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13 - Das organisierte Verbrechen  

 

 

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Die amerikanische Wirtschaftszeitschrift <Fortune Magazine> veröffentlicht jedes Jahr die Liste der 500 größten Unternehmen der Welt. Man findet hier alles, was in der Welt­wirtschaft Rang und Namen hat, von Coca-Cola über General Electric und IBM bis zu ABB, Nestle und Daimler-Benz. Umsatz, Gewinn, Mitarbeiter­zahl, Unter­nehmens­wert — alles ist fein säuberlich aufgeführt. 

Doch ausgerechnet der größte Konzern fehlt. Er macht weit über 100 Milliarden Dollar Jahresumsatz sowie traumhafte, wenn auch unveröffentlichte Gewinne. Das weit verzweigte, international tätige Konglomerat umfaßt insgesamt rund 1,8 Millionen Mitarbeiter. Es ist die russische Mafia, das größte und gefährlichste Verbrecher­syndikat der Welt.

   Wachstumsbranche Nr. 1 

Die organisierte Kriminalität ist heute weltweit die mit Abstand bedeutendste Wirtschaftsbranche. Ihr Wachs­tum stellt alles andere in den Schatten. Der weltweite Umsatz wurde 1997 auf 1000 Milliarden Dollar geschätzt. Dies ist eine Zahl mit zwölf Nullen und entspricht einer Million Millionen. Pro Kopf der Welt­bevölk­erung macht dies 170 Dollar im Jahr aus — Säuglinge und Greise mitgerechnet.

Man muß sich diese Dimensionen ganz sorgfältig zu Gemüte führen. Das Problem wird nämlich nach wie vor systematisch verdrängt und verharmlost — von den Politikern, von den Wirtschafts­führern und auch von den Medien. In den meisten Büchern über die wichtigsten Zukunftstrends kommt es gar nicht erst vor. 

Man kann im wesentlichen drei Kategorien unterscheiden: die Professionellen, die Kartelle und die neuen ethnischen Gruppen.

Die Professionellen oder Spezialisten sind in der Regel kleinere Gruppierungen, die sich für ein einziges Unternehmen — zum Beispiel für einen Bankraub, einen Bahnüberfall oder eine Entführung — zusammen­schließen und nach Abschluß des Projektes sofort wieder auflösen. Sie setzen hochqualifizierte Fachleute ein, verwenden modernstes Material, sind hervorragend organisiert und arbeiten ebenso schnell wie präzise. Sie sind aber im allgemeinen nicht besonders gewalttätig.

Die Kartelle sind fest gefügte, straff hierarchisch strukturierte und zentral geführte Organisationen. Sie laufen gemeinhin unter dem Begriff "Mafia". Zu trauriger Berühmtheit gelangt sind vor allem Kartelle wie Cosa Nostra (Sizilien), Camorra (Neapel), N'drangheta (Kalabrien), Sacra Corona (Apulien), Cali und Medellin (kolumbianische Drogenkartelle), die japanische Yakuza, die chinesischen Triaden oder die Russen-Mafia. Dies sind jedoch nur einige besonders prominente Namen unter den großen, extrem gewalttätigen und zum Teil weltweit verzweigten Organisationen von Schwerverbrechern.

Die neuen ethnischen Gruppen sind kleinere und mittlere, international operierende Banden verschiedener Ursprungsländer: China, Korea, Vietnam, Nigeria, Kroatien, Albanien, Rumänien, Tschetschenien, Ukraine, Georgien — um nur einige zu nennen. Sie haben das Gesicht des organisierten Verbrechens dramatisch verändert, und zwar nicht nur durch ihre immense Zahl, sondern auch durch ihre Arbeitsweise: Sie sind hochmobil, operieren in kleinen, unabhängigen Gruppen und sind sehr schwer zu fassen. Manchmal handelt es sich um Gruppierungen von hundert Personen, manchmal lediglich um einen Familien-Clan von einer Handvoll Leute. Die Szene ist dadurch äußerst unübersichtlich geworden.

Das moderne organisierte Verbrechen ist geprägt von einem völlig neuen Pragmatismus. Moralische Kategorien, Ehrenkodex und geheim­bündlerische Rituale befinden sich in der Mottenkiste. Das einzige, was zählt, ist möglichst hoher Gewinn bei möglichst geringem Risiko. Das Geschäft wird eiskalt geplant und äußerst effizient abgewickelt. Und: Es gibt keine Berührungsängste. Jeder kooperiert mit jedem, wenn es dem Unternehmenszweck dient — die Italiener mit den Russen, die Vietnamesen mit den Tschetschenen, die Albaner und Kroaten mit den Kolumbianern. Wie sich's halt gerade anbietet. Die Verbindungen laufen kreuz und quer.

Absolute Skrupellosigkeit, hohe Mobilität, modernstes Gerät, hochflexible internationale Kooperationen sowie gewaltige liquide Mittel — dies sind heute die zentralen Erfolgsfaktoren des organisierten Verbrechens.

Die russische Mafia ist aus mehreren Gründen besonders interessant: Sie erfüllt alle Kriterien eines hoch­strukturierten Kartells. Sie ist das erfolgreichste Verbrechersyndikat der Welt. Vor allem aber: Sie ist so gut etabliert und fühlt sich derart ungefährdet, daß sie schon fast offen operiert. Über sie ist mehr bekannt als über irgendein anderes Kartell. Nirgendwo kann man die Funktionsweise der Mafia und ihre enge Verflechtung mit der staat­lichen Korruption besser studieren als in Rußland.

* (d-2013:) Über moderne OK   heise.de/tp/artikel/40/40087/1.html   

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Stalins Erben

Korruption und organisiertes Verbrechen haben in Rußland eine lange Tradition. Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, der sich selbst später den Namen Stalin — "der Stählerne" — gab, hat seine Karriere als einfacher Bankräuber begonnen. Nachdem er sich mit Mord und Totschlag an die Macht gebracht hatte, bestückte er den staatlichen Geheimdienst mit notorischen Schwer­verbrechern und ließ wohlhabende Bürger systematisch überfallen und ausplündern. 

Das KGB war von Anfang an eine im Schutze des Staates operierende Verbrecher­organisation. Bereits zu Zeiten der Sowjetunion hat der russische Geheim­dienst Schmuggelringe aufgezogen, mit Waffen gehandelt, Drogen­transporte durchgeführt und rund um den Globus Leute umgebracht. Die Ministerial­bürokratie war durchsetzt mit korrupten Apparatschiks. Mit der KPdSU hatte Rußland nur die Pferde gewechselt. Die Zweiklassen­gesellschaft wurde nach der Oktober­revolution nahtlos fortgeführt.

Es gab auch schon eine Mafia. Die Bezeichnung für ihre Paten, "Wori w Sakone", spricht für sich selbst: "Diebe im Gesetz". Der große Sprung nach vorn kam allerdings erst mit dem Zusammenbruch des kommun­istischen Systems und dem Wegfall einer zentralen, wenn auch korrupten staatlichen Autorität. Das russische Reich wurde zum Selbstbedienungsladen für Politiker, Offiziere und Beamte auf der einen, organisierte Verbrecher­banden auf der anderen Seite. Mit einem weltweit beispiellosen Zynismus wurde und wird das gesamte Volksvermögen des russischen Reiches verscherbelt und in Privatvermögen einer dünnen, extrem reichen Schicht von Verbrechern und Profiteuren umgewandelt.

Die Milliarden der KPdSU und des KGB sind verschwunden. Ganze Waffenarsenale der Armee sind ver­schwund­en. 80 % der staatlichen Kunstschätze — Hunderttausende von Bildern und Ikonen, Hundert­tausende von wertvollen Antiquitäten — sind im Ausland verschwunden. Die Bodenschätze — Holz, Öl, Edelmetalle — wurden und werden vom Staat zu Spottpreisen an irgend­welche namenlosen Firmen verkauft und von diesen dann im Ausland zu Marktpreisen abgesetzt. Staatliche Unternehmen sind serienweise privatisiert worden und über Nacht in anonyme Hände übergegangen. Soweit das russische Volksvermögen. Dazu kommen die Gelder, die als Entwicklungshilfe ins Land fließen. Allein die Bundesrepublik hat in den letzten Jahren über 70 Milliarden Mark nach Rußland gepumpt. Der größte Teil ist in irgendwelchen undurchsichtigen Kanälen versickert.

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Vor allem aber: Die Wirtschaft wird ausgepreßt wie eine Zitrone. Kein Unternehmen, kein Laden, kein Kiosk existiert lange, ohne Schutzgeld zu bezahlen. 80 % aller Geschäftsleute entrichten 15 bis 20 % ihres Gewinnes an Erpresser. Da die Schutzgeld­erpressung landesweit und flächendeckend organisiert ist, kann man getrost davon ausgehen, daß die 20 % der "Bisnesmen", die kein Schutzgeld entrichten, selbst der Mafia angehören. Wenn ein Unternehmen nämlich wirklich rentabel ist, wird es schrittweise von der Mafia übernommen. Zuerst wird nur Schutzgeld verlangt. Dann wird ein Buchhalter der Mafia ins Unternehmen delegiert, um sicher­zustellen, "daß alles mit rechten Dingen zugeht". Dann kommt der Tag, an dem die Mafia sich im Management einnistet. Und zuletzt wird der Laden für ein Butterbrot "gekauft". Und jetzt dürfen Sie dreimal raten, warum es in Rußland so schwierig ist, ausländische Investoren zu finden.

Dies alles ist nur möglich aufgrund einer sehr engen Verflechtung von Mafia, Politik und Ministerial­bürokratie. Die Zusammen­arbeit ist so eng, daß man von einer eigentlichen Symbiose sprechen muß. Die Mafia braucht den Staat, um den Mantel der Rechtmäßigkeit über ihre Verbrechen zu legen. Der Staat braucht die Mafia, um die unsauberen Geschäfte im In- und Ausland abzuwickeln. Die eine Hand wäscht die andere. Staat und Mafia sind auch personell aufs engste verwoben. 

Rund 200.000 Offiziere und Spezialisten des KGB und der Armee sind seinerzeit arbeitslos geworden. Einige haben sich — vorab im Ausland — zur Ruhe gesetzt. Die anderen sind im organisierten Verbrechen aufgegangen und verhelfen diesem zu einer Professionalität, die ihres­gleichen sucht. Know-how, Kapital und Waffen — dies sind die Ingredienzien der Macht in Rußland. Sie liegen nicht bei der Regierung, sondern bei der Mafia — in enger Zusammenarbeit mit der korrupten Staats­bürokratie.

  2500 Banken aus dem Hut gezaubert 

Neben Institutionen wie dem Londoner <Institut für Konflikt- und Terrorismusforschung> interessieren sich auch westliche Geheim­dienste wie die CIA oder der israelische Mossad für die Entwicklung in Rußland. Denn neben harmlosen Hölzern werden auch strategisch wichtige Metalle wie Platin, Titan, Beryllium oder Lithium sowie nukleares Spaltmaterial von der Mafia auf dem internationalen Schwarzmarkt versilbert. Man möchte sich zumindest versichern, daß die unzähligen russischen Atom­spreng­köpfe fürs erste mal dort bleiben, wo sie zum Zeitpunkt der Öffnung gelagert waren.

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Aufgrund dieser Anteilnahme an den Geschicken Rußlands ist im Westen einiges über das Innenleben und die Außenkontakte der Mafia bekannt geworden. Ein Schlüsselfaktor sind logischerweise die Banken. Sie werden dringend gebraucht, erstens, um das schmutzige Geld sauber zu waschen; zweitens, um die blühenden Exportgeschäfte zu finanzieren; und drittens, um die unvorstellbaren, sich anhäufenden Vermögen der herrschenden Schicht im In- und Ausland zu investieren.

1992 gab es in Rußland vier Banken, die alle von der Zentralbank kontrolliert waren. Drei Jahre später waren es rund 2500 Banken. Heute dürften es wiederum einige mehr sein. Man geht davon aus, daß sie praktisch alle der Mafia gehören. Wer eine Lizenz zur Gründung einer Bank braucht, läßt ein bißchen Geld springen — und morgen ist er ein salonfähiger, auch an der Wall Street gern gesehener Bankier. Boris Jelzin hat sich trotz des Drängens seiner westlichen Partner bis heute erfolgreich darum herumgedrückt, ein Bankengesetz zu verabschieden. Und dabei wird es auch bleiben.

Die russischen Banken kaufen in den USA pro Woche rund 100 Millionen Dollar in 100-Dollar-Scheinen ein, die täglich zentner­weise aus New York nach Moskau eingeflogen werden — von der Federal Reserve Bank, der amerikanische Notenbank, hochoffiziell abgesegnet. Diese vergleichsweise kleinen Scheinchen dienen im wesentlichen zur Begleichung der laufenden Angestellten­löhne und Beamtenbestechung. Gleichzeitig aber fließen gewaltige Kapitalströme ins Ausland — im wesentlichen auf Privatkonten. 1992 waren es rund 40 Milliarden, 1995 bereits 120 Milliarden Dollar. Der Rest wird im Inland investiert. Denn wie gesagt: Wer in der Mafia etwas auf sich hält, präsentiert sich als ehrenwerter "Bisnesman".

Einer der Glücklichen, die in den letzten Jahren zu traumhaften Vermögen gekommen sind, ist der ehemalige Minister­präsident Tschernomyrdin. 1992 wurde sein Vermögen noch auf bescheidene 28 Millionen Dollar geschätzt. 1995 hatte es sich auf wundersame Weise um den Faktor 16 vermehrt. Der Mossad schätzte es unlängst auf 5 Milliarden Dollar. Tschernomyrdin war, bevor er von Jelzin an die Spitze der Regierung berufen wurde, Chef des halbstaatlichen Energiekombinates Gazprom, von dem die westeuropäischen Länder 25 % ihres Bedarfes an Erdgas beziehen. Es scheint, daß dort bemerkenswert gute Manager­gehälter bezahlt werden.

 wikipedia  Wiktor_Stepanowitsch_Tschernomyrdin  1938-2010 (72)

An der Cote d'Azur und in anderen bevorzugten mediterranen Gegenden sind in den letzten Jahren Massen von Immobilien der obersten Preisklasse in russische Hände übergegangen. Banken und Hotels schwärmen von splendiden Russen, die per Aeroflot mit Koffern voller Dollars in den Urlaub angereist kommen. In Nobel­restaurants wird die Menükarte bereits in Russisch angeboten.

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  Menschliche Organe und andere Handelsgüter 

Schutzgelderpressung ist wahrscheinlich überall auf der Welt das tägliche Brot des organisierten Verbrechens. Dieses Metier beherrschen alle Mafia-Organisationen. Einmal etabliert, ist hier mit dem geringsten Risiko am meisten Geld zu verdienen, und zwar auf Dauer. Einziger Nachteil: Das Geschäft ist ausgesprochen personalintensiv. Der Aufwand für Inkasso, Kontrolle sowie Strafaktionen gegen unbotmäßige Funktionäre ist verhältnismäßig hoch. Heerscharen von Fußsoldaten werden benötigt. Und diese müssen wiederum straff geführt werden.

Weitere Standardaktivitäten: Drogenhandel und Entführungen. Die Lösegelderpressung ist eines der lukrativsten Geschäfte der Mafia. Bei Entführungen ist die Dunkelziffer extrem hoch. Viele Betroffene vermeiden jeden Kontakt mit Behörden — aus Angst vor der Ermordung der Entführten. Die Polizei erfährt deshalb nur von einem geringen Teil der Fälle. Entführungen sind verhältnis­mäßig einfach zu bewerk­stelligen. In verschiedenen Ländern ist die Mafia bereits dazu übergegangen, Vertreter der Mittelklasse zu entführen — und zwar gleich am Fließband. Die erpreßten Beträge sind zwar bei Ärzten, Anwälten und Gewerbe­treibenden kleiner als bei schwerreichen Industriellen, aber durch die Masse gleicht sich das wieder aus. Vorteile: Völlig unvorbereitete und ungeschützte Opfer; größere Bereitschaft der Angehörigen, sofort zu bezahlen; weitaus geringerer Aufmerksam­keitswert; von vornherein total überforderte Polizei.

Im übrigen sind die Tätigkeitsfelder des organisierten Verbrechens breit gefächert. Alles, was Geld bringt, wird im großen Stil organisiert: Autodiebstahl, Prostitution, Schmuggel, Waffenhandel. Ein wichtiges Gebiet ist außerdem die Piraterie zu Wasser und auf der Straße. Hochseefrachter und Schwerlaster werden gekapert, entführt, geplündert und irgendwo wieder stehen gelassen. Zu den entsetzlichsten Verbrechen gehört der Menschen­handel, insbesondere der Handel mit Frauen und Kindern. Und schließlich wird sogar mit mensch­lichen Organen Handel getrieben. Leichen fallen ohnehin in rauhen Mengen an. Es werden aber auch immer wieder Fälle von Menschen bekannt, die speziell zum Zwecke der Organentnahme entführt und getötet oder verstümmelt worden sind.

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  Das Mineralwasser von der Mafia 

Im organisierten Verbrechen fallen unvorstellbare Gewinne an. Auch wer einen aufwendigen Lebensstil pflegt, kann nur einen verschwindenden Teil seines Einkommens verbrauchen. Die mit der organisierten Kriminalität befaßten Behörden gehen von folgendem aus: Etwa die Hälfte der Gewinne werden in die eigene Infrastruktur investiert: in Waffen, Waffenherstellung und Waffenhandel; in Flugzeuge, Schiffe und Transportunternehmen; in Kommunikations­mittel; in Bewachungs- und Sicherheits­dienste; in Betriebe, die fürs Geschäft benötigt werden: Labors, Werkstätten, Lagerhäuser; und, nicht zu vergessen: in Banken.

Die andere Hälfte wird in der legalen Wirtschaft investiert — in Aktien, Beteiligungen, Firmenaufkäufe. Sehr beliebt sind mittler­weile Beteiligungen an kränkelnden kleineren und mittleren Unternehmen — denn wer würde besonders kritisch hingucken, wenn in letzter Not ein Kapitalgeber auftaucht, der bereit ist, das Unternehmen vor dem Konkurs zu retten. Spätestens hier ist das organisierte Verbrechen nicht mehr von der normalen Wirtschaft zu unterscheiden. Das investierte Geld ist blütenweiß. Und da nirgendwo so viel Geld verdient wird wie im organisierten Verbrechen, kann man sich unschwer ausrechnen, daß ein zunehmender Teil der Welt­wirtschaft schrittweise in die Hände von Menschen übergeht, die ihr Vermögen durch Korruption, Drogen­handel, Mord und Erpressung verdient haben.

Wenn Sie und ich ein Mineralwasser trinken, Spaghetti essen, ins Kino gehen oder Baustoffe beziehen, werden wir nie mit Sicherheit wissen, ob wir nicht mit der Mafia ein Geschäft getätigt haben. Anläßlich des G8-Gipfels im Juni 1997 in Denver gingen die Staatschefs der führenden Industrienationen davon aus, daß acht Prozent der Weltwirtschaft von Mafia-Kartellen beherrscht sind. Diese Zahl wird jedes Jahr nach oben zu korrigieren sein, und zwar aus dem einfachen Grund, weil jedes Jahr Hunderte von Milliarden Dollar an Erträgen anfallen — und dieses Geld will angelegt werden.

   Die Verbindung zwischen Recht und Unrecht 

Klein Hänschen und klein Gretchen machen sich im allgemeinen rührend naive Vorstellungen vom sogenann­ten Verbrechen. Sie denken an etwas, das sich in der "Unterwelt" abspielt, irgendwo im Dunkeln und vor allem ganz woanders. Denn Gut und Böse sind in unserer Vorstellungswelt sauber getrennt. Doch die Realität sieht anders aus.

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Zum einen befinden sich die schwersten Verbrecher, vorab die obersten Verantwortlichen, mitten unter uns — im Hotel, im Restaurant, im Theater, in der Bank, auf der Straße. Sie sind nach außen nichts anderes als erfolgreiche Geschäftsleute. Sie verkehren in den besten Kreisen. Denn so ist es nun mal auf dieser Welt: Wer Geld hat, ist allenthalben gern gesehen.

Zum zweiten aber ist die Grenze zwischen schwerem Verbrechen und scheinbar harmloser Korruption fließend. Viele Leute, die noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, drücken mal hier und mal dort ein Auge zu, um sich selbst oder einem guten Freund einen Vorteil zu verschaffen. Und allzu häufig stößt man mitten in der legalen Wirtschaft, in der Politik und in der Verwaltung auf erschreckende Abgründe von Korruption und Vetternwirtschaft — auch dort, wo es noch kein im großen Stil organisiertes Verbrechen gibt.

Die Gefahr der Korruption droht immer und überall. Die Schweiz gilt immer noch als eines der demo­kratischsten, stabilsten, saubersten und sichersten Länder der Welt. Doch eine unlängst vom Bundesrat in Auftrag gegebene Studie hat ergeben, daß Korruption bei der Vergabe von Aufträgen in der Wirtschaft alarmierende Ausmaße angenommen hat; daß das "Schmieren" von Beamten im Zusammenhang mit Aufträgen der öffentlichen Hand zugenommen hat; und daß in vielen Auslandsmärkten die Kunst der Bestechung seit Jahren nachgerade zur Konkurrenz­fähigkeit gehört.

China gilt als die kommende Wirtschaftsweltmacht Nr. 1. Anläßlich des 15. Parteitages der Kommunist­ischen Partei im September 1997 rief Staats- und Parteichef Jiang Zemin in seiner Eröffnungsrede die Genossen zum Kampf gegen die Korruption auf. Die größte derzeitige Gefahr, welche die "Existenz von Partei und Staat" bedrohe, sei die Korruption in den eigenen Reihen. Ihr könne gelingen, was ein äußerer Feind nie schaffen werde: die Partei zu besiegen.

  Wir und die andern 

Eine internationale Umfrage bei Finanzanalysten und Portfoliomanagern hat ergeben, daß rund ein Viertel der Befragten im Laufe eines Jahres bei Kollegen Verstöße gegen ethische Berufsgrundsätze beobachtet hat. Ein Fünftel gab an, von ihren eigenen Vorgesetzten zu unstatthaften Handlungen, insbesondere zur Beteiligung an Insider-Geschäften, angeregt worden zu sein. Und dies dürfte noch nicht mal die ganze Wahrheit sein, denn die Erfahrung zeigt, daß bei solchen Erhebungen nur ein Teil der Befragten wirklich offen antwortet. Verständ­lich­erweise.

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Ob es uns gefällt oder nicht: Die meisten Menschen sind bis zu einem gewissen Grade und viele in geradezu erschreckendem Ausmaß korrumpierbar. Das zeigt nicht nur die Praxis in der Politik, der Wirtschaft und der Verwaltung. Dies zeigen auch unverdächtige, verhaltens­wissen­schaftliche Untersuchungen, von denen einige Beispiele an anderen Stellen in diesem Buch beschrieben sind. Korruption ist leider etwas ganz Normales und Alltägliches. Auch wenn wir sie immer nur bei anderen wahrnehmen: Sie beginnt im Grunde bei einer ganz harm­losen Notlüge, die niemandem irgendeinen Schaden zufügt. Von hier bis zu einer bewußten Unter­lass­ungs­sünde oder Manipulation, durch die man eine Million verdienen kann, sind es nur mehrere kleine Schrittchen. Ob man sie macht oder nicht, hängt davon ab, welche Gelegenheiten sich ergeben, in welchen Notlagen man sich befindet — und davon, wie viele kleine Schrittchen man ohnehin schon gemacht hat.

Korruption ist der Boden, auf dem das organisierte Verbrechen in seiner heutigen Form sich überhaupt erst entwickeln konnte. Das Phänomen "Mafia" wird erst durch die aktive und passive Unterstützung durch Politiker, Beamte und Wirtschaftsfunktionäre so erfolgreich — und so gefährlich. Die Mafia ist nichts Exotisches. Sie ist kein Fremdkörper in unserer Gesellschaft, wie wir uns immer gerne einreden. Sie ist vielmehr ein Teil unserer Gesellschaft. Sie ist letztlich ein Teil von uns selbst.

   Keine Nachwuchssorgen 

Obszöner Reichtum bei den einen, schrittweises Abdriften in die Armut bei den anderen, zunehmende Arbeits­losigkeit, aber auch der Zerfall intakter Familien, in denen junge Menschen Respekt vor anderen, Gemein­schafts­sinn und partnerschaftliche Zusammenarbeit lernen können all dies führt zu einem rasch wachsenden Nachwuchs­potential sowohl für das organisierte Verbrechen als auch für Funktionäre in der Wirtschaft oder in der Verwaltung, die nur zu gerne geneigt sind, sich durch kleine oder auch mal größere Gefälligkeiten ein Zubrot zu verdienen. 

In vielen Ländern hat der Staat kein Geld. Beamte sind miserabel bezahlt. Schmiergelder sind häufig der wichtigste Bestandteil ihres Einkommens. Ohne sie würde der Verwalt­ungs­apparat sofort zusammen­brechen. Irgendwann einmal beginnen sich dann auch aktivere Formen des Nebenerwerbs zu entwickeln. In verschied­enen südamerika­nischen Ländern kommt es beispielsweise immer häufiger zu Gemeinschafts­aktionen von Gangsterbanden und Polizei — Raubzüge, Plünderungen, Auftragsmorde, mal hier und mal da ein kleines Massaker unter Straßenkindern. Man arbeitet aufs engste zusammen — und jedermann weiß das. Die Aussicht, sich durch Nebeneinkünfte gut situieren zu können, ist dort mittlerweile das wichtigste Motiv junger Leute, sich um die Aufnahme in den Polizeidienst zu bewerben.

Die organisierte Kriminalität wird von der Allgemeinheit als exotisches Phänomen betrachtet, als eine in sich geschlossene Subkultur von begrenzter Bedeutung.
Dieses Bild ist zu korrigieren.

Das organisierte Verbrechen steht in engem Zusammenhang mit einer ganzen Reihe dramatischer Veränderungen in unseren Gesellschaften: der zunehmenden Armut, der Arbeitslosigkeit, der inneren Zersetzung gesell­schaftlicher Strukturen, dem Versagen staatlicher Kontrolle in einer globalisierten Welt, der in vielen Ländern wuchernden Korruption, dem illegalen und weltweiten Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sowie — nicht zuletzt — der hohen Nachfrage nach verfügbaren flüssigen Mitteln in einer kapitalistischen Wirtschaft. Das organisierte Verbrechen hat sich zu einer gigantischen, völlig unübersichtlichen und nicht mehr kontrollierbaren Schattenwirtschaft entwickelt, in der Jahr für Jahr unvorstellbare Gewinne anfallen, die allesamt gezielt wieder investiert werden — die eine Hälfte in das eigene Wachstum, die andere in der legalen Wirtschaft. 

Der weitere Lauf der Dinge wird nicht danach fragen, ob es uns heute beliebt, diese Vorgänge zur Kenntnis zu nehmen oder nicht.

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