Crash         Start    Weiter

28 - Flächenbrand

   Lauterburg-1998

 

278-286

Was ist das, ein 'Crash'? Wie vollzieht sich der Zusammenbruch einer Zivilisation? Im Laufe der Mensch­heits­geschichte sind immer wieder einzelne Hoch­kulturen zusammengebrochen. Von einigen — etwa vom Untergang des Römischen Reiches — wissen wir in etwa, wie das vor sich ging. 

Dies ist die eine Quelle für Anhaltspunkte. Die zweite ist die Chaosforschung. Sie befaßt sich mit den Gesetzmäßigkeiten der Vorgänge in komplexen Systemen. Umbrüche in Gesellschaften vollziehen sich nach ähnlichen Prinzipien wie diejenigen in der Natur — ein Waldbrand, ein Wirbelsturm, ein Herzinfarkt, ein Lungenkrebs, das Kippen eines Sees oder das Aussterben einer Pinguinkolonie.

Aber wir sind nicht allein auf die Geschichte und die Theorie angewiesen. Die wichtigsten Informationen liefert die Realität. Was sich heute in einzelnen Regionen dieses Planeten abspielt, ist nichts anderes als eine Vielzahl kleinerer und größerer Zivili­sations­crashs. In jedem Kriegsgebiet bricht die Ordnung, die wir Zivilisation nennen, zusammen. Kein Zusammenbruch vollzieht sich genauso wie ein anderer. Aber es gibt einige immer wieder zu beobachtende Abläufe. Es gibt so etwas wie eine typische Dramaturgie.

   Zerfall von Recht und Ordnung 

Jedem Crash geht eine Zeit politischer und sozialer Spannungen und Unruhen voraus. Wenn immer mehr Menschen unzufrieden sind, immer mehr Kinder und Jugendliche verwahrlosen, Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr vom organisierten Verbrechen unterwandert werden, die öffentliche Sicherheit zunehmend in Frage gestellt ist und dem Staat sowohl die Autorität als auch die Mittel entzogen werden, kommt irgendwann einmal der Zeitpunkt, wo Recht und Ordnung zusammen­brechen. 

Es kann lange dauern, bis das System kippt. Aber wenn es soweit ist, geht es in der Regel ziemlich schnell. 

Der Hauptgrund für die Geschwindigkeit, mit der scheinbar stabile gesellschaftliche Verhältnisse wie ein Kartenhaus zusammen­brechen können, liegt darin, daß das, was wir Kultur oder Zivilisation nennen, bei den meisten Menschen nicht allzu tief verwurzelt ist. 

Wie in diesem Buch bereits früher ausgeführt: Rücksicht­nahme und Mitgefühl sind bei einer Mehrheit der Menschen nur oberflächlich anerzogen. Sie entsprechen keinem echten Bedürfnis. Gesittetes Verhalten erfolgt vor allem als Folge der Anpassung an das soziale Umfeld — oder, einfach ausgedrückt, aus Angst vor Strafe.

So sehr es uns widerstrebt, die bittere Realität zu akzeptieren: Die Mehrheit der Menschen ist nicht wirklich zivilisiert. Fällt die Gefahr, bestraft zu werden, plötzlich weg, brechen bei vielen Menschen tiefsitzende, primitive und asoziale Instinkte durch. Nach dem Motto <Wehe, wenn sie losgelassen!> werden bisher unauffällige Menschen scheinbar über Nacht zu Mördern, Folterern und Vergewaltigern. 

Von da an regiert die Gewalt. Sie tut es übrigens — von der Gesellschaft weitgehend unbemerkt — in vielen Familien auch unter sogenannten geordneten gesellschaft­lichen Verhältnissen. Es ist nur noch nicht ins öffentliche Bewußtsein gedrungen, in welchem Ausmaß in guten Stuben Frauen geschlagen, Kinder mißbraucht und Alte mißhandelt werden.

Hat sich Gewalt aber einmal im Umfeld etabliert, tun auch noch viele mit, die nicht unbedingt zu Gewalt­tätigkeit neigen. Sie richten ihre Fahne aus Mangel an Persönlichkeit nach dem Wind. So können scheinbar stabile soziale Ordnungen fast über Nacht zusammen­brechen und in ein mörderisches Chaos münden. 

Es gibt immer mehr Länder in allen Erdteilen, in denen man derartige Vorgänge in allen Details beobachten kann — sogar in Europa, wie etwa die Beispiele Albanien und Bosnien zeigen, wo trotz erheblicher Unterstützung aus dem Ausland bis heute keine stabilen, rechtsstaatlichen Verhältnisse hergestellt werden konnten. Wir haben nur noch nicht realisiert, daß auch bei uns ein schleichender Prozeß der Zersetzung begonnen hat, der eines Tages zu chaotischen Umbrüchen führen wird.

An irgendeinem Punkt bricht die staatliche Autorität zusammen. Nicht unbedingt von einem Tag auf den andern, aber innerhalb kurzer Zeit wird klar: Die bisherigen Rechtsorgane — Polizei, Justiz und Strafvollzug — sind überfordert. Alle sehen: Man kann ungestraft Gewalt anwenden. Manchmal ist dies die Stunde des Militärs. Dann kommt es zu einer wie auch immer gearteten Diktatur — und einer Opposition im Untergrund.  

Manchmal aber ist auch das Militär nicht mehr handlungsfähig — oder in unter­schiedliche Gruppierungen zersplittert. Es gibt keine einheitliche Ordnung mehr. Es wird um strategisch wichtige Dinge — Munitionsdepots, Transportwege, Regierungsgebäude und Massenmedien — erbittert gekämpft. Es kommt zum Bürgerkrieg oder zu bürgerkriegs­ähnlichen Zuständen.

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  Zusammenbruch der Infrastruktur 

Wenn es einmal keine unter einer einheitlichen Führung stehende Armee und Polizei mehr gibt, die staatlichen und politischen Autoritäten aufgelöst oder handlungs­unfähig geworden sind, bricht über kurz oder lang die Infrastruktur zusammen. Verwaltung, Gesundheits­wesen, Energieversorgung, Kommunik­ation und öffentlicher Verkehr funktionieren nur noch unregelmäßig und fallen immer häufiger und immer länger aus. Die Versorg­ung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten wird kritisch.

Mit dem Ausfall der Sicherheitsorgane entsteht ein Rechtsvakuum. Die Kriminalität steigt sofort sprunghaft an. Plünderungen und Gewalttaten nehmen zu. Es herrscht das Recht der Stärkeren, das Faustrecht feiert Urständ. Wer bewaffnet ist, befiehlt. Marodierende Banden ziehen umher, terrorisieren die Bevölkerung und plündern die letzten vorhandenen Ressourcen. Besonders begehrt sind: Waffen und Munition, Fahrzeuge und Treibstoff, Lebensmittel und Medikamente.

Die bewaffnete organisierte Kriminalität übernimmt lokal oder regional die Macht und ersetzt die staatliche Autorität. Sie stößt bei der Bevölkerung nicht nur auf Ablehnung, weil viele sich von ihr die Wiederherstellung eines gewissen Maßes an Sicherheit und Ordnung versprechen. Dazu kommt: Wer sich arrangiert, hat wieder Zugang zu den lebensnot­wendigsten Gütern.

Die Zerfallserscheinungen weiten sich aus — unregelmäßig und unvorhersehbar. In einzelnen Städten kann noch während einiger Zeit eine gewisse Ordnung und eine funktionierende Infrastruktur aufrechterhalten werden. Aber früher oder später brechen Nachschub und Verteilungsnetze zusammen, und dann kommt es in einer Stadt, wo viele Menschen auf engstem Raum versammelt sind, zu besonders dramatischen Versorgungs- und Entsorgungs­engpässen. Sie führen zu blutigen Auseinander­setzungen und Epidemien, die auf die umlieg­enden Gegenden übergreifen.

Wenn einmal kein Wasser mehr aus dem Hahn und kein Strom aus der Dose kommt und alle Lebens­mittel­läden geplündert sind, kann die Betonwüste leicht zum Massengrab werden. In einzelnen Regionen und Agglomerationen wird die Bevölkerung dezimiert.

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In dieser Phase sind auch die Ghettos der Reichen keine geschützten Zonen mehr. Wenn einmal klar ist daß auch im äußersten Notfall nicht mehr mit der Hilfe staatlicher Sicherheitskräfte gerechnet werden kann, suchen die privaten Schutzleute das Weite. Wer dann noch zurückbleibt, ist den Plünderern wehrlos ausgeliefert. Und nirgendwo entlädt sich so viel aufgestauter Haß wie gerade hier.

  Krieg ohne Fronten 

Ein Crash ist nicht ein "Big Bang", sondern eine sich über Monate oder sogar Jahre hinziehende Ketten­reaktion vielfältiger und immer mehr um sich greifender Krisen und Konflikte. Der Zusammenbruch einer Zivilisation ist eher so etwas wie ein Flächen­brand — ein chaotisch ablaufender Prozeß des Umbruchs, des Zerfalls bestehender und der Bildung neuer Macht­strukturen der von mehreren Herden ausgehen kann und sich immer mehr ausweitet Die Menschen sind nicht überall zur gleichen Zeit gleich stark davon betroffen. Aber es ist ein Krieg. Er wird mit Waffen ausgetragen. Und es wird massenhaft gestorben — durch Waffengewalt, durch Hunger und durch Krankheiten.

Es ist nicht ein Krieg, in dem sich zwei kämpfende Parteien gegenüberstehen — und schon gar nicht ein Eroberungs­krieg, in dem ein Land ein anderes unterwirft. Es ist ein Krieg, in dem sich die klaren Konturen verwischen. Ein Krieg mit vielen kleineren und größeren Gruppierungen, die über Waffen verfügen, und die sich je nach Lage gegenseitig bekämpfen oder aber zu stärkeren Verbänden zusammen­schließen. Es gibt nicht einen einzigen, klar definierten Feind. Es gibt nur letzte Ressourcen, die alle haben wollen. Es ist ein Kampf ums Überleben — und da kämpft letztlich jeder für sich selbst und gegen alle anderen. Dies bedeutet leider auch Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung — denn sie ist es nicht selten, die über etwas verfügt, das bewaffnete Horden gerne haben möchten. Frauen zum Beispiel; oder ein Haustier zum Schlachten; sauberes Trinkwasser oder einen Kanister Benzin.

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   Inseln im Chaos  

Mitten im Chaos werden sich immer wieder vereinzelt kleine Inseln der Ruhe und Ordnung bilden. Es wird mal hier und mal da eine Nische geben, wo kleinere Gruppen von Menschen überleben können. Mehrere Voraussetzungen müssen gegeben sein.

Erstens, eine genügende Distanz von den zentralen Katastrophen­gebieten. Zweitens, möglichst erschwerte Zugänglichkeit von außen. Drittens, Möglichkeiten der Selbstversorgung. Last but not least: engste Kooperation innerhalb einer solidar­ischen Überlebens­gemeinschaft. 

Solche Voraus­setzungen werden nur in sehr seltenen Ausnahme­fällen gegeben sein. Aber sie sind grundsätzlich möglich.

Häufiger dagegen werden sich in lokal oder regional begrenzten Räumen totalitäre Regime etablieren. Ausgehend von bewaffneten Gruppen — versprengten Teilen einer Armee, früherer Sicherheitskräfte oder der organisierten Kriminalität — bilden sich Diktaturen heraus, welche die Bevölkerung mit Waffengewalt unter­drücken und ausbeuten, aber zumindest für eine begrenzte Zeit für stabile, wenn auch triste Verhältnisse sorgen. In Zeiten der Wirren sind Versuche, faschistische Ordnungen zu errichten, allgegenwärtig. Sie gelingen nur nicht immer.

"Wir doch nicht"

Wenn man in einem westlichen Wohlstandsland beheimatet ist und nicht über den Tellerrand hinausblickt, mag einem dies alles als völlig absurde Horror­vision erscheinen. Doch wenn man sich mit unverstelltem Blick auf dieser Welt umsieht, wird man feststellen, daß wir von lauter Zukunftslabors umgeben sind. In einer ganzen Reihe von Ländern haben sich nämlich derartige Szenarien in den letzten Jahren abgespielt — am häufigsten in Afrika, aber auch in Krisengebieten, die uns wesentlich näher liegen, wie etwa in Bosnien oder Albanien. Und wer Augen hat, zu sehen, der wird erkennen, daß es dort, wo gewachsene Ordnungen zusammenbrechen, immer zwei Optionen gibt: das Chaos und die Diktatur. 

Wo immer ein Machtvakuum entsteht, werden einzelne versuchen, sich zusammenzutun, um über andere zu herrschen und sie auszubeuten. Solche Versuche sind aus zwei Gründen so häufig erfolgreich. Erstens, weil die Macht ungleich verteilt ist. Wenn die einen Waffen haben und die Mehrheit nicht, dann wird nicht mehr gefragt, was für eine gesellschaftliche Ordnung den Menschen genehm ist. Zweitens, weil die Menschen nichts so schlecht ertragen wie das Chaos. Wenn sie zwischen Chaos und Diktatur zu wählen haben, erscheint ihnen die Diktatur nicht selten als das kleinere Übel.

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Daß dies alles bei uns nicht über Nacht kommen wird, steht auf einem anderen Blatt. Man wird selbst­verständ­lich in letzter Minute versuchen, das Schlimmste zu verhüten. Man wird Notstandsgesetze aus dem Boden stampfen. Man wird Krisenstäbe einsetzen. Aber all dies wird zu einem viel zu späten Zeitpunkt geschehen. Man wird Symptome bekämpfen, den Zerfall aber letztlich nicht mehr verhindern können. Der Staat, die einzige demokratisch legitimierte Institution, wird nicht mehr die Kraft haben, das Steuer an sich zu reißen. Für die Bewältigung von existentiellen Krisen sind die heutigen staatlichen Institutionen von vornherein nicht effizient genug. Vor allem aber werden dem Staat die Autorität und die Mittel, die er dazu benötigen würde, bereits heute schrittweise entzogen. Die Gesellschaft ist nicht in der Lage, sich selbst zu steuern.

 

  Szenarien 

Es gibt eine ganze Reihe theoretisch denkbarer Zukunftsentwicklungen.

Szenarium 1 

Dies ist die rosarote Variante: Wir stehen an der Schwelle zu einer Ära des wirtschaftlichen und sozialen Aufschwungs. Wir haben 25 Jahre des Friedens, der wirtschaftlichen Prosperität und der Umweltgenesung vor uns. Typische Vertreter dieser These sind unter anderen die beiden eingangs des voran­gegang­enen Kapitels erwähnten Autoren.

Szenarium 2 

Dies ist eine kurz- und mittelfristig pessimistische, langfristig aber immer noch optimistische Variante: Wir haben eine schwierige Zeit krisenhafter Entwick­lungen vor uns. Die ersten Jahrzehnte des nächsten Jahrhunderts werden noch von großen wirt­schaftlichen, politischen und ökologischen Problemen geprägt sein. Es kommt aber nicht zu einem weltweiten Crash. Die Menschen und Völker lernen langsam, im Rahmen einer multikulturellen Völker­gemein­schaft miteinander zu leben.

Szenarium 3 

Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Spannungen eskalieren. Als Reaktion auf die Globalisierung kommt es in immer mehr Ländern zu machtvollen, national­istischen Bewegungen und zu massiven, gewalt­tätigen Auseinandersetzungen. Die Lage auf nationaler und internationaler Ebene wird destabilisiert. Die Überbevölkerung führt zu dramatischen Versorgungs­engpässen. Es kommt zu einem Crash. Kriege, Bürgerkriege, Hunger und Krankheiten dezimieren die Menschheit. Der Zusammenbruch der Wirtschaft und die Dezimierung der Weltbevölkerung führen aber — bevor es zu einem ökologischen Kollaps kommt — zu einer drastischen Reduktion der Umweltimmissionen. Die Umwelt kann sich langsam wieder erholen. Die in einigen Regionen überlebenden menschlichen Populationen, geläutert durch den Schock der Katastrophe, beginnen einen durch Rücksichtnahme — auf andere Kulturen sowie auf die Umwelt — geprägten Wiederaufbau.

Szenarium 4   (detopia: langsames Aussterben ohne Großkrieg; ähnlich Löbsack-1983)

Zunächst analog Szenarium 3: Es kommt zu einem Crash. Es gibt kleinere, überlebende menschliche Populationen. Aber: Es zeigt sich, daß die Umwelt bereits zu stark belastet und verändert ist, die Menschen anderseits biologisch nicht in der Lage sind, sich in genügend kurzer Zeit an die veränderten Gegeben­heiten anzupassen. Die in der Luft, im Wasser, in den Böden sowie in den menschlichen Körpern angereicherten, biologisch nicht abbaubaren Umweltgifte führen zu einem irreversiblen Verlust der Fort­pflanzungs­fähigkeit. Die Menschen sterben im Laufe einiger Generationen aus.

Szenarium 5 

Analog Szenarien 3 und 4: Es kommt zu einem Crash. Es gibt kleinere menschliche Populationen, die theoretisch überleben könnten. Aber die im Laufe der Wirren eingesetzten atomaren Sprengköpfe und chemischen Waffen, die leckgeschlagenen Atomkraftwerke sowie die aus verschiedenen, teilweise gar nicht bekannten Deponien im Meer und an Land entweichenden Gifte und radioaktiven Rückstände vernichten in kurzer Zeit den größten Teil des Lebens an Land und im Meer. Nur kleinere Lebewesen überstehen die Katastrophe.

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Soweit ganz grob das Spektrum theoretisch möglicher Zukunftsentwicklungen. Mit langfristigen Prognosen ist es so eine Sache. Je präziser sie formuliert sind, desto sicherer folgen sie Erich Kästners Motto "Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt". Das Problem ist die Komplexität. Es gibt zu viele Einfluß­faktoren — und die einzelnen Faktoren beeinflussen sich gegenseitig.

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Wir haben es mit einer Gleichung mit zu vielen Unbekannten zu tun. Deshalb gibt es keine präzisen, lang­fristigen Vorhersagen. Aber es gibt Naturgesetze. Es gibt Wahrscheinlichkeiten. Es gibt Plausibilitäten. Es ist wie beim Wetter: Kein Computer der Welt wäre in der Lage, das Wetter in Hinterallmendingen für länger als einige wenige Tage verläßlich vorherzusagen. Aber es gibt ein Klima. Es gibt Jahreszeiten. Es gibt Erfahrungs­werte. Man kann deshalb mit erstaunlich hoher Verläßlichkeit eingrenzen, wann in Hinter­allmendingen der nächste Regen fallen wird: Spätestens in zwei Monaten, wahrscheinlich früher. Nicht in einem halben Jahr. Nicht erst in zwei Jahren.

Wir sind alle miteinander keine Hellseher und keine Propheten. Wir können uns nur aufgrund unserer Lagebeurteilung und sich abzeichnender Wahrschein­lich­keiten unsere eigene, persönliche Meinung bilden. Sie die Ihre, ich die meine. Aufgrund der in diesem Buch geschilderten Zusammenhänge geht meine Meinung dahin, daß von den fünf genannten Szenarien die beiden ersten von vornherein außer Betracht fallen. Die Natur des Menschen, die innere Verfassung der Nationalstaaten, das internationale Beziehungsgefüge, das Fehlen echter, globaler Steuerungsmöglichkeiten, die ökologischen Altlasten, unsere bereits heute reduzierte Fruchtbarkeit sowie unsere geringe biologische Anpassungsfähigkeit — all dies läßt angesichts der eingeleiteten Trends und der fortgeschrittenen Zerstörung unserer Umwelt aus meiner Sicht nur einen Schluß zu: Der Crash wird nicht abzuwenden sein.

Die drei letztgenannten Entwicklungen halte ich alle für grundsätzlich möglich. Am wahrscheinlichsten erscheint mir Szenarium 4: Die Weltbe­völkerung wird dezimiert, überlebende Populationen verlieren als Langzeitfolge der in den Organismen angereicherten Umweltgifte die Fortpflanzungs­fähigkeit und sterben aus. 

Danach regeneriert sich die Natur innerhalb weniger Jahrhunderte. Die Evolution geht weiter.

 

Der Weltuntergang findet individuell statt

Wenn man von dem ausgeht, was sich heute anbahnt, bereits weit fortgeschritten ist und wirklich eines Wunders bedürfte, um in eine andere Richtung gelenkt zu werden, ergibt sich in etwa folgendes Fazit:

Erstens, der Zusammenbruch hat längst begonnen. Er hat nur noch längst nicht alle Länder und Regionen erfaßt. Die Frage lautet nicht: Wann wird es zu einem Crash kommen? Die Frage lautet: Wann wird er auch auf die hochentwickelten, westlichen Zivilisationen übergreifen? Dies wird aller Wahr­schein­lichkeit nach nicht in den nächsten fünf oder zehn Jahren der Fall sein. Aber ebenso bestimmt nicht erst in 100 Jahren. Die innere Zersetzung hat längst eingesetzt, und sie beschleunigt sich.

Aus heutiger Sicht kann man davon aus­gehen, daß der Zusammen­bruch auch bei uns noch in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts stattfinden wird — vielleicht in 25, vielleicht in 40 Jahren. Und er wird es desto sicherer, je unbeirrter wir davon ausgehen, wir würden auch in Zukunft nur im Fernsehen beobachten können, wie anderswo Zusamm­en­brüche stattfinden, oder könnten uns weiterhin hauptsächlich mit Steuerprozenten, Lohnneben­kosten und Diäten von Parlamentariern beschäftigen.

Zweitens, wenn eine globale ökologische Katastrophe eintritt — etwa die Auflösung des Ozonschildes oder ein nuklearer Super-GAU — kann es auch schon wesentlich früher zu Kettenreaktionen von Zusammen­brüchen kommen.

Drittens, wenn ein Wunder eintritt — irgendetwas Weltbewegendes, von dem wir heute keine blasse Ahnung haben —, kann alles ganz anders kommen. Aber es müßte wirklich ein Wunder sein.

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Der Weltuntergang findet immer individuell statt. Wer in Kambodscha, Sierra Leone oder Bosnien ermordet worden, in Bangladesch verhungert, in Indonesien im Rauch oder in Mexico-City im Smog erstickt, in Afrika an Aids oder in Europa an verdrecktem Heroin gestorben, in Kurdistan einem Giftgas­überfall zum Opfer gefallen oder in Algier von einer Bombe zerfetzt worden ist — für den ist die Welt längst unter­gegangen. Man kann ihn nicht damit trösten, daß es noch viele Leute gibt, die weiterleben. 

Wir sollten nicht so tun, als würde es nur darauf ankommen, daß Teile der Menschheit überleben — möglichst diejenigen, zu denen wir selbst gehören. Der Zus­ammen­bruch kommt in Sturmböen und Wellen. Noch halten viele Dämme. Aber das Unwetter hat begonnen.

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   Fünf nach Zwölf   Der globale Crash und die Zukunft des Lebens    Christoph Lauterburg