Start    Weiter

8  Das Gift kommt ins Ausland  

 "Es brennt vor unserer Haustür"  

 Nicaragua  +  Jumboabschuss 

 

193-209

    

 

Wir freuten 
uns schon auf 
"Rons Zorn".

 

 

Nun, da der Feind bestimmt war, taumelte Amerika in die Aufruhr-Phase — The Upheaval-Phase — und Reagans Polls kletterten weiter, je deutlicher er den Krieg vorbereitete.1

Die 'Upheaval-Phase' ist nach der 'Honeymoon'-, der 'Cracking'- und der 'Collapse'-Phase die vierte Phase des Zyklus, der sich während jeder Präsidentschaft einmal vollzieht und inszeniert wird

"Reagan hat Washington verhext", stellte TIME fest. "Seit Franklin Roosevelt hat es so etwas nicht mehr gegeben." Nach der Unterstützung zu urteilen, die ihm seine Politik der Erstarkung ("get-tough policies") eintrug, erschien Reagan Amerikabesuchern als "eine Art Ersatzgott".2) 

Die Medien heizten die Kriegshysterie an: "Reagan schlägt Alarm."3) — "Politische Linie wird härter."4) — "Reagan bleibt hart.".5) — "Zeit des netten Burschen vorbei." (No More Mr. Nice Guy).6) — "Rons Zorn".7) — "Ein Siegesplan für El Salvador".8) — Jede Schlagzeile ebenso sehr Anstachelung wie Beschreibung seines Vorgehens. 

Nachdem das Gift derart lange in uns angestiegen war, war es jetzt ein umwerfendes Gefühl, den Platz im Ausland gefunden zu haben, auf dem wir es abladen konnten. "Wir haben jetzt ein Programm, das von allen ... uneingeschränkt unterstützt wird", sagte Reagan, "vom Kongreß, vom amerikanischen Volk. Dieser Konsens wird uns einigen ... Weiteres Zögern können wir uns nicht leisten. Jetzt muß gehandelt werden." 9)

Der Ruf nach sofortiger Tat wirkte außergewöhnlich befreiend. Obwohl kaum etwas in Mittelamerika passierte, das nicht länger bekannt gewesen wäre, sah Reagan jetzt die Vorgänge dort im Rahmen einer "geistigen Krise" des Westens. "Der Feind um uns herum ist der Kommunismus." Der Präsident beschreibt ihn als "Zentrum des Bösen in der modernen Welt", schrieb <The New Republic> zu einer Reagan-Rede. "Die Rede hinterließ bei Freund und Feind in der ganzen Welt den Eindruck, Reagan erwäge den Heiligen Krieg".10)

"Heilige Kriege" beginnen oft mit einem Kindesopfer, als Symbol für das bevorstehende Opfer der Lebenskraft der Gruppe. Auch Reagan sprach vom Kindesopfer. "Der Präsident" — weiter THE NEW REPUBLIC — "war apokalyptisch. Er gab es dem Publikum mit der Erzählung von einem Mann, der sagte: <Lieber sehe ich meine kleinen Töchter jetzt sterben, sterben im Glauben an Gott, als daß ich sie unterm Kommunismus aufwachsen lassen müßte.>"11)

194


Durch seine Reden über das <Evil Empire>* und über sterbende Kinder konnte Reagan seine innere Bedrängnis so gut externalisieren, daß er hinterher immer strahlte, wie Reportern bald auffiel. 

"In den letzten Tagen scheinen Präsident Reagan und seine Gattin glücklicher als je zuvor" (James Reston in der NY TIMES).12)  

Einem Reporter der DAILY NEWS zufolge habe Reagan "sein Leben im Weißen Haus erfüllend" genannt und hinzugefügt: "So manchen Abend gehe ich nach Hause und fühle mich riesig" (feeling 10 feet tall).13) 

Reagans Kriegsversprechen berührte das Leben in Amerika auf allen Ebenen.

 

Reagans Versprechen
eines Heiligen Krieges
gab uns ein Gefühl der 
Befreiung.

Während innenpolitische Probleme kaum noch eine Rolle spielten — die Regierung mußte sich allein im Mai um 29,3 Milliarden Dollar neu verschulden, um ihre Rechnungen zahlen zu können — war derselbe Kongreß, der ein paar Monate vorher die Anschaffung der MX-Erstschlag-Raketen abgelehnt hatte, jetzt der Meinung, man "könne dem Präsidenten nicht die Hände binden" und stimmte zu. 

"Präsident Reagan sah ganz wunderbar aus nach dieser Abstimmung", schrieb Mary McGrory in der WASHINGTON POST. "Strahlende Augen und rosige Wangen ... seit der Golf-von-Tonkin-Resolution hat kein Präsident mehr einen solchen Triumph genossen ... Die Demokraten sind ganz verwirrt von Reagans anhaltendem und immer noch steigendem Einfluß auf die Gefühle der Amerikaner."14)

 

Mit Reagan 
auf seinem 
MX-Phallus
weg von unseren
inneren Problemen.

* - das "Reich des Bösen" in Krieg der Sterne. (d.Ü.)

195


Nach 20 Jahren der Ablehnung stimmte der Kongreß nun auch dem B1-Bomber zu, obwohl er bei Anschaffung überholt sein und 114 Milliarden Dollar kosten würde.15) Die Giftgasproduktion, 14 Jahre lang auf der schwarzen Liste, wurde vom Kongreß wieder zugelassen. Die Marine konnte ihr Programm zum Bau neuer Schiffe von 400 auf 700 Stück erhöhen. Die Aufstellung der 100.000 Mann starken Schnelleinsatztruppe (Rapid Deployment Force) wurde beschleunigt, die Militärstützpunkte auf der ganzen Welt vergrößert und mit mehr Panzern, Hubschraubern und Munition bestückt. 

17.000 neue Nuklearsprengköpfe kamen zu den 25.000 schon betriebsbereiten, eine Steigerung um 70 %. Dazu Hunderte von Cruise Missiles und Pershing Raketen zur Stationierung in Europa, um mit den Europäern die Ausführung unseres wechselseitigen Selbstmordpaktes einleiten zu können.16) 

Zusammen war das die größte militärische Aufrüstung in der Geschichte der Menschheit; eine Verdoppelung der Militärausgaben in Reagans erster Amtszeit war dazu nötig. Welch einen Reinigungseffekt das der Welt bescheren könnte, — Zerstörungspotential im Wert von einer Billion Dollar!

Die sexuelle Erregung, die so viel phallische Aufrüstung in uns erzeugte, kam vor allem in unserem ständigen Gebrauch der Feuermetaphorik zum Vorschein (Feuer, so oft Ausdruck sexueller Erregung in unseren Träumen). Mittelamerika, vor Monaten noch "das Feuer in unserem Hinterhof" wurde jetzt von Reagan zum Feuer vor unserer Haustür ernannt (a fire in our frontyard). 

Daß wir dies sexuelle Feuer selber entfacht hatten, wurde von Reagan indirekt zugegeben, als er in einer seiner Reden einen früheren Präsidenten mit den Worten zitierte: "In Amerika war ein glorreiches Feuer auf dem Altar der Freiheit angezündet worden... laßt seine Funken unaufhörlich aufsteigen, daß sie auf andere Altäre fallen und das Feuer der Freiheit in anderen Ländern entzünden."

Mittelamerika sollte unser Altar dafür sein. Dorthin hatten wir unser sexuelles Feuer verschoben. Dementsprechend fanden wir es passend, den neuen Stützpunkt der CIA-Contras "Las Vegas" zu nennen, um so Mittelamerika in Verbindung zur sexuellen Ausstrahlung von Glücksspiel und Prostitution zu halten, wie sie von dieser Stadt ausgehen. 

196


Je mehr unsere Wirtschaft sich erholte, desto stärker sahen wir dies mittelamerikanische Feuer als "außer Kontrolle" geraten. Auf Hearings der Demokraten im Kongreß drehte es sich um die Halluzination, die Situation in Mittelamerika würde sich "rapide verschlechtern".17)  

Barry Goldwater, republikanischer Senator, erklärte in Face the Nation im TV: "Wenn ich Präsident wäre... würde ich sagen... setzen wir unsere Armee ein und unsere Luftwaffe, riegeln wir Nicaragua und El Salvador ab und marschieren wir in Kuba ein".18) Die wenigen Kritiker, die verwundert fragten, "warum ein Feuer, das etwas störenden Rauch entwickle, plötzlich außer Kontrolle geraten solle",19) kriegten die sexuellen Obertöne dieses "glorreichen Feuers", daß wir so hell unten "vor unserer Haustür" (unseren Genitalien) brennen sahen, nicht richtig mit.

 

   

Mittelamerika, 
"das Feuer vor unserer Haustür", 
als Symbol unserer sexuellen Erregung.

 

 

Unser militärischer Aufbau in Mittelamerika begann mit der Einrichtung von Militärbasen, Flugplätzen, Radarstationen in Honduras, nahe der Grenzen zu Nicaragua und El Salvador.20) Von diesen amerikanischen Lagern aus unternahmen von der CIA finanzierte Contras terroristische Überfälle auf nicaraguanische Dörfer und bombardierten Managua und andere Städte mit Flugzeugen, die der CIA gehörten, um Nicaragua zu einem Gegenschlag herauszufordern.21)  

All diese Unternehmungen waren illegal; es verstößt gegen amerikanisches Recht, beim Sturz irgendeiner Regierung irgendeines Landes zu helfen, mit dem wir uns nicht im Krieg befinden. 

197


Aber was regelmäßig als "Reagans heimlicher Krieg" in den Schlagzeilen war, brauchte wirklich nicht versteckt zu werden; Umfragen zeigten, daß "die Amerikaner mit 54 gegen 29 % meinten, Reagan führe die USA in einen Krieg in Mittelamerika",22) während die Zustimmung zu Reagans Amtsführung gleichzeitig unbekannte Höhen erreichte.

"Die USA in Mittelamerika in einen Krieg zu führen" war offenbar genau das, was eine Mehrheit der Amerikaner von Reagan erwartete. Daß die meisten Leute, fragte man sie direkt, sich "gegen Krieg" aussprachen, gibt nur die defensive Seite ihrer Motivation wieder. 

Sie wollten Krieg, aber Krieg ohne Schuld, und Reagan hatte versprochen, er könnte uns einen solchen liefern. Welches Land in Mittelamerika wir dabei unterstützten, spielte nicht einmal eine Rolle. In Umfragen wußten nur 8 % der Amerikaner, auf welcher Seite wir standen.23) Was zählte war nur, Reagan zuzujubeln auf seinem Weg an unserer Spitze in einen Krieg.

Cartoonisten gaben Reagan jetzt regelmäßig eine Knarre in die Hand, jemanden zu erschießen.

198


Die Armee begann, sich auf einen Krieg vorzubereiten.

Es war auch nicht wichtig, daß der Anführer jener Seite, die wir in San Salvador finanzierten, vom früheren US-Botschafter Robert White als "pathologischer Killer" bezeichnet worden war, der geholfen hatte, zehntausende unschuldiger Menschen zu foltern und zu töten; noch fiel es ins Gewicht, daß wir den einzelnen Contras 1.000 Dollar Monatsgehalt zahlten, damit sie blutige Terroranschläge in Nicaragua durchführten, Dörfer verbrannten und Frauen und Kinder töteten in nichts als Schießübungen.24) Für den Präsidenten waren das einfach "Freiheitskämpfer"; er versprach, daß wir "kein Land in unserem Umkreis an den Kommunismus verlieren" würden, versetzte "die Marine in Alarmbereitschaft"25) und fuhr fort, eine nicaraguanische Antwort zu provozieren.

Das Ausbleiben dieser Antwort war Reagans Hauptproblem mit Nicaragua. Es ist fast unmöglich, mit jemandem einen Krieg anzufangen, der sich beharrlich weigert, seinen Part entsprechend zu spielen und Nicaragua weigerte sich, auf unsere Provokationen zu reagieren. Nicaragua stoppte sogar den Waffen­nachschub für die Rebellen, die das Regime in San Salvador bekämpfen. 

Zur gleichen Zeit, in der die Reagan-Regierung dem amerikanischen Volk eröffnete, "die kommunistische Welt — Cuba, die Sowjetunion, Ostdeutschland, Bulgarien — überschütte Mittelamerika mit Kriegs- und Propagandamaterial",26) mußten andere Politiker vor dem Kongreß einräumen, daß "der Nachschub an Waffen für die Rebellen in San Salvador seit Monaten nur noch ein Tröpfeln" sei.27) 

Da unsere Finanzierung der Contras angeblich dazu diente, den "Fluß der Waffen zu unterbinden", war es ziemlich peinlich für die Pentagonleute, vor der Presse zugeben zu müssen, daß keine Gewehre oder ähnliches konfisziert werden konnten", wo wir doch Zehntausende von Dollars für diesen Zweck dort investiert hatten.28)

199


Aus unserer psychologischen Lage heraus mußten wir aber fortfahren, die äußere Bedrohung zu imaginieren. Es konnte nicht alles bloß in unseren Köpfen sein. Wir versuchten nach Kräften, einzelne Vorfälle hochzuspielen. Als ein US-Berater in El Salvador getötet wurde, erschien NEWSWEEK mit der hoffnungsvollen Schlagzeile auf der Titelseite: "Mittelamerika: Das erste Kriegsopfer".29 Als zwei amerikanische Journalisten in Honduras auf eine Landmine traten und ums Leben kamen, berichtete die gesamte US-Presse — ohne Beweis — sie seien durch nicaraguanisches Artilleriefeuer von jenseits der Grenze getötet worden.30 Aber ein wirklich gravierender Zwischenfall blieb weiter aus.

Reagan hatte nun zu entscheiden. Alle seine Berater sagten ihm, er hätte Mittelamerika "zu gewinnen", wenn er sich erneut um die Präsidentschaft bewerben wolle.31 Aber Nicaragua und die salvadorianischen Rebellen spielten nicht mit. Sollte er dennoch militärisch intervenieren ohne schuldmindernden casus bell? In einer entscheidenden Sitzung des nationalen Sicherheitsrats (National Security Council) am 8. Juli, teilte eine extra gebildete Sondereinheit ihm mit, "die Situation in Mittelamerika nähere sich einem kritischen Punkt".32 Reagan traf seine Entscheidung: jetzt angreifen.

In einer Aktion, die ein wohlgesinnter Reporter später als "impulsiv" bezeichnete33, befahl Reagan 5.000 amerikanische Soldaten zu "Manövern" nach Honduras, nahe der nicaraguanischen Grenze und schickte eine ziemliche Kampf armada der Marine vor die Küste von Nicaragua. Die Operationen wurden auf Ende Juli gelegt, kurz bevor der Kongreß in die Sommerferien ging.34 

 

Wir fühlten uns wie zum Zerspringen beim Versuch, uns von unseren inneren Ängsten zu befreien.

200


Wir wollten, daß Reagan unsere Muskeln spielen läßt.

 

Bis zu diesem Zeitpunkt behauptete Reagan weiter: "Wir werden nichts unternehmen, um die Regierung von Nicaragua zu stürzen."

Erst Ende Juli schickte Reagan in einer Aktion, "die für große Teile beider Parteien im Kongreß völlig überraschend kam"35, die 5.000 Soldaten und eine Flotte von 19 Schiffen, darunter 1 Schlachtschiff, 2 Flugzeugträger, 140 Flugzeuge und 16.500 Mann Personal nach Mittelamerika. "Das ist als Einschüchterung gedacht" (ein Beamter des Pentagon gegenüber TIME).36 Reagans Berater sprachen von einer "möglichen Blockade", d.h., einem Embargo, also einem kriegerischen Akt gegenüber Nicaragua.37 Unter dem Banner von Schlagzeilen wie "Reagan macht Ernst in Mittelamerika — U.S. Flottenverband unterwegs"38 zog die Flotte südwärts.

Würden die Amerikaner einem Krieg zustimmen, der bar jeder Rechtfertigung war? Würden sie die daraus resultierenden Schuldgefühle ertragen? Etliche Reaganberater ließen Versuchsballons gegenüber der Presse los, um zu sehen, wie weit wir gehen sollten. U.N. Botschafter Jeane Kirkpatrick meinte, "eine Demonstration amerikanischer Stärke, die Waffenlieferungen auf hoher See unterbinde, könnte nur lehrreich sein".39

Anthony Quainton, der amerikanische Botschafter in Nicaragua, sagte dazu, der Augenblick werde kommen, daß die Flotte "Nicaragua unter Quarantäne" werde stellen müssen.40 Ein anderer Regierungsbeamter sagte, "die Anwesenheit der Schiffe dort... könne auch einem Angriff dienen".41 Wie würde die amerikanische Bevölkerung auf solche Suggestionen reagieren?

 

Wir wollten unseren eigenen Falklandsieg einfahren.

201


Sobald klar wurde, daß es darum ging, ob Krieg ohne einen schuldvermindernden Grund geführt werden sollte, begannen der Kongreß und die Medien zu antworten. "Wozu einen Krieg riskieren?" überschrieb Tom Wicker seine Kolumne in der NY TIMES.42 "Mögliche Anklage wegen Amtsvergehen in einem illegalen Krieg", eine andere Schlagzeile.43 "Erster Schritt zu neuen GI-Gräbern", Titelseite des PEORIA JOURNAL STAR. Der Kongreßabgeordnete von Peoria zeigte Reagan diese Schlagzeile mit den Worten: "es wird eine Menge Arbeit kosten, die Leute auf unsere Seite zu bringen".44 

Die NY TIMES fragte, "leitet die amerikanische Seestreitmacht unterwegs nach Mittelamerika womöglich eine ausgedehnte Blockade ein? Bedeutet diese Machtdemonstration, daß sowjetische und kubanische Schiffe und Flugzeuge auf dem Weg nach Nicaragua angegriffen werden sollen nach dem Muster der Kubakrise 1962?"45 "Eine Blockade ist ein kriegerischer Akt", sagte ein Kongreßabgeordneter, "und nach der Verfassung ist die Entscheidung über einen Krieg dem Kongreß vorbehalten".46

Zum ersten Mal veröffentlichte die WASHINGTON POST ganzseitige Interviews mit nicaraguanischen Regierungsvertretern. "Was haben wir dem amerikanischen Volk getan", fragte einer. "Was ist es, worauf Ihre Regierung mit der geballten Faust antwortet?"47 Nicaragua erklärte sich sogar bereit, den "Waffenfluß" nach El Salvador zum Verhandlungsthema zu machen, trotz der fehlenden Evidenz, daß es ihn überhaupt gäbe, "weil dieser ja wohl die amerikanische Regierung am meisten beunruhige".48 

 

Nach Reagans Rückzieher wurde Washington "Stadt ohne Mumm" genannt.

202


5.000 Menschen protestierten in Washington gegen die Militäraktionen. Keine der größeren amerikanischen Zeitungen brachte den Mut auf, über diese Demonstration zu berichten; die Erinnerung an die Proteste gegen den Vietnamkrieg war dennoch wach. "Die USA werden in einen Krieg hineingezogen nicht nur ohne eine Kriegserklärung des Kongresses, sondern auch gegen ihren ausdrücklichen Wunsch", warnte ein NY TIMES Leitartikel.49 "Wer will in diesem Krieg kämpfen?" fragte ein Abgeordneter während der Debatte über die Truppenbewegung.50 "Er denkt wieder, er ist John Wayne", hörte man Parlamentssprecher O'Neill während der Debatte knurren. "Der glaubt, der könnte da einfach runtermarschieren und aufräumen."51

Es war klar, die Schuld würde zu groß sein. Einen Krieg vom Zaun zu brechen ohne auch nur die dünnste Entschuldigung, würde nicht erlaubt werden.

Die Enttäuschung war groß, als Reagan einen Rückzieher machte, besonders bei der Rechten, bei den älteren Psychoklassen. Patrick Buchanan sah Reagan erneut als "impotent", erklärte "die Reagan-Revolution für beendet, vorbei" und fügte hinzu, selbst wenn die Rechte Reagan nun nicht gänzlich fallen lassen werde, so sei doch die Romanze für immer raus aus dieser Ehe".52 Washington wurde zur "Stadt ohne Mumm" (U.S. NEWS AND WORLD REPORT).53 Einige Wochen lang fielen Reagans Polls steil ab.54 Er würde etwas anderes versuchen müssen. Wenn die Tentakel des Tintenfisches sich nicht zum Zugreifen provozieren ließen, dann vielleicht sein Kopf.

*  

 

Provokation des Feindes ist die offizielle Aufgabe des Luftwaffengeheimdienstes "Ferret" (Frettchen). Über Jahre hinweg hatte die Air Force täglich Flugzeuge über sowjetisches Territorium fliegen lassen, um ihr Radar- und Verteidigungssystem zu "kitzeln", und so Reaktionen wie den Start von Flugzeugen, Aktivierung des Radarsystems, Abfeuern von Raketen, etc. zu provozieren. Trotz der permanenten Möglichkeit, daß durch die "Ferret"-Provokationen ein Atomkrieg ausgelöst werden könnte, hatten amerikanische Flugzeuge, laut TIME, "den Abschuß von mehr als 900 sowjetischen Boden-Luft-Raketen ausgelöst, bislang aber ohne einen Treffer."55)

203


Aber über 25 Flugzeuge sind in den letzten drei Jahrzehnten bei solchen geheimen und tödlichen Provokationsspielen angegriffen oder zerstört worden; über 125 Amerikaner wurden dabei getötet.56) Zum "Ferret"-Programm gehört es auch, Linienflugzeuge dazu zu benutzen, Daten entlang den russischen Grenzen zu sammeln. Nach Ernest Volkman, der bei DEFENSE SCIENCE für das Ressort "Nationale Sicherheit" verantwortlich zeichnet, "durchfliegt Korean Airlines (KAL) regelmäßig sowjetischen Luftraum, um militärisch interessante Daten zu sammeln".57)

Die KAL, schreibt der BOSTON GLOBE, sei im Grunde eine militärische Fluggesellschaft, deren Piloten durchweg Offiziere mit geheimdienstlicher Spezial­ausbildung sind.58) Amerikanische Geheimdienstoffiziere verschweigen nicht, daß KAL-Linienflugzeuge in den vergangenen Jahren mit Spezialkameras (side-view cameras) ausgerüstet wurden, um Photos entlang der russischen Grenze zu machen.59) Eins dieser KAL-Linienflugzeuge wurde vom amerikanischen Geheimdienst dazu benutzt, den "Feind" zu provozieren und uns ein erstes (Kriegs-)Opfer zu geben.

Ende August erfuhr der amerikanische Geheimdienst, daß die Sowjetunion am 1.9. auf der Halbinsel Kamschatka ihre neue PL-5 Rakete testen würde.59) Um so viel wie möglich von diesen Tests mitzubekommen, setzten wir all unser Radar, die Infrarotleute und Radiohorchposten in diesem Gebiet in Bereitschaft. Darunter auch das hochempfindliche, komplizierte "Cobra Dane" Radarsystem der Air Force auf der Insel Shemya am Ende der Aleuten, das "Cobra Judy" System der Navy nahe Kamschatka, die Spionagesatelliten, die RC-135 Spionageflugzeuge, ausgestattet mit Radar und anderen Sensoren und dazu das reguläre Radio- und Funkkontrollsystems Japans und Alaskas.60)

 

   

Der amerikanische Geheimdienst 
verfolgte den KAL-Flug 007 
in sowjetisches Hoheitsgebiet.

 

204


Ob der KAL-Flug 007 absichtlich von US-Behörden in den sowjetischen Luftraum geschickt wurde als Teil dieser Datensammler (mit Kameras und anderen Aufzeichnungsgeräten bestückt), oder ob er als das diente, was die Geheimdienstler ein "Gelegenheitsziel" nennen, ist bis jetzt nicht geklärt. Die wichtigsten Informationen werden von einem amerikanischen Gericht unter Verschluß gehalten als Teil der Beweisaufnahme einer Schadenersatzklage von Angehörigen der beim Abschuß ums Leben gekommenen Passagiere gegen KAL und die amerikanische Regierung. 

In der Klage wird davon ausgegangen, das amerikanische Militär habe "auf dem Radar gesehen und erkannt", daß KAL 007 sich über sowjetischem Territorium befand, aber absichtlich nichts unternommen, um die Besatzung zu warnen.61)

Was immer der genaue Grund für die Abweichung des Flugzeugs von der normalen Flugroute war — die bekannt gewordenen Einzelheiten vom Flug selbst fügen sich genau ins Bild einer absichtlichen Provokation der Sowjetunion durch den amerikanischen Geheimdienst. Das Cover des WASHINGTON POST MAGAZINE zeigte Amerika, wie es gespannt zuschaute, als das Flugzeug in den sowjetischen Luftraum einflog: Mehrere entscheidende Fakten führen unausweichlich zu einem solchen Schluß:62)

1. Der Abflug der KAL 007 wurde um 40 Minuten verzögert, um die Ankunft über dem Testgebiet auf Kamschatka mit der des Spionagesatelliten "Ferret D" zu koordinieren, der genau zur selben Zeit — 3 Uhr früh — über dem Testgebiet sein würde.

2. Mehrere Kontrollsysteme an Bord der Maschine machten eine Misfunktion der Navigation so gut wie unmöglich. Aber selbst wenn der Computer falsch programmiert war und die Kontrollen derart nachlässig gehandhabt worden wären, daß dies unentdeckt blieb, hätten das Wetterradar und der Kompaß genügt, dem Piloten anzuzeigen, daß er vom Kurs war und über Land flog statt über dem Ozean.

3. Der Pilot, der die Strecke schon oft geflogen war, konnte bei einem Blick aus dem Fenster gar nicht umhin, die Lichter von Städten, Straßen, Autos auf Kamschatka zu sehen und zu wissen, daß er sich nicht über dem Pazifik befand, wie es hätte sein sollen. Er flog aber immer weiter ins sowjetische Gebiet hinein.

205


4. Der Pilot hatte ständigen Funkkontakt mit Tokio, sowie mit einem zweiten Flugzeug, KAL 015, das hinter ihm flog. Im Moment, in dem der amerikanische Geheimdienst wußte, daß die Sowjets KAL 007 entdeckt hatten, daß sie ihren Raketentest abbrachen und ihre Abfangjäger aufsteigen ließen mit der Anweisung an den Piloten, "der RC 135" zu folgen, wäre es sehr einfach gewesen, KAL 007 zu warnen und auf die Kursabweichung hinzuweisen.

5. Der amerikanische Air Force Geheimdienst hatte einen direkten Draht zum Präsidenten, zum Pentagon und zur CIA und hätte zehn Minuten später die Nachricht übermitteln können, KAL 007 werde von sowjetischen Abfangjägern verfolgt. Der Präsident und sein Stab hätten dann noch eineinhalb Stunden Zeit gehabt, an einem gewöhnlichen Arbeitstag, das Flugzeug zu warnen. Ob der Präsident aber überhaupt informiert wurde und sich dann für die Opferung entschied oder ob die Geheimdienstleute, die das Geschehen beobachteten, eigenmächtig die Entscheidung trafen, ist bis jetzt nicht bekannt.

Berichten zufolge, die später in der NY-TIMES und im WASHINGTON POST MAGAZINE erschienen, hätten "Experten des amerikanischen Geheim­dienstes geäußert, bei Sichtung aller verfügbaren Unterlagen sei kein Hinweis darauf gefunden worden, daß die russische Abwehr vor dem Angriff auf KAL 007 tatsächlich gewußt habe, daß es sich um ein Zivilflugzeug handele",63) daß aber "der gesamte Ablauf der Ereignisse — vom Augenblick, als die Russen KAL 007 entdeckten bis zum Abschuß — vom amerikanischen Geheimdienst genau verfolgt, aufgezeichnet und analysiert worden sei."64) 

Als wären sie nie veröffentlicht worden, versanken diese Enthüllungen sogleich jenseits des amerikanischen öffentlichen Bewußtseins. Jedes Detail der regierungs­amtlichen Darstellungen des Vorfalls erwies sich später als falsch. Reagan hatte behauptet: "Jeder Pilot mußte einfach die Maschine als Linienflugzeug erkennen"; aber die Tonbandaufnahmen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht wurden, zeigten, daß die russischen Piloten von ihm als von einer "RC 135" gesprochen hatten, der militärischen Erkundungsmaschine. 

206


    

Wir projizierten 
all unseren Blutdurst 
in den russischen Bären.

 

Der Präsident hatte vor der Öffentlichkeit behauptet, es sei keine Warnung an KAL-007 ergangen; auf dem Tonband hört man den sowjetischen Piloten mit dem Satz "Ich geben jetzt Warnschüsse ab" — wie das Außenministerium später einräumte —, bevor er die Rakete abschoß, die zum Absturz führte und er hatte sogar seinen Leuten am Boden mitgeteilt: "Zielobjekt antwortet nicht".65) 

Der Behauptung des Präsidenten, der russische Pilot hätte die Umrisse des Jumbo im klaren Mondlicht ohne weiteres erkennen müssen, wurde später vom Außenministerium widersprochen; das russische Flugzeug hätte sich die ganze Zeit 2.000 Fuß unter dem koreanischen Passagierflugzeug befunden, gab man zu, so daß von einem Erkennen der Umrisse keine Rede sein konnte. Als die Warnschüsse abgefeuert wurden, reagierte KAL 007 nicht und setzte ihren Flug über dem sowjetischen Festland fort, gerade auf Wladiwostok zu.66) Da die Sowjets keine Möglichkeit hatten, mit Sicherheit zu wissen, daß dies Flugzeug keine nuklearen Sprengköpfe an Bord habe, konnte man sich darauf verlassen daß sie es abschießen würden. 

Was der Präsident ein "sowjetisches Massaker" genannt hatte, war in Wahrheit die erste größere außenpolitische Opferung unter Reagans Präsidentschaft.

207


269 Opfertote als Beweis, daß es der Feind war, der all unsere Mordlust in sich trug, das war ein gutes Gefühl. Reagans Popularitätspolls kletterten entsprechend. Im NBC-TV sagte ein Regierungsbeamter, dies zeige "wie richtig es ist, was der Präsident uns seit Jahren über die Russen gesagt hat."67)

Reagan selber — obwohl ihm absolut klar gewesen sein muß, daß wir zugesehen hatten, wie dies Flugzeug ins Unglück flog und auch, daß die Russen es für ein Militärflugzeug gehalten hatten — nannte den Abschuß einen "Akt der Barbarei". "Das war nicht einfach ein Angriff gegen uns oder auf die Republik Korea", sagte er. "Das war die Sowjetunion gegen die ganze Welt". "Sowjetische Paranoia" (Schlagzeile des ORLANDO SENTINAL).68) "Moskaus blutige Hände" (NEW YORK POST).69) "Vorsätzlicher Mord" in der CHICAGO TRIBUNE70) und "kaltblütiger Massenmord"71) für die N.Y.-TIMES. "Das sind Bestien, wie die Nazis" (New Yorks Oberbürgermeister Ed Koch).72) 

Während Amerikaner russische Fahnen vor dem UN-Gebäude verbrannten, meldete die Presse, "Reagan auf dem Kamm einer anti-sowjetischen Welle", einer Welle, die "die Kritik an der Mittelamerikapolitik seiner Regierung hinweggeschwemmt" und "die Stationierung von Atomwaffen in Westdeutschland, Großbritannien und Italien sichergestellt" habe.73)  

"Bei allem vergossenen Blut brachte der Flugzeugabschuß Reagan einen politischen Bonus und einen wahren Propagandasegen", schrieb die CHICAGO TRIBÜNE:74) "Das wird uns einige Dinge sehr erleichtern",75) fand ein Berater des Präsidenten. "Ein besseres Drehbuch hätte er sich selbst auch nicht schreiben können" — ein demokratischer Abgeordneter — "jetzt steht er wirklich da als der Präsident..."76)

Ein Problem aber war geblieben. Die "Massaker"-Story war eine Lüge und ohne jeden Zweifel eine bewußte Lüge und folglich konnte Reagan nicht so etwas wie umgehende Vergeltungs­maßnahmen einleiten, ohne zu sehr seine eigenen Schuldgefühle aufzurühren.

 

Die Amerikaner zeigten schon bald ihren Mißmut über das Ausbleiben wirklich starker Taten bei Reagan. "Die Menschen in diesem Land beginnen sich zu fragen, ob wir die moralische Stärke besitzen ... tatsächlich gemeinsam zu handeln.",77) sagte Senator D'Amato. Ein Sprecher der Konservativen im Fernsehen wurde deutlicher: "Der Präsident spricht wie Superman, aber handeln tut er wie Neville Chamberlain."78)

Die Polls führten zwei von drei Amerikanern mit der Meinung, Reagan sei zu schlaff den Russen gegenüber.79) Cartoonisten steckten ihn erneut in Frauen­kleider, wie er mit hilfloser Geste dem russischen Bären das Handtäschchen auf die Nase haut. Ein rechtsradikaler Leitartikler wußte zu berichten, "die ältesten Freunde des Präsidenten" seien "abwechselnd empört und entmutigt von der Ängstlichkeit seiner Antwort".80) "Dies war Reagans Falklandkrise", sagte Howard Phillips, Vorsitzender des konservativen Parteigremiums, "und er hat die Gelegenheit verpaßt".81) Noch andere nannten Reagan "ein Fähnchen im Wind", "Präsidentenattrappe".82)

Wieder einmal mußten die Amerikaner Reagan durch ihren Spott zu aggressivem Verhalten zwingen. Wir sagten ihm auch, wo der Eingriff, die Invasion, stattzufinden habe. "Die Antwort auf die Empörung über den Abschuß der 007: Gebt Moskau Zunder in Mittelamerika" (Give Moscow Hell ...),83) empfahl eine Schlagzeile der NEW YORK POST. 

Aber Mittelamerika wollte nach wie vor nicht mitspielen. So wandte sich Reagan zwei anderen Opferaltären zu, die schon genügend bereitet waren — Beirut und Grenada.

208-209

#

  ^^^^ 

(detopia-2009)  1996 gab es zum Abschuß des koreanischen Jumbo eine kleine Anfrage (PDS) an den Deutschen Bundestag 
Text hier  und hier dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/066/1306610.asc  und Google Jumbo Abschuss 

 

www.detopia.de