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Literatur gegen Totalitarismus

   Helsinki 

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Als zu Beginn der sechziger Jahre in der russischen Literatur die »Erscheinung« Solschenizyns auftauchte, da faßten viele in unserer heutigen Welt dieses Phänomen als ein Wunder auf. Doch wer während der letzten fünfzig Jahre die Literatur unseres Vaterlandes aufmerksam beobachtet hatte, dem war klar, daß dies nur die gesetzmäßige Folge ihres Entwicklungsprozesses war. Eine Erscheinung wie Solschenizyn wäre außerhalb des allgemeinen literarischen Widerstandes gegen die Diktatur, der sich schon bald in den ersten Jahren nach dem Oktoberumsturz abzeichnete, undenkbar.

Die Genealogie dieses Widerstandes beginnt bei dem erschossenen Gumiljow, führt weiter über den totgeschwiegenen Bulgakow, den im Konzentrationslager gemarterten Mandelstam, über Soschtschenko und Achmatowa, die gehetzt und verfolgt wurden, zu dem ebenfalls gehetzten und verfolgten Pasternak und schließlich zu dem des Landes verwiesenen Solschenizyn.

Ich nenne nur die überragenden Gipfel dieses Widerstandes, zu deren Füßen sich ganze Plejaden diktaturfeindlicher Künstler — von Jurij Olescha bis Jurij Dombrowskij — drängten.

Sie stellten in ihrer Gesamtheit keinerlei berufliche oder organisatorische Struktur dar; jedwede Struktur wäre augenblicklich aufs grausamste zerschlagen worden. Das Anliegen und das Werk eines jeden von ihnen war das Ergebnis einer zutiefst persönlichen, inneren Entscheidung. Doch von der Geschichte vereint, erwiesen sie sich als die unüberwindliche Kraft, dank welcher unsere Literatur nicht nur unter dem totalen Druck der kulturellen Diktatur aushielt, nicht nur die Reißfestigkeit des lebendigen Fadens im Entwicklungsprozeß der Literatur gewährleistete, sondern sich letztlich heute auch im vollen Glanz weltweiter Anerkennung zeigt.

Man wird zugeben müssen, daß die jüngste Geschichte kein weiteres Beispiel dafür kennt, daß eine Kultur in dem für die Diktatur verwundbarsten Bereich, nämlich in der Literatur, noch dazu in ihrer Untergrundausprägung, gleich zwei Nobelpreisträger hervorbringt. Die historische Einmaligkeit dieses Phänomens ist unbestreitbar.

Natalja Gorbanewskaja, die wegen der Demonstration gegen die Besetzung der Tschechoslowakei auf dem Roten Platz zur Rechenschaft gezogen wurde, antwortete auf die Frage des Untersuchungsrichters nach ihren Motiven, die sie zur Teilnahme an der Demonstration bewogen hatten: »Ich tat es für mich selbst, sonst hätte ich nicht weiterleben können.«

Nur dies, dies allein und nichts anderes treibt heute unsere Widerstandsliteratur innerhalb des Landes an: Lydia Tschukowskaja, Wladimir Wojnowitsch, Georgij Wladimow, Lew Kopelew, Wladimir Kornilow, Wenjamin Jerofejew und eine Vielzahl anderer noch Namenloser, die ihre Wahl jedoch bereits getroffen haben.

Dieser Prozeß des künstlerischen Widerstandes gegen die Diktatur weitet sich immer mehr aus und vertieft sich zusehends. Kürzlich stellte beispielsweise eine Gruppe von Moskauer Schriftstellern (Wassilij, Axjonow, Andrej Bitow, Fasil Iskander, Jewgenij Popow und andere) den Almanach Metropol zusammen und ließ ihn, da seine Veröffentlichung in der Heimat abgelehnt worden war, im Ausland erscheinen; damit schlug diese Gruppe gewissermaßen eine Brücke zwischen der offiziellen und der Samisdatliteratur.

Heute macht die russische Literatur in ihrer Entwicklung eine neue Wende durch: Ein Teil der Schriftsteller, mit ihrem unbestrittenen Führer Alexander Solschenizyn an der Spitze, lebt (wie schon einmal, jedoch unter gänzlich anderen Bedingungen) im Ausland. Und wieder, wie auch schon in der Heimat, hängt unsere geistige Selbsterhaltung, die Unzerstörbarkeit unseres Bandes mit dem Milieu, das uns hervorgebracht hat, und schließlich unsere Zugehörigkeit zur Kultur unseres Vaterlandes nicht von einem politischen oder organisatorischen Zusammenschluß ab, sondern vor allem vom individuellen persönlichen Willen eines jeden zum geistigen und menschlichen Widerstand

Ob wir in der für uns ungewohnten Umgebung, das heißt, außerhalb des Elements unserer Muttersprache, außerhalb der Atmosphäre des uns verständlichen sozialen Milieus zu bestehen vermögen, das wird die nächste Zukunft zeigen. Möge Gott uns beistehen!

Da wir eine literarische, geistige, kulturelle Emigration sind, repräsentieren wir für unsere Umwelt, ob wir es wollen oder nicht, ebenfalls, wenn nicht sogar in erster Linie, eine politische Emigration, was uns seinerseits vor das Problem unserer bürgerlichen Existenz jenseits der Grenzen unseres Landes stellt.

Der Widerstand gegen die Diktatur in Rußland nahm seinen Anfang bei einsamen Märtyrern, doch deren Einfluß auf die folgenden literarischen Generationen erwies sich als geistig so radioaktiv, daß sich im Endeffekt in unserem Lande ein genetischer Schriftstellertyp, wenn ich es so ausdrücken darf, herausbildete, der sich der Gewalt nicht deshalb widersetzt, weil er bewußt eine heldenhafte Mission erfüllt, sondern weil er anders einfach nicht leben könnte, denn er will eine Persönlichkeit, will Mensch bleiben.

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Helsinki auf sowjetisch

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Zu Beginn eine kleine Illustration.

In einem Permer Lager tauchte durch ein Versehen der Lagerverwaltung die Nummer des UNESCO-Blattes <Kurier> auf, welche die Deklaration der Menschenrechte enthielt. 

Als beim nächsten »politischen Unterricht« irgendein pingeliger Häftling in Verteidigung seiner Rechte versuchte, sich auf dieses Dokument zu berufen, da antwortete ihm der Schulungsoffizier, ohne nachzudenken: »Das ist nicht für euch geschrieben, sondern für die Schwarzen.«

Dieses treuherzige Postulat eines Gefängniskalfaktors definiert erschöpfend die Essenz der sowjetischen Außenpolitik, die Lenin übrigens noch zu Beginn der zwanziger Jahre mit der gleichen soldatischen Unverblümtheit definiert hatte: »Verträge mit kapitalistischen Staaten darf man nicht nur, sondern muß man sogar brechen.«

Es fragt sich, warum diese Regierung, nachdem sie sechzig Jahre lang fast alle von ihr unterzeichneten internationalen Abkommen mit Füßen getreten und achtlos fallenließ, ihre außenpolitische Kreditwürdigkeit bis heute nicht verloren hat. Warum sich der demokratische Westen immer wieder aufs neue mit dieser Regierung an einen Tisch zu Verhandlungen setzt, die von vornherein zur Sabotage bestimmt sind. Weshalb die freie Welt schließlich dieser Regierung erlaubt, sie mit so grober und primitiver Demagogie zu erpressen.

Ich habe das Gefühl, als verberge sich der Grund für diesen erzwungenen Selbstbetrug in der morschen Relativität der moralischen Kriterien, die derzeit die Skala menschlicher Werte hierzulande bestimmen. Die Unterordnung der Außen- und Innenpolitik unter pragmatische Taktik und momentane Anforderungen der Gesellschaft dominiert im Westen heute standhaft über die Überlegungen zu einer stabilen Sicherheitspolitik und erst recht über die Moral.


Eben deshalb kann es sich die sowjetische Regierung nach der Unterzeichnung der Beschlüsse von Helsinki leisten, dieses Dokument beinahe täglich ungestraft nach Lust und Laune zu mißachten. Man urteile selbst: Die sowjetische Delegation reist nach Belgrad, um die Vereinbarungen von Helsinki zu ratifizieren, nachdem das Oberhaupt der Moskauer Förderungsgruppe zur Erfüllung eben dieser Vereinbarungen, Jurij Orlow, der sich zu der überheblichen Annahme verstiegen hatte, die Menschenrechte seien nicht bloß für die Schwarzen proklamiert worden, vorbeugend hinter Gitter gesetzt wurde. Dies sollte sich später als das einzige Ergebnis von Belgrad herausstellen.

Die Auslegung der verschiedenen internationalen Prinzipien auf sowjetischer Seite ist so dehnbar, daß sich praktisch jeder Vertrag und jedes Abkommen so nutzen läßt, wie es gerade genehm ist. Da ist, zum Beispiel, für den Fall eines bewaffneten Konflikts in irgendeinem Teil der Welt die Gummitheorie von »imperialistischen und volksbefreienden Kriegen«, mit deren Hilfe man die Nationalisten Angolas als Aggressoren, das kubanische Expeditions­korps aber als Symbol der brüderlichen Hilfe im revolutionären Kampf deklarieren kann.

Auf dem Gebiet der Menschenrechte haben sie wieder die Universalformel von der »sozialistischen Rechtmäßigkeit« parat, der gemäß die an einem bewaffneten Überfall beteiligte Angela Davis ein Opfer der Apartheid ist, der Vorsitzende der Moskauer Abteilung von »Amnesty International«, Andrej Twerdochlebow, jedoch ein »Kriegstreiber« und »eingeschworener Feind der Entspannung«, der in die Verbannung oder ins Konzentrationslager gehört.

Wenn man aber mit ihnen über nationale Selbstbestimmung spricht, neutralisieren sie jede Anschuldigung sogleich mit dem aalglatten Klischee vom »Nazismus und Nationalismus«, dem gemäß bewaffnete Aktionen der Palästinensischen Befreiungsbewegung eine rechtmäßige Befriedigung nationaler Bedürfnisse sind, die friedlichen Demonstrationen der Krimtataren für eine Rückkehr in ihre Heimat aber eine Erscheinungsform von faschistischem Rassismus.

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Seinerzeit stieß ich auf einen Artikel des bekannten französischen Dichters Genet in Le Monde, in dem er, für die deutschen Terroristen eintretend, kategorisch behauptete, daß »die Sowjetunion immer auf Seiten der Schwachen stehe«. Ich möchte diese Apologie der in Selbstjustiz begangenen Morde dem Gewissen des ehrenwerten Franzosen überlassen und nur eine Frage stellen: Warum ist der von ihm so heißgeliebte Sowjetstaat in seinen Beziehungen zu den Schwachen so wählerisch? Warum eilt dieser Staat dem schwachen Uganda zu Hilfe und tritt aktiv gegen den schwachen Sudan auf, warum bewaffnet er das schwache Libyen bis an die Zähne und ignoriert stillschweigend das schwache Zaire, warum unterstützte er das schwache Ägypten von gestern und versagt dem noch schwächeren Ägypten von heute seine Unterstützung, warum ist ihm schließlich das ferne und schwache Kuba so lieb, während er das schwache und nahe Albanien nicht einmal kennen will?

Herr Genet hätte sich in seinem Alter die eine Binsenwahrheit schon zu eigen machen sollen: Die von ihm verehrte Sowjetunion hilft nur den Schwachen, die sich ihr unterwerfen.

Doch wenn man mich fragt, welche Alternativen es denn zu der allumfassenden Entspannung gäbe, antworte ich, wie paradox dies auch sei: die allumfassende Entspannung. Ich betone: die allumfassende. Doch solch eine weltweite Entspannung kann nur durch die Existenz einer inneren Opposition in den totalitären Ländern gewährleistet werden. Die Existenz ebenjener Opposition, die, eigenmächtig und einen teuren Preis dafür zahlend, den Faktor einer unabhängigen öffentlichen Meinung in ihren Gesellschaften wiedererschaffen hat. Nur sie kann die Erfüllung internationaler Abkommen, darunter auch der von Helsinki, durch ihre Regierungen garantieren und zugleich deren nach innen wie nach außen gerichtete Aggressivität endgültig neutralisieren. Ohne diesen Faktor bleibt jedes Gespräch über »stille Diplomatie«, »Vernunft und Maß bei rechtlichen Ansprüchen« und »allmähliche Annäherung der Standpunkte« nichts anderes als verantwortungslose, ja sogar verbrecherische Demagogie.

Unmoral darf man nicht mit Unmoral bekämpfen. Der Schlüssel zur Lösung der meisten Probleme der Gegenwart liegt in der Rückkehr zu den angestammten menschlichen Werten. Dadurch, daß sie die geistige Wahl zwischen Gut und Böse zugunsten eines liberalen Pragmatismus ablehnt, verdammt sich die demokratische Zivilisation im vorhinein selbst zum Untergang.

Nicht von ungefähr schreiben die mutigsten Häftlinge aus den Permer Lagern in ihrem jüngsten Brief an die westliche Öffentlichkeit:

»Doch wenn im Spiel der Politik wieder Freiheit gegen Freiheit, zu deren Verlust Ihre Vorgänger so vielen Menschen verholfen haben, als Tauschwert eingesetzt wird, dann seien Sie sich darüber im klaren, daß dem üblen Brauch, mit fremder Freiheit zu handeln, unausweichlich der Verlust der eigenen droht.«

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Nehmen wir einen Fall, der sich erst vor ganz kurzem zugetragen hat. Ein hoher sowjetischer Beamter, der Stellvertreter des UNO-Generalsekretärs, Arkadij Schewtschenko, beschloß, im Westen zu bleiben. Ich brauche mich hier nicht über die Motive für seinen Entschluß auszulassen, die nahe Zukunft wird die wahren Gründe dieses äußerst seltenen Vorfalls zeigen.

Ich möchte jetzt nur im Zusammenhang mit dem Thema meines Vortrages auf die verblüffende Tatsache hinweisen, daß Empörung über Schewtschenkos Schritt nicht zuerst von Leonid Breschnew, nicht von der sowjetischen Regierung, ja nicht einmal vom Außenministerium der UdSSR geäußert wurde, sondern von Kurt Waldheim, einem Demokraten an der Spitze der Organisation, deren ureigene Existenz der Verteidigung der Menschenrechte gilt, unter anderem eben auch des Rechts auf die Wahl des Wohnorts.

Ganz offensichtlich ist einigen politischen Persönlichkeiten des Westens ihr eigener Platz an der Sonne teurer als die Prinzipien von Freiheit und Demokratie. Wenn das Verhalten des UNO-Generalsekretärs im politischen Leben Schule machen sollte, so ist jener Tag nicht mehr fern, an dem der Lageraufseher, Ihr eigenes Gesetzbuch vor Ihrer Nase schwenkend, zu Ihnen sagt: »Das ist nicht für Sie geschrieben, sondern für die Schwarzen.«

Doch wenn dann wider Erwarten auch unsere dunkelhäutigen Brüder von dem freiesten Strafgesetzsystem der Welt erfaßt sind, wird sich dieser Aufseher auf die Pinguine berufen können, die alles wortlos erdulden und über alles einhellig urteilen werden.

Sich weiter mit Illusionen zu beschwichtigen bedeutet sicheres Verderben. Der Wahrheit ins Auge zu sehen bedeutet den Sieg!

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     Schewtschenko auf deto  (1930-1998) 

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