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Die projektive Abwehr des Schmerzes

Zweites Zwiegespräch

 

Über östliche Unfreundlichkeit und westliche «Krawattenmenschen»  —  Über die Minderwertigkeitsgefühle der Ostdeutschen und den Überlegenheits­rausch der Westdeutschen  —  über den anderen Klang der Kinderstimmen in Halle und die frühreifen Kinder in Westdeutschland  —  über die Familie als Fluchtburg im Osten und die «elternlose Gesellschaft» im Westen  —  über den Geburtenrückgang in Deutschland und die problematischen Seiten der Emanzipation — über die Sexwelle in Ostdeutschland und den produktions­orientierten Liebesakt in Westdeutschland  —  über die Verdrängung der NS-Vergangenheit und den Heilungsrausch der Vereinigungsnacht 

 

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MaazIch möchte berichten, wie es mir ergangen ist bei meinen ersten Reisen nach Westdeutschland. Ich halte drei Erfahrungen für wichtig, weil sie etwas über die Unterschiede zwischen Ost und West aussagen. Das erste war, daß ich angenehm überrascht war, fast überall in den «öffentlichen» Kontakten auf Freundlichkeit zu stoßen, etwas, was ich in der DDR so nicht kennengelernt hatte. Ob bei der Bundesbahn am Schalter, ob im Reisebüro, in den Geschäften, in den Gaststätten oder auf der Straße, wenn ich fremde Menschen um Hilfe bat, ja selbst bei Behörden — überall begegneten mir Höflichkeit und Freundlichkeit, die ich genossen habe. Das Gefühl, daß ich als Kunde oder Gast erwünscht bin, war sehr angenehm. In der DDR war man ja in solchen Situationen stets Bittsteller und wurde häufig erst mal abgekanzelt. Fast immer wurde man belehrend oder schroff behandelt.

Auch die perfekte Organisation der Serviceleistungen hat mich staunen lassen. Es schien einfach alles zu funktionieren und war wirklich auf die Menschen zugeschnitten. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Als ich mit der Bahn auf die Zugspitze fahren wollte, herrschte ziemlicher Andrang, für mich eine unangenehm gewohnte Erfahrung. Das bedeutete also, anstehen zu müssen. Aber nichts dergleichen — ich bekam eine numerierte Karte mit dem Hinweis, um welche Uhrzeit ich fahren konnte, so daß ich noch eine gute Stunde Spazierengehen konnte, statt mich im Gedränge dämlich zu ärgern. An und für sich waren dies ganz einfache und selbstverständliche Regelungen, auf die aber in der DDR niemand gekommen wäre.

Eine Ernüchterung trat erst ein, als ich langsam begriff, daß auch im Westen natürlich nicht ich persönlich gemeint war, sondern es vor allem darum ging, mich möglichst dazu zu bewegen, mein Geld auszugeben. Und dieses Ziel war so geschickt mit Freundlichkeit umhüllt, daß ich anfangs öfters den raffinierten und verlockenden Werbetricks zum Opfer fiel.

Die dritte Erfahrung hat etwas mit einer Mentalität zu tun, die ich bei Westdeutschen öfters angetroffen habe und die mich geärgert und aufgeregt hat. Ich meine so eine aufdringliche, laute und arrogante Art, ein mäkeliges Gebaren und auch sehr oberflächliche Kontakte. Ich beobachtete immer wieder Gespräche, die vor allem darin bestanden, sich selber herauszustreichen — einer wollte immer besser sein als der andere. Man versuchte zu glänzen mit besonderen Erlebnissen, mit weiten Reisen oder einem günstigen Kauf. Das ewige Gerede von «preiswerten» Waren, von einem besonderen «Schnäppchen» und davon, wo irgend etwas billiger oder teurer ist, ging mir auf die Nerven. Geld war irgendwie immer ein Thema!

Die kleinkarierte Variante dieses Verhaltens habe ich schon bei uns kennengelernt, wenn es hieß: «Was ich wieder aus dem Westen bekommen habe!» Für mich ist aufschlußreich, daß das Rivalisieren bei uns vor allem auf Westprodukte orientiert war, daß also diese westliche Mentalität gewissermaßen sogar die Mauer überwinden konnte.

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Moeller: Vielleicht kann ich mein Bild von den Ostdeutschen dagegensetzen, wobei ich sagen muß, daß meine Begegnungen sehr wenige waren, aber man entnimmt ja auch oftmals einem einzigen Menschen oder einer kleinen Menschengruppe sehr viel, was charakteristisch für das Ganze ist. Im Gegensatz zur Freundlichkeit, die Sie im Westen erlebt haben, habe ich auf der Fahrt hierher tatsächlich die umgekehrte Erfahrung machen müssen — eine Unfreundlichkeit, die mich völlig überraschte. Ich glaube, ich war unauffällig angezogen, als Westler also nicht sofort zu erkennen, so daß ich behandelt wurde wie jeder andere. Ich denke beispielsweise an den erwähnten Omnibusfahrer, der von einer solchen Verdrießlichkeit, Mürrischkeit und beinahe kränkenden Abweisung war, daß ich mir sagte, so ein Mensch würde nie im öffentlichen Verkehrswesen der Bundesrepublik eingestellt werden. Und wenn er bereits Dienst täte, würde man ihn versetzen. Mich schockierte nicht nur der kurze Kontakt, als ich mein Geld hinlegte, um die Fahrkarte zu bezahlen, und er mir die Fahrkarte vollkommen zerknüllt hinwarf. Seine ganze Mikrogestik war voller Aggression, und seine muffelige Machthaltung war keineswegs nur auf mich bezogen. Er war einfach ein Kleindiktator in seinem Territorium.

 

Maaz: Das kennen wir seit 40 Jahren.

 

Moeller: Es gibt natürlich auch in Westdeutschland mürrische Leute, aber das sind eher Ausnahmen und sehr selten in dieser eindrucksvollen Ausprägung. Als ich den Busfahrer dann am Leipziger Hauptbahnhof höflich fragte, ob ich auf die Ost- oder Westseite gehen sollte, um meine Fahrkarte zu kaufen, erhielt ich wieder so eine pampige Abfuhr: Damit müsse ich selber zu Rande kommen, er wisse hier nicht Bescheid — in einer Tonlage, als wollte er sagen: «Was soll denn der ganze Quatsch dieser Frage?» Angesichts seiner großen Leibesfülle dachte ich, er habe an sich selbst genug zu schleppen und sei nicht repräsentativ für Ostdeutschland. Doch am Fahrkartenschalter stieß ich auf die gleiche Reaktion, als ich die Beamtin danach fragte, auf welchem Gleis der Zug abfahre. Ich fühlte mich aus irgendeinem Grund ziemlich orientierungslos, wie in einem fremden Land, und selbst als ich danach fragte, wo ich

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mich informieren könnte, reagierte die Beamtin in einer Weise, als wäre meine Frage eine Zumutung. Nach dem Motto: «Was fällt Ihnen eigentlich ein, mich zu fragen? Sie brauchen doch nur um die Ecke zu gehen, da hängt ein Aushang!» — was ich natürlich nicht wissen konnte. Das Wesentliche dabei war nicht nur, was sie sagte, sondern wie sie es sagte.

Das andere Grunderlebnis, das ich mit der DDR hatte und das viele Westdeutsche mit mir teilen, ist die Fahrt nach Berlin und zurück. Ich habe sechs Jahre in West-Berlin gelebt und konnte die kontaktlose, peinlich exakte, beinahe bedrohliche Kontrolle mehrfach am eigenen Leib erfahren — das war meine Begegnung mit dem Regime, und sie machte mir angst. Ich stellte mich zwar auch ab und zu auf die Hinterbeine, aber im wesentlichen habe ich mich angepaßt, habe alles, was die Beamten verlangten, exakt gemacht, um nur nicht anzuecken. Und ich vermutete dieses gräßliche Klima auch im Alltagsleben der DDR.

 

MaazIch höre das mit einer gewissen Schadenfreude. Genau das hat unser Leben stets begleitet, das hat uns zermürbt. Überall diese kleinen Diktatoren, und immer diese Ohnmacht aufgrund des großen Drucks zur Anpassung. Ich dachte manchmal, daß die Westdeutschen das besser bewältigen würden als wir, daß sie sich nicht so beschämend unterkriegen lassen würden. Daß auch Sie ängstlich waren und angepaßt, beruhigt mich ein bißchen, weil es offenbar nicht nur unsere eigene Unfähigkeit war, diesem System der ständigen Demütigung wirksam zu begegnen. Das System war tatsächlich so arrangiert, daß Angst und Ohnmacht unvermeidlich waren.

 

MoellerDer Unterschied war nur, daß es für DDR-Leute um die ganze Existenz ging, während ich nur die Durchreise wollte. Aber selbst da wußte man, daß man, wenn man irgend etwas tat, was den Vertretern dieses Staates nicht paßte, einfach in den Wartesaal gesetzt wurde und dort fünf Stunden warten mußte.

 

MaazEntscheidend ist, daß es reale Strafen für unbotmäßiges Verhalten gab — das macht das kleinlaute Unterordnen wieder verständlich.

 

Moeller Für mich war das ein schrecklich bedrückendes Gefühl,

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das es jetzt glücklicherweise nicht mehr gibt - dieses Angstmoment ist weg. Ich habe einmal eine Bemerkung von einem Albaner gelesen, die genausogut von jemandem aus der DDR stammen könnte: Fünfzig Jahre lang, schrieb der Mann, habe ich nie die Wahrheit sagen können — jetzt bin ich zum erstenmal in meinem Leben in einer Situation, in der ich offen sprechen kann. Mich hat das sehr berührt. Und ich frage mich, was diese Unfreiheit mit den Menschen macht, oder psychoanalytisch gesprochen — wie tief geht sie in die seelische Struktur ein ? Ist sie nur eine oberflächliche Erfahrung, die sich irgendwie auswächst, oder prägt sie nicht doch das ganze seelische Verhalten und Erleben? Bedeutsam ist für mich noch ein anderer Aspekt — dieses merkwürdige Gefühl, daß alle Ostdeutschen irgendwie älter sind als ihre Altersgenossen im Westen.

 

MaazÄlter erscheinen!

 

Moeller:  Älter erscheinen — als wären sie «vorgealtert». Ich glaube, das liegt daran, daß die Menschen in der DDR zu viel reglementiert wurden. Sie kommen gleichsam aus dem Verlies und konnten durch zu viele Enttäuschungen, durch zu wenige Chancen ihr eigenes Potential nicht entfalten. Der «Jungbrunnen» liegt aber meines Erachtens dort, wo man zu sich selbst kommt, wo man auf sich selbst hören und achten kann. Wenn man dauernd «Spalierobst» werden soll und sich immer nach etwas richten muß, wird einem der eigene Atem genommen.

Ein anderes Gefühl, das ich im Osten habe, ist der Eindruck, ich blicke in die Vergangenheit zurück. Wenn ich hier bin, habe ich immer die Trümmerarbeit der Nachkriegszeit in Hamburg vor Augen, als wir Steine klopften. Die Menschen in der ehemaligen DDR kommen mir oft so vor wie in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit. Das fängt bei der Kleidung an - alles wirkt so zurückgeblieben, hat nichts, überhaupt nichts vom Atem der großen weiten Welt. Natürlich gibt es solche Differenzen auch zwischen Frankfurt am Main und Paris, aber verglichen mit Frankfurt kommt mir die DDR völlig provinziell vor.

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Eine dumpfe Provinz, in der das Gros der Menschen nichts von jener Nachdenklichkeit und Offenheit hat, wie man sie vielleicht aus der besseren DDR-Literatur kennt. Sie hatten — das hat mich sehr bedrückt, als Sie das sagten — niemals die Chance, sich selbst zu entfalten und zu sich zu kommen, Kreativität und Spontaneität zu entwickeln.

Schließlich beeindruckte mich noch etwas anderes, was Sie in Ihrem Buch* ausführlich beschrieben haben — die ungeheuer großen emotionalen Hemmungen und Verkrampfungen der DDR-Bürger. Ich denke zum Beispiel an eine Begegnung mit einem damals noch DDR-offiziellen Repräsentanten der Psychotherapie, als das Regime noch nicht gefallen war. Die Art und Weise seines Vortrags ähnelte fatal der Art und Weise, wie ich sie ab und zu im Fernsehen oder Rundfunk bei offiziellen Reden aus der DDR gehört habe: unentfaltet, zwanghaft und gehemmt, sich geradezu an den Buchstaben des Textes festhaltend, ein bißchen ängstlich, aber diese Ängstlichkeit überspielend mit einem betont selbstbewußten, schroffen, fast trotzigen Auftreten. In psychoanalytischen Worten: eine gehemmte Analität. Ähnliche Erlebnisse hatte ich aber auch mit Verwandten und Bekannten, die mich besuchen kamen: Überall stieß ich auf eine ängstliche, starre Haltung. Die Familie, mit der ich verwandt bin, besteht aus Menschen, die es im öffentlichen Leben der DDR teilweise weit gebracht haben. Und ich habe das Gefühl, je höher man kommt, desto angepaßter und hölzerner wird das Auftreten.

Am Beispiel dieser Familie erlebe ich jedoch nicht nur diese Gehemmtheit, sondern spüre auch deutlich, wie sie mich und den Westen erleben. Ich begegnete einer maßlosen Idealisierung des Westens, die mich an Jugendliche erinnerte, die von irgend etwas begeistert sind und überhaupt nicht mehr in der Lage sind, dieses auch kritisch zu betrachten. Sie waren vom Glanz des Westens wie geblendet, so daß bei den Wahlen in Ostdeutschland in meinen Augen tatsächlich buchstäblich die Deutsche Mark gewählt wurde, das heißt der Westen in seiner etablierten und nicht in seiner kritisch überlegenen Form.

 

*  Hans Joachim Maaz: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990.

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Ein anderes Empfinden, das ich bei meinen menschlichen Begegnungen mit Ostdeutschen hatte, ist etwas merkwürdig Trübsinniges und Depressives. Es war nicht offen traurig; das hätte ich sehr gut gefunden, weil ich dann auch Nähe erlebt hätte. Vielmehr hing immer eine Art Grauschleier über den Ost-West-Beziehungen. Ich fand zum Beispiel die Menschen nicht besonders attraktiv. Ich war von ihnen nicht erotisiert. Wenn ich mir vorzustellen versuchte, mich in der DDR zu verlieben, ging das gar nicht. Ich hatte das Gefühl, die Menschen wären seelisch «zusammengedrückt» wie viel zu kleine Betten. Als ich heute früh in meinem Zimmer aufwachte, war witzigerweise an der Fußseite meines Bettes das Abschlußbrett aus dem Scharnier gegangen, und ich hatte das Gefühl, ich läge tatsächlich in einem zu kleinen Bett. Ich sehe darin ein Symbol für die Reglementierung, für dieses einengende Grundgefühl: «Ich kann hier nicht so leben, wie ich eigentlich möchte».

 

Maaz: Was Sie da über uns sagen, ist ja im Grunde genommen starker Tobak. Aber eigenartigerweise fühle ich mich gar nicht gekränkt, wenn Sie feststellen, daß wir eingeengt, gehemmt, konventionell, «vorgealtert», nicht erotisch, eben furchtbar spießig sind. Im Prinzip sehe ich das genauso und habe das auch in ähnlicher Weise diagnostizieren müssen. Aber im Moment empfinde ich nicht so sehr Scham darüber, sondern sehe vor allem den Trotz, der sich darin ausdrückte — als hätten wir damit diesem beschissenen System demonstrieren wollen, wie wir in Wirklichkeit zu unserem Staat stehen. Wir sollten ja alle glückliche, fröhliche, allseitig gebildete und vor allem dankbare «Kinder» sein; indem wir das Gegenteil praktizierten, haben wir uns gewehrt wie ein kleines Kind, das mit erfrorenen Fingern nach Hause kommt und seiner Mutter den Vorwurf macht: «Siehst du, das hast du davon! Warum ziehst du mir keine Handschuhe an ?»

Gleichwohl bin ich auch ärgerlich darüber, daß wir uns so eingerichtet und uns dabei so selbstbeschädigt haben. Wenn ich mir auf der anderen Seite die Westmenschen angucke mit ihrer oftmals übertriebenen Lockerheit, ihrer Sauberkeit und Jugendfrische, auf-

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gemotzt und für den «Markt» und für den Konkurrenzkampf «kosmetisch» zurechtgemacht — dann rümpfe ich auch die Nase. Manchmal sage ich: «Jetzt kommen die Krawattenmenschen oder die Anzugsmenschen.» Die sind mir ähnlich unangenehm wie Ihnen die Begegnungen mit Ostdeutschen. Ich fühle mich in dieser aufgemachten Vornehmheit nicht wohl, mag diese Etiketten nicht, diese übertriebene Cleverness und Weltgewandtheit, die meistens mehr verspricht, als sie hält, wenn man hinter die Fassade schaut.

Wahrscheinlich urteilen wir beide jetzt etwas zugespitzt und klischeehaft. Aber ich entdecke darin auch etwas von dem «Westkomplex », an dem bei uns viele leiden. Ich selber hatte meist das Gefühl, alles, was wir hier im Osten haben, tun und sind, ist minderwertig. Als ich die ersten Male eingeladen war, um « drüben » Vorträge zu halten, habe ich Blut und Wasser geschwitzt, ob ich da überhaupt bestehen könnte und ob das, was ich zu bieten hätte, für Westbürger überhaupt interessant sei. Daß es auch von West nach Ost ein Interesse geben könnte, daß Nachbars Kirschen irgendwie besser schmecken, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Ich hab mich minderwertig gefühlt und damit den Westen überhöht, denn so war ich konditioniert.

Alles was aus dem Westen kam, hatte ja tatsächlich meistens auch mehr Qualität: Die Seife roch besser, der Joghurt war schmackhafter, die Kleidung schicker, die Autos schnittiger usw. usw. Auch in meinem Fach habe ich mich fast ausschließlich an der westlichen Literatur orientiert, stets mit dem resignierenden Neid, was die alles haben und können. Es hat eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe — und dazu war das gegenseitige Kennenlernen nötig —, daß ich gar nicht so schlecht bin, in manchen Dingen sogar durchaus besser. «Die kochen ja auch nur mit Wasser», stellte ich zunächst ungläubig-erstaunt, dann aber sehr erleichtert fest. Ich hatte mich selber nicht wirklich ernst genommen, nicht richtig angenommen, was eine Folge meiner permanenten Erfahrung von Ablehnung war. Meine Eltern waren weder bereit noch in der Lage, mich wirklich zu verstehen, und erst recht nicht dieses System.

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So blieb ich auf Distanz, was mein Selbstwertgefühl untergraben hat, denn nur in der trotzigen Gegen-Identität fand ich Kraft. Ich habe meine Kränkung und den Schmerz projektiv abgewehrt, indem ich den Westen idealisierte. Interessanterweise verdanke ich jetzt auch mein gewachsenes Selbstbewußtsein dem Westen. Und ich genieße das aus dem Gefühl heraus, daß mir das zusteht. Natürlich habe ich, besonders im Umgang mit den Medien, schon zu spüren bekommen, daß das Interesse an meiner Person viel mit dem Marktwert zu tun hat und nicht nur mit meinen Gefühlen und Erfahrungen. Das ist eine gute Schule für mich. Ich kann inzwischen unterscheiden zwischen den Geschäftemachern und solchen Journalisten, die wirklich an Inhalten, Personen und Schicksalen interessiert sind.

 

Moeller:  Was ich über mein Bild vom Osten gesagt habe, was ich in der DDR erlebt habe, trifft aus irgendeinem Grunde auf Sie nicht zu. Sie sind für mich eine extreme Ausnahme. Wir haben uns ja bereits vor den Zwiegesprächen gesehen, als Sie im Herbst 1990 einen Vortrag zur Psychodynamik der «Wende» gehalten haben, auf den Gruppenanalyseseminaren, die ich zur Weiterbildung von Einzelanalytikern zu Gruppenanalytikern begründet hatte. Das klang frei, aufgeschlossen, locker, und jeder sagte: «Das ist einer von uns.» Vielleicht rührt das daher, daß Sie sich als psychoanalytisch ausgerichteter Psychotherapeut einen ganz anderen inneren Freiraum bewahren konnten. Sie lebten in einer Art «ökologischer Nische».

Was Sie über den Westen gesagt haben, über die « Krawattenmenschen» und diese Schickimicki-Wirklichkeit, so ist dies wirklich häufig eine fatale Scheinwelt. Die Menschen sind nur nach außen orientiert und stehen gar nicht mit sich selbst in Berührung. Ich will also keineswegs sagen, daß «die im Westen» besser sind oder das Gegenteil von den Ostdeutschen darstellen. Ich wollte nur ganz spontan und direkt mein erstes, unreflektiertes Bild von «denen im Osten» mitteilen. Ich erlebe sie aufs Ganze gesehen als reglementiert, unterdrückt und etwas abgekapselt.

In gewisser Weise war es auch erholsam für mich, diese doppelstöckigen Eisenbahnwaggons von Leipzig nach Halle zu erleben. Ich habe sie als Symbol wahrgenommen, daß die DDR ein eigener Staat für sich war, mit einer eigenen Identität, eigenen Handlungsbeziehungen — Ostdeutschland als ein eigenständiger Organismus mit seiner eigenen Welt.

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 Gestern, als ich in den Auen an der Saale spazierenging, sind mir mehrfach Eltern, Väter oder Mütter mit Kindern begegnet. Der Klang dieser Kinderstimmen erschien mir ganz anders als der Klang von Kinderstimmen im Westen. Ich kann nicht genau ergründen, warum. Erscheinen mir diese Kinder irgendwie angepaßter? Ich glaube, das Entscheidende ist, daß die Kinder so wirken, als ruhten sie mehr in sich, als lebten sie mehr in Beziehungen, als wären Eltern und Kinder stärker aufeinander bezogen. Die Kinder erscheinen mir hier fast ein bißchen verinnerlichter, besonnener; sie wirken auch noch kindlicher — auf eine angenehme Weise kindlicher.

Im Westen sind die Kinder nervöser, überaktiver, anspruchsvoller, verwöhnter und auf eine falsche Weise frühreif. Sie sind stärker in die Massenmedien hineingezogen. Diese Erfahrung werden Sie auch noch machen. Als Vater weiß ich, daß Sie den Kindern in Westdeutschland nichts Besseres bieten können als eine gutgemachte Fernsehsendung. Eine Fernsehsendung wird von Kindern fast immer vorgezogen — schon allein deshalb, weil sich da fünfzig bis hundert Menschen Gedanken gemacht haben, wie sie den Kindern eine Geschichte schmackhaft machen können.

Hinter jeder Sendung steht ein mächtiger Kulturbetrieb. Ich denke dabei etwa an die «Sesamstraße» oder an bestimmte Kindersendungen. Später kommen Fernsehfilme dazu. Wenn ich mit meinen Kindern gerne spielen möchte, ihnen vorschlage, selber ein Spiel zu wählen, antworten sie: «Ach, das ist so langweilig!» Oft einigen wir uns dann auf einen Film, den die Eltern gut finden und sehen möchten und den die Kinder auch gut finden. Dann kauern wir vor dem Glaskasten, und ich stelle wieder einmal fest, daß ich als Vater nicht im entferntesten bieten kann, was in so einem Film abläuft. Ich kann Liebe bieten, Zuneigung und alles Mögliche an Vorschlägen, Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen — doch das finden Kinder heute zuwenig. Und mit einem gewissen Recht. Ein «E.T.» ist wirklich attraktiver.  Dieser Film, bei dem es um einen «Marsmenschen» geht, der auf die Erde kommt, ist bei uns ein großer Renner gewesen. Dagegen ist man einfach machtlos.

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Die Familie ist durch die Massenmedien zur Makulatur geworden. Sie ist längst auf unauffällige Weise ausgebootet worden. Aber sie bemerkt es nicht, weil sie, wenn sie vor dem Fernseher sitzt, sich immer noch in der Illusion wiegen kann, sie sei eine Familie. Dabei wird sie ja gerade durch das Fernsehen voneinander isoliert, sozusagen auseinandergenommen.

Mein kleiner Sohn, den ich sehr liebe, ist, obwohl erst elf Jahre alt, bereits in die Computerwelt integriert. Er hat zum Geburtstag einen Spielcomputer bekommen. Inzwischen «liest» er schon Zeitschriften auf englisch und französisch; er versteht die Sprachen gar nicht richtig und findet sich trotzdem durch. Von dem Computer geht eine Gewalt der Faszination aus, die unglaublich ist. In Ostdeutschland gab es das nicht, und weil es fehlte, kam den menschlichen Beziehungen eine größere Bedeutung zu — diesen Eindruck gewann ich jedenfalls, als mir die Kinder in den Saale-Auen von Halle begegneten.

 

Maaz: Mein Eindruck ist, daß West-Kinder in der Tendenz enthemmter, vor allem auch anstrengender und aufdringlicher sind als unsere Kinder. Ich denke manchmal, ihnen müßten auch häufiger Grenzen gesetzt werden, sie brauchten ein Gegenüber, das ihnen auch manchmal entgegentritt. Dagegen leide ich darunter, wie sehr unsere Kinder eingeengt sind, und ich wünschte mir oft bei ihnen mehr Frechheit, mehr Mut, mehr Lebendigkeit. In unserem Alltag — im Zug, in der Straßenbahn, auf der Straße oder auf Kinderspielplätzen — traf man fast überall auf das gleiche Ritual, wie Kinder diszipliniert wurden. Oft genug wurde ihnen gedroht — mit kleinen Klapsen oder mit Ausgrenzung und Verboten: «Wenn du nicht parierst, dann...!» Bahnfahrten in einem Abteil mit fremden Familien waren für mich meistens eine Tortur, so daß ich solchen Abteilen zunehmend entflohen bin — ich hätte sonst den Eltern meine Empörung über ihr autoritäres Verhalten und ihre Falschheit ins Gesicht schleudern müssen.

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Moeller: Auch ich habe in Ostdeutschland versucht, auf alle Anzeichen von Drill und Unterdrückung genau zu achten — ohne Erfolg. Ich dachte mir: «Mach dir nichts vor, vielleicht sind das sehr reglementierte Kinder.» Aber für mich ist eindeutig, daß der emotionale Klang ihrer Stimmen anders ist. Ich habe die Eltern auch nicht reglementierend erlebt. Ich erinnere mich an eine kleine Szene, als ein kleines Mädchen eine ganze Weile mal vor, mal hinter mir ging und seinen Vater schließlich um einen Zweig bat, weil sie eine kleine Peitsche haben wollte. Der Vater erfüllte ihr den Wunsch, und ihr wechselseitiges Gespräch — die Kleine war höchstens drei oder vier Jahre alt — enthüllte für mich eine wunderbar gelungene Beziehung. Was mir allerdings auffiel, war, daß der Vater sagte: « Peitsch nicht zu viel in der Gegend rum!» Ich dachte noch: « Muß denn diese Bemerkung unbedingt sein?» Aber tatsächlich war das Mädchen wohl zu stürmisch und fiel hin. Der Vater meinte ruhig: «Siehst du, das hast du jetzt davon!» Zwar argwöhnte ich auch jetzt noch, statt Trost kriegt sie eine Mahnung, aber es war lieb gesagt, und es ging nicht wirklich um Strafe. In Westdeutschland wäre dagegen vielleicht schneller der große Trost, also ein Stück Verwöhnung gekommen. Zunächst weinte das Kind und erzählte, wie weh sein Ellenbogen und Knie täten, aber nach zwei Minuten fing es wieder an zu lachen. Wie das Mädchen erst durch dieses Leiden gegangen war, wie es dann plötzlich wieder zu sich kam und wie es ganz bei sich bleiben konnte, hat mir sehr gefallen.

 

Maaz: Über diese Einschätzung wundere ich mich schon. Aber mir fehlt der Vergleich, wie es im Westen ist. Ich sehe bei uns vor allem die Einengung und Disziplinierung der Kinder.

Moeller: Worunter ich vielleicht weniger leide als Sie.

Maaz:  Mir fällt ein anderes Beispiel ein: Ein kleines Mädchen bekam einen Bonbon und verlor ihn nach kurzer Zeit, weil es herumtollte. Er war ihr aus dem Mund gefallen, und sie fing jämmerlich zu weinen an. Ich empfand es als typisch, daß die Eltern ihr sofort den nächsten Bonbon nachschoben.

 

Moeller:  War das im Westen?

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Maaz: Nein, bei uns. Ich fand es typisch, daß es nicht möglich war, dem Kind den Schmerz über den kleinen Verlust zu lassen. Das konnten oder wollten die Eltern nicht aushalten. Und das entspricht genau der weitverbreiteten Erziehungsnorm bei uns, Gefühle nicht zuzulassen oder sie jemandem ausreden zu wollen. Eine andere Möglichkeit war, dem Kind ein Schamgefühl für seinen Gefühlsausbruch einzureden: «Nun hab dich doch nicht so, mach nicht so einen Lärm wegen eines Bonbons.» Denn Kinder sollten bei uns weder weinen noch schreien, noch Angst empfinden. Wenn sie zum Arzt begleitet wurden, dann wurde ihnen eingeredet, es würde nicht weh tun und sie brauchten gar keine Angst zu haben, obwohl das meistens gelogen war. Warum konnte man ihnen nicht sagen, daß es weh tun könnte, und erklären, warum und weshalb, daß Angst und Schmerz berechtigt sind, daß unangenehme Prozeduren manchmal notwendig sind und daß man sie durchstehen kann, auch wenn es weh tut. Eine solche Haltung gab es bei uns kaum.

 

Moeller: Ich weiß nicht, ob es das in Westdeutschland häufiger gibt. Der sofortige Trost, das Überversorgen spielt wahrscheinlich eine größere Rolle. Aber bei uns lautet die Klage der Eltern, mit denen ich zusammenarbeite, doch eher: «Wir haben zu wenig Zeit für die Kinder»; «wir sind zu wenig, zu selten zu Hause»; «wir haben unsere eigenen Bedürfnisse». Dafür ist nicht nur der größere Arbeitsdruck verantwortlich, sondern auch die ständige Verführung durch die vielen Angebote.

Das bestätigt eine neuere Untersuchung über die Ursachen der abnehmenden Kinderzahl.* Die niedrige Geburtenrate ist ja ein dramatisches Phänomen — merkwürdigerweise in Ost und West. Die Bundesrepublik und die DDR waren in ihren Blöcken jeweils die Länder mit dem größten Geburtenrückgang — beide waren schrumpfende Nationen. Das halte ich nicht für einen Zufall, sondern sehe das als ein Symptom unserer Beziehungswelt an. Früher verblüffte mich diese Parallelität; ich meinte, es sei eine Begleiterscheinung der deutschen Tüchtigkeit. Sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik waren beide sehr erfolgreiche Nationen in ihrem jeweiligen Wirtschaftssystem.

 

*  Horst W. Opaschowski: Freizeitalltag von Frauen, Hamburg (B.A.T. Freizeit-Forschungsinstitut) 1990.

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Das kommt sicher nicht von ungefähr, sondern dahinter muß ein deutsches Gesamtverhalten liegen — im Vergleich zu anderen Nationen also ein Mehr an innerer Disziplinierung, Ordnung und Sauberkeit, an Funktionalisierung und Fleiß im guten wie im bösen Sinne. Das macht offensichtlich den deutschen Charakter mit aus. Mein erster Gedanke war, daß es diese Leistungsorientiertheit den Menschen sehr schwer macht, die Kinderwelt mit ihrer ganzen chaotischen Lebendigkeit noch zusätzlich auf sich zu nehmen. Aber hinzu kommt, daß Paare heute deswegen oft auf Kinder verzichten, damit sie sich die Genüsse des Lebens leisten können.

Kinder bedeuten nämlich einen enormen «Konsumverlust», einen Verzicht auf die neue Lust am Warenrausch. Man kann mit Kindern keine großen Reisen mehr machen, sich dies und das nicht mehr leisten, man muß vieles aufgeben, was für andere zum Leben dazugehört. Es ist heute ohnehin kaum zu glauben, wieviel Geld man im Westen aufbringen muß, um ein Kind bis zum achtzehnten Lebensjahr zu bringen: 250.000 Mark kostet, glaube ich, ein einziges Kind im Durchschnitt seine Eltern. Wenn mir diese Perspektive auch fremd ist und vielen unpassend scheinen mag, spielt sie natürlich faktisch doch eine enorme Rolle.

Der Rückgang der Geburten wird also nach meiner Meinung weitergehen. Ab und zu ist zwar vom Babyboom die Rede — es gibt plötzlich wieder sieben Prozent mehr Kinder, was ja nicht unerheblich ist —, aber dann hat ein Paar im Durchschnitt statt 1,2 eben 1,29 Kinder, das fällt also nicht besonders ins Gewicht.

Aber wie erklären Sie sich diese Babybaisse für Ihr Land? Sie wurde im Osten doch nur aufgefangen, als mehr Kindergeld gezahlt wurde und durch die Kindervergünstigungen plötzlich wieder ein Geburtenschub einsetzte.

 

Maaz: Die Überlegung, was Kinder kosten, höre ich zum erstenmal — das allein scheint mir schon ein typischer Unterschied zwischen Ost und West zu sein. Aber es stimmt sicherlich, daß es die Vergünstigungen der sogenannten «Sozialpolitik» den Eltern in der DDR nicht nur erleichterten, Kinder zu bekommen, sondern daß sich manche davon auch dazu motivieren ließen, Eltern zu werden.

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Insgesamt war jedoch die Lust auf Kinder bei uns nicht besonders groß, was wohl mit der eher resignierten, depressiven Haltung vieler Menschen zusammenhing. Viele haben sich gefragt: Können wir es überhaupt verantworten, Kinder in diese Welt zu setzen, wollen wir uns das zumuten in diesem Staat, mit diesen Schulen usw. Jeder wußte ja, wie es bei uns zugeht, was den Kindern an Disziplinierung und Verbiegung zugemutet werden mußte. Aber es gab auch die gegenteilige Einstellung — die Familie als «Fluchtburg», die Vorstellung, wenigstens in der Kleinfamilie sich etwas zurückziehen und erholen zu können, also ein klein wenig anders leben zu können, als es im übrigen Leben offiziell abgenötigt wurde. Für viele Eltern war es ein schwer zu ertragender Zwiespalt, daß sie anders dachten und mit ihren Kindern anders umgehen wollten, als es die «sozialistische Erziehungspolitik» verlangte. Besonders in den oppositionellen Kreisen waren die « antiautoritären » Schriften sowie alternative Erziehungsmodelle bekannt. Die Kluft, die zwischen Elternhaus und öffentlichem Leben bestand, war beträchtlich und konnte auch die Kinder in schwere Krisen bringen.

 

Moeller:  Was den Westen betrifft, so bin ich noch gar nicht zum wesentlichen Kern vorgedrungen. Ich sehe den Kindermangel nämlich auch als einen Ausdruck der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Als Paargruppenanalytiker erlebe ich, daß die Menschen mit ihren eigenen unbewußten Bedürfnissen seelisch sehr viel zu tun haben — sei es, indem sie diese abwehren müssen, sei es, indem sie mit den inneren Konflikten und Ängsten zu Rande kommen wollen, sei es mit ihrer ganzen Enttäuschung über das Leben, die viele sagen läßt: «Ich möchte nicht Kinder in die Welt setzen, die so werden wie ich.» Es ist also das unfertige und beschädigte Leben und Aufwachsen der Eltern selber, das ihnen den Wunsch nach Kindern austreibt. Das Glück, mit Kindern in ihrer ganzen unmittelbaren Lebendigkeit zusammenzusein, also gleichsam die Liebe Fleisch werden zu lassen, was ich heute für das zentrale Motiv des Kinderwunsches halte, nachdem die Kinder nicht mehr für die konkrete Altersversorgung von Bedeutung sind — dieses Glück verblaßt angesichts der faszinierenden Angebote der Freizeitindustrie. Aber wenn Eltern sich fragen, Konsum oder Kinder, und sich für den Konsum entscheiden, ist das durchaus doppelbödig.

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Sie sind glücklich, weil sie jetzt die äußeren Attraktionen suchen können statt sich selbst. Sie fahren in ferne Länder, sie reisen und reisen — Westdeutschland ist ja das reisefreudigste Land der Welt — sie erleben alles mögliche und können sich auf diese Weise gut von sich selber ablenken.

 

Maaz: Vieles von dem, was Sie jetzt sagen, empfinde ich so, als wären wir nur eine Art kleiner Bundes­republik gewesen. Die Tendenz war nämlich ähnlich bei uns, nur etwas kleiner, spießiger, verdünnter und etwa 20Jahre zurück in der Entwicklung. Der größere Teil der Bevölkerung hat bei uns immer gewünscht, wir müßten endlich auch so leben können wie im Westen. Das Bemühen um innere Demokratisierung von unten dauerte deshalb nur wenige Wochen an, dann haben wir unseren eigenen Gestaltungswillen wieder aufgegeben und westliche Verhältnisse übernommen. Der Wunsch nach westlicher Lebensart war übermächtig, was sich auch in den Wahlergebnissen nach der «Wende» niederschlug. Viele sagen, daß dieser Wunsch doch vollkommen verständlich war. Aber nur allzu gern wird vergessen, daß es dabei auch um Selbstvermeidung ging, also darum, sich nicht wirklich mit sich selbst und mit unseren Verhältnissen auseinandersetzen zu müssen. Der neidische Blick auf die Reisemöglichkeiten, auf die Kauf- und Besitzvorteile durch die D-Mark führte dazu, daß die Nachteile dieser Lebensart bei uns nie richtig reflektiert wurden.

Natürlich hat die SED die Schattenseiten des Kapitalismus propagandistisch ausgeschlachtet, aber das hat eher das genaue Gegenteil bewirkt — der Westen erschien nur noch um so glänzender. Weil die Ablehnung gegenüber der SED im Volk immer stärker wurde, glaubte man ihr nicht. Und so erklärt sich der merkwürdige Widerspruch, daß man den Westen verklärte, obwohl man von Arbeitslosigkeit, sozialen Ungerechtigkeiten, neuer Armut und Ausbeutung der Menschen — besonders in der Dritten Welt — wußte, von Kriminalität, Drogenproblemen, den materialisierten Beziehungen und überhaupt vom dominierenden Einfluß des Geldes. Damit wurden wir tagein, tagaus agitiert — aber wir haben diese Kenntnisse nicht wirklich an uns herankommen lassen. Wir wollten die erfolgreichen Seiten des Westens und den aufgemachten Schein wie eine Droge schlürfen.

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Ich weiß von Leuten, die die DDR verlassen hatten und es im Westen nicht «schafften» — und die in ihren Briefen nach Hause ihre wahren Verhältnisse verschwiegen, weil es für sie eine zu große Schmach gewesen wäre, einzugestehen, daß es eben auch beträchtliche Schattenseiten gibt und daß diese sie nun erwischt hatten. Die meisten, die aus der DDR fortgingen, haben auch niemals ernsthaft damit gerechnet, daß sie drüben versagen könnten oder daß sie im westlichen System nicht wirklich Fuß fassen könnten. Und wenn Verwandte mit dicken Autos und gefüllten Taschen bei uns vorfuhren und uns belehren wollten, daß nicht alles Gold sei, was glänzt, daß das Leben im Westen auch sehr schwer sei — dann haben wir das abgetan mit Gedanken wie: «Ach, tut doch nicht so. Wir sehen doch, wie gut es euch geht. Ihr wollt bloß nicht soviel rausrücken.»

 

Moeller: Die Wahrheit galt also als Lüge.

Maaz: Ja. Das hat dazu geführt, daß wir die westliche Entwicklung um jeden Preis nachvollziehen wollten und nie reflektiert haben, wieviel wir dafür eigentlich bezahlen müssen. Jetzt wird uns das sehr teuer zu stehen kommen, und zwar in jeder Hinsicht. Die Folgen sind Beziehungsverlust, neue emotionale Unterdrückung, psychosoziale Krisen, ganz zu schweigen von den globalen Problemen, die wir mit der gemeinsamen Wohlstandsideologie verstärken werden.

 

Moeller:   Ich denke, hier gibt es einen gemeinsamen Nenner zwischen uns. Ich verwende dafür den Begriff der «Entselbstung», den ich in meinem Buch «Die Wahrheit beginnt zu zweit» besonders in bezug auf die Paarbeziehung auszuführen versucht habe. Die innere Bedeutung der Beziehung ändert sich im Laufe der Zeit. Die Partnerschaft hat heute viel mehr die Bedeutung einer Abwehrorganisation — und zwar in dem Sinne, daß ich mich mit Hilfe des anderen von mir selbst ablenken kann. Eines der wichtigsten Motive, sich in einer Beziehung zu verbinden, liegt darin, noch mehr von sich ablenken zu können, als man es ohnehin schon tut.

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Auch die Deutsche Mark erlaubt heute eine solche «Entselbstung», überhaupt das Geldambiente, in dem wir leben. Analog hat das Stasiambiente — ich muß es so hart sagen — im Osten zu einer Entselbstung geführt. So groß die Unterschiede zwischen Geldchancen und Stasiapparat auch sind, beide führen zu einer « Entselbstung», auch wenn es nunmehr für die Ostdeutschen um eine gewünschte «Entselbstung» geht, damit man die Last des eigenen negativen und beschädigten Selbst nicht tragen muß.

 

Maaz: Solche Erfahrungen habe ich auch in Hülle und Fülle gemacht. Es gibt bei uns viele Beziehungen, in denen der eine am anderen leidet und einer zum anderen sagt: « Du bist unmöglich; weil du so bist, geht es mir schlecht oder kann ich mich nicht entfalten.» Manche Paare finden gerade darin ihren Halt, und ich habe das lange Zeit nicht verstanden. Aber wenn ich nicht am anderen leiden kann, muß ich an mir selber leiden, und wenn ich nicht mehr an diesem verlogenen und repressiven System leiden kann, muß ich mir selbst begegnen. Um eben das zu vermeiden, haben wir ja dieses ganze groteske Schauspiel in der DDR mitinszeniert.

 

Moeller:  Das ist der Punkt, auf den ich abzielte. — Ich möchte an dieser Stelle gerne die Liebe, die Liebesformen und die Sexualität in Ost- und Westdeutschland ansprechen. Im Westen hat die Liebe eine seltsam entleerte Form angenommen. Viele meinen ja zu beobachten, daß die Männer in Westdeutschland weiblicher, zärtlicher, gefühlsoffener geworden sind. Ich bin da überhaupt nicht so optimistisch. Die Größe der Liebe geht zunehmend verloren, und es entsteht eine Art Miniatur-Liebesform. Ich habe versucht, dies in einem Kapitel meines Buches «Die Liebe ist das Kind der Freiheit»* deutlich zu machen. Der konkrete Liebesakt wird auf eine merkwürdige Art seelisch nur noch schwach erlebt, läuft in einer nach Minuten zu messenden Kurzform ab, ist produktionsorientiert auf den Orgasmus beziehungsweise auf die Ejakulation hin und gleicht praktisch der effizienten Herstellung von Gütern in irgendeinem Betrieb. Die Liebe wird also selbst zur Abwehr der Liebe.

 

*  «Wir wollen lieben, aber wir wissen nicht, wie», in: Michael Lukas Moeller, Die Liebe ist das Kind der Freiheit, Reinbek 1986 und 1990.

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Das ist, kurz gesprochen, in meinen Augen die bittere Entwicklung der Liebe im Westen. Manchmal liegt über ihr auch eine «Sahnehaube» — wenn ich an die alternativen und esoterischen Entwicklungen denke, bei denen aus der Liebe eine Art Sanftheitskult wird und die Integration der Aggressivität überhaupt nicht gelungen ist; die dunklen, die düsteren, die heftigen Seiten der Liebe werden dabei völlig außer acht gelassen. Die Liebe gerät — zugespitzt formuliert — zu einem verschwommenen Zärtelkram, der die Seele nicht mehr wirklich tief bewegt, sondern wie ein still-gleißendes Glamourgewand angelegt und herumgetragen wird.

 

Maaz:   Das finde ich sehr spannend. Die angespannten Paarbeziehungen, von denen ich sprach, haben natürlich auch die Sexualität verkrampfen lassen: Sexualität als Druck- und Erpressungsmittel, der gegeneinander geführte Kampf der Geschlechter oder eine erheblich lustgestörte Sexualität — all das gehörte zu den häufigsten Erfahrungen, die ich in unserem Land machen mußte. Durch die Vereinigung schwappt jetzt auch die «Sexwelle» zu uns rüber. Wir sind begierig darauf— einerseits aus Neugier wegen der strengen Sexualmoral in der DDR, andererseits aber auch aus Neid wegen der vermuteten größeren sexuellen Freizügigkeit im Westen. Wir haben hier oft über Pornos, Puffs und Peep Shows gelästert, aber das geschah immer auch mit einer gewissen Lüsternheit. Daß Sex im Westen zu einem Konsumartikel verkommt, ist bei uns wenig reflektiert worden. Nach der Öffnung habe ich mir das entsprechende Angebot natürlich angesehen, und ich muß gestehen, daß es mich schon angemacht hat, aber doch auch sehr bald schal geworden ist. Nachdem die erste voyeuristische Erregung vorüber war, habe ich die Beziehungslosigkeit und Funktionalität gesehen und vor allem die dargestellte Aggressivität und Leistungshaltung in den Bums-Akten. Das äußere Ambiente wird aufgegeilt, die Beziehungsseiten dagegen hart, brutal und cool dargestellt oder hysterisiert. Sex muß kräftig und heftig sein, es muß viel und vielseitig sein, die Technik wird in den Mittelpunkt gerückt.

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Die liebevolle, sanfte und herzliche Seite der Sexualität wird ebenso ausgeblendet wie das Konflikthafte und Problematische, das zu jeder sexuellen Beziehung dazugehört. Kurz: mehr Schein als Sein — wie so oft im Westen.

Für uns Ostdeutsche hat dies eine gewisse Tragik, weil wir wieder nicht zu einer echten, offenen Sexualität kommen. Wir hatten in der Vergangenheit große Probleme mit der Sexualität, vor allem aufgrund unserer emotionalen Blockaden durch den Anpassungs- und Unterordnungsdruck — dieser Gefühlsstau beeinträchtigte zwangsläufig die Lustgefühle. Es fällt uns schwer, uns einfach loszulassen, uns hinzugeben, mal keine Vorsicht walten zu lassen, denn wir sind mißtrauisch und mußten es sein, um im System der Kontrolle und Bespitzelung zu bestehen. Wie soll uns plötzlich im Bett das Fallenlassen gelingen, wenn wir im Alltagsleben permanent auf Beherrschung gedrillt wurden? Je spießiger die Moral, je starrer unsere Gefühlswelt, desto größer das Interesse an aufgemotzter Sexualität — wir werden den Beate-Uhse-Markt also schon konjunkturell beleben! Zur weichen und lustvollen Liebe aber werden wir noch lange nicht kommen, weil so viel Zorn, Enttäuschung, Schmerz und Trauer abzutragen sind.

 

Moeller:  Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Doch in Westdeutschland gibt es auch eine weiche, liebevolle Auffassung der Erotik, die genauso verkehrt und falsch ist und bei der sich mir die Haare sträuben. Man kann die Liebe auch auf diese sanfte Weise grausam verstümmeln. Was wir beide meinen, ist doch, daß das wirkliche seelische Erleben und die Bindung aneinander in der Sexualität und Erotik nur noch selten erlebt werden. Im alten China konnte man überhaupt nicht begreifen, wie es einerseits zu Prüderie, andererseits zur Obszönität kommen kann. Denn beides sind zwei Seiten einer Medaille und ein Zeichen für eine schief entwickelte Erotik. Die Chinesen hatten — lange vor der reglementierenden kommunistischen Herrschaft — dreitausend Jahre länger Zeit als das Abendland, die Triebstruktur der einzelnen und die Gesellschaftsstruktur aufeinander abzustimmen. In alten chinesischen Romanen und Novellen bin ich auf einen geradezu beneidenswert unbefangenen Umgang mit erotischen Empfindungen gestoßen.

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Dort haben wirklich weder Prüderie noch Obszönität Platz. Auf uns bezogen finde ich bei den Ostdeutschen eher die unterdrückte, depressive Seite, bei uns dagegen die hysterische Seite der Erotik, in der es zur Pseudohypersexualität kommen kann.

Ich glaube, in Westdeutschland machen sich die meisten Menschen etwas vor - so erlebe jedenfalls ich die Paare, die zu mir kommen. Sie haben zunächst den Eindruck, sie könnten ja alles machen, was sie wollten. Es sei alles erlaubt und alles da. Tatsächlich ist nur der Freiraum da, aber sie können ihn nicht füllen. Es gibt zum Beispiel kaum noch Reglementierungen. Aber die Möglichkeit der Freiheit kann gar nicht ergriffen werden. In der üblichen Alltagsstruktur haben die meisten Menschen nämlich für die Liebe keine Zeit mehr. Ich mache zum Beispiel mit meinen Studenten im ersten Semester Medizin regelmäßig eine Umfrage zum persönlichen Zeitbudget. Wieviel Zeit, wird da erhoben, bleibt für das, was im Leben wirklich wesentlich ist. Das Ergebnis lautet: Nach Arbeit, Pendelzeit, Freizeit, Haushalt und allen möglichen Zwischenzeiten wie Aufstehen, Frühstücken etc. haben sie praktisch keine Zeit mehr für Beziehungen und sich selbst.

Der durchschnittliche Westdeutsche verbringt täglich fünf Stunden mit Massenmedien. Das muß man sich konkret vorstellen: Allein mit den acht Stunden Arbeit, mit der durchschnittlichen einen Stunde Pendelzeit macht das schon vierzehn Stunden. Da fehlen noch Einkaufen, Sichankleiden, Kino usw. In meinen Augen ist eine Grundvoraussetzung für die Liebe, ihr genügend Zeit einzuräumen. — Es sieht so aus, als ob nicht einmal das bei uns möglich ist.

 

Maaz: Bei uns ist das Ergebnis ähnlich, nur mit anderen Inhalten. Das geringe Zeitbudget gehörte bisher nicht zu unseren Problemen, aber die psychologische Folge des inneren Mangels, das wechselseitige Sichmißbrauchen in der Beziehung, das gab es häufiger. Liebe im freilassenden Sinne — daß dafür gesorgt wird, daß es dem Partner oder der Partnerin gutgeht — kenne ich so gut wie gar nicht. Was hier als Liebe verstanden wurde, bedeutete meist: «Ich brauche dich, sei wenigstens du für mich da, mach du mich glücklich — mach du mir den Orgasmus!»

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 Vom Partner oder der Partnerin wird in erster Linie erwartet, daß er oder sie das bringt, was die Eltern nicht gegeben haben, daß einer vom anderen entschädigt und aus seiner Not erlöst wird. Das kann aber auf die Dauer nicht gutgehen, weil kein Partner diese Ansprüche einer kindlichen Bedürftigkeit erfüllen kann. Deswegen liegt hier eine der häufigsten Ursachen für Partnerschaftskrisen bei uns.

Moeller: Zumal es um ein wechselseitig verursachtes Problem geht.

Maaz:  Das ist das Hauptproblem. Praktisch sind beide — Mann und Frau — davon betroffen.

 

Moeller:  Dasselbe Problem haben wir auch im Westen. Es ist eigentlich deckungsgleich, nur zeigt es sich anders. Die seelische Entwicklung in der frühen Kindheit ist heute so gestört, daß Mann und Frau die innere Auseinandersetzung mit der enttäuschenden, der selber enttäuschten und belasteten Mutter als Mitgift in die Beziehung einbringen. Das Leiden der heutigen Paare liegt in der wechselseitigen Übertragung der negativen Mutter begründet. Am Anfang der Beziehung steht die riesige Erwartung, der Partner sollte das ergänzen, was einem schon immer fehlte. Dieser aber erwartet eben dieses auch. Dann beginnen die bekannten Duelle, wer am meisten Zuwendung braucht und am bedürftigsten ist. Nach und nach entfaltet sich auf diese Weise wieder die «negative Mutter» aus der Kinderzeit. Ich glaube, daß dies in beiden deutschen Staaten identisch war.

 

Maaz: Bei uns spielte aber noch etwas anderes eine Rolle, das ich als «Notgemeinschaft» bezeichnen möchte. In einer Partnerschaft war man froh, einen Zusammenhalt zu haben, um gemeinsam die Belastungen, das Verlogene und Beschissene des DDR-Systems auszuhaken. Frühe Ehen hatten häufig dieses Motiv und darüber hinaus, endlich den Eltern zu entkommen. Die inneren Spannungen, die aus der eigenen Lebensgeschichte oder aus den menschenfeindlichen Strukturen des gesellschaftlichen Lebens herrührten, haben dann die Partner oder Kinder abbekommen. Was man den ganzen Tag oder sein ganzes Leben lang aufgestaut hatte, ließ man zu Hause ab, reagierte es in der Partnerschaft ab.

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 Ein kleines Ärgernis wie die berühmte Fliege an der Wand war deshalb oft Anlaß, in die Luft zu gehen. Die Familie als Abfluß für den Gefühlsstau ist in meinen Augen eine bittere und tragische Entartung der Beziehungen. Aber sie hat geholfen, das System zu stabilisieren, denn auf diese Weise blieben die Mächtigen von den Affekten der Menschen verschont.

 

Moeller:  Hier liegt wirklich ein Unterschied zur Situation im Westen. Daß der Partner gegen den eigenen Willen zum Stellvertreter des Regimes wird, daß man ihn deswegen haßt, ihn zugleich aber auch braucht, leuchtet mir als Paaranalytiker sehr ein. Es entsteht eine Art wechselseitiger Haßbindung. Im Westen ist das zentrale Problem dagegen nicht so sehr, daß die Partner übereinander herfallen, obwohl es natürlich auch vorkommt, daß man für den Frust und die Enttäuschung, mit der man nicht fertig geworden ist, den anderen schuldig spricht. Doch das ist nicht das Primäre.

Für mich steht das Leersein statt der Unterdrückung im Vordergrund. Der Partner ist nicht da, er ist nicht richtig greifbar, man hat sich über die Beziehung lange Zeit Illusionen gemacht. Es gibt Ehen, die laufen im Gegensatz zu Ihrer Schilderung über Jahre und Jahrzehnte völlig reibungslos, bis die Partner langsam entdecken, daß sie gar nicht mehr miteinander, sondern nebeneinander leben. Dieses reibungslose, oft gut funktionierende Nebeneinander sehe ich als die Hauptbeziehungsform des Westens an. Wobei ich noch hinzufügen möchte, daß diejenigen, die zu mir in die psychoanalytische Praxis kommen, nicht die kränksten sind, wie ich ursprünglich dachte. Vielmehr sind diese Paare gerade diejenigen, die den Mut haben, sich selber und ihre Beziehung zur Diskussion zu stellen, die also noch ein Beziehungsbedürfnis haben und dieses Beziehungsbedürfnis befriedigen möchten — notfalls über den Weg der Therapie.

Ich möchte aber noch einmal auf die Liebe und Sexualität zurückkommen : Im Osten konnten diese angesichts der Unterdrückung nicht aufblühen, im Westen werden sie dagegen entleert. Das Sichfinden, das Sich-selber-Finden und das Den-anderen-Finden wird unterlaufen durch das doppelte Verlangen nach Anerkennung durch Leistung und nach Konsum.

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 Die seelische Entleerung verstärkt sich durch eine Lebensgeschichte, in der die Eltern unter anderem aus diesen beiden Gründen selber für die Kinder zu wenig da waren. Das Resultat ist diese merkwürdige deutsche Beziehungsschwäche.

Eine Ursache dafür ist in meinen Augen auch der seelische Immobilismus, von dem Alexander und Margarethe Mitscherlich in ihrem Buch «Die Unfähigkeit zu trauern» vor dem Hintergrund einer unbewältigten Vergangenheit in Deutschland sprechen. Ost- und Westdeutschland haben ja eine gemeinsame Geschichte, und ich frage mich immer wieder, ob das, was wir jetzt sehen, nicht zu ganz wesentlichen Teilen Ergebnis einer ungeheuren Verdrängungsleistung ist — die Verdrängung jener brutalen Destruktivität in uns, die sich in der Nazizeit gezeigt hat. Im Grunde haben wir im Westen wie im Osten dieses Thema nicht richtig aufgearbeitet, weil wir es aufeinander projizieren konnten, und diese unverarbeitete Geschichte liegt bis heute irgendwo in uns.

 

Maaz: Noch einmal zurück zum Thema Sexualität. Ich war einigermaßen erstaunt, als ich mitbekam, daß viele aus der jüngeren Generation bei uns — die also in der DDR aufgewachsen sind — immer noch unter den klassischen sexuellen Entwicklungsproblemen litten: Schuldgefühle aufgrund von Onanie, Menstruations­ängste und -abscheu, überhaupt Scham und Schwierigkeiten, mit den Eltern über Erotik und Sexualität ehrlich sprechen zu können. Die jungen Leute waren offenbar immer noch Opfer einer angstmachenden und lustfeindlichen Erziehung, die ihnen beizubringen suchte, daß Sex etwas Schmutziges und Gefährliches sei und daß man sich nicht zu früh darauf einlassen solle. Sie zeigten eine strenge Treuemoral und viel Eifersucht, während sie eine Ermutigung zum lustvollen Gebrauch der Sexualität nie erfahren hatten. Ist das im Westen inzwischen anders?

 

Moeller:  Ich denke, in der ersten Generation, die nach dem Krieg geboren wurde, stößt man auf ähnliche Probleme und Verhaltensweisen, in der zweiten schon nicht mehr. Die Studentenrevolte im Jahre 1968 war bei uns sowohl Symptom als auch Motor einer erotischen Emanzipation.

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 Ein zweiter Faktor ist die Frauenemanzipation, die in gewisser Weise schon während des Krieges durch das Soldatenmatriarchat, also durch die zu Hause allein auf sich gestellten Frauen in Gang gesetzt wurde. Diese Situation bewirkte eine sehr viel stärkere Beeinflussung der heranwachsenden Söhne durch die Mutter — ich bin selbst ein Beispiel dafür — und zugleich ein stärkeres Selbstbewußtsein der Frauen. Damals kam es deshalb in Deutschland zum sogenannten «Fräuleinwunder», dem Vorzeichen der weiblichen Emanzipation, also zu einer vollkommen unerwarteten erotischen Blüte. Statt der streng und zu Verzicht erzogenen Deutschen, die als zurückhaltend und beinahe stumpfsinnig galten und am ehesten eine anale Struktur aufwiesen, traf man in Westdeutschland plötzlich auf junge Frauen, die eher wie Französinnen, wie Pariserinnen wirkten. Diese Welt der erstarkenden und sich selbst bewußter werdenden Weiblichkeit, die meiner Auffassung nach nicht nur eine Folge des Wirtschaftswunders war, war im Innern allerdings gebrochen, denn sie beruhte auf der Identifikation mit der selber enttäuschten Mutter. Die Mutter war ja nicht die fröhliche Frau, die plötzlich alleine schaltete und waltete, sondern sie war eigentlich überlastet.

Ein dritter Faktor ist der Unisex. Die langen Haare der Männer, die während der Studentenrevolte aufkamen, wirkten auf den ersten Blick wie eine Feminisierung der Männer. Einige begrüßten dies als eine neugewonnene Fähigkeit und Freiheit, den weiblichen Anteil in sich selbst zu entdecken und zu leben. Wichtiger ist in meinen Augen jedoch das «Männermatriarchat»*, das heißt die Identifikation der Söhne mit ihrer Mutter. Der Unisex ist das beinahe zwangsläufige Ergebnis einer seelischen Entwicklung, in der die Kinder nur noch eine Identifikationsfigur haben — die Mutter, die selbst sehr belastet ist, während sich der Vater mehr oder weniger verflüchtigt hat. Der Unisex ist insofern auch der erste Vorbote der Beziehungslosigkeit.

 

*  Vgl. Michael Lukas Moeller: Männermatriarchat. Nachwort zu Barbara Franck, Mütter und Söhne, Hamburg 1981.

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Wenn die Mutter nun ebenfalls mehr und mehr berufstätig wird, fällt sie für die Kinder als Bezugsperson auch noch aus — die Folge ist eine «elternlose Gesellschaft». Schon heute befindet sich die Mutter in einem extremen Rollenkonflikt: Sie soll den Haushalt führen, für die Kinder dasein, einen Beruf ausüben sowie Partnerin und nach Möglichkeit noch Geliebte des Mannes sein.* Das ist einfach zuviel. So sieht meines Erachtens im Augenblick die nicht einfache Lage im Westen aus.

 

Maaz: Ich finde, was Sie sagen, hochinteressant, denn ich erlebe unsere Gesellschaft ebenfalls als schwer «muttergestört». Meiner Auffassung nach hatten die großen Institutionen in unserem System — die Partei, die beinahe liebevoll « Stasi» genannte Überwachungsbehörde, die Kirche, die Medizin {die Helferberufe überhaupt) —vor allem Ersatzfunktionen für das Versagen der Mutter zu leisten. Diese Institutionen konnten ihre jeweils unterschiedliche Klientel in erster Linie dadurch erfolgreich an sich binden, daß sie erklärten: « Komm zu uns, wir brauchen dich, du bist uns wichtig, wir helfen dir, wir fördern dich, wir beschützen dich, wir geben dir Sinn.» Damit haben sie genau die Wunden der unerfüllten Sehnsucht nach mütterlicher Zuwendung, Annahme und Bestätigung berührt. Darin sehe ich das wesentliche Wirkungsprinzip für diese abnorme Gesellschaft.

Die Problematik der defekten Mutterbeziehungen beginnt in der Regel bereits mit dem traumatischen Trennungserlebnis bei der Geburt und wird durch das Krippen-Unwesen verstärkt. Unsere Emanzipationspolitik sehe ich als eine tragische Fehl­entwicklung, und zwar nicht nur die propagandistische Haltung der SED dazu, sondern mehr noch, daß viele Frauen ihre innersten Gefühle und den Wunsch nach einer intensiven Beziehung zum Kind im Kampf um Berufstätigkeit und Gleichstellung mit den Männern verleugneten. Nicht daß ich die Gleichwertigkeit der Geschlechter in Frage stellen möchte, aber diese kann doch nicht Gleichartigkeit bedeuten. Diese Art von Emanzipation sehe ich als eine traurige Kompensation für nichterfüllte Weiblichkeit und Mütterlichkeit. Die wich-

 

*  Vgl. Michael Lukas Moeller: «Das Schweigen des Vaters im Körper der Mutter» in: «Die Liebe ist das Kind der Freiheit», Reinbek 1986 und 1990.

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tige und positive Bedeutung von «Mutterschaft» wird in den Emanzipationskämpfen verleugnet oder als ultrakonservativ abgewertet. «Mütterlichkeit» ist offenbar bei beiden Geschlechtern mit enormer Angst besetzt. Die ewige Suche nach der « guten Mutter » bestimmt deshalb in vielerlei Hinsicht unser Leben — und jetzt soll die D-Mark uns das bringen, was die Mütter versagt haben.

Moeller: Genau.

Maaz:  Daß wir so nach der D-Mark gegiert haben, daß wir den Westen so unkritisch und ungeprüft angenommen und herbeigewählt haben, halte ich für einen Ausdruck dieser unerfüllten Muttersehnsucht. Da die «emotionale Versorgung» so schwach war und der äußere Mangel noch hinzukam, sehe ich die große Gefahr, daß wir nun nur noch nach außen agieren. Und ich fürchte die Enttäuschung, die kommen wird, wenn die Menschen merken, daß die schnelle Vereinigung Deutschlands nicht das Glück bringt, das ihnen versprochen wurde — nämlich äußeren Wohlstand —, und vor allem nicht das, was sie unbewußt erhofften: die Befriedigung ihrer seelischen Defizite.

 

Moeller: Diese Enttäuschung wird meines Erachtens nicht kommen, weil Geld und Konsum so betäubend sind und weil sie innerlich ausdrücklich verlangt werden, um von sich selbst abzulenken. Sie werden als Glück erlebt, als Pseudoglück. Ich habe gestern in dem Band «Die Deutsche Neurose» geblättert*, in dem mir das Ergebnis einer Befragung des Demoskopischen Institutes Allens-bach aufgefallen ist. Es ging um die Frage, ob die Westdeutschen sich glücklich fühlen oder nicht. Dabei wurde deutlich, daß sich zwischen 1956 und 1976 die Mehrheit der Bevölkerung immer glücklicher fühlte; am Ende gaben drei Viertel der Bevölkerung an, zur Gruppe der Menschen zu gehören, die sich glücklich fühlen. Das kann doch nicht wahr sein, habe ich mir gesagt. Das ist doch kaum zu fassen. Durch unser Gespräch sehe ich das jetzt mit anderen Augen. Das große Angebot auf dem Konsum- und Freizeitmarkt ist eine fröhlich-betäubende Ablenkung vom eigenen beschädigten Selbst — und wird tatsächlich als Glück empfunden.

 

*  A. Peisl / A. Mohler (Hg.): Die Deutsche Neurose: Über die beschädigte Identität der Deutschen, Frankfurt/M. 1980, S. 28.

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Maaz: Wahrscheinlich hat der «real existierende Sozialismus» auch deshalb versagt und ist die «real existierende Marktwirtschaft» so siegreich, weil die Satisfaktion der inneren Unzufriedenheit durch die D-Mark wesentlich erfolgreicher ist als durch Orden und ideologische Bestätigung.

 

Moeller: Der Sozialismus versuchte, das Problem mit der unglücklichen, gleichsam antiquierten Methode der Unfreiheit und Reglementierung zu lösen — daran ist er gescheitert.

 

Maaz:  Wenn Sie sagen, daß die Enttäuschung vermutlich nicht kommen wird, dann wächst meine Angst, und mir graut bei der Vorstellung, wie sich das verstärkte innere Elend nach außen ausagieren muß — zum Beispiel durch kriegerische Akte. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß es gelingt, ein anderes, fremdes System, das sich in 40 Jahren mit allen Fehlern, Konflikten und Protesten mühsam ausgeformt hat, das in den Menschen über mehrere Generationen hinweg entscheidende innere Prozesse ausgelöst hat, daß ein solches System schnell oder womöglich reibungslos übertragen werden kann. Jetzt werden uns Demokratie und Marktwirtschaft verordnet, und wir versuchen uns wie eh und je gefügig anzupassen. Selbst wenn uns das gelingen sollte, haben wir nur die soziale Maske gewechselt und sind weder psychisch noch politisch von innen her reifer geworden; Demokratie muß jedoch letztendlich in den Seelen der Menschen wurzeln. Das soziale Tief und die psychosoziale Krise stehen uns noch bevor und müssen zwangsläufig eine große Enttäuschung auslösen, aber sie werden vermutlich nicht als ein inneres Problem begriffen und aufgearbeitet, sondern irgendwelchen sachlichen Gründen angelastet und entsprechend politisch ausagiert. Ich sehe die große Gefahr einer Radikalisierung — und doch hoffe ich auf die Desillusionierung als Chance zur Besinnung und zur Auseinandersetzung mit sich selbst.

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Moeller: Ich halte das für viel zu optimistisch — was wird denn in der Arbeitslosigkeit geschehen? Das erste Vierteljahr, zeigt die Arbeitslosenforschung, kann man vielleicht als eine Erholungspause und eine Chance erleben, zu sich selbst zu kommen. Man kann sich sagen, jetzt habe ich mal Zeit für mich, eine Art Ferien. Dann aber setzt mit enormer innerer Gewalt die Selbstabwertung ein. Die Menschen rutschen in die Depressivität. Was mich dabei todunglücklich macht, ist, daß unter solchen Umständen die Augen für die Entfremdung in der Arbeit nicht geöffnet und die Illusion, das Illusionäre gerade nicht entdeckt werden. In der Arbeitslosigkeit werden die Menschen statt dessen fixiert auf die Frage, wo kriege ich eine Arbeit her, und nichts anderes hat Platz in ihren Köpfen.

 

Maaz:  Statt aufzubegehren gegen dieses Schicksal, entsteht Depressivität.
Moeller:  Entsteht Depressivität, und zwar aus dem Gefühl ...
Maaz:  .... ich habe versagt.

Moeller:  Ja. Am Ende entwickelt sich eine psychische Dynamik, in der man sich die Arbeitslosigkeit selber in die Schuhe schiebt, und die Umgebung wirkt daran kräftig mit — zum Beispiel, wenn Konservative immer wieder sagen: «Wer fleißig ist und sich wirklich bemüht, findet schließlich auch Arbeit.» Aber auch die Arbeitslosen sind auf die Funktionalität festgenagelt, denn die Leistungsgesellschaft und die Konsumgesellschaft, also Leistung und Konsum, sind ja nur zwei Seiten einer Medaille. In der Konsumgesellschaft, heißt es, würden die Menschen passiv und nur noch etwas in sich hineinsaugen. Auf der anderen Seite müssen sie aber als Nation für diese Konsumprodukte auch sorgen und sie durch Leistung erst einmal erwirtschaften. Das eine wie das andere stellt eine große Ablenkung von sich selbst dar.

 

Maaz:  Es tut mir richtig gut, von einem Westmenschen auch einmal diese kritische Seite zu hören, denn die wird uns meist vorenthalten beziehungsweise durch den rosaroten Anstrich der Reklamewelt übertüncht. Ich frage mich nur — jetzt muß ich Ihnen einen Vorwurf machen —, wo Menschen Ihres Schlages eigentlich in diesem Vereinigungsprozeß gewesen sind. Zuerst sind die tönenden Politiker gekommen, die auch unsere « Blockparteien » im Nu reingewaschen haben, um Wähler zu gewinnen. Dann kamen die Autohändler und die Banken, die Versicherungen und die Straßenhändler — also die Geschäftemacher.

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Wo aber sind die Alternativen, die Aufklärer, die Wissenden geblieben? Wo waren die Aufrichtigen, die auch die menschlich-ehrliche Negativbilanz westlicher Lebensart überzeugend vermittelt hätten ? Haben wir diese Stimmen nur abgewehrt und nicht hören wollen, oder waren sie gar nicht erkennbar vorhanden?

 

MoellerWie viele damals habe auch ich während der Ereignisse im Herbst 1989 fassungslos und heulend vor dem Fernseher gesessen. Ich konnte es überhaupt nicht begreifen. Als die Mauer geöffnet wurde, war ich gerade auf dem Psychosomatischen Kongreß in Gießen und entwarf noch in der Nacht eine Grußbotschaft, die ich am nächsten Tag zu Beginn meines Vortrages zur Annahme vorschlug. Ich war der Meinung, daß in einem solchen Moment die seelische oder geistige Umarmung wirklich am Platze war. Ich war tief ergriffen, denn für mich persönlich hatte sich eine Heimat wiederhergestellt.

Ich habe das geteilte Deutschland wirklich wie eine gespaltene Heimat erlebt, vielleicht weil ich mit der einen Hälfte meiner Kindheitsseele aus Schlesien, also aus Ostdeutschland stamme. Ich glaube aber, daß es vielen Menschen so ging. In der ganzen Welt wurde es ja als schmerzlich erlebt, daß Deutschland in zwei Teile zerfiel — in anderen Ländern teilweise noch intensiver als in Deutschland selbst. Ich habe in einer langen Einzelanalyse und Gruppenanalyse während der vielen Jahre meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker Zeit gehabt, dieses Schicksal zu bedenken, durchzufühlen, zu reflektieren und zu integrieren. Ich habe es trotzdem kaum fassen können, wie physisch, wie physiologisch, wie körperlich dieses Erleben der Vereinigung bei mir war. Das dauerte eine Zeitlang an, während deren ich richtig in einem Heilungsrausch war. Und in mir ist auch wirklich etwas geheilt. Es muß etwas mit dem Gefühl zu tun gehabt haben, jetzt einer ganzen Nation anzugehören — das habe ich bei mir sehr stark erlebt.

Dann folgte eine Zeit, in der eine schlimme Nachricht nach der anderen von drüben kam. Zunächst war ich sehr enttäuscht, daß drüben der innere Demokratisierungsprozeß nicht mehr weiterging. Ich dachte, um Gottes willen, jetzt rennen sie einfach in den Westen und vergessen alles, was war.

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Ich kann es wirklich verstehen, daß man sich die vollen Tüten aus dem Westen holt. Aber mir fehlte bei den Ostdeutschen die Besinnung auf die eigene Entwicklung. Mehr und mehr wollte ich von diesem Ostdeutschland nichts mehr wissen. Hinzu kam das wachsende Elend überall auf den Straßen von Westberlin. Als ich einmal einen Vortrag zu halten hatte, ging ich über den Kurfürstendamm, der mir fast heimatlich vertraut ist, weil ich sechs Jahre in Berlin gelebt habe und auch später noch oft dort war. Berlin ist meine Lieblingsstadt, nun aber hockte alle fünf Meter, an jedem Laternenpfahl, an jeder Ecke ein Bettelnder. Keine Ostdeutschen, aber über Ostdeutschland kamen Rumänen, Zigeuner und alle diese armseligen, abgerissenen «Ostmenschen». Welche Schleusen sind da geöffnet worden, habe ich gedacht. Zuerst bin ich noch gebefreudig gewesen, habe jedem etwas gegeben, dann aber, nach dem zehnten, kam es mir vollkommen sinnlos vor. Plötzlich wurde das reiche Deutschland mit der Armut, mit der wirklichen Armut und Unterdrückung konfrontiert.

Der dritte Eindruck war diese furchtbare Umweltsituation in Ostdeutschland. Ich hatte das Gefühl — und zum Teil geht es mir noch heute so —, ich kann hier gar nicht richtig durchatmen. Hier ist eine Luft, die vollkommen geschwängert ist mit Schornsteinabgasen und Schadstoffen. Ich habe mir einige Zeitlang eine freundliche Wiedervereinigung mit den östlichen Landschaften und ihren Menschen in Form von Wandern vorgestellt. Ich wandere gerne verloren für mich in der Natur ohne Campingplatz. Dann dämmerte mir: Vielleicht kann ich das gar nicht. Alles scheint verschmutzt. Die Böden sind verdreckt. Die Landschaft wirkt geradezu vergiftet. Ich dachte auch, wie furchtbar muß es für die Ostdeutschen sein, das alles bei sich selber zu entdecken, was Sie mir beispielsweise mit dem schadstoffbelasteten Gemüse in Halle erzählt haben — zumal ich so gerne frische Sachen esse. Es entstand in mir eine große Reserviertheit dem Osten gegenüber.

Schließlich traf ich einen Organisator aus der Selbsthilfebewegung im Westen, die ich mitentwickelt habe. Er schlug mir vor: «Du, wir machen in Dresden was und in Leipzig — willst du da nicht mitmachen?» Drei Termine waren schon verabredet, alle kurzfristig und schnell. Doch ich konnte nicht, weil ich jedesmal schon seit langem nicht absagbare Termine hatte.

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Nehme ich dieses Ereignis als Symbol, dann heißt das: Ich als Westmensch bin so in meine eigene Welt eingebunden, daß ich gar keine Zeit mehr habe, einfach in den Osten zu gehen. Zudem wurde ich auch nicht offiziell eingeladen, ich wußte also gar nicht, ob ich überhaupt genehm bin — ich denke zum Beispiel an die erwähnten Worte der Frau aus der Selbsthilfegruppe Dresden: Ich frage mich: Wie sehr wünschen denn die Menschen im Osten überhaupt die menschliche Vereinigung? Deswegen empfinde ich unsere Zwiegespräche schon als einen großen Schritt nach vorn — wir können uns nahekommen, und meine Seele hat auch schon wieder einige Ruhe, weil wir vielleicht einen Beitrag leisten können zu einer menschlichen Vereinigung.

 

Maaz: Ich höre das mit großem Interesse. Ich empfand nämlich ebenfalls eine Art « Heilungsrausch » mit kathartischen Qualitäten — allerdings mehr auf der Straße, im Miteinander des Protestes, also inmitten der «Wende» bei uns. Ich begreife den ganzen Prozeß der Demonstrationen in dieser Zeit nicht als ein überlegtes, zielgerichtetes politisches Handeln, sondern vor allem als affektive Verbundenheit, als rauschartige Solidarität und als Aufatmen unserer verborgenen Sehnsüchte nach Expansion. Das Gebeugte konnte sich aufrichten, das Angestaute fand ein Ventil und konnte sich abreagieren. Die Nacht der Maueröffnung hat in mir demgegenüber eher Zweifel und Mißtrauen ausgelöst. Ich konnte es nicht glauben — so sehr hatte ich diese Grenze als unumstößlich verinnerlicht, obwohl ich als Therapeut ja ständig an der Erweiterung menschlicher Grenzen arbeite. Aber die Bilder von damals lösen bei mir noch heute Tränen und Schluchzen aus. Ich empfinde eine schmerzliche Genugtuung über etwas, das ich nie für möglich gehalten, aber doch so sehr ersehnt hatte. Tief im Innersten muß mich die Grenze sehr verletzt haben, eine große Ungerechtigkeit — und jetzt schien endlich Gerechtigkeit zu werden.

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Wenn Sie davon sprechen, wie Sie dann allmählich die Nase voll hatten von den Ossis, empfinde ich auch den Wessis gegenüber so etwas Ähnliches, und ich bemerke solche abwehrenden bis feindseligen Reaktionen heute häufiger, und zwar auf beiden Seiten. Mir ist alles zuviel, was jetzt auf uns einströmt: die vielen Angebote und Möglichkeiten, aber auch daß wir Auskunft geben sollen und uns genötigt sehen, uns zu rechtfertigen. Wir sollen uns am liebsten gleich zweimal entschuldigen — bei den Konservativen für unsere kommunistische Vergangenheit und bei den Linken für unsere mißlungene Revolution. Manchmal habe ich das Gefühl, ich komme aus einer Zeit des Fastens und Schweigens auf einen Rummelplatz. Weil ich so schlecht ablehnen kann, was so verlockend angeboten wird, «überfresse» ich mich und gerate aus meiner Mitte, werde fast krank daran. Ich habe das Gefühl, mir wird meine ganze Identität geraubt und zunichte gemacht. Und ich gehörte wahrlich nicht zu denen, die am alten System hingen, sondern lebte auf Distanz zu diesem Staat. Aber ich habe viel und mühsam gearbeitet, um meinen Platz zu finden — und dieser wird mir nun streitig gemacht.

Ich muß heute Verhältnisse akzeptieren, an denen ich nichts mitgestaltet habe, und wenn ich mitgestalten will, werde ich von anderen belehrt, die schon wieder alles besser wissen. Ich mache auf Schritt und Tritt Fehler, ich weiß nicht mehr Bescheid, mir fehlen die gewohnten Orientierungen, alles Bisherige gilt nicht mehr oder ist entwertet. Dabei geht es mir in meinem Beruf noch ganz gut, denn wer jetzt arbeitslos ist und völlig umlernen muß, für den ist es noch schlimmer. Dieser entwürdigende Prozeß hat mehr mit Psychologie zu tun als mit sogenannten Sachzwängen oder Altlasten, die immer wieder angeführt werden. Wir sind die besiegten neuen Untertanen, denen abgesprochen wird, daß sie selbstverantwortlich und kritisch ihre Verhältnisse in Ordnung bringen könnten und dabei um die Hilfe bitten, die sie wirklich brauchen. Die Wessis befinden sich in einem Überlegenheits­rausch, mit dem sie vor allem ihre eigenen seelischen Probleme abwehren können. Der Vereinigungsprozeß wird ausschließlich nach Geld bemessen und gewogen, doch auf die Verletzungen der Seele wird keine Rücksicht genommen, oder diese sollen — wie es westliche Art ist — mit Geld « geheilt» werden.

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Moeller: Also eine neue Form von Entmündigung. Mir fällt dabei auf, daß wir den Wiedervereinigungs­rausch im wesentlichen mit unseresgleichen erlebten. Wir im Westen haben uns umarmt, und ihr im Osten habt euch umarmt. Doch wie wenige West-Ost-Umarmungen gab es im Vergleich dazu?

Maaz: Selbstverständlich hat es die gegeben, vor allem in Berlin. Aber dies waren natürlich nicht die Millionen, die sich jetzt vereinen sollen.

Moeller: Es ist ja auch viel bequemer und einfacher, die Ganzheit mit seinesgleichen zu fühlen, mit ihnen zu weinen, zu lachen usw. Natürlich wäre man auch auf die Menschen im anderen Teil Deutschlands zugegangen - aber wäre dann nicht sehr schnell die vierzig bis fünfzig Jahre währende Entfremdung deutlich geworden? Die ganze Unterschiedlichkeit der Entwicklung? Diese Distanz zu überbrücken, haben wir überhaupt nicht versucht. Eine wirkliche, menschliche Wiedervereinigung gab es selbst in dieser rauschhaften ersten Nacht nicht. Die Ostdeutschen sind aber auch schon rein zahlenmäßig in der schlechteren Position. Für die Westdeutschen bedeutet die Wiedervereinigung, daß zu ihren 60 Millionen 16 hinzukommen — für die Ostdeutschen ist es genau umgekehrt. Das ist eine ganz andere Masse und deswegen auch ein ganz anderer Integrationsprozeß auf beiden Seiten. Und weil der Osten jetzt auch noch das Westsystem übernimmt, muß von dieser enormen seelischen Veränderungsarbeit der allergrößte Anteil vom Osten geleistet werden. Allein das kann schon Neid und Wut verursachen.

Ein anderes Stichwort lautet für mich: «Identität verlieren». Bei einigen Menschen im Westen besteht immer noch die Hoffnung, der Osten könne uns etwas bieten, wir könnten selber etwas lernen vom Osten. Ich denke zum Beispiel, daß ich mich als Westdeutscher deutlicher wahrnehmen kann, wenn ich mich auf die Ostdeutschen einlasse. Ich sehe mich plötzlich viel konturierter, wenn ich im Zwiegespräch vergleiche: Wer bin ich, und wer sind die anderen? Weil ich beide Seiten zugleich wahrzunehmen versuche, gewinne ich ein deutlicheres Gefühl für meine eigene Identität. Auch meine prekären Seiten werden in dieser Begegnung faßbar.

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Der Prozeß der Wiedervereinigung entspricht also einer wechselseitigen Identitätsbildung. Verglichen mit dem Osten, muß ich aber viel weniger leisten: Ich bleibe in meinem Beruf ungeschoren, ich bleibe in meinem Ambiente ungeschoren, für mich und für die Westdeutschen bleibt eigentlich alles, wie es ist. Wir werden höchstens noch ein bißchen reicher.

 

Maaz:  Ich finde zutiefst ungerecht, daß es jetzt ganz selbstverständlich erscheint, nur wir hätten uns zu verändern. Wir müßten nur rasch lernen, Westler zu werden. Es wird überhaupt nicht mehr diskutiert oder für möglich gehalten, daß aus dem Zusammenwachsen für beide Seiten etwas Neues entsteht. Wir werden einfach angegliedert und müssen die westliche Lebensart übernehmen, auf Inhalte und Tempo haben wir kaum noch Einfluß. Und auf die blöde Frage, was wir denn zu bieten hätten, kann ich nur sagen: Na uns, uns Menschen mit unseren Erfahrungen, unserer Würde, mit unseren Anpassungsleistungen, sogar mit unserer Schuld. Das ist das Entscheidende, denn sonst wird die Frage, was wir einzubringen hätten, ja leider meist materiell verstanden — ganz der neuen Zeit entsprechend.

 

Moeller:  Natürlich sollten wir auch nicht unterschlagen, was der Osten durch die Vereinigung gewonnen hat. Neben dem Opium des Konsums gibt es ja auch ganz faktische Alltagsentlastungen; man hat endlich die Dinge, die man wirklich braucht. Kritiker könnten uns sonst sagen: «Die beiden übersehen völlig, daß hier ein neues Leben ermöglicht wird.» Auf einer ganz einfachen Basis werden einem doch Dinge geboten, die man schlicht nötig hat oder die man gerne hätte. Und man freut sich daran.

 

Maaz: Die wirkliche Freude daran, die Faszination des Neuen war für mich von kurzer Dauer. Demgegenüber belastet mich der Alltag mit seinen zahlreichen Sorgen und Problemen, mit der ständigen Nötigung zur Veränderung inzwischen sehr. Ich spüre immer wieder einen inneren Widerstand, will Notwendiges einfach nicht erledigen und empfinde Widerwillen gegenüber der schnellen Umstellung, weil ich sie irgendwie würdelos finde. Ich habe es weder nötig, mich als «Wendehals» in Szene zu setzen, noch mag ich mich den neuen Verhältnissen andienen.

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 Ich erlebe statt dessen im Augenblick einen Verlust an mühsam erworbener Selbstbestimmung, die mir im stalinistischen System gelungen war und auf die ich auch stolz bin. Jetzt kommen irgendwelche Bürokraten oder Manager, die mich erneut fremdbestimmen wollen.

Es ist mir auch eine Last, daß ich jetzt auf allen Gebieten aus so vielen Angeboten wählen und mich permanent entscheiden muß. Das kann ich nicht mit Genuß tun oder auch nicht als Gewinn empfinden, wenn ich daran denke, wieviel Zeit ich sinnlos vergeuden soll, um herauszufinden, welche Versicherung zum Beispiel nötig und günstiger als eine andere sein könnte. Überhaupt halte ich den Wettbewerb der unzähligen Angebote mit ihren unterschiedlichen Vor- und Nachteilen für eine «Beschäftigungstherapie» und Sinnentleerung. Ich fühle mich aus dem Mangel in die Fülle gestoßen wie aus der Dunkelheit ins grelle Licht, das nun schmerzt und blendet. Beides finde ich nicht gut. Ich wünschte mir ein angenehmes, warmes Licht — letztlich also Veränderungen auf beiden Seiten!

 

Moeller:  Das sehe ich ein, obwohl ich auch wieder versucht bin, zu sagen, na ja, das ist ein Übergangs­stadium. Ich muß mir aber klarmachen, daß es nicht nur ein Übergangsphänomen ist, sondern gleichzeitig ein zentrales Gefühl angesichts des westlichen Überflusses. Mir fällt ein Satz ein von Pier Paolo Pasolini, Dichter und Filmemacher aus Italien, der sagte: «Es ist klar, daß überflüssige Güter das Leben selbst überflüssig machen.» Ich habe mich lange in diesen Satz vertiefen müssen, bis ich ihn verstanden hatte. Unter Umständen geschieht so etwas hier ganz unversehens. Die verwirrende Vielfalt ist ein Phänomen, mit dem sich auch die Westdeutschen auseinanderzusetzen haben — bis hin in unseren Beruf. Es gibt ja 300 unterschiedliche Psychotherapierichtungen - wie soll sich da ein Laie überhaupt durchfinden ? Da hilft ihm nur die Reglementierung. Bestimmte Richtungen sind kassenfähig, sie sitzen sozusagen an den Geldquellen, sind mehr oder weniger überprüft. Vielen Menschen ist aber noch nicht einmal klar, daß Psychotherapie überhaupt von den Krankenkassen bezahlt wird.

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Es müßte beinahe einen neuen Beruf geben, einen Psychotherapieberater, der mit den betroffenen Menschen spricht und ihnen sagt, welche von den 300 Psychotherapierichtungen für sie jeweils die besten sind. Man muß also überall erst einmal — das ist den Menschen im Westen einigermaßen klar — Hilfen bekommen, um überhaupt zu wissen, was man wählt. Wenn ich Waschmittel aussuchen soll, frage ich mich genauso, welches ich nehmen soll. Da gibt es aber die Verbraucherberatung und Tests, die einem Hilfestellung leisten können — etwa wenn man sich ein Auto kauft. Oder unabhängige Organisationen geben Hinweise, wie etwa die Weltgesundheitsorganisation, die nur einen kleinen Bruchteil der zigtausend Medikamente für nötig hält. Aber die Hoffnung, man bekäme eines Tages mit diesen Hilfen Klarheit, ist trügerisch, weil man trotzdem immer mitten im verwirrenden Überfluß drinsitzt.

Ich sehe das auch in meiner eigenen Partnerschaft. Wenn wir uns einen gemütlichen Abend machen wollen und ein bißchen erschöpft sind, gehen wir zusammen ins Kino, haben einen schönen Abend gehabt, einen spannenden Film gesehen — und sind uns selbst aus dem Weg gegangen.

 

MaazIch will noch einmal auf den Gedanken zurückkommen, daß wir das System sind, das verloren hat, und daß wir auch zahlenmäßig unterlegen sind. Politisch und wirtschaftlich sind wir Verlierer, Gescheiterte. Jetzt können wir das westliche System übernehmen, was manche als großes Geschenk empfinden, andere als Belastung. Ich denke dabei nicht an die ehemaligen Nutznießer unseres Systems. Denen gegenüber kann ich eine gewisse Schadenfreude nicht verhehlen. Ich bin sogar der Überzeugung, daß ihre Bestrafung durchaus notwendig und gerechtfertigt ist. Aber selbst wenn wir davon ausgehen, daß das westliche System das bessere ist, heißt das ja noch lange nicht, daß es schon das beste sei. Psycho-dynamisch betrachtet übernehmen wir jetzt etwas, ohne darin selber gereift zu sein. Das aber bekräftigt nur unsere alten Verbiegungen und das Untertanensyndrom. Der Stalinismus war schlimm, aber wir erlebten ihn wenigstens in einem konflikthaften Prozeß, haben an der Entwicklung, an den Krisen und den Fehlern teilgehabt. Aber jetzt geschieht alles abrupt, praktisch von einem Tag zum anderen.

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Psychisch ist das nicht ohne neue Schädigung zu bewältigen und, wie die Realität uns lehrt, auch politisch und wirtschaftlich nicht so leicht, wie sich das manche dachten.

Wenn wir psychisch gesunden wollen, bedarf es eines Prozesses, an dem wir aktiv teilhaben. Wir müssen selber unsere demokratischen Strukturen entwickeln und sie uns nicht überstülpen lassen. Mit der Übernahme des Grundgesetzes allein ist noch lange nichts gewonnen. Selbst wenn das gutgehen sollte, was ich sehr bezweifle, zeigt uns gerade die Erfahrung der DDR, wie auch der Nationalsozialismus trotz antifaschistischer Staatsdoktrin und erheblicher politischer und wirtschaftlicher Veränderungen in den Stalinismus ausgelaufen ist, weil das Problem der faschistischen Charakterstrukturen in keiner Weise bewältigt wurde. Es bleibt also zu befürchten, daß wir auch bei einem möglichen äußeren Erfolg weder politisch noch psychisch reifer und gesünder werden.

 

Moeller: Ich meine, es reicht nicht, nur die Gesetze zu verändern; auch die alltäglichen Gesetzmäßigkeiten, das ganze Leben müssen sich wandeln.

 

Maaz: Ich sehe aber keine Lobby, die den gemeinsamen neuen Weg wirklich will. Eine kritische Auseinander­setzung über eine neue Lebensart, eine neue Gesellschaftskonzeption fehlt völlig. Eine solche würde uns nicht nur helfen, daß wir uns nicht erneut als Verlierer fühlen und dabei nur die alten Verletzungen wieder aufreißen, sondern ich halte sie auch deshalb für dringend notwendig, weil der Westen neue Konzepte braucht, um überleben zu können. Wir müssen den dritten Weg gemeinsam finden. Das bedeutet jetzt vor allem Systemkritik am Westen, dem momentanen Sieger über den «real existierenden Sozialismus». Auch der Blick auf unsere Schuld gehört natürlich dazu, aber er darf nicht die Probleme des Westens vergessen machen. Unser Beitritt wird für die Bundesrepublik mit Sicherheit ein schwerverdaulicher Brocken, aber wir sind nur ein Vorbote der Lasten, die sich aus dem Osten und dem Süden auf Deutschland zuwälzen werden.

Moeller: Für mich ist es natürlich überhaupt nicht neu, das westliche System kritisch zu betrachten. Aber ich denke, es gibt im Augenblick wenig Chancen für eine solche Reflexion, weil jetzt die Aufgaben bei der Neuorganisation des Alltags für den Osten und zum Teil auch für den Westen so gewaltig sind, daß kein Mensch darauf einsteigen wird. Die Wahlen waren meiner Meinung nach ein klarer Entschluß dagegen — jeder hatte ja die Möglichkeit, für solche Gruppen oder Parteien zu stimmen, die mehr zur Bedächtigkeit und kritischen Durchleuchtung aufriefen und die auch dafür plädierten, die innere Demokratisierung weiterzutreiben.

Die Masse der Leute hat dies jedoch nicht gewollt. Und vielleicht hatten sie sogar recht damit in einer so gewaltigen Umbruchszeit, in der man erst einmal Boden unter den Füßen braucht. Vielleicht kommt ja die Periode noch, in der das, was Sie sich erhoffen, passiert. Wir beide sind ja im Grunde eine Art Vorbote davon und machen das schon in diesen Zwiegesprächen. Und nicht nur wir halten es für wichtig, sondern auch andere. Ich habe nur das Gefühl, daß die Leute im Augenblick — ähnlich wie in der Nachkriegszeit — zunächst die Trümmer und ihr eigenes Überleben vor Augen haben. Das Nachdenken wird später einsetzen.

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