Politik nicht dazu beitragen kann, die Einheit der linken Kräfte innerhalb der SPD zu fördern, sondern den Erfolg hat, sie zu spalten.«32)

Tatsächlich beschäftigte sich das SPD-Parteipräsidium schon am nächsten Tag mit der in Frankfurt verabschiedeten Resolution, und ein führender Sozialdemokrat, der Bundestagsabgeordnete und Fraktionsgeschäftsführer Karl Mommer, forderte alle diejenigen »sozialistischen Studenten, die sich nicht als trojanische Esel für Pankow einspannen lassen wollen« dringend auf, sich vom SDS zu trennen.33 In Berlin mehrten sich die Stimmen, die für eine Auflösung und Neugründung des Landesverbandes plädierten. 

Heilmann rechnete es sich als persönliches Verdienst an, bei einer Vollversammlung im Juni 1959 einen derartigen Beschluß vereitelt zu haben, indem er dafür plädiert hätte, den Konflikt lieber auf einer außerordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz auszutragen. »Meine Argumentation, daß es unklug wäre, den Landesverband des SDS in Berlin jetzt allein in Berlin aufzulösen«, so brüstete er sich gegenüber der Stasi, »machte schwankend. (...) Damit war erreicht, daß die Gruppe Beier, die am Schluß der Versammlung mit 15 Personen den Saal verließ, nicht dazu gekommen war, die Auflösung des Landesverbandes durchzusetzen.«34) Geschlossen stimmten die verbliebenen Versammlungsteilnehmer für den Verbleib im SDS.35)

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Heilmanns Auftritt vor den etwa 100 anwesenden SDS-Mitgliedern brachte ihm auch innerhalb des Verbandes einen beträchtlichen Prestigegewinn. Schon wenig später entsandte ihn der Berliner SDS zur außerordentlichen Delegiertenkonferenz nach Göttingen. Dort kam es jedoch nicht zur angekündigten Auflösungsdebatte, sondern es gelang der sogenannten Mittelfraktion noch einmal, die anwesenden SPD-Vertreter davon zu überzeugen, daß der Verband um eine innere Selbstreinigung bemüht sei. Schon am Tag vor der Konferenz schloß der amtierende Vorstand zwei Konkret-Mitarbeiter aus dem Verband aus. Auf der Versammlung selbst verstand es die Mittelgruppe, so Heilmann, »sowohl das Präsidium in der Mehrheit zu besetzen, als auch in allen Kommissionen [... ] die Mehrheit zu erringen«.36 Bei der anschließenden Wahl des neuen Bundesvorstandes ging die Konkret-Fraktion leer aus — statt dessen zog mit Peter Heilmann ein MfS-Agent in die fünfköpfige Verbandsspitze ein.37)

Heilmann lieferte von nun an nicht nur sämtliche Protokolle der Vorstandssitzungen, sondern auch die Anschriften aller Vorstandsmitglieder, Informationen über bevorstehende Personalentscheidungen, Berichte über den nach wie vor virulenten Konflikt mit der SPD-Spitze und über geplante verbandsinterne Aktivitäten. In Sachen Konkret-Fraktion legte er der Stasi dringlich ans Herz, die Strategie bei deren Auftreten zu ändern. Vor allem die unkritische Haltung gegenüber der DDR und die Übernahme von sprachlichen Wendungen aus dem Neuen Deutschland habe den reaktionären Kräften erst die »Möglichkeit zum Einbruch« gegeben. Konkret hätte demgegenüber die Möglichkeit, »durch ernsthafte Betrachtungen über die DDR, in der Positives und Negatives miteinander abgewogen werden, wobei zweifellos in geschickter Weise das Positive überwiegen kann, zu wirken. [...] Konkret müßte darüber hinaus seinen Freunden empfehlen, intensiv und praktisch im SDS mitzuarbeiten, ohne sich zunächst in ideologische Debatten zu schmeißen.«38)

Heilmann wies auch auf den verheerenden Eindruck hin, den das vorübergehende, freilich erfolglose Bündnis zwischen »Rechten« und »Linken« auf der Göttinger Delegiertenkonferenz hinterlassen habe. Er empfahl dem MfS, daß sich die Konkret-Fraktion lieber an der Aktion gegen »Naziverbrecher in der Justiz« beteiligen sollte, die auch nicht das volle Verständnis des SPD-Parteivorstandes fände, aber in der Öffentlichkeit eine so starke Unterstützung finden könnte, »daß eine Basis zur Wirkung gegeben ist«.39 Im Bundesvorstand machte er sich dafür stark, den SDS als einen Verband »links von der SPD« zu profilieren und ganz allmählich offizielle Verbindungen in die DDR aufzunehmen.40

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Tatsächlich reiste im Oktober 1959 die erste offizielle SDS-Delegation nach Leipzig, nachdem Heilmann zuvor detailliert über die verbandsinternen Erwägungen zu der politisch delikaten Einladung der FDJ berichtet hatte.41 Im März 1961 gab er gegenüber dem MfS zu Protokoll: »Nach wie vor wird eine direkte Verbindung zwischen SDS und FDJ nicht funktionieren, aber über andere Stellen, wie z.B. Leipziger Messe, Universitäten, verschiedene Institute, wird wahrscheinlich ein Kontakt möglich sein und sollte zumindest ins Auge gefaßt werden.«42)

Um den Staatssicherheitsdienst auf dem laufenden zu halten, traf sich Heilmann in der Regel alle vierzehn Tage mit der Stasi - neun Treffen registrierte sein Führungsoffizier allein zwischen Juni und Oktober 1959, wo er fast immer ausführliche Berichte »über die Lage und Vorkommnisse im SDS« sowie »über geplante Maßnahmen der SPD« gab. Zufrieden schrieb Hauptmann Willmann in einem Aktenvermerk: »In der Arbeit ist der G[eheime]M[itarbeiter] willig und entwickelt Eigeninitiative. Er ist immer bestrebt, interessante und für das MfS wertvolle Informationen und Hinweise zu geben, da es in seinem Wesen liegt, immer gut und vorbildlich dazustehen.« Zum Dank erhielt Heilmann sogar eine Sonderprämie in Höhe von 300 DM - aus Anlaß des 10. Jahrestages der DDR.43 Wenige Wochen nach dem Mauerbau wurde der ehrgeizige Agent dann in die Benutzung eines Geheimschrift-Verfahrens, eines Toten Briefkastens und eines Gerätes zur Lesbarmachung von fingernagelgroßen Filmverkleinerungen, sogenannten »Mikraten«, eingewiesen. Sein »Gehalt« legte die Stasi an einem versteckten Ort ab, wobei Heilmann in dieser Frage auf Pünktlichkeit der Zahlung Wert legte: »Lieber H.«, so beschwerte er sich nicht nur einmal in seinen mit unsichtbarer Tinte geschriebenen Briefen, »Finanzfrage nicht geklärt. Besuch am verabredeten Ort ohne Erfolg. Bitte um baldige! Regelung und Nachricht.«44

Auf mittlere Sicht hatte die Staatssicherheit allerdings eine andere »Einsatzperspektive« für Heilmann vorgesehen, als aus dem SDS Nachrichten zu beschaffen. Vorgesehen war, »daß er besonders innerhalb der SPD und den Institutionen, die sich besonders mit der politisch-ideologischen Diversion befassen, populär und zur Mitarbeit herangezogen wird«.45

Hinzu kam, daß der Stasi offensichtlich Hinweise auf eine »Gefahr der Dekonspiration« vorlagen, die es ihr opportun erscheinen ließen, »die intensive Zusammenarbeit mit dem GM für längere Zeit ruhen« zu lassen.46 Tatsächlich war er verschiedentlich verdächtigt worden, zumindest in seiner Haftzeit für das MfS gearbeitet zu haben, so daß er im Auftrag der Staatssicherheit sogar einen Studenten verklagte, »um ein für allemal die Verleumdungen gegen <Pepperkorn> aus der Welt zu schaffen«.47 Die Stasi wies ihn nun an, sich schrittweise aus der Arbeit im SDS zurückzuziehen und stattdessen seine Dissertation fertigzustellen — eine Anweisung, von der freilich nur der erste Teil befolgt wurde.

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     Der Berliner Landessekretär    

 

Der Verzicht auf Heilmanns Mitarbeit im SDS fiel dem MfS auch deshalb nicht besonders schwer, weil es ihm zur selben Zeit gelang, im Berliner Landesverband die neugeschaffene Stelle eines hauptamtlichen Sekretärs mit einem anderen Agenten zu besetzen: Walter Barthel, umtriebiger SDS-Aktivist, der in den folgenden Jahren eine Schlüsselrolle in der Westberliner Studentenbewegung spielen sollte.48

Barthel, langjähriges Mitglied der SED, hatte an der Humboldt-Universität Wirtschaftswissenschaften studiert und als Angehöriger der Kasernierten Volkspolizei bereits Anfang der fünfziger Jahre für das MfS Berichte angefertigt. Aufgrund von Auseinandersetzungen mit der Universitätsparteileitung ging er 1956 jedoch nach Westberlin. Als er drei Jahre später der FDJ interne Unterlagen aus der Arbeit des SDS anbot, kamen statt der Vertreter des Zentralrates Mitarbeiter des MfS zum verabredeten Treffen - sofort erklärte sich Barthel erneut zu einer Zusammenarbeit bereit, obwohl er auch den Russen bereits als Informant verpflichtet war.

»Auf Grund seiner Tätigkeit und persönlichen Verbindungen zu leitenden Funktionären des SDS«, so schätzte die Stasi damals seine Perspektive ein, »kann der G[eheime]I[informator] umfangreiche Aufklärungsarbeiten über die Politik des SDS und den dort in Erscheinung tretenden Personenkreis durchführen.« Zum weiteren Vorgehen legte man fest: »In der politischen Arbeit des Gl muß in der Perspektive eine Wendung erreicht werden, um ihn als Gegner aus dem Blickfeld der rechten Kreise im SDS herauszuhalten.«49 Wenig später wurde er instruiert: Die »bisherige linke Einstellung schrittweise auf die Position des 3. Weges bringen [...]. Alle Aufgaben unter der Zielstellung durchführen, die hauptamtliche Sekretärsstelle zu besetzen.«50 Im Februar 1960 war es dann soweit, und Barthel befand sich nach seiner von der SPD finanzierten Festanstellung im Zentrum des Berliner SDS.

Die Quelle »Kurt« begann schon unmittelbar nach der Anwerbung kräftig zu sprudeln. Bei jedem Treff überbrachte Barthel dem MfS gewöhnlich gleich ein ganzes Bündel Berichte, die er entweder selber tippte oder auf Tonband diktierte. Eine seiner ersten Aufgaben war es, eine Information anzufertigen »über die rechte und linke Gruppierung innerhalb des SDS sowie über die Pläne des SDS in bezug auf ihre gesamtdeutsche Politik«.51 Dann folgten detaillierte Berichte über SDS-Seminare, einzelne SDS-Gruppen sowie zahlreiche Personen, ergänzt durch aufschlußreiche verbandsinterne Unterlagen wie Sitzungsprotokolle, Rundschreiben, Briefe oder ein Mitgliederverzeichnis. Kontinuierlich und manchmal sogar täglich informierte er das MfS über »Die Lage des SDS«. Selbst die von ahnungslosen SDS-Mitgliedern auf Geheiß von Barthel ausgefüllten Personalfragebögen landeten auf diese Weise auf den Schreibtischen der Staatssicherheit.

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Barthel war jedoch nicht nur ein passiver Informationsbeschaffer. Regelmäßig machte er vielmehr Vorschläge für eine »Verbesserung« der Unterwanderung. Gleich zu Beginn kündigte er eine schriftliche »Konzeption« an, wie die in seinen Augen oftmals dilettantisch durchgeführte kommunistische Beeinflussung Westberliner Studenten verbessert werden könnte. Immer wieder wies er in diesem Zusammenhang darauf hin, daß man diese doch verstärkt zu Kulturveranstaltungen, beispielsweise zu Theateraufführungen des »Berliner Ensembles«, einladen sollte, um sie zunächst auf dieser Ebene für die Politik der SED zu gewinnen.

Bei eher »theoriefreudigen« Kandidaten empfahl er gezielte Kontaktaufnahmen durch bestimmte Dozenten der Humboldt-Universität, bei denen auch eine bestimmte menschliche Nähe hergestellt werden müßte. Manchmal lieferte er ganze Listen mit Empfehlungen für eine Zusammenarbeit und Tips für die Gewinnung, sorgfältig unterschieden nach Kandidaten für die FDJ und solchen für das MfS. Unter anderem empfahl er auch, die Kandidaten doch unter einem Pseudonym in der DDR-Presse schreiben zu lassen, um einerseits ihre Eitelkeit zu befriedigen und andererseits eine politische und finanzielle Abhängigkeit herzustellen. »Diese Methode der Abhängigmachung durch journalistische Mitarbeit, die den Schreiber im Fall des Bekanntwerdens im Westen unmöglich machen würde, halte ich bei den meisten zu werbenden SDSlern für sehr elegant und wirkungsvoll.«52

Barthel erhielt regelmäßig Instruktionen für sein Auftreten im SDS und bat um Anweisungen, wie er sich den verschiedenen Strömungen gegenüber verhalten sollte. In seinen Berichten benannte er immer wieder Ansatzpunkte für eine Stärkung der DDR-Positionen im SDS und zur Zurückdrängung der SPD-loyalen Kräfte. So empfahl er etwa dem MfS zur Westberliner Kundgebung am 1. Mai 1960, bei der die SPD nur parteikonforme Transparente dulden wollte, um einen erneuten Anlaß für einen öffentlichen Eklat auszuschließen:

»Eine Möglichkeit, diesen antikommunistischen Maiaufmarsch zu stören [...], sehe ich darin, daß man kurz vor dem Platz der Republik, wo die Züge der sozialistischen Jugendorganisationen auf die Züge der Revanchisten-Organisationen treffen werden, Auseinandersetzungen provoziert, die, wenn sie vielleicht sogar in Schlägereien ausarten, zur Sensation des Tages werden könnten und man damit das gleiche erreicht, als wenn die Falken wie im Vorjahre provozierende Losungen mittragen würden. Das könnte zum Beispiel dadurch geschehen, daß einige Leute, die bei den Falken mitmarschieren, die Revanchisten durch Zurufe und Anrempeleien provozieren.«53

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1959 war es mit Heilmanns Hilfe noch gelungen, das Ende des SDS als Studentenverband der SPD zu verhindern. Im Juli 1960 beschloß die SPD jedoch angesichts neuer Vorkommnisse, die finanzielle Unterstützung für den SDS einzustellen — auch Barthel verlor dadurch sein Parteigehalt. Der Geheime Mitarbeiter der Stasi verlangte nun, daß die FDJ diese Lage für sich nutzen und verstärkt in das entstandene Vakuum eindringen sollte.

Eine Reihe von Studenten, so berichtete er dem MfS, seien aus Unzufriedenheit über die SPD gerade in diesen Wochen dem Verband neu beigetreten, diese »positive Haltung« müsse durch verstärkte Aktivitäten dringend gefestigt werden. »Dazu ist es notwendig, daß sich sofort geeignete SDS-Mitglieder, die über die FDJ lanciert werden können, bereit finden, Funktionen zu übernehmen. [...] Ich schlage vor, daß die FDJ die ihnen bekannten und befreundeten SDS-Genossen dahingehend instruiert, daß diese von sich aus an [...],[...] oder Barthel herantreten und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zu erkennen geben.« Und weiter: Die derzeitige »Katakombentaktik« dieser Leute müsse in positive Aktivität umschlagen, weil sie sonst nicht genügend bekannt seien, um von der Mitgliedschaft in Führungspositionen gewählt zu werden. Wenn die Existenz des Verbandes auf dem Spiele stünde, müßten sie jedoch ausreichend populär sein, »um sich für Vorstandspositionen bewerben zu können, damit der SDS in ihren Händen weitergeführt werden kann.« Schließlich regte er im Zusammenhang mit den akuten Finanzproblemen des SDS an, »daß in dieser Hinsicht dem <SDS> sofort Unterstützung durch anonyme Einzahlungen gewährt wird« — ein Anliegen, das er von da an immer wieder vortrug.54)

 

   Das Zusammenspiel zwischen FDJ und Stasi  

 

Barthels Ratschläge stießen nicht auf taube Ohren. Als im Oktober 1960 nach dem Ende der Unterstützungs­zahlungen durch die SPD erstmals wieder eine Bundesdelegiertenkonferenz des SDS stattfand, hatte er dem MfS schon im Vorfeld die damit verbundenen finanziellen Probleme des Verbandes geschildert. Als »Maßnahme« hielt sein Führungsoffizier im Treffbericht fest: »Rücksprache mit Z[entral]R[at] [der] FDJ betr. finanzielle] Unterstützung«.55 Wenige Tage später machte Barthel erneut auf die Schwierigkeiten aufmerksam und teilte mit, daß auf dem Konto des SDS nur noch 5,50 DM seien. Zur Finanzierung des Transportes zur Konferenz sowie anderer anfallender Unkosten wäre es erforderlich, »daß dem SDS ein gewisser Betrag überwiesen wird, der ihm diese Kostendeckung ermöglicht.«56

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Gleichzeitig lieferte er eine detaillierte Charakterisierung aller Berliner Delegierten und benannte zwei von ihnen, »mit denen eine direkte Kontaktaufnahme versucht werden könnte«. Schon am folgenden Tag fertigte das MfS daraufhin eine ausführliche »Information«, in der die Delegierten nach den Angaben Bartheis beschrieben wurden und bei den beiden »empfohlenen« jeweils vermerkt wurde, daß sie »für eine Zusammenarbeit mit der FDJ geeignet« seien. Einer der beiden, so wurde hinzugefügt, solle für den Bundesvorstand als Berliner Vertreter kandidieren. Wörtlich hieß es dann weiter: »Vorschlag für die FDJ! Hier besteht die Möglichkeit, sich mit einem PKW anzubieten. Die bisherige finanzielle Lage des SDS ist denkbar ungünstig, da zur Zeit nur noch 5 DM auf dem Konto vorhanden sind. Zur Finanzierung des Transportes und aller anfallenden Unkosten wäre es erforderlich, daß die geplante Infiltrierung von Geld durch die FDJ schnellstens durchgeführt wird. Anfang November finden die Neuwahlen zum Landesvorstand des SDS in Berlin statt. [...-] Dies wäre wiederum eine Möglichkeit, einen geeigneten Kandidaten der FDJ zu lancieren.«57

Für die Delegiertenkonferenz (DK) selbst war Barthel bestrebt, trotz der finanziellen Misere den SDS unbedingt am Leben zu halten. Namentlich die sogenannte Mittelfraktion erwog damals nämlich, unter den neuen Bedingungen zumindest die Bundesorganisation aufzulösen. »Man sollte«, so Barthel an das MfS, »bei der Vorbereitung dieser Delegiertenkonferenz besonders darauf hinarbeiten, daß von den Delegierten kein Auflösungsbeschluß für den Bundesvorstand gefaßt wird. [...] Die wichtigste Frage bei der bevorstehenden DK scheint deshalb zu sein, daß man unter allen Umständen die Existenz des Bundesverbandes weiterhin sichert. Dem sollten auch andere Forderungen, die sich in Form von Resolutionen oder in Form eines neuen Programmes niederschlagen, vorläufig untergeordnet sein.« Da die Berliner Delegierten für die Weiterexistenz des Bundesverbandes eintreten wollten, wäre es sinnvoll, »wenn man hier eine finanzielle Unterstützung finden würde«, um es ihnen zu ermöglichen, in Frankfurt geschlossen dafür zu stimmen. Und erneut forderte er dazu auf, »daß die FDJ sich intensiv um personelle Vorschläge bemühen sollte, sowohl für den neuen Bundesvorstand [...] als auch für den kommenden neuen Landesvorstand des SDS in Berlin«. Namentlich in der Gruppe an der Technischen Universität Berlin seien »rührige SDS-Mitglieder wie [...], die durchaus die Gewähr für eine gute Zusammenarbeit mit der FDJ in der späteren Zeit bieten könnten«.58

Die Erfahrungen mit der Delegiertenkonferenz, bei der eine klare Abwendung von der SPD vermieden wurde, veranlaßten Barthel wenig später, seinen Auftraggebern erneut strategische Hinweise zu geben. Anders als die Hüller-Leute dürfe man nicht mit uniformen Schlagworten, die teilweise direkt aus dem Neuen Deutschland entnommen gewesen seien, operieren, sondern müsse nun Schritt für Schritt mit einer klaren Zielstellung, aber richtigem taktischem Verhalten eine neue linke Opposition aufbauen.59)

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Eine SDS-Vertreterin, die er dem MfS für »nähere Kontakte« empfohlen hatte, sollte unbedingt für den nächsten Berliner Landesvorstand kandidieren. »Die FDJ sollte sofort mit ihr sprechen und [sie] dazu bringen, daß sie, wenn ich sie danach frage, zusagt und sich bereit erklärt, die Nachfolge des Organisationssekretärs im Landesvorstand zu übernehmen. Damit wäre für ein weiteres Jahr die systematische Kontrolle des SDS-Landesvorstandes gewährleistet.«60

Nicht immer funktionierte das Zusammenspiel zwischen FDJ und Stasi so, wie es sich Barthel wünschte. Als im Oktober 1960 Personalvorschläge für den neuen Landesvorstand des SDS beraten wurden, beklagte er sich beim MfS über die Strategie der DDR-freundlichen SDS-Gruppe an der Technischen Universität (TU): »Unter der Voraussetzung, daß die Vorschläge der TU-Gruppe in Übereinstimmung [mit] der FDJ gemacht wurden, halte ich dieses Vorgehen für reichlich ungeschickt. Es wäre klüger gewesen, wenn, wie bereits mehrfach vorgeschlagen, die Vorschläge von Leuten, mit denen die FDJ zusammenarbeiten kann, rechtzeitig in unverfänglicher Weise an Barthel gegeben worden wären und dieser die Möglichkeit gehabt hätte, sie bei der Diskussion im Landesvorstand mit auf die Liste zu setzen.«61

Vielfach wurden Bartheis »Empfehlungen« vom MfS aber umgehend umgesetzt bzw. weitergeleitet. Als er die erwähnte SDS-Aktivistin bei einem Treff zur »Kontaktaufnahme« vorschlug und zudem noch auf ihre ärmlichen Lebensverhältnisse hinwies, fertigte das MfS sofort einen ausführlichen »Informationsbericht« an, der als Quintessenz festhielt: »Für eine Zusammenarbeit mit der FDJ ist sie geeignet.«62 In einem anderen Fall griff das MfS seinen Vorschlag auf, DDR-Journalisten zu einer Pressekonferenz nach Westberlin zu entsenden, um die SPD in politische Verlegenheit zu bringen - sogar die Fragen, die Barthel zu stellen empfahl, waren in der entsprechenden »Information« wörtlich übernommen worden.63

Die Pressekonferenz, um die es ging, berührte in der Tat ein heißes Eisen. Es ging dabei um die Eröffnung der Ausstellung »Ungesühnte Nazi-Justiz«, die wegen ihres Gleichklangs mit der DDR-Propaganda sowie dunkler Finanzierungsquellen von der SPD-Führung abgelehnt wurde.64 »Die Berliner SPD«, so Barthel im Februar 1960 zur Stasi, »befürchtet, daß die Ostpresse von dieser Ausstellung groß berichten wird, was sie in eine peinliche Lage wegen ihrer Distanzierung bringen könnte.«65 Tatsächlich erschien am folgenden Tag unter der Überschrift »Blutrichter am Pranger« ein großer Bericht im SED-Zentralorgan Neues Deutschland, in dem der Finger auf eben diese Wunde gelegt wurde.66 Zwei Wochen später faßte der Parteivorstand der SPD den Beschluß, neben dem SDS erstmals auch konkurrierende studentische Vereinigungen finanziell zu unterstützen — bald darauf wurde der Geldhahn vollends zugedreht.67)

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Die Ausstellung, die auch in Tübingen, München, Freiburg, Stuttgart sowie in Holland und Großbritannien gezeigt wurde, beschäftigte Barthel auch noch in der Folgezeit. In einem Bericht vom März 1960 machte er das MfS darauf aufmerksam, daß durch das unabgestimmte Vorgehen eines jungen SDS-Mitgliedes die Ausstellung nach Amsterdam gelangt sei und »jetzt die Möglichkeit besteht, [...] im westlichen Ausland [dajmlt herumzureisen und die Kampagne gegen die Bundesrepublik anzustacheln«. Die Ausstellung, so Barthel, müßte aber optisch noch attraktiver gemacht werden, zudem müßte zumindest versucht werden, noch »einen oder zwei erfahrene ältere Agitationsspezialisten mit hineinzubringen«.68

Mit ähnlichen Vorschlägen wandte er sich immer wieder an die Stasi. Um naive West-Besucher verstärkt für die SED einzunehmen, empfahl er beispielsweise Anfang 1961, in Ostberlin ein »Informationszentrum« einzurichten, mit einer ständigen Ausstellung, Filmveranstaltungen und »gut gekleidete[nj, sprachlich versiertejn]« Beratern.69 Die FDJ sollte darüber hinaus in Westberlin Vorträge von bekannten Professoren und »locker geführte Gesprächabende« organisieren, Einladungen sollten dabei gezielt und unter »werbepsychologischen« Gesichtspunkten an junge, aufgeschlossene Akademiker ergehen. Auch »progressive« Professoren aus Westberlin sollten hinzugebeten werden, denn das trüge »dazu bei, die Basis der Arbeit zu verbreitern und zu <legalisieren>«.70)

»Ich gebe zu überlegen«, so Barthel voller Eifer, »ob es nicht vorteilhaft ist, ein Büro zu schaffen, das sich ausschließlich mit der psychologisch gezielten Zersetzung der bürgerlichen Ideologie der etwa 25.000 Westberliner Studenten befaßt« — und dann folgt das komplette Konzept einer Barthel vorschwebenden »Zersetzungsagentur«, die mit professionellen Methoden auf Westberliner Studenten einwirken und deren Leiter selbstverständlich ein Mitarbeiter des MfS sein sollte.71

Auch wenn Bartheis Vorschläge dem MfS zuweilen wie Blütenträume eines ungebärdigen Revoluzzers erscheinen mochten, handelte es sich bei seiner Wühlarbeit im SDS keineswegs lediglich um eine »spezielle« Form des politischen Engagements, womöglich von dem ehrenwerten Ziel getragen, durch »genauere Detailkenntnis der jeweils anderen Seite (...) Fehlbeurteilungen vermeiden [zu] helfen« — wie er im Mai 1996 an seinen Freund und Mitstreiter aus SDS-Tagen, Ekkehart Krippendorf, schrieb. Barthels zahllose Berichte, von denen rund 2000 Seiten überliefert sind, lassen vielmehr das Bild eines ebenso kaltblütigen wie umtriebigen Spitzels entstehen, der das Vertrauen seiner Freunde und Gesinnungsgenossen bedenkenlos mißbrauchte und das Agenten­gewerbe mit lässiger Routine betrieb.

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Schon nach dem ersten Treff legte Barthels Führungsoffizier, Major Eichler, als »Maßnahmen« fest: »Anfertigung eines Containers« und »Besorgen einer Minox« — das Handwerkszeug eines jeden Spions, das bald darauf durch eine Einweisung in das »Trockenschriftverfahren« und ein Gerät namens »Meise 5« zur Lesbarmachung von Mikraten komplettiert wurde.72) Kaum hatte Barthel die Stelle des hauptamtlichen SDS-Sekretärs ergattert, instruierte er von sich aus das MfS, wie die Geschäftsstelle in der Berliner Ziethenstraße unbemerkt bei Nacht durchsucht werden könnte. Um seine Glaubwürdigkeit im Westen zu erhöhen, forderte er wenig später die Stasi sogar auf, ihn in der DDR-Presse bewußt verunglimpfen zu lassen. Einen Artikelentwurf, in dem er sich selbst den Vorwurf machte, den SDS in ein »braves Anhängsel der Brandt-Clique« zu verwandeln, lieferte er gleich mit.73)

Keinerlei Hemmungen zeigte er auch, die persönlichen Notizbücher zweier Freunde komplett für die Stasi abzuschreiben, als sich zufällig eine günstige Gelegenheit dafür ergab. Zu einem seiner politischen Gegenspieler im SDS bat er das MfS gar um »belastendes Material«. Zu guter Letzt ließ er sich im Oktober 1960 mit Zustimmung der Staatssicherheit auch noch vom Verfassungsschutz anwerben, der ihm für seine Tätigkeit als Informant unter dem Decknamen »Student« nunmehr ebenfalls ein regelmäßiges Salär zahlte.74)

Diese neue Einsatzperspektive, die bald auch Barthels Umzug nach Köln zur Folge hatte, ließ für seine Aktivitäten im SDS freilich nur noch wenig Zeit übrig. Jetzt stand die Ausforschung des Verfassungs­schutzes und insbesondere des von diesem unterstützten ehemaligen FDJ-Funktionärs Heinz Lippmann ganz im Vordergrund.75) Hier war bisher vor allem der ebenfalls in linken Kreisen agierende Westberliner Journalist und MfS-Agent Michael »Pit« Gromnica tätig gewesen, der wenige Tage nach dem Mauerbau für eine Propagandakampagne gegen den Westen in die DDR zurückgezogen wurde.76 Befriedigt konnte die Stasi im Zusammenhang mit dieser neuen Tätigkeit Barthels bereits im Oktober 1961 notieren, daß er »über die Agenten Wilson und Mascher Material lieferte, welches mit zur Grundlage der Festnahme dieser Personen führte«.77)

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    Eine Quelle im Landesvorstand   

 

Statt seiner sorgte nun ein persönlicher Freund Barthels für den Informationsfluß vom SDS zum MfS — der junge Politikwissenschaftler Dietrich Staritz, der von Barthel zunächst der Stasi und dann auch dem Verfassungsschutz zugeführt wurde. In einer Presseerklärung, die er nach dem Bekanntwerden seiner Stasi-Akte verbreitete, legitimierte er das eine mit dem anderen und behauptete, niemandem wissentlich geschadet zu haben — inzwischen schreibt der emeritierte Professor und DDR-Forscher Rezensionen für das ehemalige SED-Zentralorgan Neues Deutschland.

Staritz war bereits 1958, zu Beginn seines Studiums, Mitglied des SDS geworden und bekleidete 1961 die Funktion des Gruppenvorsitzender am Westberliner Otto-Suhr-Institut (OSI). 1962 wurde er dann in den politischen Beirat des Berliner SDS-Vorstandes gewählt. In der Akte, die seine Anwerbung dokumentiert, findet sich unter anderem ein von Staritz ausgefüllter Personal-Fragebogen des SDS, den Barthel im April 1960 im Namen des Landesverbandes an alle Berliner Mitglieder verschickt und anschließend an die Stasi weitergereicht hatte.78

Staritz, der im September 1961 vom MfS angeworben worden war,79 berichtete unter dem Decknamen »Erich« regelmäßig aus dem SDS, kaum weniger eifrig als sein »Vorgänger«. Schon Anfang Oktober übernahm er beispielsweise die Berichterstattung über die Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt, bei der es, in Erwartung des drohenden Unvereinbarkeitsbeschlusses der SPD, um eine grundlegende Neuorientierung des SDS ging.80 Der SDS mußte damals insbesondere seine Haltung zur Deutschen Friedensunion (DFU) bestimmen, die von Vertretern der Konkret-Frdktion wie Oswald Hüller und Reinhard Opitz sowie verschiedenen pazifistischen Gruppen im Dezember 1960 gegründet worden war, um an den Bundestagswahlen im September 1961 teilzunehmen.81

Im Gegensatz zu Barthel überließ es Staritz jedoch weitgehend der Stasi, strategische Schlußfolgerungen aus seinen Berichten zu ziehen. Wenn er »Zur Lage des SDS« aufs Tonband sprach, wirkte er beinahe wie ein Unbeteiligter. Das MfS wurde von Staritz vor allem über die Konflikte innerhalb des SDS unterrichtet, nach dem die SPD endgültig ihren Unvereinbarkeitsbeschluß gefaßt hatte. Während die Konkret-Fraktion und die Vertreter einiger weiterer Gruppen den SDS verstärkt zu praktischen Aktionen verpflichten wollten, plädierte insbesondere der Frankfurter SDS für eine Intensivierung der theoretischen Arbeit. Detailliert informierte Staritz das MfS etwa über die Bestrebungen, die von sympathisierenden Professoren gegründete »Förderergesellschaft« des SDS nach dem Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD in einen »Sozialistischen Bund« umzuwandeln.82 Genauen Einblick gewährte er auch in die Rolle des Berliner »Arbeitskreises Neue Linke«, der von DDR-freundlichen SDSlern organisiert wurde und 1962, zwecks Bündelung der »linken Kräfte«, mit der »Vereinigung Unabhängiger Sozialisten« verschmolzen wurde.83

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Im Auftrag des Bundesvorstandes, des MfS und des Verfassungsschutzes vertrat Staritz dann den SDS im Juli 1962 bei einer Tagung der »International Union of Socialist Youth« (IUSY) in Kopenhagen — eine internationale Vereinigung sozialistischer Jugendorganisationen, die den SDS auf Druck der SPD soeben ausgeschlossen hatte.84 Darüber hinaus hatte er vom MfS den »Auftrag der Teilnahme« an einem zeitgleich stattfindenden internationalen Jugendcamp bekommen, wo er insbesondere »alle Hinweise über Störtätigkeit« zu den drei Wochen später stattfindenden kommunistischen Weltfestspielen in Helsinki sammeln und die »Möglichkeit ausnutzen [sollte], in so eine Störgruppe zu gelangen«.85 Beim Festival selbst informierte Staritz das MfS laufend per Handzettel über geplante Aktionen, während in der DDR-Presse täglich neue Meldungen über »Störmanöver« der von der »NATO bezahlten Krawallmacher« sowie westlicher »Agenten« erschienen.86

Bei jedem Treff bekam Staritz vom MfS gewöhnlich verschiedene »Aufgaben« gestellt. Das Spektrum reichte von der Berichterstattung über SDS-interne Sitzungen und Versammlungen bis hin zur »Besorgung von Adressenmaterialien über Personen«. Vor allem aber wurde er immer wieder beauftragt mit »Feststellungen bzw. Ermittlungen nach u[nd] nach zu dem festgelegten Personenkreis, die für eine Zusammenarbeit geeignet erscheinen«.87

Tatsächlich liest sich die Staritz-Akte über weite Strecken wie ein »Who's who« des SDS. Mitglieder und Funktionäre, insbesondere des Berliner Verbandes, werden mit allen Eigenarten, biographischen Details und politischen Auffassungen charakterisiert. Bei einzelnen Treffen lieferte Staritz dem MfS gleich bündelweise Personeneinschätzungen mit Hinweisen für eine mögliche »Gewinnung«.88 Im November 1962 übergab er der Stasi zudem die komplette Mitgliederliste des SDS-Landesverbandes, sein Führungsoffizier vermerkte vorsorglich: »nach Fotokopie Rückgabe«.89 Zwei Monate später sprach Staritz über einen führenden Vertreter der »Vereinigung Unabhängiger Sozialisten« aufs Tonband: »Ich halte [...] für geeignet, daß man an ihn herantritt und versucht, mit ihm zu einer nachrichtendienstlichen oder politischen Zusammenarbeit zu kommen.«90

Wie erfolgreich Staritz' Rekrutierungsbemühungen für die Stasi waren, muß offenbleiben, denn die meisten der von ihm benannten SDS-Aktivisten sind in der zentralen Personenkartei vom MfS nicht »erfaßt« — einiges spricht dafür, daß die entsprechenden Karteikarten bei der Selbstauflösung der HVA entfernt wurden. Immerhin ist hinter verschiedenen Namen handschriftlich das Wort »Kontaktaufnahme« vermerkt, und mit Staritz wurde wiederholt beraten, wie er die für das MfS interessanten Personen unauffällig zu einem Besuch im »Demokratischen Berlin« bewegen könnte.91 Über ein als DDR-freundlich geschildertes Vorstandsmitglied des Berliner SDS ist zumindest ein »Kurzbericht« überliefert, in dem es heißt: »Von unserer Seite wird der [...] in positiver Hinsicht bearbeitet.«92

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1963 verlagerte sich Staritz' Berichterstattung dann verstärkt auf seine Tätigkeit für das Bundesamt für Verfassungsschutz, wo er im April den Decknamen »Rabe« erhielt.93 Doch schon im darauffolgenden Jahr lieferte Staritz erneut umfangreiche Berichte über den SDS und seine Funktionäre.

Zu Jahresbeginn beteiligte er sich beispielsweise an der Vorbereitung eines SDS-Bundesseminares zur DDR, zu dem — in Absprache mit dem Zentralrat der FDJ — erstmals auch ostdeutsche Referenten nach Westberlin eingeladen werden sollten. Da der SDS nach wie vor in finanziellen Schwierigkeiten steckte, erklärte sich der Leiter der Evangelischen Akademie, Erich Müller-Gangloff, bereit, die Finanzierung zu übernehmen; »um die progressive Richtung des Gespräches zu präjudizieren«, so Staritz, wollte er den gleichen Teilnehmerkreis dann im Anschluß zu einer anderen Akademieveranstaltung einladen.94 Tatsächlich lud die Berliner SDS-Vorsitzende Renate Lichte dann im April zu dem Seminar sowie zu einer anschließenden (von der FDJ vorgeschlagenen) »Studienreise« in die DDR ein. Ziel beider Veranstaltungen sollte es dem Einladungsschreiben zufolge sein, »die Grundlagen für eine politische Arbeit des SDS [zu] legen, die an den Universitäten das pathologische Verhältnis zum Kommunismus und seinen staaüichen Ausformungen durch besseres Wissen abzutragen hilft«.95)

Im Mai 1964 entsandte der SDS erstmals eine offizielle Delegation zum sogenannten Deutschlandtreffen der FDJ — bis dahin war keiner der westdeutschen Jugend- oder Studentenverbände bereit gewesen, auf dieser Ebene mit der SED zu kooperieren.96 Unter den neun Delegationsmitgliedern befand sich auch Dietrich Staritz, der auch hier sein dubioses Doppelspiel trieb: Während er sich soeben noch von seinem Führungsoffizier beim Verfassungsschutz in einem Brief pathetisch verabschiedet hatte (»Morgen vormittag werde ich die Höhle des Löwen betreten«), fraternisierte er schon kurz darauf mit der Gegenseite. 

Am Vormittag nahm er in Ostberlin zunächst an einem Forum teil, auf dem der stellvertretende SDS-Bundesvorsitzende Hellmut Lessing über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik referierte (»Referat wird noch besorgt«) und dem unter anderem der SED-Funktionär Kurt Hager beiwohnte. Anschließend traf er sich mit seinem ostdeutschen Führungsoffizier, um taufrisch über Verlauf und Einschätzung der Veranstaltung durch den SDS zu berichten. Ein Vorschlag auf dem Forum, so konnte Staritz unter anderem vermelden, hätte »allgemeine Zustimmung« gefunden: ein »Artikel-Austausch« zwischen der FDJ-Zeitschrift Forum und der SDS-Zeitschrift Neue Kritik.97)

In dieser Zeit lieferte Staritz auch wieder vermehrt Personeneinschätzungen zu führenden SDS-Vertretern — mit praktischen Hinweisen für die Anwerbung.

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In einer dreiunddreißig Personen umfassenden Aufstellung heißt es zum Beispiel zu einer SDS-Funktionärin: »[...] ca. 24 Jahre alt, [...] anscheinend unbemannt, starke DDR-Sympathien, unverschleiert-naiv, sicher politisch, vielleicht politisch-erotisch ansprechbar, aber auch bei ihr käme es darauf an, möglichst gescheit, d.h. delikat vorzugehen, jede direkte Aktion zerstörte die Chancen und zerschlüge daneben auch politisches Porzellan.«

Und über einen sogenannten »Uralt-SDSler« wird ausgeführt: »Klaus Meschkat, ca. 28 Jahre alt, [...] starker DDR-Sympathisant, zur Mitarbeit im nachrichtendienstlichen Bereich m.E. unbedingt ansprechbar, radikaler linker, PKW-Besitzer«.98)

Gerade bei diesem prominenten SDS-Aktivisten machte sich die Stasi offenbar große Hoffnungen auf eine Anwerbung, von einer anderen Abteilung wurde er zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr »abgeschöpft«. In einer »Kurzauskunft« über ihn hieß es 1967:»[...] lehnt die Entwicklung des Bonner Staates ab und bekennt sich zur gesellschaftlichen Entwicklung der DDR und des gesamten sozialistischen Lagers. Er schätzt sich als >äußerster Linken ein und bezeichnet sich selbst als Marxist.«99 Auf Betreiben des MfS überließ er seinem Kontaktmann in der DDR, dem Wirtschaftswissenschaftler und HVA-IM Hermann von Berg (»Günther«), nach dem Militärputsch in Chile (1973) seine »Ausreisedokumente« aus dem Andenstaat - doch den dann folgenden Anwerbeversuch wies er mit den Worten zurück: »Offenbar habt ihr mir einen Nachrichtenmann geschickt, den wollen wir nicht wiedersehen.« Eine nachrichtendienstliche Nutzung, so die HVA-Abteilung X in einem Bericht von 1977, »wurde nicht erreicht«.100

Dietrich Staritz, der den SDS-Veteranen zur Werbung vorgeschlagen hatte, stand als Mitglied des politischen Beirates des Berliner SDS Mitte der sechziger Jahre freilich selber im Zentrum des Geschehens. Immerhin wurde der Landesvorsitzende Dietrich Wetzel, von Staritz als »linker Mann und großer DDR-Sympathisant« geschildert, 1964 auf seinen Vorschlag hin gewählt — die Stasi revanchierte sich bei ihrem IM im Oktober mit einer »Medaille für treue Dienste der NVA in Bronze«.101 Seine Berichte gingen zur Auswertung auch an einen nicht näher beschriebenen »Genossen] Turber«, möglicherweise jener SED-Jugendfunktionär Kurt Turber, der beim Frankfurter »Kongreß gegen Restauration — für Demokratie« im Mai 1959 die DDR-Delegation leitete.102 

Warum Staritz dann vom Januar 1965 bis zum März 1967 an die für die Kirchen zuständige Hauptabteilung XX/4 »ausgeliehen« wurde, geht aus den Akten nicht hervor, die Überlieferung über die Zeit der Notstandsgesetzgebung und der ersten Vietnam-Proteste ist deshalb ausgesprochen dürftig. Erst 1967/68, als die Außerparlamentarische Opposition (APO) ihren Höhepunkt erreichte, belieferte er die Stasi wieder mit Informationen aus dem Herzen der Studentenbewegung.

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    Förderung einer linken Opposition  

 

Die DDR und das sowjetische Lager bemühten sich seinerzeit, die wachsende Opposition von links nach Kräften zu unterstützen und in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die »politisch-operativen Aufgaben zur Förderung und Formierung fortschrittlich sozialer Kräfte und politischer Plattformen« beschäftigten das MfS so sehr, daß sich der spätere Leiter der für die westdeutsche Parteienlandschaft zuständigen HVA-Abteilung II, Kurt Gailat, mit diesem Thema an der Stasi-Hochschule sogar zum Dr. jur promovieren ließ.103

Und Erich Mielke erklärte 1965 seinen Generalen: »In der gegenwärtigen Wahlbewegung in Westdeutschland sind alle Kräfte gegen die Erhard-Regierung und ihre revanchistische Politik, gegen die Notstandsgesetze und die Atomaufrüstung und zur Ablehnung der Hilfe für den Vietnamkrieg zu mobilisieren. Die Menschen sollen erkennen, daß die Atompolitik Abenteurerpolitik ist.«

Daß der Aufbruch im Westen auch Rückwirkungen auf den eigenen Machtbereich haben konnte, beunruhigte ihn allerdings, denn er forderte zugleich, stärker »zu beachten, daß durch die Weckung niedriger und primitiver Instinkte bei [DDR-] Jugendlichen für den Gegner günstige Momente geschaffen werden sollen« — beispielsweise durch den »Auftritt von Tanzkapellen mit westlicher Orientierung«, was er — so wörtlich — als »ein Element des verdeckten Krieges« gegen den Sozialismus bezeichnete.104)

Im November 1965 stellte der Zentralrat der FDJ befriedigt fest, daß sich »im SDS ein Prozeß zur realeren politischen Aufgabenstellung« vollziehe. »Ein ehemaliges vordergründiges Anliegen des SDS, nicht nur kritisch zur Bundesrepublik, sondern auch zur DDR zu sein und beim Auftreten in der DDR der Demokratisierung« und »Liberalisierung« zum Durchbruch zu verhelfen«, so heißt es in einer »Konzeption zur weiteren Einflußnahme der FDJ auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS)«, finde nur noch geringe Unterstützung und Resonanz.

Der erweiterte Einfluß der progressiven Kräfte habe sich unter anderem »in der personellen Vertretung linker Kräfte im Beirat des SDS (Deppe-Marburg, Helberger-Westberlin)« und in den »konsequenteren Aktivitäten des Bundesvorstandes« gezeigt. Diese konzentrierten sich insbesondere in den SDS-Gruppen von Köln, München, Münster, Mannheim, Hamburg, Kiel und Karlsruhe. »Die gegenwärtigen Positionen des SDS ergeben weitere und neue Möglichkeiten, durch verstärkte Bemühungen unsererseits die Beziehungen zu dieser Studentenorganisation — zu den Gruppen und Leitungen — auszubauen, um zur weiteren progressiven Entwicklung beizutragen.«105

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Zu den »Anknüpfungspunkten« für die Westarbeit der DDR rechnete man insbesondere die Proteste gegen die »USA-Aggression in Vietnam« — ein Thema, das man systematisch dazu nutzte, einen Keil in die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu treiben. So unterstützte die FDJ 1965 nach eigenen Angaben eine Ausstellung des SDS über die Situation in Vietnam durch zahlreiche Dokumente.106) Im Februar 1966 trugen Mitglieder der (Westberliner) FDJ maßgeblich dazu bei, daß Studenten im Anschluß an eine Demonstration gegen den »schmutzigen Krieg in Vietnam« vor das Berliner Amerika-Haus zogen und dort die US-Flagge herunterholten — in dem von der Unterstützung der Amerikaner vollkommen abhängigen Eiland Westberlin seinerzeit eine unglaubliche Provokation. In der Folgezeit steigerten sich die antiamerikanischen Proteste noch, obgleich der kommunistische Vietcong kaum weniger grausame Greueltaten verübte.107

Aber auch beim Kampf gegen die Notstandsgesetze, gegen Bundeswehr und NATO, für die Anerkennung der DDR und für die Reform des westdeutschen Bildungssystems fand der SDS in Ostberlin Unterstützung.108 Als am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien durch einen Polizisten erschossen wurde, ließ die DDR den Konvoi mit seinem Leichnam fast wie bei einem Staatsbegräbnis durch ihr Hoheitsgebiet reisen. Ein Jahr später stellte sie dem SDS einen Sonderzug zur Verfügung, als dieser zum Sternmarsch gegen die Notstandsgesetze nach Bonn mobilisierte. Zuweilen kümmerte sich Walter Ulbricht sogar persönlich um die Redaktion einzelner Papiere aus der Studentenbewegung, etwa als er im Oktober 1967 Vorschläge der Vereinigung Unabhängiger Sozialisten (VUS) zu einem Aktionsprogramm für die Zusammenarbeit der sozialistischen Gruppierungen in der Bundesrepublik mit dem Vermerk versah: »Das Programm ist wenig wirkungsvoll. Man muß nach kurzer Einleitung mit Bilanz der Adenauer- und Kiesinger-Brandt-Politik beginnen.«109

Enge Verbindungen hatte die SED insbesondere zum Kreis um den Marburger Professor Wolfgang Abendroth. In einem Brief an Ulbricht vom August 1967 berichtete beispielsweise der Leiter der Westabteilung, Heinz Geggel, von einer Beratung des Arbeitsausschusses der Sozialistischen Opposition zur Vorbereitung einer Konferenz in Frankfurt am Main und schrieb: »Wir werden über unsere Verbindungen zu diesem Kreis an dem notwendigen Klärungsprozeß mitwirken. Prof. Abendroth hat vor kurzem den Wunsch geäußert, Ende September/Anfang Oktober in die DDR zu kommen und die Gelegenheit zu erhalten, mit führenden Genossen unserer Partei eine Aussprache zu führen. In Absprache mit Genossen Albert Norden haben wir Prof. Abendroth bereits eine prinzipielle Zusage gegeben.« Beigefügt hatte er seinem Brief die erste Ausgabe der von Frankfurter und Marburger Genossen herausgegebenen neuen Zeitschrift »Informationen der Sozialistischen Opposition«, die einen Artikel von Wolfgang Abendroth enthielt.

Handschriftlich findet sich daran Ulbrichts rätselhafter Kommentar: »Gen[osse] Geggel: Vorschlag: Mit öffentlicher Diskussion in Westdeutschland beginnen. Zu Abendroth durch Sozialdemokraten Stellung nehmen«.110

Ein wichtiges Einfallstor für die SED bildete nach wie vor die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Nach den Aktionen gegen die »Ungesühnte Nazijustiz« richteten sich jetzt die Aktivitäten vor allem gegen Bundespräsident Heinrich Lübke, der nach seiner Wiederwahl im Juni 1964 von der SED zur Zielscheibe einer Kampagne gemacht wurde. »Mit der vom Zentralrat der FDJ eingeladenen Delegation der Leitung des SDS«, so beschloß im Februar 1966 die gemeinsame »Arbeitsgruppe Lübke« von SED und MfS, »wird ein Besuch der Lübke-Ausstellung und eine Aussprache bei Genfossen] Dr. Dengler durchgeführt, mit dem Ziel, den SDS zur Aktivität gegen Lübke anzuregen.«111

Tatsächlich stellte der SDS später die vom Staatssicherheitsdienst präparierten »Dokumente« in der Bundes­republik aus. Namentlich an der Universität Bonn, die Lübke im Oktober 1966 die Ehrensenator­würde verlieh, kam es zu heftigen Protestaktionen, bei denen Angehörige des SDS im Februar 1968 unter anderem Lübkes Unterschrift im Ehrenbuch der Universität mit dem von der SED geprägten Propagandabegriff <KZ-Baumeister> beschmierten.112) Der Kampf um die Aberkennung von Auszeichnungen wie diesen war von der SED schon im März 1966 zur Taktik erhoben worden.113

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