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  2   Wie das verhängnisvolle Organ entstand    Löbsack-1974

 

Der prometheische Stolz — Geistiges in toter Materie? — Der Sechste Sinn  — Der Qualitäts­sprung zum Bewußtsein — Der Verpaarungstrick  —  Die Lustprämie des Orgasmus — 100.000 Nervenzellen verhindern das Stolpern — Zehn Watt Energie im Gehirn — Die blitzartigen Vorrang-Entscheidungen — Unkontrollierbare Urgefühle im Limbischen System — Sprach-Entwicklung — Aufrechter Gang und abspreizbarer Daumen — Menschenhirn und Schimpansenhirn  —  Massen­vermehrung — Verschaltungs­möglichkeiten  —  Stirnhirn — Haarlose Haut und Sexualverhalten — Die permanente Geschlechtslust —  Altruismus — Brutpflegeinstinkt — »Abkindern« — Abstrakte Gedankengänge

 

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Der Mensch, das Großhirnwesen — ein Fehlschlag der Natur?  Fragen wir doch erst einmal so: Welche Merkmale, welche Eigenschaften sind es eigentlich, die uns so stolz machen, so von uns selber überzeugt und davon, die Krone der Schöpfung zu sein?

Goethe hat den Faust geschrieben, Michelangelo hat die Pietà in der Peterskirche zu Rom geschaffen, Otto Hahn hat die Kernspaltung entdeckt, Marie-Antoinette ist tapfer zur Guillotine geschritten und Mark Spitz hat auf der Münchener Olympiade sieben Goldmedaillen gewonnen — darum bewundern wir sie. 

Was diese Männer und Frauen geleistet haben, beeindruckt uns. Es rührt uns etwas an im Charakter dieser Menschen. Es fasziniert uns der Genius oder der Körper, die große Menschlichkeit, die unbestechliche Logik, die Phantasie, der Scharfsinn, die Leistung der Muskeln, die Tapferkeit oder die erstaunliche Kombination mehrerer solcher Tugenden.  

Wir wissen aber auch, daß sich ein Tier von solchen Eigenschaften kaum beeindrucken lassen würde. Das klingt wie Nonsens. Trotzdem muß es gesagt werden, weil es auf unser Problem hinführt. Schütteln wir einmal die üblichen Denkschablonen ab. Was immer wir leisten, was wir tun und lassen — sind es nicht von uns selbst gesetzte Maßstäbe, nach denen wir unsere Taten bewerten? 

Der prometheische Stolz auf uns selbst, jener Narzißmus, den wir genießerisch kultivieren und pflegen, er badet sich zwar in der befriedigenden Genugtuung über große menschliche Leistungen, für das Überleben des Menschen auf der Erde trägt er jedoch herzlich wenig bei. Dies zu sichern wäre zwar vordringlicher, aber dazu ist unser Gehirn offenbar nicht mehr fähig. Es leistet sich lieber den Luxus elitärer Begeisterung über sich selbst.

Darum besteht auch kein Grund, allzu hehre Vorstellungen von diesem Organ zu bewahren. Wir haben auch keine Veranlassung, dem Gehirn so etwas wie eine Sonderstellung einzuräumen. Nur weil das Gehirn uns befähigt, Symphonien zu komponieren, die Allgemeine Relativitätstheorie zu entwickeln und herauszufinden, daß nicht die Erde, sondern die Sonne der Mittelpunkt unseres Planetensystems ist — nur deshalb schon offenen Mundes und staunend vor ihm niederzuknien, scheint keineswegs begründet. 

Vielmehr sollten wir an das Gehirn die gleichen Maßstäbe anlegen wie an andere Organe auch: an Augen, Ohren, Nase und Haut. Wir sollten fragen: Wieviel trägt das Gehirn noch zum Überleben des Menschen bei? Ein höherer Komplikationsgrad der Anatomie oder die Schwerdurchschaubarkeit einer Funktion allein rechtfertigen weder blindes Bewundern noch Vorschußlorbeeren. Wer sein Überleben nicht sichern kann, der hat bald nichts mehr von der schönsten Symphonie. Ihm nützt auch der komfortabelste Düsenklipper nicht mehr.

Sehen wir genauer hin: 

Während die Leistungen von Augen, Ohren, Nase, des Tastsinns und des Geschmacks sich in der Vergangenheit durchweg als überlebens-hilfreich erwiesen haben, während es bei ihnen kaum Indizien für Zweischneidigkeit, für Negatives gibt, so ist dies beim Gehirn anders. Zwar ist auch das Gehirn in die Verarbeitung von Sinnesempfindungen eingeschaltet und bildet insofern eine unentbehrliche Ergänzung jener Sinnesorgane. Doch diese Funktion wird vor allem von den stammesgeschichtlich älteren Hirnteilen wahrgenommen. 

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Diejenigen Bereiche der Hirnrinde, die besonders spät in der Entwicklungsgeschichte des Menschen aufgetreten sind, haben keinen Bezug mehr zu unserem Bewegungsapparat oder zu den Sinnesorganen. Es sind die »neokortikalen Sekundärgebiete«, wie die Hirnforscher sagen. Dazu gehören bestimmte Felder im Stirnhirn, in denen unser Denkapparat, die psychischen Empfindungen und die Willenserlebnisse ihren Sitz haben. 

Gehen wir einmal so weit, eine Art Nutzen-Schaden-Abwägung im Hinblick auf den Überlebenswert jener Handlungen anzustellen, die von eben diesen Teilen des Großhirns veranlaßt worden sind und weiter veranlaßt werden, dann ergibt sich ein Negativ-Saldo, der langsam, aber deutlich wächst. Die roten Zahlen der Großhirn-Bilanz gehen in die Höhe, je steiler die Weltbevölkerungskurve ansteigt, je rascher wir die Erde industrialisieren und je schneller wir ihre Rohstoffreserven ausbeuten. Die roten Zahlen klettern, je größer die Begeisterung ist, die wir angesichts einer startenden »Concorde« empfinden, deren Knallschleppe Fensterscheiben platzen, historische Baudenkmäler zerbröckeln läßt und die Nerven derjenigen strapaziert, denen ihr Lärm und ihre Abgase zugemutet werden.

Der Schluß ist legitim: Das Großhirn mit seinen stammesgeschichtlich jungen Teilen ist eine Fehlentwicklung, wie spät uns diese Einsicht auch kommen mag und wie groß die Auflehnung, wie laut auch der Aufschrei gegen solche Behauptung sei.

Aber wenn man etwas in Frage stellt, so soll man auch Argumente liefern. Wir werden tiefer zu loten haben. Vor allem werden wir fragen müssen: 

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Das Menschenhirn hat sich im Laufe von Jahrmillionen entwickelt. Es kam nicht plötzlich auf die Welt, sondern hatte Vorläufer im Tierreich. Nach Meinung des Evolutionsforschers Bernhard Rensch sollen Vorstufen des Geistigen in Gestalt bestimmter Substanzen schon in der toten Materie enthalten sein. Dafür spreche einerseits, daß psychische Leistungen in der Stammesgeschichte der Tiere nicht unvermittelt auftreten, sondern sich allmählich entwickeln. Am Anfang stehe einfaches Reagieren auf optische, mechanische oder chemische Reize aus der Umwelt, am Ende das komplizierte Verhaltensmuster des Menschen. Außerdem seien geistige Eigenschaften vererbbar, ein Umstand, der nur mit der Bindung geistiger Prozesse an die Materie — in diesem Fall an die DNS-Moleküle im Zellkern — gedeutet werden könne.

Lange bevor die Natur das Menschenhirn zustandebrachte, hat sie Vorstufen dieses Organs entworfen und erfolgreich mit ihnen experimentiert. Das hatte gute Gründe. Denn von Anfang an bestand für alle Lebewesen die Notwendigkeit, sich in ihrem Lebensraum auf der Erde zurechtzufinden. Nur bei den primitivsten ein- und mehrzelligen Tieren ging dies noch ohne Nervensystem. Bei ihnen genügten zweckmäßige Körperform in Verbindung mit »Organellen« wie einem Wimpernkranz zum Herbeistrudeln von Nahrungsteilchen aus dem Wasser oder die Fähigkeit, das energiespendende Sonnenlicht zu chemischen Prozessen im Innern der Zelle zu nutzen oder Vorteile aus der stärkeren oder schwächeren chemischen Konzentration des Zellinhaltes zu ziehen. 

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Den höheren Tieren genügte all dies nicht mehr. Sie, die sich aktiver und vielseitiger verhalten, die größere Anpassungsleistungen vollbringen, waren zunehmend auf besondere Sinnesorgane angewiesen, auf Tastsinn, Geruch, Geschmack, Gehör und Gesicht. Diese Sinne signalisierten ihnen alles Wichtige über den Zustand und die Vorgänge in ihrer Umwelt, so daß sie zweckmäßig darauf reagieren konnten.

Wo aber mehrere Sinnesorgane sinnvoll funktionieren sollen, da bedarf es einer koordinierenden Stelle, einer Schaltzentrale, eines »Gehirns«. Aus bescheidenen Anfängen zu immer komplizierteren Formen fortschreitend, bildete sich deshalb das »Zentrale Nervensystem« heraus.

Vergleicht man die einfachsten Lebewesen mit höher entwickelten, so sieht man, wie aus ursprünglich primitiven Reaktionen auf Umweltreize allmählich ein komplizierteres Verhaltensrepertoire wird, an dessen Ende beim Menschen so vielschichtige Erscheinungen stehen wie die Religiosität oder die Liebe zwischen Mann und Frau. Man kann sich sogar fragen, ob die Natur beim Menschen noch auf der Suche nach neuen Sinnesorganen ist, nach zusätzlichen Möglichkeiten für ihn, mit seiner Umgebung in Verbindung zu treten. Sollte das, was wir den »Sechsten Sinn« nennen, ein solcher erster, tastender Versuch in dieser Richtung sein? 

Sollten wir hier einen Hinweis darauf haben, daß sich die Natur einen weiteren Sinnesbereich über die klassischen fünf Sinne hinaus erschließen will? Träfe das zu, dann hätten wir es bei den sogenannten »Medien« mit ihren parapsychologischen Fähigkeiten gewissermaßen mit Menschen zu tun, die über die Vorstufen für einen rein geistigen Sinn verfügten, einen Sinn, der nur noch an das Substrat der Nervenzellen im Großhirn gebunden wäre. Solange dieser Sinn nicht mit negativen anderen Eigenschaften gekoppelt wird, könnte er aufgrund der Möglichkeiten solcher Menschen einen massiven Auslesevorteil bedeuten und relativ rasch, das heißt, innerhalb von Jahrtausenden, weiterentwickelt werden. Die Voraussetzung dafür wäre allerdings, daß noch soviel Zeit für stammesgeschichtliche Experimente mit dem Menschen zur Verfügung steht, was freilich bezweifelt werden muß.

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Bei der Entwicklung einer Schaltzentrale für Sinnesempfindungen hat die Natur einfach angefangen. Nur Spuren eines Nervensystems finden wir bei den Quallen und den meeresbewohnenden Hohltieren. Der Regenwurm hat dagegen schon regelrechte Nervenstränge, die in Abständen zu Knoten, den Ganglien, verdickt sind. Die Ganglien sind Zentren der Nerventätigkeit. Sie können Sinnesreize verarbeiten und ermöglichen eine Spur von Gedächtnis. Regenwürmer lassen sich dressieren. Läßt man ihnen in einem T-förmigen Rohr die Wahl, an der Verzweigungsstelle nach links oder rechts zu kriechen, nachdem sie »links« ein paarmal mit einem kleinen elektrischen Schlag bestraft worden sind, dann kriechen sie für etwa 24 Stunden von vornherein nach rechts, um dem Schlag zu entgehen. Solange immerhin hält das Regenwurm-Gedächtnis an schlechte Erfahrungen vor.

Die nächste Stufe ist bei den Insekten erreicht. Die Honigbiene besitzt nach einer Schätzung schon rund 850.000 Nervenzellen, die zu Gruppen vereint sind und eine erste Form von Arbeitsteilung im Nervensystem zulassen. Bei den Wirbeltieren ist wieder alles anders. Schon die niedersten, die Fische, haben ein richtiges Gehirn. Bei der Forelle kann man, ähnlich wie bei den höheren Wirbeltieren, einzelne Gehirn-Abschnitte unterscheiden: Vorder-, Zwischen-, Mittel- und Kleinhirn, außerdem verlängertes Mark mit den Zentren für die Reflexe — die Verbindung zum Rückenmark. Fische haben einen hervorragend ausgeprägten Gleichgewichtssinn im Inneren Ohr. Von hier kommen die aktuellen »Lageberichte« über ihre Körperhaltung im Wasser. Die Meldungen fließen über das verlängerte Mark dem mächtig ausgebildeten Kleinhirn zu, wo sie verarbeitet und in Signale an Flossen- und Schwanzmuskeln verwandelt werden. Fische lernen schon viel besser als Insekten. Nach Bernhard Rensch können ausgewachsene Regenbogen­forellen zwei verschiedene Punktmuster auseinanderhalten und noch 150 Tage nach der Dressur voneinander unterscheiden.

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Das verlängerte Mark der Fische ist auch ein Beispiel dafür, wie Verhaltensweisen über Reflexbahnen gesteuert werden. Rascheste Reaktionen, die für das Tier manchmal lebenswichtig sind, entstehen hier gewissermaßen im Kurzschluß-Verfahren ohne den zeitraubenden Umweg über das Gehirn. Feine Tastnerven an ihrer Seitenlinie zeigen den Fischen an, was in ihrer Umgebung im Wasser geschieht. Die Nerven reagieren auf Druckschwankungen. Wie ein körpereigenes Radargerät vermitteln sie ihre Eindrücke dem verlängerten Mark, das notfalls blitzschnelle Muskelbewegungen für Angriff oder Flucht auslöst. Auch bei solchen Fischen, die elektrische Schläge austeilen können, wie dem Zitteraal, verläuft die Reizleitung dafür nicht über das Gehirn, sondern nimmt den »kurzgeschlossenen Weg« über das verlängerte Mark.

All diese Reaktionen laufen vermutlich noch unbewußt ab. Das, was wir »Bewußtsein« nennen, tritt wahrscheinlich erst bei höheren Tieren mit entsprechend komplizierterem Nervensystem auf. Der Qualitätssprung, der damit verbunden ist, läßt sich an der Schmerzempfindung zeigen. Der ursprüngliche Sinn des Schmerzes ist es, das betreffende Lebewesen zu warnen, es aus einer bedrohlichen Situation flüchten zu lassen, zumindest aber einen gefährdeten Körperteil rasch aus dem Gefahrenbereich zu entfernen. Wir reißen den Arm zurück, wenn wir uns an der Hand verletzen, wir lassen den Topfdeckel fallen, wenn er zu heiß ist. Der Unterschied zur bloßen Reaktion auf das Gefühl »Schmerz«, wie auch Tiere sie zeigen, liegt für uns in der Qualität »unangenehm«, die dem Schmerz innewohnt, so wie es umgekehrt »angenehm« ist, ein erfreuliches Erlebnis zu haben. Um die Qualität dieser und anderer Reize bewußt zu empfinden, sind weit entwickelte Systeme notwendig, mit anderen Worten: Zentralnervensysteme höherer Ordnung, wie das des Menschen.

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Mit ihrer Hilfe hat die Natur noch etwas besonders Interessantes geschaffen, sie hat nämlich bestimmte Verhaltensweisen mit Empfindungen gepaart. So erleben wir beim Geschlechtsakt Lust, beim Essen Befriedigung. Die Flucht ist mit Angst, die Aggression mit Wut verbunden. Der Vorteil liegt auf der Hand: Wo ein Verhalten mit freudigen oder erregenden Gefühlen verkoppelt ist, wird es in der Regel zuverlässiger ausgelöst, wird es stimuliert, verstärkt, läuft es sicherer ab. Das Paradebeispiel ist die »Lustprämie des Orgasmus« der Natur für das Fortpflanzungsverhalten. Jene Sekunden jenseits von Raum und Zeit, die das Intensivste an Lustempfindung sind, das die Natur zu vergeben hat — sie sind die Belohnung für das, was den Fortbestand der Art sichert.

Es gibt Hinweise dafür, daß es das Limbische System zwischen Großhirn und verlängertem Mark ist, in dem diese Verbindung von Verhalten und Gefühl stattfindet. Das Limbische System erscheint zum ersten Mal bei Schlangen und Echsen. Ob deshalb, wie manche Forscher vermuten, erstmals bei diesen Tieren auch Schmerzempfindungen auftreten, ist unbekannt.

Auch mit der Existenz des Limbischen Systems ist jedoch das, was die Psyche des Menschen ausmacht, noch nicht erklärt. Für das menschliche Geistes- und Seelenleben ist ein noch komplizierteres Organ notwendig gewesen, nämlich das Neuhirn mit der gigantisch gewucherten Großhirnrinde. Was in diesem Gebilde vor sich geht, was es als Sitz unseres Bewußtseins kennzeichnet und welche zweischneidigen Entscheidungen es getroffen hat, wird uns noch ausführlich beschäftigen.

Wo immer Geistig-Seelisches und wo Sinnesorgane vorkommen, sind Nervenzellen im Spiel. Es sind spezialisierte Gebilde, die auf Reize ansprechen, Erregungsimpulse leiten, sie verarbeiten und körperliche Reaktionen veranlassen. Eine Nervenzelle, Neuron genannt, besteht aus dem Zellkörper, der vollgepackt ist mit zahlreichen Inhaltsstoffen von teils unbekannter Aufgabe. Auffällig vor allem ist ein großer Zellkern neben zahlreichen »Eiweißfabriken«, den Ribosomen. 

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Unter dem Mikroskop erkennt man dunkle Körperchen, die den Nervenzellen das Aussehen von Pantherfellen geben: die Nisslschollen mit ihrem hohen Gehalt an Nucleinsäuren. Außerdem fallen ungewöhnlich viele kleine Energiespender auf: Mitochondrien mit der Aufgabe, den Stoffwechsel der Nervenzellen in Gang zu halten. Was sie leisten, läßt sich ermessen, wenn man hört, daß in einer einzigen Nervenzelle pro Sekunde rund 15.000 Eiweißmoleküle erzeugt werden. Alle diese Stoffe dienen möglicherweise dem Gedächtnis; vielleicht helfen sie auch bei der Leitung der Nervenimpulse im Körper mit.

Im menschlichen Gehirn finden sich zwei Arten von Zellen. Einmal sind es die erwähnten Nervenzellen oder Neuronen, deren Zahl zwischen 11 und 18 Milliarden liegt, zum andern die weitaus zahlreicheren Gliazellen, die eine bindegewebsartige Stützsubstanz bilden. Vom Zellkörper der Nervenzellen gehen jeweils ein Haupt- und mehrere Nebenfortsätze aus: Neuriten und Dendriten. Sie bilden das Nervennetzwerk des Körpers. Die Hauptfortsätze, die Neuriten vor allem sind es, die die Sinneseindrücke empfangen und ins Gehirn weiterleiten, umgekehrt aber auch Botschaften und Befehle des Gehirns an die verschiedenen Körperteile senden, zum Beispiel an die Muskeln. Die Neuriten sind von fett- und eiweißhaltigen Häutchen umgeben und nur Millimeterbruchteile dick. Sie können sehr lang werden — beim Ischiasnerv des Menschen bis zu einem Meter.

Wie die Sinnesempfindungen innerhalb der Nervenbahnen geleitet werden, ist lange rätselhaft gewesen und auch heute noch nicht restlos geklärt. Schon seit einiger Zeit weiß man, daß elektrische Vorgänge dabei eine Rolle spielen. Aber nicht nur die Elektrizität, auch chemische Reaktionen sind bei der Erregungsleitung beteiligt. Dort, wo zwei Nervenfasern aneinanderstoßen, bildet die eine eine wulstförmige Verdickung, die Synapse, die andere eine Membran, den Rezeptor. In den Zwischenraum sondert die Synapse sogenannte Transmittersubstanzen ab, deren Aufgabe es ist, dem Nervenimpuls den Weg von einer Nervenzelle zur anderen zu bahnen. 

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Dieser Vorgang läuft außerordentlich rasch ab, manchmal in nicht weniger als einer Millionstel Sekunde. Würde mehr Zeit verstreichen, so wäre jede Straßen­überquerung, jede Bergtour ein lebensgefährliches Unterfangen. Bei einer Gratwanderung würden wir auf einen Ausrutscher viel zu spät reagieren und allzu leicht abstürzen. Das Nervensystem koordiniert deshalb die vom Fuß kommenden Signale blitzschnell und sendet den Muskeln Befehle zum richtigen Verhalten zu. Rund 100.000 Nervenzellen helfen mit, dieses komplizierte Gleichgewichtsmanöver auszuführen und den Wanderer wieder festen Fuß fassen zu lassen.

Der englische Mediziner Young hat einmal gesagt, das Menschenhirn sei mit einem Riesenbüro zu vergleichen, in dem rund 14 Milliarden Beschäftigte säßen. Jeder von ihnen habe ein Telefon und stehe mit jedem anderen und darüber hinaus noch mit der Außenwelt in Verbindung. Das Erstaunliche sei, daß jede dieser Verbindungen funktioniere, daß sie keine umständlichen Schaltvorgänge erfordere und stets blitzschnell zustande komme.

Young hat recht: Die Schaltzentrale in unserem Kopf ist imponierend. Sie ist es um so mehr wenn man bedenkt, daß »besetzte Leitungen« nach geheimnis­vollen Prioritäts­entscheidungen jeweils für neue Verbindungen sofort freigegeben werden. Wird ein Mann im Wald von einem umstürzenden Baum bedroht und gleichzeitig von einem Insekt gestochen, dann passiert folgendes: Würde der Baum nicht auf ihn stürzen, so würde er unweigerlich nach dem Tier schlagen oder es abzuschütteln versuchen. Der Baum aber hat »Vorrang«. Das Gehirn sortiert die beiden Eindrücke blitzschnell nach ihrer Wichtigkeit und zwingt den Gefährdeten, zuerst vor dem Baum zur Seite zu springen und dann erst das Insekt abzuwehren. Und das alles spielt sich in einer kürbisgroßen, mit nur zehn Watt elektrischer Energie arbeitenden, wabbeligen Masse ab, die in absoluter Dunkelheit von ein paar Häutchen umgeben auf dem Polster einer stoßdämpfenden Flüssigkeit in der Hirnschale ruht.

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Wollte man einen Computer bauen, der auch nur annähernd die Kapazität des Menschenhirns erreichte, müßte er so groß sein wie unser Erdball. Auch dann freilich hätten wir noch kein »künstliches Gehirn« geschaffen. Denn ein Computer kann nur Aufgaben lösen, für die der Mensch ihn programmiert hat. Er ist und bleibt eine Maschine, während das Gehirn viel mehr leistet. Es reguliert Atmung und Herzschlag, es kontrolliert die Körpertemperatur ohne unser willentliches Zutun. Es stellt die Verbindung zur Umwelt des Menschen her, indem es Sinnesreize nicht nur empfängt, sondern diese auch nach einem jeweils individuellen Beschluß sortiert, bewertet und stärker oder schwächer bewußt werden läßt. Im Gegensatz zum Computer kann sich das Gehirn in gewissen Grenzen sogar selbst »reparieren« oder ersetzen, indem bestimmte Teile in ihm die Aufgabe anderer, durch Krankheit ausgefallener Hirnabschnitte übernehmen.

Das Organ, dessen Beschaffenheit dies alles möglich macht, ist ein weichliches Gebilde von weißgrauer Farbe. Es liegt zusammengeknäuelt wie ein unordentlich in einen Koffer gestopfter Teppich in unserer Schädelkapsel. Wie die Wasserkrone an der Spitze eines Springbrunnens, so hat es sich im Lauf der Stammesgeschichte am Ende des Rückenmarks entfaltet. Seine Anatomie ist verwickelt, doch lassen sich große, auch funktionell abgrenzbare Bereiche unterscheiden. 

Das obere Ende des Rückenmarks, das verlängerte Mark, wird überdacht vom Limbischen System, zu dem eine Reihe poetisch benannter Zonen gehören wie die »Mandel« (Amygdala, ein Teil des »Schlafgemachs« Thalamus), das »Seepferdchen« (Hippocampus) und der Hypothalamus. Hier werden Gefühle und Stimmungen gesteuert, im Hypothalamus ist der Sitz von Regulationszentren des vegetativen Systems, das dem Willen nicht zugängliche Körperfunktionen beeinflußt. Zwischen Hippocampus und Hypothalamus liegt die Hirnanhangdrüse, in der Hormone für Wachstum und individuelle Entwicklung entstehen. 

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Im Hinterkopf befindet sich ein faustförmiger Gehirnteil, das Kleinhirn oder Cerebellum. 

Es enthält die Regulationszentren für die Erhaltung des Gleichgewichts und ist für die Bewegungskoordination zuständig. Räumlich bei weitem beherrscht aber wird unsere Schädelkapsel von dem mächtigen Großhirn. Es wölbt sich über die anderen Hirnteile hinweg wie eine schützende Kuppel, es kontrolliert Denken und Bewußtsein, es enthält Zonen für das Hörvermögen und den Gesichtssinn, für Sprache, ästhetisches und Tastempfinden, für Musik, für die Erinnerung und alle höheren geistigen Funktionen, darunter Abstraktionsvermögen und analytisches Denken. Das Großhirn wird das »Meistergewebe« des menschlichen Körpers genannt. 

Seine Oberfläche erscheint gefurcht wie der Kern einer Walnuß. Ein tiefer, von vorn nach hinten ziehender Einschnitt teilt es in zwei Hälften: Die linke Hälfte ist für die rechte, die rechte Hälfte für die linke Körperseite zuständig, ein Kunstgriff, den zwei gekreuzte, zu- und ableitende Nervenbahnen fertigbringen. Obgleich anatomisch voneinander getrennt, können die beiden Hirnhemisphären über ein Bündel von Nervenfasern, das »corpus callosum«, Informationen austauschen und sich gewissermaßen gegenseitig über alle Probleme auf dem Laufenden halten.

 

Noch immer ist die Wissenschaft weit davon entfernt, alle Geheimnisse des Gehirns zu kennen — jenes merkwürdigen Gebildes in unserem Kopf, auf dessen Wirken alles zurückgeht, was der Mensch jemals war und was er jemals sein wird. Aristoteles sah im Gehirn noch eine Art Kühlsystem für das Blut. Das Denken schrieb er dem pochenden Herzen in der Brust zu. Erst in den letzten Jahrhunderten lichtete sich das teilweise von Tabus noch verdüsterte Bild jenes Organs, mit dem uns die Natur gleichermaßen über die Tiere erhoben, aber auch belastet hat.

Eine der erstaunlichsten Leistungen des Gehirns besteht darin, daß es eine äußerst detailreiche Wiedergabe der Außenwelt in unserem Bewußtsein ermöglicht. Das Bewußtwerden optischer, akustischer, geruchlicher, geschmacklicher und Tastempfindungen löst zahlreiche Gefühle und Wertungen aus, die wir verarbeiten, die wir erneut mit den Sinnesempfindungen vergleichen und an ihnen messen können.

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Dies wiederum führt zu Denkergebnissen, zu Urteilen. Die Vorgänge im Großhirn des Menschen repräsentieren damit die höchsten Bewußtseinsstufen in der belebten Natur überhaupt. Nach allen Erfahrungen erreicht kein anderes Lebewesen auf der Erde einen derartigen Grad psychischer Kompliziertheit wie der Mensch. Allerdings ist das Großhirn außerstande, unser Verhalten in jeder Situation zu kontrollieren. Die im Limbischem System entstehenden Urgefühle, das Urbewußtsein und die Triebregungen können zwar mehr oder weniger gesteuert werden — beherrscht werden können sie vom Großhirn jedoch nicht. 

Besonders drastisch beweist dies der Geschlechtstrieb.

Natürlich verdankt der Mensch dem Großhirn noch einiges mehr, darunter das Besondere seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung, seit seine Wege sich von denen der höheren Affen trennten. Während es bei Tieren und Pflanzen allein biologische Triebkräfte waren, die immer speziellere Anpassungsleistungen an die Umwelt möglich machten und die Artenvielfalt erzeugten, wirkte beim Menschen sowohl die biologische wie auch die kulturelle Evolution.

Das heißt: Im Gegensatz zu den Tieren blieb die menschliche Entwicklung nicht auf die klassischen Entwicklungsfaktoren der Stammesgeschichte — auf zufällige Erbänderungen und nachträgliche Auslese — beschränkt, sondern erhielt starke neue Impulse durch die Sprache, das geschriebene und gedruckte Wort und zahlreiche andere Kommunikationsmittel. Der Homo sapiens hat damit als einziges Wesen sowohl einen natürlich-biologischen als auch einen kulturellen Werdegang durchgemacht. Beide Vorgänge entsprechen sich. Sie setzten allerdings voraus, daß Mittel verfügbar waren und sind, die es erlauben, einmal bewährte Eigenschaften oder Erfahrungen auch beizubehalten und diese den nachfolgenden Generationen weiterzugeben.

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In der biologischen Evolution spielen die Rolle der Informationsüberträger die Nucleinsäuren in den Zellkernen. Diese Substanzen, voran die DNS, stellen gewissermaßen chemische Speicher für die Bau- und Funktionspläne der Lebewesen dar. Sie sind zur Selbstverdoppelung fähig, sie können ihren Informationsgehalt beliebig oft kopieren. Bei der Fortpflanzung wird die chemisch verschlüsselte »Nachricht« auf das neue Lebewesen übertragen, bei der Zellteilung von einer Zelle auf die andere.

In der kulturellen Evolution übernehmen Sprache, Schrift und andere Medien die Aufgabe der Informationsträger. Indem sie einmal gewonnene Erfahrungen, Ideen und Erkenntnisse festhalten, überdauern diese den Tod des einzelnen Menschen. So sind frühere Erkenntnisse auf Abruf immer wieder parat und bedarfsweise auch revidierbar, vor allem die Aufzeichnungen der Wissenschaft und die Wissenschaft selbst. Nach einem Satz Julian Huxleys ist die Wissenschaft ein System, das sich selbst korrigiert und ständig erweitert. Es zielt darauf ab, Erfahrungen zu einer Einheit zusammenzufassen. In dem ungeheuer weiten Raum der menschlichen Ignoranz schaffe die Wissenschaft kleine Bezirke geordneten Wissens. Das Flickwerk an Kenntnissen wachse, es könne miteinander verschmelzen, könne ein umfassenderes, aufschlußreicheres Bild ergeben.

Ähnlich geht es mit anderen kulturellen Tätigkeiten des Menschen. Kunst und Gesellschaftstheorien unterliegen ständiger Veränderung, ohne daß damit schon etwas über Gut oder Böse solcher Veränderungen gesagt wäre. Aber jede dieser Veränderungen kann auf frühere Erfahrungen und Erkenntnisse zurückgreifen. Man muß hier freilich das Wort »kann« betonen, denn oft genug in der Geschichte der Menschheit ist es geschehen, daß aus eben dieser Geschichte nichts gelernt worden ist.

Um zu dem zu werden, was das Menschenhirn heute ist, brauchte es mehrere Millionen Jahre. In dieser Zeit vollzog sich das, was die Lehrbücher die »Menschwerdung« oder den »Übergang vom Menschenaffen zum Menschen« nennen. Die entscheidenden Stationen dieses Weges haben zugleich der Gehirnentwicklung starke Impulse gegeben.

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Zu ihnen zählt besonders der Umstand, daß die äffischen Ahnen des Menschen lernten, aufrecht zu gehen. Möglicherweise veranlaßte der zurückweichende Wald in bestimmten Gebieten Afrikas die Vorgänger des Menschen immer öfter, von den Bäumen herabzusteigen und allmählich die Steppe als neuen Lebensraum zu besiedeln. Der aufrechte Gang erwies sich als Auslesevorteil, weil er einen besseren Überblick über das Gelände ermöglichte und damit die Vorwarnzeit bei der Annäherung von Feinden verlängerte; außerdem verbesserte er die Jagdchancen. Dies wiederum forderte geistige Leistungen heraus, denn die gewonnenen Vorteile wollten jetzt möglichst geschickt genutzt und sinnvoll ausgeschöpft werden.

Zweitens befreite der aufrechte Gang die Arme von ihrer bisherigen Aufgabe, bei der Fortbewegung zu helfen. Die Hände konnten nun auf ganz neue Weise gebraucht werden. Der aufrecht gehende Affe, Vorvater des Homo sapiens, begann Äste und Steine als Waffen und Werkzeuge zu benutzen. Er konnte Nahrungs­mittel und allerlei Gegenstände hin- und hertragen. Es ist klar, daß dabei diejenigen »Urmenschen« im Vorteil waren, die ihre Daumen möglichst weit abspreizen konnten. Sie bekamen die Dinge besser »in den Griff«, aber nicht nur das. Die schon bei den Affen gut ausgebildete Greifhand wurde noch vielseitiger. Im Gegensatz zu seinen äffischen Vorfahren mit ihren mehr anliegenden Daumen konnte der Urmensch Geräte und Werkzeuge auf unterschiedlichste Weise festhalten, sie bearbeiten und für verschiedene Zwecke benutzen. Unter der Regie des denkenden Hirns entstanden damals die ersten behauenen Steinwerkzeuge, die ersten zweckmäßig gestalteten Schlag- und Wurfwaffen.

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In jener Zeit war das Gehirn des Menschen noch klein. Nach Messungen von Schädelfunden betrug sein Volumen nur etwa 500 Kubikzentimeter. Vor wie vielen Jahren aber mag das gewesen sein? Nach neueren Indizien, die auf Ausgrabungsergebnisse des Paläontologen Richard E. F. Leakey vom National-Museum Kenia beruhen, könnte ein aufrecht gehender, zur Gattung Homo gehörender Urmensch schon vor zwei bis drei Millionen Jahren gemeinsam mit Menschenaffen auf der Erde gelebt haben. Bisherige Schätzungen gingen immer nur von 500.000 Jahren — dem mittleren Pleistozän — aus; sie müßten also revidiert werden. 

Dieser Aufrechtgeher besaß schon nicht mehr das große wehrhafte Kampfgebiß seiner Vorgänger, sondern kleinere Kiefer mit entsprechend schwächeren Eckzähnen. Den Beweis für ein derart frühes Auftreten des Menschen glaubt Leakey in 150 Knochenstückchen gefunden zu haben. Die Bruchstücke, die er im Jahre 1972 in der Nähe des ostafrikanischen Rudolf-Sees entdeckte, gehören zu einem einzigen Schädel und lagen in einer Sandschicht 35 Meter unterhalb von vulkanischem Gestein. Ihr Alter konnte mit Hilfe der Kohlenstoff-14-Methode auf 2,6 Millionen Jahre datiert werden. Leakey nimmt an, daß die Sandschicht, in der er die Knochen fand, 2,9 Millionen Jahre alt ist. Als er die Stücke zusammensetzte, ergab sich eine Hirnkapazität von 800 Kubik­zentimetern.

Das war einigermaßen überraschend. Denn obgleich der Fund mindestens eine Million Jahre älter ist als alle anderen der Gattung Homo, zeigt er, daß die Hirnentwicklung zu dieser frühen Zeit im Pleistozän offenbar schon recht fortgeschritten gewesen sein muß.

Wie immer sich nun das Dunkel um die Vorfahren des Menschen lichten wird, fest steht, daß das Gehirn seit der Zeit, da der Urmensch aufrecht gehen und seinen Daumen abspreizen lernte, eine bemerkenswert rasche Entwicklung durchgemacht hat. Die Nervenzellen vergrößerten und vermehrten sich. Die funktionelle Gliederung des Gehirns prägte sich deutlicher aus. Während in der Stammesgeschichte bis dahin neue Sinnesorgane und differenzierteres Verhalten erst möglich wurden, wenn ein höherer Komplikationsgrad oder eine ganz neue Konzeption des Nervensystems erreicht war, so genügte jetzt die bloße Zellvermehrung im Verein mit fortschreitender funktioneller Gliederung, um die sogenannten höheren geistigen Funktionen zu erlauben: Zunehmende Verschaltungs­möglichkeiten wurden zur Grundlage des Lernvermögens, der Fähigkeit zur Abstraktion und des planvollen Handelns. 

* (d-2015:) Richard Leakey bei detopia 

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Diese neuen Eigenschaften kamen also nicht zustande, weil mehr Sinnesreize empfangen wurden, sondern weil deren Verarbeitung nun intensiver verlief. Wir stehen damit an dem historischen Punkt, an dem die kulturelle Evolution des Menschen einsetzte. Denn mit der Größenzunahme vor allem des Stirnhirns erwarb der Frühmensch auch die Sprache als mächtigen stammesgeschichtlichen Katalysator, der die ganze folgende Entwicklung bestimmte und beschleunigte. Schon von den Vorgängern des Menschen auf der Erde, den höheren Menschenaffen, ist bekannt, daß sie eine ausgeprägte Gebärden­sprache besaßen. 

Mimik und Gestik ergaben zusammen mit charakteristischen Lauten eine primitive Verständigungsform, die ausreichte, um ein wenn auch bescheidenes Repertoire von Wünschen, Gefühlen, Absichten und Stimmungen auszudrücken. Mit der »Menschwerdung« erhielt dann vor allem der akustische Bereich neue Impulse. Urlaute entstanden, die zunächst kaum mehr als ein unartikuliertes Lallen waren, wie wir es von Kleinkindern heute noch hören. Zum Unterschied von denen der Menschenaffen müssen diese Laute beim Urmenschen jedoch schon mehr »Bedeutung«, mehr konkreten Inhalt gehabt haben. Und weil alle Wesen, die sich akustisch verständigen können, die Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt besser bestehen, erhielten sie auch größere Überlebens- und damit Fortpflanzungschancen.

Sprachfähigkeit wurde also bevorzugt vererbt. Sie blieb erhalten und entwickelte sich. Sogar der aufrechte Gang trug dazu bei, weil der Kopf rein mechanisch jetzt besser abgestützt, das heißt statisch vorteilhafter gehalten wurde, was wiederum der Entwicklung des Hirnschädels entgegenkam. Immer stärker bildete sich dabei der untere Stirnlappen als Sitz des motorischen Sprachzentrums heraus. Schließlich betraf der Entwicklungsschub auch die Organe der Sprachbildung in Rachen und Mund, die sich zur Formung artikulierter Laute zunehmend spezialisierten.

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Der Vorzug, den schon die Ursprache besaß, bestand darin, daß Erfahrungen von nun an nicht mehr nur durch Nachahmung des elterlichen Verhaltens durch die Kinder übertragen zu werden brauchten, sondern dafür jetzt ein zusätzliches, rasch verbessertes akustisches Mittel zur Verfügung stand. Mit seiner Hilfe konnten Erkenntnisse in der Werkzeugherstellung, im Waffengebrauch, bei der Jagd und im Verhalten »von Mensch zu Mensch« viel ausführlicher und nachhaltiger an die Nachkommen weitergegeben werden. 

Wie stark der entwicklungsgeschichtliche Impuls, wie groß der Selektionsdruck dieser Errungenschaft gewesen sein muß, das erweist die schnelle Zunahme der Hirnkapazität im Lauf des Pleistozäns. Man kann diese Vergrößerung kaum anders deuten als eine Folge immer neu geforderter Hirnleistungen im Zusammenhang mit der Sprachentwicklung.

Wenn die Kinder sich im täglichen Leben jetzt so und nicht anders verhielten, so wußten sie, warum. Die Alten hatten es ihnen »erklärt«. So blieben sie eher davor bewahrt, etwas falsch zu machen. Sie lebten auch im Durchschnitt länger, weil sie den tödlichen Gefahren des Lebens besser entgehen konnten. Und je länger sie lebten, um so mehr Gelegenheit hatten sie, ihre eigenen Erfahrungen denen ihrer Eltern hinzuzufügen und alles wiederum ihren eigenen Kindern mitzuteilen. Zweckmäßiges Verhalten mehrte sich. Und immer war das Gehirn beteiligt, das wuchs und wuchs, und mit dessen Wachsen auch der Informations­speicher für Erfahrungen aller Art an Umfang zunahm. So hatte der Heidelberger Mensch (Unterkiefer von Mauer) vor schätzungsweise 500.000 Jahren schon ein Hirnvolumen von 1000 Kubikzentimetern — zwei Drittel der Hirnkapazität des heutigen Menschen. 

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Damit hat er zweifellos weit bessere, kompliziertere und vielseitiger funktionierende Verschaltungsmöglichkeiten seiner Nervenzellen gehabt als seine Vorgänger im Pliozän und Miozän, die Australopithecinen und Ramapithecinen. Vor allem das Vorausdenken, der Entschluß zu einer Tat nach vorherigem Abwägen der Folgen — diese Leistung des Gehirns muß die Frühmenschen gegenüber den Urmenschen ausgezeichnet und ihnen weitere Überlebensvorteile verschafft haben.

Auch die Steinwerkzeug-Funde des »Heidelbergers« bestätigen das. Es sind Schaber, Kratzer und Stichel, auch Faustkeile verschiedener Form, die durch teilweise mehr als dreißig Zuschläge mit Schlagsteinen geschärft, gespitzt, hand- und griffgerecht geformt worden sind und sogar verstumpfte Griffpartien zur Schonung der Finger und der Handinnenflächen aufweisen. Wer solche Werkzeuge jemals gesehen hat, bekommt eine Vorstellung von dem handwerklich-technischen Stand der Frühmenschen jener Zeit. Es scheint undenkbar, daß der »Heidelberger« mit ihnen nur Äste abgeschlagen und entrindet, Knochen zertrümmert oder Baumlanzen zugespitzt hat. Alles deutet vielmehr auf die Fähigkeit zu wesentlich feineren Arbeiten, für die schon so etwas wie »Finger­spitzen­gefühl« notwendig war.

Stellt man gegenüber, was das menschliche Gehirn dem der höheren Affen voraus hat, so imponiert vor allem die Zahl der Nervenzellen. Während ihre Gesamtzahl beim Schimpansen nicht über sieben Milliarden hinausgeht, wuchs sie beim Frühmenschen rasch bis zum Stadium des Neandertalers an, der etwa 14 Milliarden gehabt haben dürfte. Seither hat sich ihre Zahl nicht mehr wesentlich vermehrt. Ebensowenig dürfte sich die funktionelle Gliederung des Gehirns und seine potentielle Leistungsfähigkeit seit den Tagen des Neandertalers noch grundlegend verändert haben. Auch seinen Größenzuwachs hat das Gehirn seit der Zeit des Neandertalers eingestellt. 

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Warum der Mensch auf dem Wege zu mehr »Menschlichkeit« und Verhaltensklugheit hier stehenblieb, ist ungeklärt, wenn es auch erstaunlich bleibt, daß wir Heutigen unser kompliziert gewordenes Leben zwischen Computern und Automation, Streß, Freizeitproblemen und Weltraumfahrt mit dem gleichen Schädel­inhalt führen wie der Mann mit dem Knüppel und dem Faustkeil vor 100.000 Jahren.

Ein Neandertaler könnte heute in einem modernen Betrieb arbeiten, er könnte Vorarbeiter, gegebenenfalls Abteilungsleiter werden. Seine Hirnkapazität würde ihn sogar für Aufgaben in der Forschung qualifizieren. Wenn er die modernen Lernmethoden anwendete und fleißig und begabt wäre, könnte er unter Umständen den Nobelpreis erringen. Umgekehrt könnte der heutige Mensch schwerlich mit den rauhen Lebensbedingungen jener Zeit vor 100.000 Jahren fertig werden, in der die Neandertaler lebten — dazu wären wir viel zu verwöhnt und verweichlicht.

 

Vielleicht ist das »Stehenbleiben« der Gehirnentwicklung mitverursacht worden von der allmählichen Vergrößerung der jeweils zusammenlebenden Gruppen und Gemeinschaften. 

Die Vermutung ginge dahin: Je größer solch ein Clan wurde, um so weniger hatten die Anführer mit ihren hervorragenden Erbanlagen Gelegenheit, sich erbbiologisch zu »verewigen«, indem sie die meisten Nachkommen zeugten. Das schwächte den Selektionsdruck ab. Und dieser Trend verstärkte sich möglicherweise bis in unsere Zeit hinein. »Die soziale Struktur unserer zeitgenössischen Gesellschaft«, betont der amerikanische Zoologe Ernst Mayr, »belohnt Überlegenheit nicht länger mit Fortpflanzungserfolg«.

Was für die Zahl der Nervenzellen gilt, trifft auch für die Oberflächen der Gehirne zu. Dank dem Windungsreichtum der beiden Großhirnhemisphären kommt der Mensch auf 840 Quadratzentimeter, der Schimpanse bei gleicher Stärke der Hirnrindenschicht als Trägerin der Nervenzellen nur auf 280. Der Mensch verfügt über das dreifache Volumen an Großhirnrinde gegenüber dem höchstentwickelten Menschenaffen, trotzdem ist die Zahl der menschlichen Nervenzellen mit rund 14 Milliarden nur etwa doppelt so groß.

Wie kommt das? 

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Es erklärt sich daraus, daß die einzelne Nervenzelle des Menschen wesentlich größer ist als die des Schimpansen. Das hat den Vorteil, daß sehr viel mehr Verschaltungs­möglichkeiten bestehen, also mehr Querverbindungen im menschlichen Hirn herzustellen sind als beim Schimpansen. Denn je größer der Zellkörper, um so mehr Kontaktpunkte (Synapsen) zwischen den Nervenfortsätzen können auf der Zelloberfläche installiert werden, um so dichter kann dementsprechend das Nervennetz als Ganzes werden.

Geht man von nur 10 Milliarden Nervenzellen beim Menschen aus, so beträgt die Zahl der Verschaltungsmöglichkeiten rund zehn hoch dreißig, was einer Quinquillion entspricht. Eine Quinquillion sind eine Million Quadrillionen, eine Quadrillion schreibt sich als eins mit vierundzwanzig Nullen. Wenn man annimmt, daß der Schimpanse rund sieben Milliarden Nervenzellen besitzt, so verringern sich die Schaltmöglichkeiten degressiv auf 1000 Billionen (eins mit 15 Nullen).

Mit den viel zahlreicheren Verschaltungsmöglichkeiten beim Menschen sind die Unterschiede zwischen seinem und dem Schimpansengehirn freilich noch nicht erschöpft. So hat sich beim Menschen das Stirnhirn besonders stark entwickelt, ohne daß dies einen direkten Bezug auf bestimmte Sinnesorgane gehabt oder eine bessere Koordination der Körperbewegungen ermöglicht hätte. Im Stirnhirn des Menschen sind Denken und Charaktereigenschaften »untergebracht«. Es ist der »Sitz der Persönlichkeit«. Wird das Stirnhirn verletzt oder durch eine Krankheit auch nur teilweise betroffen, so macht sich der Schaden in zuweilen schweren Charakterveränderungen bemerkbar. Wie zahlreiche Krankengeschichten bezeugen, verändert sich das sittliche Verhalten des Betroffenen, wenn die unteren, zum Schädelgrund hin gelegenen Teile dieser Region gestört sind. In unmittelbarer Nachbarschaft liegt das Sprachfeld, und so verwundert es nicht, wenn Patienten mit Hirnschäden an diesen Partien gelegentlich zu anstößigen Reden neigen.

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Im hinteren Teil der Zentralregion des Stirnhirns — dem sogenannten Scheitelhirn — werden Nervenimpulse bewußt, die sowohl aus der Außenwelt als auch aus dem Körper kommen können. Es wird vermutet — Genaues weiß man allerdings noch nicht—, daß hier auch seelische Erlebnisse verarbeitet und ausgewertet werden. Auch dies ist eine »neue Errungenschaft«. Im Stirnhirn haben wir denjenigen Teil des menschlichen Großhirns vor uns, dem unsere kritische Aufmerksamkeit weiter gelten muß. Denn in ihm sind jene Entscheidungen gefällt worden und werden weiter gefällt, die das Überleben des Menschen auf der Erde zunehmend problematischer machen.

Warum sich der Mensch letzten Endes über seine stammesgeschichtlichen Vorfahren »erhoben« hat, wie er selbstbewußt erklärt, darüber läßt sich nur etwas aussagen, wenn man die Umweltbedingungen zur Zeit der entscheidenden Entwicklungsschritte vor drei oder vier Millionen Jahren einigermaßen verläßlich rekonstruieren kann. Auf den Waldschwund und seine Folgen haben wir schon hingewiesen. Er könnte im zentralen Afrika die baumlebenden Menschenaffen immer öfter gezwungen haben, den Boden aufzusuchen. Das war durchaus nicht ungefährlich. Wohl hatten die in der Steppe noch unerfahrenen »Urmenschen« durch ihren aufrechten Gang und den allmählich besser abspreizbaren Daumen manchen Vorteil, aber sie mußten auch Nachteile in Kauf nehmen. 

Der neu besetzte Lebensraum hatte seine Tücken. Vorbei war es hier mit der Sicherheit und Geborgenheit der schutzbietenden Bäume. Vor allem waren die Neuland-Eroberer keineswegs so schnell und so wehrhaft wie die schon lange ans Steppenleben angepaßten Raubtiere. Zum Ausgleich besaßen sie nur ihr Gehirn und damit eine wenn auch bescheidene geistige Überlegenheit. 

Diese Überlegenheit mußte alle anderen Nachteile wettmachen, und der noch dicht behaarte Urmensch war gezwungen, seinen Vorteil nach Kräften zu nutzen. Das äußerte sich in der Errichtung wetterfester Unterschlupfe, die auch gegen Raubzeug Schutz boten, im Werkzeug- und Waffenherstellen, wofür primitive Steinwerkzeuge, die sogenannten <pebble-tools>, Hinweise liefern, und natürlich in ersten Sprechversuchen. Trotzdem muß die Sterblichkeit unter den ersten Vertretern unserer Gattung noch groß und ihre zahlenmäßige Zunahme entsprechend gering gewesen sein.

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Tiefgreifend muß zu dieser Zeit der Menschengeschichte auch der klimatische Unterschied zwischen dem feuchtwarmen, schattigen Wald und der trockenen, heißen Steppe auf die Entwicklung eingewirkt haben. Als die Vorfahren des Menschen den Wald verließen, dürfte ihnen ihr dichtes Haarkleid in der heißen Steppe außerordentlich lästig gewesen sein. Diejenigen, deren Behaarung als Folge einer Erbanlage unterentwickelt war, werden sich daher wohler gefühlt haben. Sie werden beweglicher, aktiver gewesen und überhaupt besser zurechtgekommen sein als die in ihren dichten Fellen schwitzenden Stammesgenossen. So werden sie auch größere Fortpflanzungschancen gehabt haben als jene und konnten dazu beitragen, das Merkmal »dichtes Haarkleid« allmählich verschwinden zu lassen.

Es gibt aber noch zwei andere Gründe, aus denen die Körperbehaarung zurückgegangen sein könnte. 

Der eine ist die Transpiration als Mittel, den Körper zu kühlen. Überall dort, wo Wasser verdunstet, entsteht Kälte — Verdunstungskälte. Wer eine Flasche Bier am heißen Badestrand kühlen will, wickelt sie am besten in ein feuchtes Tuch ein und hängt sie in die Sonne; der Erfolg ist verblüffend. Auch der Körper macht sich die Transpirationsfähigkeit seiner Haut zunutze, wenn es heiß ist und er Kühlung braucht: die Haut dient ihm als Klimaanlage. Und natürlich ist der kühlende Effekt der Transpiration auf einer haarlosen Haut viel größer als auf einer, die von einem dichten Fell überzogen ist. Das spüren auch unsere Hunde. Wenn sie stark erhitzt sind, hecheln sie mit offener Schnauze: Zunge und Mundschleimhaut müssen den Kühlungseffekt erzeugen, den die Haut wegen des dichten Felles allein nicht schafft.

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Beim Menschen jener frühen Zeiten hatten es also die weniger Behaarten leichter, der Hitze in ihrer neu gewonnenen ökologischen Nische zu widerstehen. So erhielt die allmählich sich durchsetzende Haarlosigkeit auch von dieser Seite her positiven Auslesewert.

Die zweite Überlegung, die wir anstellen müssen, liegt im sexuellen Bereich. Wie jeder weiß, ist die Haut ein außerordentlich sensibles Sinnesorgan. Sie signalisiert dem Gehirn nicht nur Tastempfindungen und feine Temperaturveränderungen als Orientierungshilfen, sondern vermittelt auch starke erotische Reize beim Liebesspiel. Und je weniger Haare den hautnahen Kontakt der Liebespartner stören, um so intensiver ist der Berührungsreiz, um so sicherer wird das biologische Ziel des Liebesspiels — der Geschlechtsakt — erreicht.

Bereits in dieser frühen Phase der Menschheitsentwicklung — vielleicht als ungewolltes Nebenprodukt der Kühlungsfunktion — wurde also ein entscheidender Anstoß zur wachsenden Sexualisierung des Menschen gegeben. Mit dem schwindenden Haarkleid steigerte sich die Sinneslust, wuchs die Begehrlichkeit der Geschlechter untereinander. Der »nackte Affe« erwarb seine Nacktheit zwar als Folge seiner Emanzipation vom Urwaldleben, aber er erwarb mit ihr auch eine risikoreiche Zeitbombe: Seine wachsende und, wie wir noch sehen werden, permanente Geschlechtslust, die ihm ein paar Millionen Jahre später so verhängnisvoll zu schaffen machen sollte.

Im Zusammenhang mit der Beziehung der Geschlechter, aber auch der Stammesmitglieder untereinander stellt sich weiterhin die Frage, wie eigentlich der Altruismus, das uneigennützige Verhalten zustandegekommen ist.

Wir sehen im Altruismus gern einen ausgesprochen menschlichen, einen »humanen« Zug, eine besonders qualifizierte Leistung des Gehirns. Wie aber konnten »edle, hilfreiche und gute« Menschen entstehen, wenn nach dem Naturgesetz derjenige höhere Überlebenschancen hatte, der dem anderen den Schädel einschlug?

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Schon Darwin hatte dieses Problem erkannt, aber noch keine rechte Antwort darauf gewußt. Heute meinen wir, die Lösung des Rätsels gefunden zu haben: Man muß wohl davon ausgehen, daß die Ur- und später die Frühmenschen in kleinen Gemeinschaften lebten, daß sie in kleinen Trupps, in Familien­verbänden, in Horden jagten und wohnten. Wenn nun zwei solcher Verbände gegeneinander konkurrierten und die Mitglieder in dem einen mehr als in dem anderen Verband bereit waren, einem in Not geratenen Gefährten beizustehen, ihn bei Gefahr zu warnen oder ihm zu helfen, wenn er verletzt war, so hatte dieser Verband insgesamt einen Nutzen davon, weil es weniger Ausfälle gab. Das schlug sich in größerer Kampfkraft und größeren Überlebenschancen — sprich Auslesevorteilen — gegenüber Verbänden mit weniger erblich hilfsbereiten Mitgliedern nieder. Diese Gruppen fielen leichter auseinander, die Versprengten kamen eher ums Leben und schieden damit vorzeitig von der Weitergabe ihrer Erbanlagen aus. 

Man kann folgern: Die Erbeigenschaft »Altruismus« — wie kompliziert sie genetisch auch verankert sein mag — bedeutete einen Vorzug, solange es Gemein­schaften gab, die möglichst zahlreich sein mußten und deren Mitglieder auf gegenseitige Hilfe angewiesen waren. Heute bedeuten zu viele Menschen eher eine Belastung der Umwelt, in der und von der sie leben.

Gefördert hat die Entwicklung zum Menschen auch eine schon vom Menschenaffen her bekannte Eigenschaft, die der Frühmensch zügig fortentwickelte: die Sorge um die Kinder, der Brutpflege-Instinkt. Überall dort in der Natur, wo die Brutpflege fehlt oder nur schwach ausgeprägt ist, müssen die Tiere mit hohen Ausfällen durch »Feindeinwirkung« oder Krankheiten rechnen, und sie müssen dieser Gefahr begegnen. Ein probates Mittel dafür sind hohe Nachkommen­zahlen: Wo viele Kinder sind, ist in gefahrenreicher Umwelt die Chance größer, daß wenigstens einige durchkommen. 

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Beim »Nesthocker« Mensch, wo die Zunahme der Hirngröße mit der Verlängerung der Kindheitsphase einherging, stellte sich ein Rückkoppelungseffekt ein: Je intensiver die Eigenschaft zur Behütung der Nachkommenschaft ausgeprägt war, um so länger wurden die Kinder gepflegt und beschützt, um so größer wurden ihre Chancen, zu überleben. Auch der menschliche Brutpflege-Instinkt wirkte sich damit als Selektionsdruck zur Weiterentwicklung des Gehirns aus.

Noch heute, wenn auch in anderer Weise als einst, unterliegt der Mensch und mit ihm das Großhirn der natürlichen Selektion. Das läßt sich leicht belegen. Überall dort in der Welt, wo Hungersnöte oder Epidemien auftreten, sterben zuerst die körperlich Schwachen und die geistig Zurückgebliebenen, soweit sie nicht in der Obhut hilfreicher Menschen leben. Im allgemeinen macht es die wachsende Kompliziertheit unseres Lebens denjenigen leichter zu überleben, deren Verstand vielseitig trainiert ist und deren Intelligenz, deren Fähigkeit, sich in ungewohnten Situationen rasch zurechtzufinden, hochentwickelt ist. 

Hinzu kommen die Vielfalt unserer Informationsmöglichkeiten und die wachsende Zahl unserer Kommunikationsmittel — lauter Einflüsse und Chancen, die den geistig regen, den logisch denkenden, den agilen Typ begünstigen und ihm Vorteile verschaffen. Ob sich diese Vorteile jedoch auch heute noch immer in größeren Nachkommenzahlen auswirken, ist freilich eine andere Frage. Was dem individuellen Leben zugute kommt, muß nicht in jedem Falle gleich­bedeutend sein mit einem Vorteil für die Spezies Mensch.

Insofern ist das Problem heute komplizierter geworden. Auch gibt es einen Sachverhalt, der die natürliche Auslese gerade in diesem Punkt ins Gegenteil verkehrt. Er liegt darin, daß in der zivilisierten Welt weithin auch derjenige vor Risiken bewahrt und vor Krankheit und Unfall geschützt bleibt, dessen körperliche und geistige Gaben zur Selbstbehauptung nicht ausreichen. Seine Artgenossen, die zahlreichen Vorsorge- und Fürsorge-Einrichtungen behüten ihn davor; ja, sie ermuntern ihn sogar noch, möglichst viele Kinder zu zeugen.

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Manche Staaten bieten durch steuerliche Erleichterungen und Kindergelder einen Anreiz gerade für die sozial Schwachen, durch möglichst viele Kinder ihr Einkommen aufzubessern. In Berlin spricht man vom »Abkindern« jener Unterstützungsgelder, die junge Ehepaare dort zum Existenzaufbau erhalten und auf deren Rückzahlung um so weitgehender verzichtet wird, je mehr Kinder die Betreffenden in die Welt setzen.

Was hier schon deutlich wird, muß uns später noch beschäftigen. 

Es ist der Tatbestand, daß der Mensch die natürliche Auslese entschärft, ja sie in mancher Hinsicht abgeschafft und sogar ins Gegenteil verkehrt hat. Und das zu einer Zeit, da unser Gehirn nicht mehr wächst, da seine anatomisch-physiologischen Möglichkeiten offenbar erschöpft sind, da es keine neuen Rindengebiete mehr bilden und die vorhandenen nicht mehr für die Lösung unserer Probleme aktivieren kann.

Solange das Großhirn des Menschen noch wuchs, fand indessen eine bemerkenswerte andere Entwicklung statt. Versetzen wir uns einmal in die Lage der frühmenschlichen, Waffen und Geräte bastelnden Steppenbewohner. Da es weder Waffenscheine noch Polizei gab, konnte jeder auf eigenes Risiko um sich schlagen. Das wird nun zweifellos nicht übermäßig geschehen sein, denn schon damals werden die Mitglieder einer Horde erfahren haben, daß Gewaltakte Vergeltungs­gelüste wecken und mit dem gegenseitigen Umbringen am Ende niemandem gedient war.

Statt dessen erlebten sie, profan gesagt, »ein ganz neues Mordgefühl«. Die Besonderheit dieses Gefühls lag im Töten mit der Waffe. Der Knüppel in der Hand — vielleicht ein Stock mit einem Stein an der Spitze — verstärkte die Armkraft. Mit seiner Hilfe ließ sich mehr Wucht beim Zuschlagen entfalten als mit der bloßen Faust. Das bedeutete unter Umständen den blitzschnellen Tod des Opfers. 

Und hier stehen wir vor einem bedeutenden moralischen Aspekt.

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Von den Scheinkämpfen unter Artgenossen im Tierreich ist bekannt, daß sie im allgemeinen ein unblutiges Kräftemessen darstellen. Diese Kämpfe zielen nicht auf den Tod des Nebenbuhlers ab, sondern sollen den anderen nur einschüchtern, sollen ihn in seine Schranken verweisen. Der Scheinkampf ist vorüber, wenn der Rivale das Feld räumt oder eine Unterwerfungsgeste macht. Beim Sieger, das wissen wir von den Verhaltensforschern, setzt dann die Tötungshemmung ein. Die »heilige Scheu« davor, den anderen umzubringen, hat es gewiß auch unter den höchsten Menschenaffen in der Zeit der »Menschwerdung« gegeben, und der Urmensch in der Steppe wird keine Ausnahme gewesen sein.

Mit dem Waffengebrauch entstand jedoch für den Kämpfer eine veränderte Situation. Die Waffe bot ihm die Flucht in die Anonymität einer psychischen Verfassung, in der das Töten zu einem fast beiläufigen, wegen der Augenblicklichkeit des Geschehens kaum noch belastenden Akt wurde. Die Möglichkeit, blitzschnell zu töten, schwächte die Tötungshemmung ab, sie drängte die Scheu vor der Vernichtung artgleichen oder fremden Lebens zurück. 

So wurde vielleicht schon hier der Keim zu jener Unbekümmertheit des Umbringens von Artgenossen gelegt, dessen vorläufigen Höhepunkt die Welt am 6. August 1945 erlebte. An jenem Tage löste der Major Thomas W. Ferebee als Bombenschütze einer amerikanischen Superfestung* um 8.15 Uhr Ortszeit die erste Atombombe über Hiroshima durch einen Knopfdruck aus und beförderte mit dieser unverbindlichen Handbewegung mehr als 78.000 Menschen augenblicklich in den Tod.

Nicht weit entfernt von dem Phänomen der Leichtigkeit, mit der massenhaftes, blitzschnelles Töten von der Hand gehen kann, ist der eigenartige Umstand, daß wir menschliche Tragödien um so weniger tragisch nehmen, je mehr Opfer von ihnen betroffen sind. Etwas in unserem Gehirn muß da ein paradoxes Spiel treiben: 

* (d-2013)  Das ist ein Flugzeug. 

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Wenn eine Gangesfähre mit 150 Menschen kentert und 80 Passagiere dabei ertrinken, so bedauern wir dies zwar für einige Augenblicke, doch erregt es uns nicht länger. Aber es erweckt unser Mitleid, wenn ein kleines Mädchen zur Herzoperation in die USA geflogen wird und dort unter dem Messer eines berühmten Chirurgen stirbt. Seelenschmerzen über ein tragisches Geschehnis summieren sich nicht mit der Zahl der auslösenden Ursachen, sie verringern sich eher. Das vielfache Leid ungezählter KZ-Häftlinge kann unser Gehirn nicht mehr nachvollziehen, weil es von der großen Zahl überfordert wird. Das Einzelschicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank, das jahrelang vor seinen Nazi-Häschern verborgen lebte, um schließlich doch noch entdeckt zu werden, rührt uns dagegen.

Man hat unser Gehirn den größten noch unerforschten Kontinent der Erde genannt. Daran ist sicher viel Wahres. Wie das Gehirn arbeitet, wie bewußtes und unbewußtes Erleben zustande kommen, weiß noch niemand genau. Nur ganz allmählich dringen wir in das unbekannte Land vor, ohne zu wissen, welche Abenteuer wir noch erleben werden. Das Problem ist: Wir bemühen uns hier um etwas ganz anderes als der Uhrmacher, der das Räderwerk eines Weckers untersucht. Denn wir wollen die Geheimnisse eines Geschehens mit einem Instrument enträtseln, das selbst das Objekt, das Ziel dieses Suchens ist. 

Mit dem Gehirn wollen wir das Gehirn erforschen — kann das gelingen? Müssen wir nicht fürchten, an absolute Grenzen zu stoßen und immer dann zu scheitern, wenn das geistige Instrumentarium der großen grauen Schaltzentrale in unserem Kopf in die Intimsphäre seiner selbst eindringt? Wenn das Beobachtete zugleich das Beobachtende ist: Verändern sich dann nicht die Bedingungen, unter denen noch verläßliche Schlüsse zu ziehen und brauchbare Erkenntnisse zu gewinnen sind? Es gibt einen Grundsatz der Informationstheorie, wonach zur Analyse eines Systems immer ein System von wesentlich höherem Komplikationsgrad notwendig ist. Wann werden wir die Wahrheit dieses Satzes spüren?

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Freilich: Für unser Problem mag es auf einen allzu intimen Einblick in die Prozesse im Gehirn gar nicht ankommen. Wir können uns mit der Feststellung begnügen, daß alles Geistige, alles, was uns bewußt ist, auch eine materielle und eine elektrochemische Entsprechung im Gehirn hat und daß es qualitativ verschiedene elektrochemische Vorgänge sein müssen, je nachdem, ob wir Lust empfinden oder Schmerz, ob wir eine Zahlenkolonne addieren oder der Musik Duke Ellingtons lauschen.

Immerhin ist die Hirnforschung bis zu solchen Grenzfragen erstaunlich erfolgreich gewesen. Was wir über das Gehirn wissen, füllt lange Regale wissen­schaft­licher Bibliotheken. Es ist ein Wissen, das rasch wächst, weil immer neue Erkenntnisse hinzugewonnen werden. Zu ihnen gehört, daß Gefühle und Stimmungen, Angriffslust und Sanftmut eines Menschen auch durch elektrische Reizung bestimmter Hirnzonen ausgelöst werden, daß wir im Schlaf lernen können und bestimmte Formen des Wissens sich durch Injektion übertragen lassen.

Was das bewußte Erleben so schwer verstehbar macht, ist seine Unanschaulichkeit. Man kann unser Denken und Fühlen nicht herauspräparieren wie einen Blinddarm, nicht greifen wie einen Körper. Und doch kann es uns in Räume entführen, die weit entfernt sind von dem Ort, an dem wir uns gerade befinden. Es verhilft uns zur Erinnerung an Zeiten und Vorgänge, die längst vergessen schienen. Es läßt uns mit Hilfe der Phantasie Zukünftiges ausmalen. 

Aber was ist das Bewußtsein? 

Es ist das Phänomen, sagen die Psychologen, daß wir wissen, was in uns und um uns herum vorgeht, daß wir nicht nur das Dasein einer komplizierten Maschine führen. Man kann diesen Sachverhalt schwer näher beschreiben, man muß einfach voraussetzen, daß jeder versteht, was gemeint ist. Eine neue Dimension der Lebensvorgänge offenbart sich da im Unterschied zur toten Existenz eines Steins oder auch — wie wir annehmen — zum Innenleben einer Gartenschnecke.

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Das Bewußtsein ist es, mit dessen Hilfe wir geistige Leistungen vollbringen und Gefühle erleben, die Liebe und den Haß, die Enttäuschung, die Aggression und das Leid. All das gibt es in der Welt der Atome und Moleküle nicht — wenngleich hier vor raschen Schlüssen gewarnt sei. Vielleicht dürfen wir nicht ausschließen, daß die Moleküle oder ihre sich wandelnden elektrischen Zustände doch ein wenig teilhaben am Zustandekommen des Bewußtseins. Soviel jedenfalls ist gewiß: Gefühle und bewußtes Erleben sind weder wägbar noch meßbar. Man kann sie nicht quantifizieren oder in Formeln ausdrücken. Wir stehen vor einer neuen Kategorie, einer einzigartigen Naturerscheinung.

Erstaunlich auch, daß wir »richtig« denken können. »Richtig«: das heißt so, wie die Gesetze der Logik es verlangen. Diese Gesetze sind so beschaffen, daß ihnen Natur­zusammenhänge entsprechen und dank ihrer verständlich werden, Zusammenhänge, deren Leugnung schlechterdings nicht möglich ist, es sei denn wir weigerten uns anzuerkennen, daß zwei mal zwei vier sei. 

Welche Vorgänge im Gehirn für das richtige Denken verantwortlich sind, ist vorerst noch rätselhaft. Naheliegend scheint, daß sich die Fähigkeit zum logischen Denken im Lauf der Stammesgeschichte als Auslesevorteil erwiesen hat: Individuen mit der Erbeigenschaft zu folgerichtigem Handeln hatten höhere Überlebenschancen und damit auch bessere Fortpflanzungsmöglichkeiten, weil sie erfolgreicher waren. Richtiges, durch Erfolge belohntes Denken war ein Vorteil beim Zurechtfinden, beim Bewältigen schwieriger Situationen in einer nicht unbedingt lebensfreundlichen Umwelt, deren Probleme erkannt und gelöst werden mußten.

Richtiges Denken aber leidet, wenn das Gehirn beschädigt wird. In solchen Fällen ist der Bewußtseinszustand gestört. Es macht sich — manchmal allerdings nur für den gesunden Beobachter, nicht für den Betroffenen selbst — in verworrenen Reden bemerkbar, in Bewußtseinstrübungen oder in unseren Gefühlen, die dann ein Fall für den Psychiater werden. Gedächtnisausfälle, Ohnmächten, bestimmte psychische Veränderungen bei anatomischen Veränderungen im Gehirn — all das sind Indizien dafür, wie unser geistig-seelisches Erleben abhängt von der Beschaffenheit jenes vielbewunderten, geheimnisvollen und auch unberechenbaren »Meistergewebes«.

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Wenn man davon ausgeht, daß das Gehirn durch die Aufnahme und die Beantwortung von Sinnesreizen seinen Trägern ursprünglich größere Überlebens­chancen verschaffen sollte und auch verschafft hat, so bleibt rätselhaft, warum wir mit ihm auch Leistungen vollbringen können, die gar nicht im Dienst dieses Überlebens stehen: daß wir beispielsweise abstrakt zu denken vermögen und Probleme angehen können, deren Lösung Überlebensvorteile zumindest nicht ohne weiteres erkennen lassen. Die Notwendigkeit für abstrakte Denktätigkeit bestand in der Vergangenheit des Menschengeschlechts offenbar nicht. Daß in einem Planquadrat des Sternhimmels ein sogenanntes Schwarzes Loch auftritt, daß es eine vierte Dimension gibt und der Mond sein Licht von der Sonne empfängt — derlei Wissen bedeutete wenig Hilfe, wenn es darum ging, den auf den Kopf gezielten Keulenschlag eines Angreifers abzuwehren.

Erst mit der Sprachentwicklung und der beginnenden kulturellen Evolution fiel die Fähigkeit zu abstrakten Denkspielen gewissermaßen als Nebenprodukt an. Inzwischen hat dieser Luxus der Natur vielleicht sogar positiven Auslesewert erhalten, weil einer, der viel weiß, der über Psychologie, Sterne und Atome diskutieren kann, nicht nur als kluger Kopf oder unterhaltsamer Mensch geschätzt wird, sondern einem Teil des anderen Geschlechts auch besonders imponiert und auf diese Weise größere Heiratschancen bekommt. Womit dann freilich noch nicht gesagt ist, daß er dem Partner, den sein Wissen beeindruckt hat, auch viele Kinder beschert.

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Was bleibt, sind die Fragen: Ist unser Gehirn überdimensioniert? 

Stecken Möglichkeiten in ihm, die wir nur nutzen, weil sie nun einmal vorhanden sind, nicht aber, weil wir sie zum Überleben brauchen? Und entsteht aus der Nutzung dieser überschüssigen Möglichkeiten des Gehirns am Ende auch jenes weltweite existentielle Problem, das wir Menschen heute vergeblich zu lösen versuchen? Wenn diese Vermutung zutrifft, dann ließe sich das menschliche Gehirn aufgrund vorhandener Möglichkeiten, die im Laufe der Stammesgeschichte entstanden sind, zu Aktionen verleiten, deren Folgen es nicht mehr bewältigen kann.

Denn unbegrenzt ist die »überschüssige Kapazität« des Gehirns nun auch nicht. Seine Geistesakrobatik, die Denk- und Kombinationsmöglichkeiten sind beschränkt, daran ändern auch die Rechengenies und die Schachmeister nichts, die schon als Kinder zahlreiche Simultanpartien gewannen. So scheint es dem Gehirn offenbar nicht möglich zu sein, noch einen Ausweg aus den Verwicklungen zu finden, in die sich die menschliche Gesellschaft mit ihrem Bevölkerungsproblem, der Umweltverschmutzung und all den damit zusammenhängenden Schwierigkeiten hineinverstrickt hat.

Ebensowenig scheint es ihm möglich zu sein, gewisse letzte Fragen zu beantworten. 

Eine davon ist die nach der Herkunft der Materie, eine andere die nach den Kräften, die der Materie innewohnen. So intensiv wir uns auch darum bemühen — hier müssen wir Fragezeichen setzen. Wir müssen uns mit der Einsicht begnügen, daß wir es nicht wissen oder zumindest noch nicht wissen, oder wir müssen eine letzte Ursache — Gott — dafür verantwortlich machen. In diesem Fall würden wir allerdings schon nicht mehr logisch denken. Denn wenn alles, was ist, eine Ursache hat, so müßte auch Gott eine Ursache haben und das Problem wäre nur verlagert. Die These von der ewigen Existenz des Seienden hat gleichen oder sogar höheren Wahrscheinlichkeitswert wie die Glaubensthese von Gott.

Als das Menschenhirn noch jung war, also zu einer Zeit vor einer oder zwei Millionen Jahren, muß mit dem zunehmenden Gebrauch der Hand und von Werk­zeugen auch die Phantasie seiner Träger mächtig angeregt worden sein. Wo der Urmensch, vielleicht in der Nähe von aktiven Vulkanen, Feuer sah, wird er nur anfänglich davor zurückgeschreckt sein. Irgendwann wird ihn seine Neugier und seine Phantasie dazu bewogen haben, auszuprobieren, was sich alles mit dem Feuer anfangen ließ.

Über den Flammen konnte er Fleisch braten und Fische rösten — neue Zubereitungsformen der Nahrung entstanden und bereicherten seinen Speisezettel. Und irgendwann später entdeckten findige Köpfe, daß sich Metalle schmelzen und zu allerlei Gegenständen verarbeiten ließen. Rad und Hebel kamen auf, Wind- und Wasserkraft erwiesen sich als Kraftspender. Die ersten großen technischen Erfindungen wurden zu Vorläufern unserer heutigen Maschinen- und Computerwelt. 

Einst nur sozusagen zusätzliche Organe der frühen Menschen, mit denen sie ihre naturgegebenen Muskeln verstärken konnten, stellen unsere heutigen Maschinen und Geräte einen gigantisch vergrößerten Apparatepark dar, der in kaum noch überschaubarem Ausmaß unsere Sinnesorgane empfindlich macht, unsere Muskeln symbolisch anschwellen läßt und unser Leben beherrscht. Ersonnen hat dieses Instrumentarium das Menschenhirn, und erst allmählich beginnt es zu ahnen, wie gefährlich die Geister sind, die es rief. 

Denn es will uns immer weniger gelingen, jene Welt weiterhin zu beherrschen, die vor allem ein Produkt unserer technischen Intelligenz ist. Während unser Maschinen- und Gerätepark wächst, während wir uns mit unseren Leibern, mit Industrieanlagen, Städten und Straßen wie eine Krankheit über die Erdober­fläche ausbreiten, zerstören wir zugleich die Natur, die uns hervorgebracht hat.

Wir stehen hilflos vor dieser Entwicklung. 
Wir warten auf ein Wunder, aber das Wunder wird nicht kommen. 
Unser Gehirn ist für Wunder nicht geschaffen — es kann nur so weitermachen wie bisher.

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2  Wie das verhängnisvolle Organ entstand -  Versuch und Irrtum