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 5. Störfaktor Mensch  

  Literatur 

Altruismus, Selbstsucht — Egoistische Erbanlagen — Der Mensch, Urahnen — Außenseiter — Überwachungs­zwang — Wildheitsrelikte —  Neurastheniker + Pavian — Hofnarr Gonella — Bärenfell und Smoking — Modernes Waffenarsenal — Singvögel-Jagd — Pestizide und Robbenbabys — Butterberge und Autohalden — Konsumwerbung — Wohlstandskehricht — Spezialisten für die Werbung — Rhein als Kloake — Herbizide  — Warum ein See umkippen kann — Saurer Regen und Wälder — Kleinkinder — Robert Koch + Lärm  — Geisteskrank durch Krach — 250.000 Tonnen Salze versickern jährlich im Grundwasser — Der Mensch ist schuldlos

 

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Wir werden jetzt nach der Erblichkeit menschlicher Verhaltensformen fragen müssen und danach, wieweit gerade die frühen Verhaltensweisen des Menschen heute noch wirksam sind. Dann wollen wir untersuchen, was der Mensch, getrieben von eben jenem »Urverhalten«, mit Hilfe seiner inzwischen so potenten Mittel und Möglichkeiten auf der Erde angerichtet hat, und wie er sich immer weiter in seine überlebensbedrohenden Aktivitäten hineinverstrickt.

Schon mehrmals haben wir davon gesprochen, daß von den Evolutionskräften solche Eigenschaften gefördert werden, die Wettbewerbs­vorteile im Daseins­kampf verschaffen und die Fortpflanzungs­chancen erhöhen. Dazu gehörte beim Frühmenschen auch das Problemlösevermögen. Es half ihm, jene Nachteile auszugleichen, die er in der Steppe gegenüber den schon lange dort lebenden, hochangepaßten Tieren hinnehmen mußte.

»Wettbewerbsvorteile« - dieser Begriff hat zwar mit Eigenschaften und Merkmalen zu tun. Er bedeutet aber auch, daß ein Lebewesen bestimmte Gene oder Erbanlagen besitzen muß, die es ihm ermöglichen, eben jene Eigen­schaften zu entfalten.

Dies wieder läßt fragen, ob es nicht eigentlich die Gene und nicht die Lebewesen sind, die sich um das Überleben sorgen. Wir können hier mit einiger Berechtigung der These des englischen Zoologen Richard Dawkins folgen, der in seinem bemerkenswerten Buch <The Selfish Gene> (Das egoistische Gen,10) die Erbanlagen als die eigentlichen Drahtzieher der Lebensvorgänge erkannt haben will. 

Laut Dawkins spielen die Gene keineswegs nur die Rolle bloßer »Bauanleitungen« für einen Organismus, den sie hervorbringen. Vielmehr seien sie so etwas wie geheimnisvoll waltende Akteure, die nur sich selbst sehen und sich die körperlichen Gestalten der Lebewesen nur deshalb schaffen, um selbst zu überleben.

Setzt man diesen Gedanken fort, so könnten auch alle Aktivitäten des Menschen, seine Wirtschaft, seine Kultur, ja sogar sein gelegentlich uneigen­nütziges Verhalten als Gehorsamkeitsakte gegenüber den Genen gelten. Altruistisches Verhalten wäre nichts als gut getarnte Selbstsucht - weil vorübergehend Vorteile bringend.

Darum würde auch eine Gesellschaftsordnung, die ihren Mitgliedern zuviel Gemeinsinn abverlangt, aus simplen erbbio­logischen Gründen zum Scheitern verurteilt sein. 

Und wenn sie erzwungen wird wie in den sozialistischen Diktaturen, dann nur auf Kosten einer zwangsweise niedrig gehaltenen Effizienz eines großen Teiles ihrer Bürger, die daran gehindert werden, sich entsprechend ihren Neigungen und Talenten frei zu entfalten, deren Freiheit beschnitten wird und die sich fortgesetzt auch für solche Aufgaben einspannen lassen müssen, von deren Nutzen oder Wert sie nicht überzeugt sind.

Ein Beispiel dafür, daß gemeinnütziges Verhalten in Wahrheit dem »Eigennutz der Gene« entspringt, wären die treusorgenden, an ihren Kindern scheinbar altruistisch handelnden Eltern. Denn indem die Eltern das Überleben der Kinder sichern, gewährleisten sie - jeder Elternteil zu 50 Prozent - das Weiter­existieren ihrer eigenen Erbanlagen über den individuellen Tod hinaus.

Diese Deutung gilt sogar noch für das gemeinnützige Verhalten gegenüber gänzlich unbekannten Menschen, etwa dann, wenn ein »Retter in der Not« einem ertrinkenden Kind ins Wasser nachspringt. Dem liegt außer dem triebhaften Beschützerinstinkt gegenüber dem Kind als solchem auch der Umstand zugrunde, daß eine Gruppe mit scheinbar uneigennützigen Mitgliedern im Lebenskampf erfolgreicher ist als eine Gruppe aus lauter Egoisten. Da das gerettete Kind zur »Gruppe« gehört, erhöhen seine - die geretteten - Gene auch die Überlebens­aussichten aller.

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Für die Selektion, die vorteilhafte Eigenschaften mit Fortpflanzungserfolgen belohnt, sind die Organismen jedenfalls das Spielmaterial. Das heißt: »Gemeint« werden von ihr die Lebewesen, »getroffen« aber werden die Gene. Gelingt es den Erbanlagen nach der Dawkinschen These nicht, sich erfolgreiche Körpergestalten zu schaffen, so sterben sie mit den unvollkommenen Gestalten aus. Das geschieht beispielsweise dann, wenn allzu spezialisierte Typen in einer gewandelten Umwelt nicht mehr zurechtkommen. Zugunsten anderer, erfolgreicher Lebewesen würde dann sozusagen Platz geschaffen.

Nun fragt es sich natürlich, ob solche rein biologischen Überlegungen auch für den heutigen Menschen noch uneingeschränkt zutreffen, und hier lassen sich durchaus Gegenargumente anführen, zum Beispiel, daß die Maßstäbe, nach denen die Auslese in der Natur verfährt, für den Menschen nur noch bedingt gelten. Ich möchte darum auch die Dawkinsche These hier nicht weiter erörtern, es ging mir nur darum zu zeigen, daß bewährte Eigenschaften oder Merkmale über Generationen erhalten bleiben und im Evolutionsprozeß in der eingeschlagenen Richtung sich weiterentwickeln können.

Auch beim Menschen förderte die Selektion zunächst jene Eigenschaften und Fertigkeiten, die seinem Überleben nützten — sonst gäbe es uns heute nicht. Dazu gehörten die Sinnesleistungen, die körperliche Geschicklichkeit, die körpereigenen Abwehrkräfte gegen Infektionen, das Lernvermögen, die Sprache, vor allem aber die Kunst, Probleme zu lösen. Unter dem Zwang, sich im neuen Lebensraum häuslich einzurichten, erwies sich das Problem­lösen als willkommene Waffe im Überlebenskampf des Frühmenschen, zumal er den Tieren in der Steppe an Körperkraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Sinnesleistungen weit unterlegen war. 

Schon nach wenigen hunderttausend Jahren brauchte er praktisch kein Tier mehr als ernsthaften Konkurrenten zu fürchten. Später bändigte er die Naturkräfte und spannte sie für seine Zwecke ein. Er organisierte sein Zusammen­leben, erfand die Ehegemeinschaft, gründete Dörfer, Städte und Staaten, er handelte mit den Produkten, die sein Geist erdachte und seine Hände oder Maschinen herstellten.

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Inzwischen haben ihn seine Aktivitäten auf der Erde jedoch in eine Lage manövriert, in der sein Überleben nur noch durch einen grundlegenden Wandel seines Verhaltens gewährleistet wäre. Doch wird ihm gerade dieses »Über­lebens­verhalten« nicht möglich sein, weil er dazu wesentliche Eigenarten seines Menschseins aufgeben müßte. Denn:

»Nur dann gäbe es noch Hoffnung auf eine günstigere Entwicklung, wenn wir Menschen uns radikal umstellen könnten, wenn wir ganz anders denken und handeln könnten, als es unsere Großhirne uns diktieren. Nur dann hätten wir noch eine Chance, wenn wir geradezu asketische Einschränkungen auf uns zu nehmen bereit und fähig wären. 

Es gehörte dazu massiver Konsumverzicht, Beschränkung der Kinderzahl, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Kapital­investition, sogar der Nahrungsmittelerzeugung, mit dem Ziel, weltweit den Übergang vom gefährlichen Wachstum in einen Gleich­gewichts­zustand zu erzwingen.

All dies erfolgreich durchzuführen, würde übermenschliche, in jeder Hinsicht atypische Ausnahmenaturen voraussetzen und nicht Menschen, wie sie die Erde nun einmal bevölkern: jene kurzsichtig und meist egoistisch handelnden, zu einem wachsenden Anteil auch noch analphabetischen Wesen, die kaum imstande sind, die Situation zu begreifen, in der sie sich befinden, geschweige denn die Katastrophe zu ermessen, in die sie hineinsteuern.«37*

Warum wir uns nicht ändern können, hat einen einfachen Grund. Es ist der, daß unser Verhalten von einem Steuerorgan bestimmt wird, das für andere Zwecke und unter anderen Verhältnissen entstanden ist, als sie heute als Folge der kulturellen Evolution existieren. Und daß dieses Steuerorgan, unser Gehirn, uns mit übermäßigen Antrieben ausgerechnet dort belastet, wo wir es — als allzu zahlreich und anspruchsvoll gewordene Menschheit — am wenigsten gebrauchen können. Wir werden in diesem Kapitel ein paar Beispiele für dieses Verhalten aufzeigen und analysieren. Zuvor jedoch wollen wir unser »Verhaftetsein« mit der stammesgeschichtlichen Vergangenheit belegen.

* (d-2012:) Selbst-Zitat aus seinem Versuch-Irrtum 1974. Das ist okay; sonst würde er sich andere Vorwürfe einhandeln, wenn er das selbe in anderen Worten schriebe. 

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Einer der emsigsten Forscher auf diesem Feld ist der Frankfurter Arzt und Anthropologe Rudolf Bilz gewesen, der in seinem Werk <Paläo-Anthropologie> zahlreiche originelle Beispiele dafür zusammengetragen hat [4].

Auch Bilz geht davon aus, daß der Mensch im Gegensatz zum Tier mit seiner Neugier, seinem Erkenntnisdrang und seinem nie erlahmenden Eifer, Probleme zu erkennen und sie zu meistern, außerordentlich erfolgreich gewesen ist. Und dies, ohne daß er dazu — wie etwa ein Hund zum Apportieren — hätte angelernt werden müssen. Er hat es allein geschafft. Dank wechselseitig sich befruchtender körperlicher und geistiger Merkmale konnte er sich im Lauf seiner Stammesgeschichte seine Umwelt immer besser nutzbar machen. Im Gegensatz zum Tier stellte er Waffen und Werkzeuge her und verbesserte sie ständig, so daß ihm immer schwierigere Arbeiten gelangen. Paviane und Schimpansen dagegen, schreibt Bilz, »bearbeiten die Steine nicht und verschlimmern auch die Gefährlichkeit der Schlagstöcke nicht. Es entfällt das Moment der Progression.«

Wie viele früh-stammesgeschichtliche Überbleibsel den heutigen Menschen noch mit seinen Urahnen verbinden, erweist sich, wenn man bestimmte menschliche Verhaltensweisen einmal auf ihren Ursprung hin untersucht. Wie kommt es beispielsweise, daß wir manchmal unbewußt, manchmal ganz offen Abneigung gegenüber Mitbürgern mit abstehenden Ohren, stotternder Stimme oder Mißbildungen empfinden? Warum mögen wir den »Außenseiter« nicht? Was ist der Grund für die scheinbar unüberwindliche Aversion gegenüber dunkelhäutigen Kindern auf dem Schulhof?

Bilz fand fünf Intensitätsstufen solchen Anstoßnehmens gegenüber Menschen, die vom Normalen auffällig abweichen. Die mildeste Form sei der verstohlene Seitenblick, die zweite das maliziöse Lächeln, die dritte der hämische Witz. Bezeichnenderweise gebe es ganze Kategorien von Witzen, wie die Irrenhaus- oder Ostfriesen-Witze, die bestimmte Menschengruppen zur Zielscheibe des Spotts machen. Stufe vier wäre die offene Gewaltanwendung: das dunkelhäutige Kind wird auf dem Schulhof verprügelt. Die letzte Stufe sei die Lynchjustiz.

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Ganz ähnlich verhalten sich manche Tiere. 

Möwen, die man mit einem auffälligen Merkmal versehen hat, etwa einem Farbklecks auf dem Flügel, werden von ihren Artgenossen verfolgt und angegriffen. Die gleiche Aggression erfahren Krähen, die einen Flügel hängen lassen — die Beispiele ließen sich fortsetzen. Auch weniger offensichtliche Formen tierischen und menschlichen Verhaltens zählen zu solchem Anstoßnehmen oder »Mobbing«. Bilz entdeckt sie sogar in der Neugier gegenüber dem Nachbarn: »Darin schon bezeugt sich unsere Pöbelhaftigkeit, daß wir möglichst auch über die Intimitäten unserer Mitbürger Bescheid wissen möchten.« Es handelt sich um einen »Überwachungszwang«, der dazu führen kann, daß jemand, der ein sorgsam bewahrtes persönliches Geheimnis in einer schwachen Stunde preisgibt, erbarmungslos seiner Schwäche wegen bewitzelt, bespottet und durch Klatsch und Tratsch schließlich ganz unmöglich gemacht wird.

Eine Erklärung dafür liefert das Auslesegesetz in der Natur. 

In freier Wildbahn hat das Außergewöhnliche innerhalb einer Art im angestammten Lebensraum normalerweise negativen Auslesewert. Ein aus dem Rahmen fallendes Tier lockt durch sein Äußeres Feinde an, und das kann der Gemeinschaft, der es angehört, gefährlich werden. Die Gemeinschaft wendet sich also gegen den »Abweichler«, sie behindert ihn bei der Futtersuche und der Wahl des Geschlechts­partners. Die feindselige Haltung der Gruppe führt schließlich dazu, daß er verdrängt wird, daß seine Fortpflanzungs- und Überlebenschancen sinken und das abweichende Merkmal damit verschwindet.

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Manche an einst erinnernde Verhaltensweisen haben sogar amüsante Züge. Bei einer Gruppe von Menschen, die auf der Suche nach Pilzen durch den Wald streift, kommt es gelegentlich vor, daß einzelne vom »Gros« abkommen und dann durch »Kontaktrufe« die Verbindung wieder herzustellen versuchen. Sie rufen dann etwa »Hallo!«. Ähnlich verhalten sich die von der Henne getrennten Küken. Beim Menschen sind die »Notrufe« stets eine Kuckucks-Terz, und diese Tonfolge ändert sich nie, außer es geschähe bewußt. Auch wenn spaßeshalber einmal ein anderer Zuruf, wie etwa »Hugo«, ausgemacht worden ist, bleibt doch die Terz erhalten, ohne daß dafür eine Verabredung nötig wäre. 

Die Terz, schließt Bilz, verbindet den in der Auflösung begriffenen Verband. Sie ist — wie das Mobbing — ein biologisches Radikal, ein ererbtes, animalisch-biologisches Verhaltensmuster.

Zu den Überbleibseln aus der Zeit der Wildheit, den »Wildheits-Relikten«, gehört auch die Leistungsflaute am Arbeitsplatz. Sie tritt vor allem bei solchen Menschen auf, die im Büro oder Betrieb aus ihrer Arbeit keinen oder zu wenig Lustgewinn ziehen — denen also der Beruf nicht das Erlebnis des Anerkannt­werdens oder der Leistung gibt. Mehr oder weniger erleben wir alle, wie unsere Leistung im Tagesablauf zunächst ansteigt und dann abfällt — oft so stark, daß wir erst einmal pausieren müssen, bevor es weitergeht.

Bilz analysiert die Leistungsflaute, indem er wieder auf das Verhalten von Tieren hinweist. Paviane werden übermäßig erregt, wenn man sie nachts aus dem Schlaf weckt oder abends am Einschlafen hindert. Fürchten sie im ersten Fall den Angriff des »Nachtfeindes« in Gestalt des Leoparden, was ihr reflexhaftes Hochspringen in die Sicherheit der Käfigdecke vermuten läßt, so ist es im anderen die Übermüdung, die sie reizbar macht. Die gleiche Reizbarkeit, Weinerlichkeit und Grantigkeit zeigen auch Kinder, wenn sie abends über den »müden Punkt« hinaus wachgehalten werden und dann nur schwer einschlafen können.

Kennzeichnend für die Arbeitsleistung in den zivilisierten Ländern, schreibt Bilz, sei die systematische Arbeit, die sich über mehrere Stunden hinziehe. Dabei weiche der moderne Mensch in seinem Arbeitsstil von der Aktivität seiner Vorfahren — beispielsweise bei der Nahrungssuche — stark ab.

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Damals seien Jagen und Sammeln die Hauptbeschäftigungen gewesen, eine auch heute noch lustbringende Tätigkeit. Es werde niemand behaupten wollen, daß Jagen und Sammeln unter den Begriff »Arbeit« fallen. Die ständige Abwechslung beim Durchstreifen der Wälder sei nicht mit der Berufsarbeit in einem Büro oder der mechanischen Tätigkeit an einem Fließband vergleichbar. Ist also der Leistungszwang, unter dem so viele Menschen heute stehen, etwas ganz und gar Unnatürliches? Bilz weist auf den Typ des Leistungsneurasthenikers hin als den eines Menschen, der am Arbeitsplatz unter nervösen Erschöpfungs­erscheinungen leidet. Die unverminderte Stetigkeit, die von ihm erwartet werde, die er aber nicht erfüllen kann, bringt ihn in eine Konflikt-Situation:

»Die Leistungsneurastheniker lassen sich einspannen, aber die ununterbrochene Leistung des Ackergauls ist ihnen versagt. Wir kennen Menschen, die sich von Anfang an nicht einschirren lassen. Wir kennen allerdings auch die Ackergäule. Wenn der Neurastheniker in seinen Konflikt fällt, kommt eine Verfassung über ihn, die uns an den Pavian erinnert, der am Einschlafen gehindert wird.«

Häufig melde sich bei diesen Menschen eine aggressive Gereiztheit, unter der auch ihre Mitarbeiter zu leiden hätten. Es bezeichne offenbar eine fundamentale Wahrheit, wenn es heiße, der Büroschlaf sei der gesündeste Schlaf. Da solchen Menschen der Schlaf jedoch verwehrt sei, versuchten sie, über die Blamage ihres Leistungsknicks anderweitig hinwegzukommen. Sie täten dies, indem sie beispielsweise Akten herbeiholten oder wegschafften. Die neurasthenische Leistungsschwäche habe absolut nichts mit Faulheit zu tun — eine Erkenntnis, die den Betreffenden vor einer Minderung seines Selbstwertgefühls bewahren mag.

Häufig seien es hochbegabte Menschen, die darunter litten, die sich freilich auch dagegen wehrten.

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Beispiele für überkommene Verhaltensweisen, die ihren Sinn oder Nutzen heute verloren haben, finden wir auch in Situationen der Angst oder in ausweglosen Lagen. Bilz erinnert an die Bombennächte des letzten Krieges, wenn die Bewohner eines Mietshauses im Luftschutzkeller versammelt waren: 

»Häufig konnte ich feststellen, wie die Leute, und zwar Männer wie Frauen, wenn sie die Bomben vernahmen, die Köpfe nach vorn bewegten, während sie einen krummen Rücken machten. Wenn die Bomben in sogenannten Reihenwürfen fielen, so führte das Nacheinander der Detonationen zu einem rhythmischen Zusammenducken und Vorstoßen der Köpfe. Dieses Verhalten war, biologisch gesehen, ein Deckungnehmen, wenn es auch nur symbolisch erfolgte.«

Andere Schutzsuchende reagierten in solchen Augenblicken höchster Gefahr mit Schreien oder mit dem Versuch, wegzulaufen. Bei einer Frau beobachtete Bilz etwas besonders Merkwürdiges. Es überkam sie nämlich — als einzige — in den brenzligsten Situationen regelmäßig eine unwiderstehliche Müdigkeit, und so schlief sie tief und fest ein.

Daß Angst in scheinbar ausweglosen Lagen sogar töten kann, zeigt der psychogene oder Vagus-Tod. Es gibt Beispiele dafür, wie Tiere vor Angst, also ohne äußere Einwirkung, gestorben sind, wenn sie sich in einer ausweglosen Lage befanden, und daß dies gelegentlich auch beim Menschen vorkommt. Wilde Ratten schwimmen in einer halb mit Wasser gefüllten Tonne nur kurze Zeit im Kreis herum, dann wird ihr Herzschlag langsamer, schließlich ertrinken sie, sterben den Vagus-Tod in der für sie ausweglosen Lage, ohne schon körperlich am Ende zu sein.

Ratten dagegen, denen man früher einmal einen Stock zur Flucht aus der Tonne ins Wasser gesteckt hatte, schwammen in dem »ausweglosen« Gefängnis bis zu 80 Stunden unermüdlich im Kreis. Ihnen war die Hoffnung geblieben, daß der Stock vielleicht wieder auftauchte — die Situation war für sie nicht ausweglos.

Manchmal erleben professionelle Tierfänger Ähnliches, wenn sie seltene exotische Tiere aus den Fangnetzen befreien und in den Transportkäfig bringen wollen — auch solche Tiere können dabei sterben. Bilz erlebte den Vagus-Tod eines Spitzhörnchens, als er es so in den Händen hielt, daß es sich nicht befreien konnte. Er spürte, wie das Herz »langsam paukend« schlug und sah, wie das rosige Schnäuzchen des Tieres blaß wurde. Binnen kurzem war es tot.

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So werde, schreibt Bilz, die Ausweglosigkeit einer Situation von der Natur korrigiert: Der Vagus-Tod durch Herzversagen vereitelt den grausamen Tod, beispiels­weise auch den der Gazelle in den Fängen des Leoparden. Der Feind hat nicht den Triumph der lebenden Beute, sondern nur noch den Kadaver.

Todesformen wie diese als Relikt einstiger Wildbahnzeiten finden wir gelegentlich auch noch beim Menschen. Bilz verweist auf den Fall eines jungen Mädchens, das sich einer gynäkologischen Untersuchung unterziehen sollte und auf dem Untersuchungsstuhl einen Schock-Tod erlitt. »Es war nicht bereit, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen, aber es fügte sich der Disziplin. Es erwies sich als moralisch gefesselt, und diese >moralische Fesselung<, die sich in seiner Gefügigkeit ausdrückte, wurde ihm zum Verhängnis.«

In seinem Buch Autogenes Training erinnert der Oldesloer Arzt Hannes Lindemann an den Fall des ungarischen Hofnarren Gonella, der seinen Fürsten erschreckt hatte und deshalb zum Tode verurteilt worden war. Mit verbundenen Augen führte man ihn aufs Schafott. Als ihm der Henker auf Geheiß des Fürsten statt des erwarteten Beilhiebes eine Schüssel kalten Wassers über den Nacken goß, starb er — vor Schrecken.

Alle diese Beispiele weisen auf unser stammesgeschichtliches Erbe hin, unser Verbundensein mit dem Urmenschen. Sie zeigen, daß wir unter dem Smoking noch immer das Bärenfell tragen. Und offenbar gehen gerade auch jene Verhaltensweisen des Menschen auf die Urzeit zurück, die seine Weiterexistenz heute in Frage stellen. Auch sie lassen sich direkt aus stammesgeschichtlich sehr alten Eigenschaften des Großhirns ableiten. Einmal ist es eine Art hypertrophierte, also übermäßig entwickelte Wißbegier. Sie muß in jener Zeit entstanden sein, als die ersten Aufrechtgänger in der Steppe Holz- und Steinwerkzeuge herzustellen und das Feuer zu nutzen begannen.

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Damals eröffneten sich zahlreiche neue Möglichkeiten, das Leben in der neuen Umwelt zu meistern. Und so, wie Kinder etwa durch einen »Baukasten« angeregt werden, mehr oder weniger spielerisch alle möglichen Dinge zu konstruieren wie Bagger und Kräne, Hebel, Brücken und Fahrzeuge — so wird auch der Frühmensch über lange Zeiträume ausprobiert haben, was alles sich mit seinen Händen machen ließ.

Dazu brauchte er aber nicht nur sie, er brauchte vor allem den inneren Antrieb dazu, die Neugier. Und er brauchte Intelligenz. Auch die kam aus dem allmählich wachsenden Großhirn. Wer mit diesen Eigenschaften besonders gesegnet war oder bei wem die hier gefragten Großhirnbereiche am besten funktionierten, der wußte sich in Problemsituationen auch am geschicktesten zu behaupten. Er überlebte. Er konnte mehr Nachkommen mit den gleichen Fähigkeiten haben als andere. 

So erhielten Wißbegier und Intelligenz einen hohen Stellenwert bei der Auslese. Was später zur Wissenschaft wurde: das Antwortsuchen auf richtig gestellte Fragen an die Natur, damals fing es an, sich im Menschen zu regen. Es ermöglichte Handwerk, Technik und Wirtschaft. Angestachelt von einem unwiderstehlichen Erkenntnistrieb und dem ruhelosen Drang, das Erkannte technisch oder wirtschaftlich umzusetzen, übt der Mensch unter anderem einen ständig wachsenden Druck auf die begrenzten Energie- und Rohstoffquellen der Erde aus. Man denke an den Ölverbrauch, den Abbau der Kohlevorräte, die Waffenarsenale, die ständig neu produzierten Konsumgüter-Modelle, an die intensiven landwirtschaftlichen Verfahren — die Aufzählung läßt sich fortsetzen.

Namentlich die Konsumgüter-Schwemme liefert hier ein beredtes Beispiel, doch wird mit ihr nur ausgenutzt, was uns als Sammeltrieb und Anspruchs­denken seit alters im Blut steckt. Es geschieht auch geschickt mittels psychologischer Tricks zur Umsatzmaximierung, zum Beispiel, indem man die Ware jeweils mit dem Attribut des Nonplusultra anpreist — nur, um sie schon bald wieder als veraltet zu bezeichnen und neue Produkte zu propagieren. Doch dient das Ganze auch wieder dem »Wirtschaftswachstum« als vermeintlich unverzichtbare Voraussetzung für Vollbeschäftigung und Erhaltung des Lebensstandards.

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Eine besonders bemerkenswerte Perversion liegt in der Entwicklung der Waffensysteme. Während die ersten Waffen, die Pfeile, die Speere, Steine, Lanzen und Knüppel, noch allein zur Jagd verwendet oder doch zum ausschließlichen Zweck des Jagens hergestellt wurden, so scheute sich der Mensch nicht, sie alsbald auch gegen seinesgleichen im Kampf um die besseren Weidegründe oder Wohngebiete, für politische oder religiöse Überzeugungen oder begehrte Boden­schätze ein­zu­setzen und speziell solche Waffen zu entwickeln, die sich zum Töten von Menschen eignen. 

Heute stehen wir vor der Absurdität, daß weltweite Verhand­lungen zur Abrüstung geführt werden, obwohl offensichtlich ist, daß kein Verhandlungspartner sich je seiner wirksamsten Verteidigungs- oder Angriffs­waffen begeben* würde — schon aus Gründen der eigenen Sicherheit nicht und angesichts der Unversöhnlichkeit der politischen Lager. Ebenso folgenlos werden Appelle bleiben, etwas, das wissenschaftlich erforscht, erkannt und technisch machbar ist, ganz bewußt nicht herzustellen oder anzuwenden, weil es existentiellen Interessen der Menschen zuwiderliefe. 

Das haben wir mit der Atombombe und den chemischen Kampfstoffen erlebt, das wird uns jetzt zuteil mit der Zucht und Lagerung bakterieller Waffen und es steht uns ins Haus mit dem nur scheinbar ausschließlich dem Wohl der Menschheit dienenden medizinischen Fortschritt. Denn dieser nützt zwar vorder­gründig dem einzelnen Menschen, und er hat etwa bei der Bekämpfung der Seuchen auch viel Gutes bewirkt. Man muß aber auch seine Kehrseite sehen. Indem potente Arzneien und moderne therapeutische Verfahren die Kindersterblichkeit gesenkt und das durchschnittliche Lebensalter verlängert haben, leistet die Medizin auch der Bevölkerungsexplosion Vorschub und treibt damit die Menschheit in ungewollter Konsequenz ihrer humanitären Motive einem Holocaust entgegen.

* (d-2009:)  "begeben"? - wie abgeben

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Die militärische Aufrüstung als eine der gefährlichsten Menschheitsbedrohungen geht ihrerseits auf Formen des Urverhaltens zurück, nämlich den »Schutz vor Feinden« und auf die Jagd. »Feinde« — das sind in der Frühzeit des Menschen wahrscheinlich nur selten seine Artgenossen gewesen. Schützen mußte sich der Steppenbewohner vielmehr vor den schnellen, mit besseren Sinnesorganen und größerer Körperkraft ausgestatteten Konkurrenten aus dem Tierreich — vor allem den räuberischen Steppentieren. Gegen sie, aber auch für seine Jagd, mußte er Waffen erfinden und herstellen: Steinschleuder, Bogen und Pfeil, Lanze und Speer, Fallgrube, Faustkeil und Steinbeil haben damals ihre Aufgaben gerade soweit erfüllt, daß der Frühmensch satt werden und vor angreifenden Tieren einigermaßen sicher sein konnte. Zur Dezimierung der reichen Tierwelt reichte sein Arsenal bei weitem nicht aus.

Heute hat sich die Lage drastisch gewandelt. Die Jagd mit Gewehren, Gas und Gift, mit Fallen, die Hochseefischerei mit Schleppnetzen und andere wirksame Fangverfahren haben gemeinsam mit der Zerstörung natürlicher Biotope dazu geführt, daß viele Tierarten bereits ausgerottet sind, andere auf verlorenem Posten um ihr Überleben kämpfen.

Um sich Fleisch zu verschaffen, leistet sich der Homo sapiens die Kulturschande tierquälerischer Massenhaltung von Kälbern, Schweinen und Geflügel in Batteriekäfigen. Wirtschaftlich nahezu bedeutungslose, winzige Singvögel fängt er südlich der Alpen und anderswo in raffinierten Netzfallen ein und läßt diese seine »schmutzige Jagd« mancherorts auch noch vom örtlichen Kirchenvertreter segnen.

In der Land- und Forstwirtschaft benutzt er Pestizide als Waffen gegen sogenannte Schädlinge. Dabei vernichtet er als Folge der Breitbandwirkung vieler dieser Mittel auch manche natürlichen Schädlingsvertilger. Zwangsläufig gehen seither immer öfter Ernteschäden auf solche Schädlinge zurück, deren natürliche Feinde vernichtet wurden. Außerdem entsteht die berüchtigte »Resistenz«: Weil immer mehr Schädlinge sich gegen die einsetzenden Gifte als unempfindlich erweisen, müssen laufend neue oder die alten in größeren Mengen eingesetzt werden, was den allgemeinen Flurschaden nur um so größer macht.

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Die Resistenzbildung zieht zwangsläufig nach sich, daß von der Industrie fortgesetzt neue Präparate hergestellt und verkauft werden. Die Anwender, die ihrerseits das Angebot kaum noch überblicken, setzen abwechselnd Mittel mit verschiedenen Wirkstoffen ein, ohne daß deren Wechsel- und Langzeit­wirkungen auf das Ökosystem geklärt wäre. Chlorkohlenwasserstoffe beispielsweise, zu denen das in der Bundesrepublik verbotene, aber in großen Mengen noch immer hergestellte und exportierte DDT gehört, halten sich noch Jahrzehnte in der Natur, so etwa im Fettgewebe vieler Tiere. Es gerät auch in die Muttermilch. Das Schlimmste: Ein Teil dieser hochgiftigen Substanzen wird chemisch nicht oder nur sehr langsam abgebaut, ist krebsfördernd und erzeugt Mißbildungen oder steht im Verdacht dafür.

Hubert Weinzierl, Vorsitzender des deutschen Bundes für Umwelt und Naturschutz, forderte im Sommer 1981 — freilich vergeblich — die Einführung einer Rezeptpflicht für die Pestizide, denn es sei unerträglich, daß jedes Kind heute hochgiftige Chemikalien in großen Mengen kaufen könne. Zur Zeit werde rund ein Drittel der Fläche der Bundesrepublik Deutschlands regelmäßig mit Giftstoffen bespritzt, obwohl die Langzeitwirkung von vielen der 60.000 auf dem Markt befindlichen Agrochemikalien unbekannt sei. Wenn die Pestizidverwendung nicht drastisch reduziert würde, sagte Weinzierl, so würden etwa ein Drittel aller in der Bundesrepublik lebenden Tiere und Pflanzen das Jahr 2000 nicht erleben. Übersehen werde auch, in welchem Maße sich Pestizide in Lebewesen anreichern könnten. Allein in Deutschland sei der Pestizidverbrauch zwischen den Jahren 1975 und 1982 um vierzig Prozent gestiegen.

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Doch damit nicht genug. 

Die letzten Walfische werden gegen den weltweiten Protest von Naturschützern gejagt und abgeschlachtet. Wehrlose Robbenbabys schlägt man ihrer Pelze wegen auf die erbärmlichste Weise mit Knüppeln tot. Dazu blüht der illegale Handel mit Tieren, die wegen ihrer Häute, ihrer Stoßzähne, ihres Felles, ihrer Federn oder auch nur wegen ihrer Possierlichkeit von den Wohlstandsbürgern geschätzt und gut bezahlt werden. Ihr alsbaldiger Artentod scheint damit ebenfalls schon vorprogrammiert zu sein.

Mancher Zeitgenosse jagt sogar aus purer Lust am Aufspüren und Töten von Wild — ich nenne hier stellvertretend nur die berüchtigte <Beichen­schlacht> (Bleßhuhnjagd) am Bodensee, bei der deutsche, schweizerische und österreichische Jäger alljährlich die kleinen, harmlosen Wasservögel von Ruderbooten aus scharenweise zusammenschießen.

Die Beispiele dafür, daß große Teile der Menschheit jedes Gefühl für Wert und Bedeutung des »Naturgewachsenen« verloren haben, sind Legion.

Eng mit dem Jagen als Urverhalten hängt der Sammeltrieb zusammen. Während die Briefmarken-, die Münz- oder Zucker­stückchen­sammler noch vergleichsweise harmlose Beispiele dafür liefern, ist der Jagd- und Sammeltrieb des Urmenschen heute entartet zu einer Besitzgier, womit zumeist ein größerer Wohlstand gemeint ist: ein Verhalten, das bei einer Zuwachsrate der Weltbevölkerung von derzeit über 230.000 Menschen täglich immer fragwürdiger wird.

Dem Urmenschen ging es ja nur darum, die Ernährung für den Tag sicherzustellen. Es war für ihn buchstäblich zwecklos, größere Vorräte zu sammeln, die unweigerlich verdorben wären, weil es weder Tiefkühltruhen noch Konservierungsmittel gab. Diese natürlichen Mäßigungsfaktoren entfallen heute. Doch das ist nicht das Problem. Bedenklich vielmehr ist unser immanentes Bedürfnis, materielle Güter über den tatsächlichen Bedarf hinaus anzuhäufen, eine Perversion, die letztlich eine über alle Maßen wuchernde Wirtschaft noch anstachelt.

Wir müssen uns freilich auch hier hüten, in die Rolle des Anklägers zu fallen, denn wir sind allen diesen Erscheinungen ausgeliefert, weil sie zwangsläufig eintreten mußten. Der Trieb zum Heranraffen aller möglicher vermeintlicher Mittel zur Steigerung der Lebensgenüsse sitzt uns spätestens seit dem »Seßhaftwerden« zu tief in den Erbanlagen, als daß der Vorwurf schuldhaften Verhaltens berechtigt sei oder gar etwas daran ändern könnte.

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»Unschuldig« sind wir so gesehen auch an der vielbeklagten Umweltverschmutzung. Auch sie ist — wie der psychische Streß — ein Kind des Wohlstands­strebens und Anspruchsdenkens. Sie findet statt, weil wir meinen, die Erde sei im wesentlichen dazu da, vom Menschen ausgenutzt, ausgeschlachtet und bedarfsweise als Abfallkübel verwendet zu werden. Sie ergibt sich aus einem Denken, wonach der Fortschritt keinesfalls behindert werden dürfe, und wirtschaftliche Interessen automatisch dem Gemeinwohl dienten. Sie kommt zustande, wenn wir Werbepraktiken erliegen, die ein hektisches und wahlloses Konsumverhalten erzeugen, das alles andere ist als identisch mit Glück und Zufriedenheit.

 

Vor rund 10.000 bis 4000 Jahren lernte der Homosapiens, Äcker zu bestellen und Vieh zu züchten. Der Mensch wurde seßhaft. Er baute sich Hütten, er blieb in der Nähe seiner Felder und Herden. Um jedoch Hirse, Einkorn, Gerste, Dinkel und Weizen anbauen zu können, mußte er Wälder roden. Vor allem dort, wo er Wälder an den Hängen zur Holzgewinnung für den Bau von Häusern, Schiffen oder Befestigungen abholzte, wusch der Regen den Boden aus und spülte die Ackerkrume talwärts, so daß sich bei schlechtem Wetter Schlammströme in die Flüsse wälzten. So begannen die »Sünden an der Natur«.

Anscheinend erkannte der Mensch damals noch nicht, was er anrichtete, zumal er die Wälder auch sonst unbekümmert nutzte. Viehzüchter ließen ihre Herden bedenkenlos in den Wäldern weiden und die nachwachsenden Jungpflanzen abfressen. Das alte Griechenland war einstmals, am Anfang seiner Geschichte, noch zu Dreiviertel seiner Landfläche bewaldet. Die Wälder waren damals heilig, Bäche und Quellen sprudelten, eine reiche Tierwelt lebte. 

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Heute, als Folge der schon in der Antike einsetzenden Waldzerstörung, gibt es in Griechenland nur noch fünf Prozent des einstigen Waldbestandes. Der Humusboden ist auf zwei Prozent seiner ursprünglichen Menge geschrumpft, nur ein Fünftel der Landfläche eignet sich noch zum Anbau. Zahlreiche Dörfer finden in ihrem Bereich kein Trinkwasser mehr. Ähnlich erging es anderen Ländern südlich der Alpen: Wo immer der Wald starb, verkarstete das Land.

Stärker noch belastete später das enge Zusammenwohnen von immer mehr Menschen die Umwelt. Die Probleme begannen schon, als die ersten Dörfer entstanden. Denn wo viele Menschen wohnen, da gibt es auch viele Abfälle. Anfangs überließen die Dörfler ihre Exkremente unbekümmert dem Regen oder einem Bach vor dem Hause. Speisereste und anderen Müll warf man einfach weg. Auf die Dauer konnte solche Sorglosigkeit aber nicht gutgehen. Krankheits­keime entwickelten sich, Seuchen brachen aus. 

Noch im späten Mittelalter rafften Infektionskrankheiten große Bevölkerungsteile dahin. Und niemand wußte, woran es eigentlich lag. Pest, Cholera, Kindbettfieber, Pocken, Typhus, Ruhr — sie alle galten als Sendboten des Teufels, als Strafe für Gottlosigkeit, für unbotmäßigen Lebenswandel oder sexuelle Sünden. Der enge Kontakt der Menschen untereinander und die fehlende Hygiene taten ein übriges und ließen die Krankheiten grassieren.

Allmählich erst leuchtete den Geplagten ein, wo die Ursachen zu suchen sein könnten. Trotzdem bequemte man sich nicht freiwillig, sondern erst unter dem Schock wiederholter Wellen von Choleraepidemien dazu, Abwasserkanäle zu bauen und das Trinkwasser hygienisch zu speichern.

Mit der industriellen Revolution gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam für viele Menschen ein erst bescheidener, dann immer ansehnlicherer Wohlstand. Neue Energiequellen wie die Elektrizität, der Verbrennungsmotor, die Dampfmaschinen lieferten die Mittel, sich die Natur endgültig gefügig zu machen. Maschinen ersetzten die Muskelkraft. 

Die Warenproduktion stieg, und mit ihr wuchs das Anspruchsdenken. Dies wieder nutzten die Werbepsychologen. Allein in der Bundesrepublik sind heute fast 400.000 Spezialisten in der Werbung tätig und werden fünf bis sechs Milliarden D-Mark jährlich dafür ausgegeben, den Konsumbetrieb anzuheizen und immer wieder neue Wünsche zu wecken.

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Das Auto dient nicht nur als Statussymbol, sondern es verpestet auch die Luft. Die Fabriken schicken Qualm und Rauch in die Atmosphäre, chemischer Abfall besudelt Flüsse, Seen und das Meer. Künstlicher Dünger steigert zwar die Ernteerträge, er belastet aber auch die Gewässer. So kann man fortfahren: Straßen und Städte fressen sich in die Naturlandschaft. Aus einst maßvoll genutzten Mischwäldern wurden eintönige Monokulturen aus schnellwachsenden Fichten. Die »extensive« wurde zur »intensiven« Landwirtschaft und kommt mittlerweile ohne Kunstdünger und Schädlingsgifte nicht mehr aus. Kein Wunder: Wo eine Pflanzenart massenhaft wächst, lockt sie auch jene Kleinlebewesen an, die von ihr leben.

Mit wachsender Menschenzahl und zunehmender Technisierung haben jedenfalls auch die vier hauptsächlichsten Umweltbelastungen zugenommen: die Wasser­verschmutzung, die Luftverpestung, der Lärm und die Müll-Lawine.

Trotz verbesserter Reinigungsverfahren fließt auch heute noch ein Teil der Abwässer ungeklärt in Flüsse und Seen. Ein trauriges Beispiel ist der mit Schadstoffen überlastete Rhein, der seit langem zur »Kloake Europas« geworden ist. Nahezu allwöchentliche Meldungen über Fischsterben auch in kleineren Flüssen und Bächen sprechen für sich.

In Zahlen läßt sich das Ausmaß der Schmutzschwemme nur schätzen. So ergießen sich heute einige hunderttausend Kubikmeter einer aus Exkrementen, Chemikalien und anderen Schadstoffen bestehenden Brühe in die bundesdeutschen Gewässer, die uns ihrerseits Edelfische liefern sollen und aus denen wir zum Teil unser Trinkwasser beziehen.

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Eine Wasserpest besonderer Art verursachen die Öltanker-Unfälle in der Nähe der Küsten. Als der Supertanker Torrey Canyon vor der südenglischen Küste leckschlug, nahm das Fisch- und Muschelsterben an der Unglücksstelle phantastische Ausmaße an. Ein sarkastischer Kritiker meinte: »Wären statt des schwerflüssigen Öls Unkrautvernichtungsmittel in den Tanks gewesen, das gesamte pflanzliche Leben in der Nordsee hätte ausgelöscht werden können.« Dabei bereiten die Tanker-Unfälle nicht einmal die größten Sorgen, denn der Löwenanteil der Ölverschmutzung auf dem Meer geht auf die Unsitte mancher Tankerkapitäne zurück, ihre Transportbehälter auf hoher See illegal von Ölrückständen zu reinigen.

Gefährlich für die Binnenseen ist auch der Zustrom von Phosphaten. Mit dem Regen und mit, unvollständig geklärten Abwässern gelangen sie über die Vorfluter oder direkt in die Gewässer. Phosphate sind als Bestandteile von Wasch- und Düngemitteln offenbar noch immer notwendig. Welche Hausfrau würde auf ihr vertrautes Spülmittel verzichten, welcher Bauer wollte ohne künstlichen Dünger auskommen? Leider haben die Phosphate aber eine unangenehme Eigenschaft. Sie mästen die Wasserpflanzen, sie lassen sie ins Kraut schießen. Massenweise wird unter dem Einfluß dieser Chemikalien Biosubstanz produziert.

Wenn Wasserpflanzen verrotten, verbrauchen sie Sauerstoff. Hält sich der Pflanzenwuchs in Grenzen, so ist alles in Ordnung. Nimmt er unter der Düngewirkung der Phosphate jedoch überhand, so reicht der vorhandene Sauerstoff im Wasser bald nicht mehr aus, um die abgestorbenen Pflanzenmassen vollständig zu zersetzen. Die Folge: Der Sauerstoffgehalt des Wassers sinkt. Stinkender Faulschlamm entsteht. Der See, dem solches widerfährt, »kippt um«, wie die Fachleute sagen. Schwefelwasserstoff steigt vom Boden auf, das Wasser wird ungenießbar, Fische und andere Wassertiere sterben.

Hinzu kommt: Süß- und Trinkwasser gibt es nicht unbegrenzt. Darum sollte es eigentlich nicht verschwendet werden. Dies geschieht aber dennoch in hohem Maß, ohne daß die seit Jahrzehnten fortgesetzten Mahnungen viel gefruchtet hätten. Ein Beispiel: Wer sein Auto selber wäscht, verbraucht dabei bis zu 200 Liter des kostbaren Rohstoffs, und allein der häusliche Verbrauch pro Kopf und Tag erreicht bei uns gut und gern seine 60-100 Liter, von denen nur rund 2,5 Liter zum Trinken und Kochen dienen.

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Den Mißbrauch, den wir mit dem Wasser treiben, leisten wir uns auch mit der Luft. 

Alljährlich schicken wir tonnenweise giftige Gase, darunter Schwefel­dioxid, Kohlenmonoxid, Fluor und Chlor, Blei- und Stickoxide, Übelkeit- und krebserregende Stoffe in die Luft, die wir atmen. Mehr als dreihundert chemische Verbindungen nehmen an dieser Verschmutzung teil, darunter auch winzige Ascheteilchen. 

Man hat die Lungen verstorbener Bewohner von Industriestädten mit denen von Landmenschen verglichen. Dabei zeigte sich, daß die »ländliche Lunge« dank der Berührung mit relativ sauberer Luft ihre natürliche rote Farbe behält. Die Lungen der Industriestädter dagegen sind fast schwarz von der rußhaltigen Luft, die sie tagein, tagaus einzuatmen gezwungen waren.

Zwar ist die Ruhrluft — um ein deutsches Beispiel zu nennen — dank strenger Auflagen für die Industrie seit Mitte der sechziger Jahre sauberer geworden. Neuere Untersuchungen zeigen indes, daß daran auch die Krise der Stahlindustrie und reichliche Regenfälle in den letzten Jahren mitgewirkt haben. Der Regen freilich bringt auch Unerfreuliches. Er ist »sauer« geworden, sauer vor allem von den Schwefel- und Stickstoffverbindungen in der Luft, mit denen er sich auf seinem Weg zur Erde belädt. Und der saure Regen ist aggressiv. Er zerstört auf die Dauer die säureempfindlichen Quarzitverbindungen im Beton und Sandstein. Gebäude aus solchem Baumaterial werden regelrecht zerfressen. Tatspuren des modernen Säuremörders stellten Chemiker nicht nur an der erst wenige Jahre alten Ruhr-Universität in Bochum fest — auch der Kölner Dom ist betroffen. Sein Sandstein verwitterte in den letzten 30 Jahren rascher als in den dreihundert Jahren davor.

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Übel nehmen das säuerliche Naß vom Himmel auch die Wälder, was zunächst nur im Ruhrgebiet aufgefallen ist. Dort kümmern die Kiefern- und Fichtenwaldungen jetzt nur noch dahin. Ob hier ein ursächlicher Zusammen­hang besteht, ist zwar noch nicht ganz sicher, doch der Verdacht wächst. Allein im Jahre 1980 sind im Ruhrgebiet rund 600.000 Tonnen Schwefel freigesetzt worden, und die Niederschläge dort enthalten drei- bis fünfmal soviel Schwefel wie der Regen im Schwarzwald.

Unterdessen findet man die Kiefern- und Fichtenkrankheit schon fast überall in Mitteleuropa. 65 Prozent der Kiefern seien nahezu völlig entnadelt, knapp die Hälfte aller Fichtenbestände zeigten Absterbeerscheinungen, und auch die meisten Tannen seien betroffen, erklärten Forstfachleute auf einer Tagung der Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege in Riemerling bei München im März 1982. Der gleichen Quelle zufolge trifft es inzwischen auch die Laubwälder. Beinahe alle Buchen in den Waldungen Nordbayerns und des Spessarts seien erkrankt. Die Buchenrinde breche auf und der sogenannte Buchenweißfluß werde sichtbar, was auf eine innere Erkrankung der Stämme schließen lasse. Pilze und Wolläuse siedelten sich an, die Bäume würden »weißfaul« und stürben innerhalb eines Jahres ab.

Wer an windstillen Tagen im »Revier« herumfährt, kann bei bestimmten Wetterlagen den berüchtigten Smog erleben. Der Ausdruck entstand aus der Wortverbindung von smoke (Rauch) und fog (Nebel). Smog kommt zustande, wenn über kalter Bodenluft Warmluft lagert und den Luftaustausch in senkrechter Richtung behindert. Die Metereologen sprechen von »Inversionswetterlagen«. Da glimmt die Sonne, wenn überhaupt, so nur noch als milchigtrübe Scheibe am Himmel. Auto- und Industrieabgase verdichten sich unter der Warmluftschicht wie der Wasserdampf unter dem Kochtopfdeckel. Stickige Schwaden lasten über dem Land. Zumal älteren Leuten macht das schwer zu schaffen. Sie bekommen Herzbeklemmungen, Reizhusten, müssen sich erbrechen, leiden an Schleimhautentzündungen und brauchen ärztliche Hilfe.

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Die Übeltäter sind hier vor allem die Autoabgase. An Straßenkreuzungen ist diensttuenden Polizisten während einer Smog-Periode schon übel geworden. Und wer weiß, wie den Kleinkindern zumute ist, wenn sie an solchen Tagen im Kinderwagen herumgeschoben werden? Das Kohlenmonoxid aus dem Auspuff ist schwerer als Luft, es lastet am Erdboden. Diesem Gas, das Selbstmördern in der abgeschlossenen Garage den Tod bringt, sind die dem Straßenpflaster näheren Kinder viel stärker ausgesetzt als die Erwachsenen, die ihre Nasen einen Meter höher tragen.

Eine gefährliche Form der Luftverschmutzung entsteht auch durch den Gebrauch bestimmter Spraydosen. Soweit sie Treibgase aus Fluorkohlenstoffen oder Chlorfluormethan enthalten, sind es kleine Zeitbomben. Die freigesetzten Gase steigen in die Stratosphäre auf und erreichen etwa 30 Kilometer über der Erde die sogenannte Ozonschicht. Das ist eine schalenförmige, ozonhaltige »Haut«, die von den ultravioletten Sonnenstrahlen erzeugt wird. Das UV verwandelt den Luftsauerstoff hoch oben zu einer dreiatomigen chemischen Verbindung — eben dem Ozon. Der Vorgang kostet die Strahlung Kraft — zu unserem Glück: Denn nun gelangt das ultraviolette Sonnenlicht nur noch abgeschwächt auf die Erde. Es bräunt zwar unsere Haut, doch kann es — maßvoll genutzt — keinen Hautkrebs erzeugen. Die erwähnten Treibgase aber können den Schutz aufheben. Sie durchlöchern die Ozonschicht über der Erde und verschaffen den gefährlichen Kurzwellen freie Bahn zur Erdoberfläche.

Doch weiter:  

Die Umweltverschmutzung, die bis in die Stratosphäre reicht, steht ebenbürtig neben einer akustischen — dem Krach, dem Lärm. Schon vor gut einem halben Jahrhundert hatte der Bakteriologe Robert Koch prophezeit: »Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest.« Seine Warnung blieb lange unbeachtet. Erst allmählich geht uns auf, wie recht er hatte.

Von Baustellen-, Flugzeug- und Straßenlärm wird heute in der Bundesrepublik jeder einzelne Bürger zeitweise, jeder neunte ständig belästigt. Viele sind lärmkrank — auch ohne es zu wissen. Bei manchen Geisteskranken ist Lärm der Auslöser ihres Leidens gewesen.

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Wenn plötzlicher Lärm das Ohr erreicht, schlägt das Herz rascher, ziehen sich die Blutgefäße zusammen, weiten sich die Pupillen und verkrampfen sich Magen, Darm und Speiseröhre. »Der Betroffene mag den Lärm vergessen«, befand der Ohrenspezialist Dr. Samuel Rosen aus Boston, »sein Körper vergißt ihn nicht.«

Die Lärmbelastung hat viele Gesichter. Als eine der gefährlichsten Lärmquellen trotz ihrer wachsenden Beliebtheit gelten Beatschuppen und Discotheken. Denn in den akustischen Opiumhöhlen werden Lautstärken geboten, die auf die Dauer ziemlich sicher Gesundheitsschäden auslösen. Manche Disc-Jockeys stecken sich zum Schutz Zigarettenfilter in die Ohren, doch nicht wenige Disco-Fans sind auf dem Heimweg oft halbtaub und außerstande, sich auf die Straßengeräusche einzustellen. Das wird jedoch hingenommen. Gelegentliche Begründung: Die lautstarke Musik sei wie ein schützender Mantel. Sie schirme ab und bewahre davor, den andern reden zu hören und selbst sprechen zu müssen.

Was macht die Lärmgeißel so gefährlich? 

Unser Ohr übt, ähnlich wie die Nase, eine Warnfunktion aus. Es dient nicht nur zur Verständigung, es läßt auch Gefahren erkennen. Geräusche, die als Lärm empfunden werden, haben solchen gefahrverkündenden Alarmcharakter. Sie bewirken, daß sich der Körper auf eine Abwehrreaktion einstellt. Das Herz bereitet sich auf eine erhöhte Leistung vor. Das Nervensystem gerät in einen Zustand der Anspannung.

Das Ärgerliche an diesem Zustand ist, daß er sich so rasch nicht wieder löst. Denn die erwartete Abwehrreaktion, die »Entladung«, bleibt ja aus. Der Schreckreiz stellt sich als blinder Alarm heraus. Und das nicht nur einmal — in lärmreicher Umgebung geschieht es wiederholt: Mit jedem neuen Geräusch läuft das Spiel des Erschreckens mit der darauf folgenden Enttäuschung über die ausbleibende Abwehrreaktion ab.

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Natürlich gibt es auch so etwas wie eine Psychologie des Lärms. Einen Reeder wird das Dröhnen der Niethämmer von der nahen Werft entzücken, den Büro­angestellten bringt es auf die Palme. Den Schlagzeuger und seine Zuhörer macht sein Solo immer wieder »high«, die alte Dame im Stockwerk darüber treibt es zur Verzweiflung, weil sie nicht schlafen kann. Offenbar wird Lärm verschieden empfunden. Der ihn macht, erlebt ihn anders als der, der ihn erdulden muß, und der, für den er Profit bedeutet, lauscht ihm mit den angenehmsten Gefühlen.

Sprechen wir noch vom Müll.  

Nicht vom Atom-Müll, der von anderer Dimension und ein Ärgernis für sich ist. Reden wir vom ordinären Müll, der in die Mülleimer kommt. Er ist der anrüchigste Teil der Umweltverschmutzung. Man stelle sich vor, daß in der Bundesrepublik — vorsichtig geschätzt — alljährlich 200 bis 300 Millionen Kubikmeter Müll anfallen. Mit dieser Menge könnten rund 2,68 Millionen Güterwagen beladen werden. Koppelte man sie aneinander, so würde ein Zug entstehen, der mindestens vierzigmal von Köln nach Königsberg reichte.

In den USA ist die Lage noch ärger, wenn auch das Land viel größer ist. Nach einem Bericht der Time rangieren die Amerikaner alljährlich sieben Millionen Autos aus und werfen 100 Millionen Autoreifen weg. Hinzu kommen 20 Millionen Tonnen Altpapier, 28 Milliarden Flaschen und 40 Milliarden Büchsen. Die Kosten für die amerikanische Müllbeseitigung dürfte derzeit jährlich etwa fünf Milliarden Dollar betragen. Davon könnten wir hierzulande 30.000 komfortable Eigenheime bauen.

Die Frage stellt sich: Wohin mit dem Unrat? Verbrennen läßt sich nicht alles, und außerdem: Wo verbrannt wird, da entsteht Rauch, da stinkt es, da wird die Luft verpestet. Der Teufel würde mit dem Beelzebub ausgetrieben. Also reguläre Müllkippen? Das wäre eine Lösung. Man könnte ganze Täler ausfüllen, sie später begrünen und besiedeln. Nur quellen die regulären Kippen auch schon über. Auch sind laut Bonner Städtebauinstitut nicht alle Deponien als »geordnet« und »kontrolliert« anzusehen. Vielen fehlen die einfachsten technischen und hygienischen Voraussetzungen dafür, daß nichts passiert. Ratten tummeln sich im stinkenden Unrat. Schwelbrände lassen stickige Rauchschwaden als Wahrzeichen für eine Belästigungsform über den Gruben und Halden aufsteigen, die den in der Nähe Wohnenden zur Plage wird. Faulgase entwickeln sich und explodieren im ungeeignetsten Augenblick.

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Auch sammeln sich unter den Müllgruben trübe und übelriechende Flüssigkeiten an, die das Grundwasser gefährden. »Wo Ablagerungen unsachgemäß erfolgen«, so die Vereinigung Deutscher Gewässerschutz, »hat das Grundwasser durch Sickersäfte Schaden davongetragen. Jährlich sickern rund 250.000 Tonnen Salze aller Art aus den Müllplätzen durch Niederschläge ins Grundwasser.«

Müll gefahrlos zu beseitigen, ist offenbar nicht einfach. 

Problematisch vor allem ist das bunte Sammelsurium, das der moderne Wohlstandskehricht darstellt. Glas kommt neben Papier vor. Blech, Textilien, Knochen und verdorbene Lebensmittel lagern neben ranzigen Salben und anderen Medikamenten. Möbeltorsos bilden mit Gummireifen, demolierten Kühlschränken, ausgeschlachteten Autowracks und Tierkadavern surrealistische Szenerien. Neben gänzlich Undefinierbarem finden sich voll funktionsfähige Dinge wie Radios oder Bügeleisen: Gegenstände, die aus plötzlicher Abneigung weggeworfen oder gegen das neueste Modell eingetauscht wurden. 

Unsere Müllkippen spiegeln unsere Völlerei. Sie sind Indikatoren für die Kapitulation der Masse vor der Konsumwerbung.

Was eine rationelle Müllbeseitigung so schwierig macht, ist das Neben- und Durcheinander so vieler verschiedener Dinge. Glas beispielsweise verrottet nicht, es fällt aber trotz eindringlicher Appelle, dafür bereitgestellte Container oder Glasmüllschlucker zu benutzen, immer wieder in großen Mengen zusammen mit verrottendem Müll an. Oder der Kunststoff: Von ihm sind Produkte mit ganz verschiedenen Eigenschaften und entsprechend unterschied­lichem Verrottungsverhalten auf dem Markt. Manche zersetzen sich, andere bleiben länger stabil, manche lösen sich in der Hitze auf, andere werden im Licht unansehnlich. Besonders zu schaffen macht den Müllspezialisten, daß viele Kunststoffe so dauerhaft sind. Was sich während des Gebrauchs als nützlich erweist, wird zum Problem, wenn es beseitigt werden muß.

Herumärgern muß sich der Wohlstandsbürger vor allem mit dem PVC, einem Kunststoff, der auch als Verpackungsmaterial für Lebensmittel und Kosmetika dient. Verbrennt man die leeren Behälter oder schmort ein PVC-Lampenschirm über einer elektrischen Birne, so wird gasförmiger Chlorwasserstoff frei. Dieser wiederum reizt die Schleimhäute, er kann sogar Lungenschäden verursachen. 

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Und das Problem wächst.

Umweltverschmutzung ist zu einem Begleitübel dessen geworden, was der Mensch heute als seine Zivilisation preist. Offenbar ist kein Kraut gegen sie gewachsen. Im Gegenteil: Angesichts steigender Ansprüche und einer rasch zunehmenden Weltbevölkerung wird das Müllproblem eher größer als kleiner werden. Aber auch hier stellt sich die Schuldfrage nicht, so schwer im einzelnen die Vorwürfe an den gesunden Menschenverstand auch wiegen mögen. Der Mensch ist für seine Umweltverschmutzung letzten Endes exkulpiert. (deto-2009: exkulpieren: entlasten, rechtfertigen, entschuldigen.)

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Vielleicht hätte der Homosapiens noch eine Überlebenschance, wenn sich sein Gehirn in den letzten hunderttausend Jahren weiterentwickelt hätte und heute das Rüstzeug dafür bereithielte, seine selbstgeschaffenen Probleme zu lösen. Doch ist das Gehirn »stehengeblieben« — aus Gründen, über die wir schon ausführlich gesprochen haben. Es diktiert uns ein Verhalten, das einer ganz anderen Umwelt und anderen Lebensbedingungen gemäß wäre. So kompliziert es ist und sosehr wir seine Leistungen bewundern: Unser Großhirn kann keine angemessenen Rezepte mehr dafür liefern, die Schwierigkeiten zu meistern, in die sich die Menschen unter seiner Regie verfangen haben.

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www.detopia.de    5. Störfaktor Mensch     ^^^^  

Die letzten Jahre der Menschheit  Vom Anfang und Ende des Homo sapiens  1983  Theo Löbsack