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4.  Der Umbruch: Ackerbau und Viehzucht 

Lauterburg-1998

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Doch nun zum letzten Zentimeter der hier als viereinhalb Kilometer lange Strecke dargestellten Entwicklungs­linie unseres Planeten. Vor rund zehntausend Jahren hat die Entwicklung, deren letzte Phase wir heute miterleben, ihren Anfang genommen. Die Menschen sind seßhaft geworden.

Bis dahin hatten die Menschen als Nomaden in kleinen Horden und Stämmen gelebt. Die anstrengende Art und Weise der Nahrungs­beschaffung sorgte automatisch für eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl auf tiefem Niveau. So brutal die Menschen gegen Fremde sein konnten - und sein mußten -, so sozial verhielten sie sich im Umgang miteinander innerhalb der Sippe und meistens auch des Stammes. Jeder kannte jeden. Jeder beherrschte alle Tätigkeiten, die zur Selbstversorgung und Verteidigung erforderlich waren. Es gab zwar zeitweilige Hordenführer, aber keine festgefügte, abgestufte Hierarchie. 

Jedes Gruppenmitglied war "wichtig" und "wertvoll". Gerade auch die Alten genossen großen Respekt, denn sie verfügten über ein besonders wertvolles Gut: Lebenserfahrung. Kommunikation nahm vor, während und nach der Arbeit viel Raum ein. Das Zusammenleben war geprägt von Plaudern, Schwatzen, Feilschen, Streiten, Beten, Singen und Tanzen. 

Das Palaver war die zentrale Institution — die Voll­ver­sammlung der Sippe rund ums Lagerfeuer. Hier fand die Weitergabe von Wissen statt — und die gemeinsame Beratung darüber, was in wichtigen Fragen zu tun sei. Jeder konnte mitreden. Jeder hörte alles, was gesagt wurde. Die Urhorde war eine basis­demokratische Veranstaltung in Reinkultur. Zweieinhalb Millionen Jahre lang. 

   Seßhaftigkeit — die neue Lebensform  

Als die letzte Eiszeit zu Ende ging, kam es erstmals zu vorübergehenden menschlichen Siedlungen, Winter­lager­stätten zum Beispiel; ebenso zu Ansätzen von Gartenbau und Haustier­haltung. Hirten-Nomaden zogen mit Ziegen- und Schafherden durchs Land. Die Viehzucht hatte begonnen. Vor 6000 Jahren aber begannen die Menschen, das Land mit Pflug und Zugtieren zu bebauen und Rinder zu züchten. Sie wurden seßhaft. Dies war die mit Abstand größte und dramatischste Revolution seit der Beherrschung des Feuers. Der Umbruch vollzog sich weltweit innerhalb weniger Tausend Jahre. Vor dreitausend Jahren gab es nur noch wenige Nomaden­völker — im wesentlichen diejenigen, die bis heute bei dieser Lebensweise geblieben sind.

Wer seine Lebensmittel im Shopping-Center um die Ecke einkauft, kann sich schwer vorstellen, was es damals bedeutete, die Nahrung nicht mehr mühsam zusammen­suchen oder auf der Jagd erlegen zu müssen, sondern selbst produzieren zu können und, dies vor allem, sie praktisch immer und in der jeweils benötigten Menge zur Verfügung zu haben. Dies war ein Quanten­sprung an Lebens­qualität.

Die neue Lebensform hatte eine Kehrseite: Die Menschen mußten nicht mehr zwingend in kleinen Sippen leben, um sich über die Runden zu bringen. Im Gegenteil, sie versammelten sich mehr und mehr um die Zentren, wo in größerem Stil Ackerbau und Viehzucht betrieben wurde. Man konnte hier Know-how erwerben, Gerätschaften finden, Lebensmittel und Gegenstände tauschen. Handel kam auf. Es entstanden die ersten größeren Siedlungen — und damit völlig neue und andere gesellschaftliche Strukturen.

  Lagerhaltung — Besitz und Verteidigung 

In den frühen menschlichen Überlebensgemeinschaften gab es keine Probleme mit individuellem Besitz und Eigentum. Boden besaß man schon gar nicht. Und was die wenigen lebensnotwendigen Habseligkeiten wie Fellbekleidungen, Werkzeuge, Zelte oder Waffen betraf, so half man sich im ureigensten Interesse gegenseitig aus. Denn das Leben und Überleben des anderen bedeutete mehr Sicherheit für einen selbst.

Mit der seßhaften Lebensweise stellten sich mit einem Mal ganz andere Probleme. Lager mußten angelegt, Waren verschoben, Besitz verteilt und festgeschrieben, Haus und Habe gegen immer noch umherziehende Nomaden, und, bald einmal, auch gegen andere Seßhafte verteidigt werden. 

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Boden wurde plötzlich zu einer zentralen Ressource — und der Besitz von wertvollem Boden zur Grundlage des Erfolges. Man war jetzt nicht mehr in einer kleinen Gemeinschaft, in der jeder jeden kannte, und jeder mit jedem durch ein persönliches Vertrauens­verhältnis verbunden war. Besitz und Nichtbesitz brachten Mißtrauen, Mißgunst und Neid in den Alltag der Menschen.

Und da in größeren Siedlungen viel wertvoller Besitz konzentriert war - Tierherden, Warenlager, Häuser und Gerät­schaften - wurde es immer wichtiger, diese Reichtümer gegen Diebstahl und Raub zu schützen. Einzäunungen wurden errichtet und rund um die Uhr bewacht, Befestigungen wurden gebaut, Frühwarnung und Verteidigung mußten planvoll organisiert werden. Spontane Entscheidungen, rasche Abstimmung und flexibles Agieren - die Stärken der Urhorde - genügten nicht mehr. Planung und Organi­sation wurden zu zentralen Erfolgsfaktoren.

   Spezialisierung —  die ersten Berufe  

Die Komplexität der neuen und größeren sozialen Gebilde war mit "Generalisten" allein nicht mehr zu bewältigen. Die Menschen begannen, sich zu spezialisieren. Während die einen das Land bebauten, befaßten sich andere mit der Herstellung von Werk­zeugen oder Waffen, wieder andere mit dem Aufrecht­erhalten einer ständigen Verteidigungs­bereitschaft. Es bildeten sich erste Berufsstände. 

Auch im Handel entwickelten sich "Spezialisten". Die einen organisierten Handel vor Ort. Die Institution "Markt" erblickte das Licht der Welt. Andere wiederum arbeiteten großräumiger. Sie brachten wertvolle Güter von einer Siedlung zur anderen. Ihre Tätigkeit war mit Reisen verbunden. Und während Tausenden von Jahren - bis in die jüngste Vergangenheit - waren fahrende Händler und Abgesandte von Handelshäusern die wichtigsten, oft die einzigen Informations­träger über das Geschehen in fernen Regionen, Ländern und Kontinenten.

Damals ist auch die Bürokratie in unser Leben getreten. Unumschränktes Vertrauen war kein taugliches Prinzip mehr für den Umgang mit Artgenossen. Es wurde ersetzt durch Kontrolle. Buchführung wurde zu einem unverzichtbaren Instrument der Verwaltung vorhandenen Besitzes. Immer mehr Vorgänge und Abläufe mußten durch Vorschriften geregelt werden. Aufsicht und öffentliche Sicherheit, Gerichtsbarkeit und Strafvollzug wurden zu zentralen Institutionen. 

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Und auf allen diesen Gebieten haben sich Menschen spezialisiert, sind Menschen zu "Experten" geworden, haben einzelne Individuen ein für die Gesellschaft wertvolles Know-how und, in der Konsequenz, besonderen Rang und Einfluß erworben.

Der sicherste Weg, um zu Ansehen und Macht zu gelangen, war die Übernahme religiöser Funktionen und Aufgaben. Damit war man nicht nur für alle normalen Sterblichen "tabu", sondern man wirkte praktisch immer im oder nahe am Zentrum der weltlichen Macht mit. Weltliche und religiöse Macht haben von jeher aufs engste kooperiert. Die Religion war und blieb immer auch eines der wesentlichen Mittel, um staatliche Macht auf­recht­zuerhalten und das "gewöhnliche Volk" zu disziplinieren. Nicht von ungefähr hat Karl Marx vom "Opium für das Volk" gesprochen. Das Bodenpersonal der Götter war immer zu Diensten, wenn es darum ging, den weltlichen Herrschern Alibis für die Ausbeutung der eigenen Untertanen oder für die Unterwerfung fremder Völker zu liefern.

   Hierarchie — die Klassengesellschaft  

Verwaltung und militärische Organisation waren aber auf rein lokaler, dezentraler Basis nicht wirksam genug zu gestalten. Hunderte oder Tausende von Menschen können nicht durch direkte Kommunikation im Gesamt­kreis koordiniert und gesteuert werden. Es kam zu ersten stufenweise organisierten Gesellschaften. An die Stelle des offenen Dialogs traten Befehl und Gehorsam. Einer Informations- und Machtzentrale unter­standen mehrere Steuerungs­zentren mit regionaler oder lokaler Zuständigkeit. Aufgrund der zentralen Steuerung konnte die geballte Verteidigungs­kraft mobilisiert und planvoll eingesetzt, das Territorium erfolg­reicher verteidigt, das Überleben der Gesellschaft gesichert werden.

Im Zentrum saß der König. Dieser hatte als unmittelbare Untergebene seine Kurfürsten, diese wiederum ihre lokalen Statthalter. Die frühen Rangordnungen hatten zwar eine soziale, ökonom­ische und militärische Steuerungs­funktion, gleichzeitig aber meist auch eine ausgeprägte religiöse Bedeutung. Der Herrscher war nicht nur allmächtig, sondern auch "allwissend" und "unfehlbar" in seinen Entscheidungen. Er war für seine Untertanen ein Gott oder zumindest mit göttlichen Eigenschaften ausgestattet. Das Wort Hierarchie bedeutet denn auch sinngemäß "Herrschaft der Heiligen" oder "heilige Ordnung". Monarchen mit göttlichen Attributen — wie etwa der Sonnenkönig Ludwig XIV. — gab es in Europa noch bis in die jüngere geschicht­liche Vergangen­heit, religiöse Oberhäupter — wie etwa der Dalai Lama oder der mit Unfehlbarkeit ausgestattete Papst — bis heute.

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Und die Struktur unserer großen Organisationen — staatliche Verwaltungen, Armeen und Kirchen genauso wie internationale Konzerne — beruhen nach wie vor auf Hierarchie, Spezialisierung und zentraler Befehlsgewalt. Wer schon einmal erlebt hat, wie im Fahrstuhl einer modernen Hauptverwaltung gewöhnlichen Sterblichen das Reden auf den Lippen erstirbt, wie erwachsenen Frauen und Männern das Lachen im Halse stecken bleibt, wenn unvermutet ein höherer "Hierarch" zusteigt — der weiß, daß Hierarchie auch heute noch mehr ist als eine Frage organisatorischer Verbindungswege. Die mit der Ballung von Macht verbundene Heiligkeit der klass­ischen Hierarchie hat sich ohne wesentliche Beeinträchtigung in unsere scheinbar aufgeklärten Tage hinüber­gerettet.

   Die Überlegenheit der Organisation  

Wir müssen nicht darüber spekulieren, ob die neue, seßhafte Lebensweise und die damit verbundenen Formen gesellschaftlicher Organisation erfolgreich waren oder nicht. Sie haben sich in kürzester Zeit weltweit durch­gesetzt. Das organisierte Staatswesen war allen nomadisierenden Horden und Stämmen haushoch überlegen.

Es entstanden immer größere Siedlungen, mit der Zeit die ersten Städte mit beeindruckenden Befestigungen und Palästen. Doch die militärische und wirt­schaft­liche Überlegenheit war nicht alles. Eine der entscheidenden Konsequenzen der organisierten Form menschlichen Zusammen­lebens in größeren Gesellschaften war eine gegenüber früher dramatisch gesteigerte Innovations­rate. Die Spezialisierung von Fachleuten führte in immer kürzeren Abständen zur Einführung revolutionärer Technologien.

Von der Beherrschung des Feuers bis zur Viehzucht und zum Ackerbau hatte es noch 500.000 Jahre gedauert. Bis zur Erfindung der Schrift dauerte es noch 5000, bis zu Reitpferd und Wagen als Fort­beweg­ungs­mittel noch 1000 Jahre. Von Gutenberg, dem Erfinder des Buchdruckes, bis zur Dampfmaschine dauerte es gerade noch 250, bis zum Elektromotor 100 Jahre — und was seither passiert ist, läßt sich gar nicht mehr beschreiben. Die Neuerungen überstürzen sich auf so vielen Gebieten, daß niemand mehr den Überblick behält.

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    Die Jagd im Blut    

Doch Jagen und Töten, Beutemachen, das Erobern und Verteidigen von Revieren — dies waren während Millionen von Jahren die Überlebens­grundlagen der Menschen. Der Mensch ist zwar ein Kulturwesen, aber deshalb noch lange nicht völlig frei von Verhaltens­mustern, die im Erbgut verankert sind. Mit dem Beginn der Viehzucht und des Ackerbaues wurde der Jagdinstinkt nicht einfach von einem Tag auf den anderen ausgeknipst. 

Angriff, Eroberung, Landnahme und Ausbeutung sind bis heute die Fortsetzung der Jagd und des Revierkampfes mit anderen Mitteln. Die hierarchische Struktur unserer Gesellschaften erhöht lediglich das Risiko verheerender, kriegerischer Konflikte. Denn erstens sind es immer die einen, die das Ganze planen, und andere, die ausgeschickt werden, um den Kopf hinzuhalten. Zweitens haben die Populationen dramatisch an Größe zugenommen — und damit die Zahl der Toten, die am Wegrand zurückbleiben, wenn es zu blutigen Auseinander­setzungen kommt. 

Aber das einfache Volk hat noch immer applaudiert, wenn ein Krieg gewonnen wurde — unabhängig davon, was zum Waffengang geführt hat. Wir müssen davon ausgehen, daß Revierkämpfe bei der Entwicklung der menschlichen Art eine wesentliche Rolle gespielt haben. Die Bereitschaft zu völlig enthemmter Aggression gegen fremde Artgenossen gehört zu unserem genetischen Erbe. 

Die Über­lieferung neigt dazu, geschichtliche Vorgänge zu verklären. Man kann in den Geschichts­büchern die kompliziertesten Analysen finden, weshalb es zu diesem oder jenem Krieg gekommen sei. Die Wahrheit aber ist, daß Völker immer wieder ohne äußeren Anlaß überfallen worden sind. Der Schnellere war der Klügere — und hinterher der Reichere. Es ging darum, andere zu unterwerfen und den eigenen Machtbereich auszudehnen. Begründungen, wo erwünscht, wurden hinterher nachgeliefert. Und noch heute wird weltweit für nichts so viel Geld aufgewendet wie für den Aufbau und die Einsatz­bereitschaft gigantischer Zer­störungs­maschinerien.

    Die dunkle Seite des Homo sapiens  

Genozid - laut Lexikon "Völkermord" - wird immer gerne als ebenso seltenes wie abnormales Phänomen im Bereich mensch­lichen Sozialverhaltens dargestellt. Den meisten fällt zu diesem Stichwort die Ermordung von Juden durch die Nazis ein, einigen vielleicht noch die Tötung einiger Inkas und Azteken durch die Spanier.

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In Tat und Wahrheit haben Menschen jedoch zu allen Zeiten — von den frühesten Anfängen unverändert bis zum heutigen Tag — andere Menschen umgebracht und ganze Populationen ausgelöscht. Genozid beginnt nicht erst dort, wo ein ganzes Volk bis zum letzten Individuum verschwunden ist, sondern überall, wo Massenmord an nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppen verübt wird. Und dies geschieht auch heute noch so häufig, daß bei weitem nicht jedes derartige Ereignis den Weg über die Medien in unsere gute Stube findet.

Wenn wir nur mal einen Blick auf die jüngere Geschichte werfen, dann stellen wir Erstaunliches fest. Allein in der Zeit vom 15. bis zum 19. Jahr­hundert gab es serienweise Fälle von Genozid. Ob die Aleuten durch Russen, die Hottentotten durch Buren, die Aborigines und die Tasmanier durch Australier, die Protestanten in Frankreich durch Katholiken ermordet wurden — es waren immer gleich Zehn- oder Hunderttausende. Und in drei Fällen wurden Populationen in Millionenzahl umgebracht: Die Karibik-Indianer in Westindien durch die Spanier, die Indianer in Mittel- und Südamerika ebenfalls durch die Spanier, und die Indianer Nordamerikas durch die Amerikaner. 

An diesem letzteren Fall kann man besonders deutlich demonstrieren, wie Geschichte zurechtgebogen wird: durch das Aufbauen und Aufrecht­erhalten von Legenden.

Legende Nr. 1: Es waren gar nicht so viele. Wissen Sie zufällig, wie viele Indianer in Nordamerika gelebt haben und den Amerikanern zum Opfer gefallen sind? 18 Millionen. Legende Nr. 2: Die meisten sind bei Auseinander­setzungen zwischen berittenen, erwachsenen Kriegern männlichen Geschlechts auf Schlacht­feldern wie Wounded Knee, Alamo oder Little Big Horn umgekommen. Die Wahrheit ist: Drei Viertel der Indianer waren Frauen, Kinder und ältere Menschen. Sie sind überwiegend wie Wild abgeschossen und bei Überfällen auf ihre Dörfer massenhaft abgeschlachtet worden — durch organisierte, bestens bewaffnete weiße Zivilisten. Legende Nr. 3: Die Weißen waren im Recht. Sie handelten aus Notwehr. Die Indianer waren wilde Bestien, denen man jeden Lebenswert absprechen mußte. "Die Siedler und Pioniere hatten im Grunde das Recht auf ihrer Seite; dieser großartige Kontinent konnte auf Dauer kein Reservat für schmutzige Wilde bleiben." Wer das gesagt hat? Der amerika­nische Präsident Theodore Roosevelt.

Bleibt unsere sogenannte moderne Zeit, das 20. Jahrhundert. Hier finden wir über 20 Fälle mit Zehn- oder Hunderttausenden von Toten. In der ersten Hälfte — bis 1950 — finden sich gleich drei der größten Massen­mord­programme aller Zeiten. In Rußland fallen Millionen Stalins Tötungs­maschinerie zum Opfer; den Nazis in ähnlichem Umfang Juden, Zigeuner, Polen und Russen; und im fernen Osten — von uns fast unbemerkt — noch weit mehr Chinesen den Horden Maozedongs. 

In der zweiten Hälfte - nach 1950 - finden sich vier Fälle mit Hunderttausenden von Toten: Südsudanesen im Sudan; Ugander durch Idi Amin; Hutus und Tutsis in Ruanda und Burundi; Kommunisten und Chinesen in Indonesien. Über der Millionen­grenze liegt der Massenmord an den Bengalen durch die Pakistani im Jahre 1971. Und die Roten Khmer haben zwischen 1975 und 1979 in Kambodscha über zwei Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger umgebracht — etwas mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung.

Allein im Namen des Kommunismus sind zwischen 1917, dem Jahr der Oktoberrevolution, und 1990, dem Zusammen­bruch der UdSSR, weltweit 85 Millionen Menschen umgebracht worden. Wenn der Titel eines Welt­meisters aller Klassen unter den Massen­mördern zu vergeben wäre, würde er dem Philosophen und Literaten Mao zustehen. Unter der Führung des Großen Vorsitzenden sind nach vorsichtigen Schätzungen insgesamt 65 Millionen Menschen ermordet worden. Hitler rangiert erst an dritter Stelle hinter Stalin, der es immerhin — die Kriegstoten nicht eingerechnet — auf 20 Millionen gebracht hat.

  Mythen, Märchen und Legenden 

Wo immer Genozid begangen wird, finden sich Legenden, die das Schreckliche zu verharmlosen oder — wo dies nicht mehr möglich ist — zu legitimieren versuchen. Diese Legenden gleichen sich überall wie ein Ei dem andern: Die Massaker haben gar nicht stattgefunden, einige wenige Einzelfälle sind maßlos aufgebauscht worden; man hat das "Recht" auf seiner Seite; die Getöteten waren die Aggressoren, man hat in "Notwehr" gehandelt; den Ermordeten wird das Recht auf Leben oder, wenn es sein muß, schlicht das Menschsein abgesprochen. Und wenn erforderlich, bezieht man sich hierbei auch noch auf den Willen Gottes.

Auf diese Weise kann das Geschehene in unserem Bewußtsein ungeschehen gemacht werden. Dieser Mechan­ismus funktioniert so gut, daß auch wir gebildete Mitteleuropäer Statistiken zur Hand nehmen müssen, um uns zu vergegenwärtigen, daß Genozid während unserer ganzen Geschichte und bis zum heutigen Tag nicht eine seltene Ausnahme, sondern eine immer­wiederkehrende Begleiterscheinung menschlicher Gesell­schafts­bildung dargestellt hat. 

Die meisten Theorien über die Zukunft der menschlichen Zivilisation, die verkündet werden, blenden eine Seite der menschlichen Natur glatt aus: die Aggression gegen fremde Art­genossen.

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Christoph Lauterburg   1998