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3.  Der zivilisierte Mensch

Mumford-1956

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  § 1   

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Erst spät in seiner Entwicklung ließ der Mensch die Sicherheit, Vertrautheit und Solidarität des Stammes­daseins hinter sich, und was an archaischer Kultur übrigblieb, diente als Rohmaterial für die beweglicheren Formen der Zivilisation. In jener Zeit machte eine wagemutige Minderheit in einer Handvoll durch ihre Lage begünstigter Gemeinschaften einen kühnen Vorstoß in eine neue Richtung und begann das große Experiment der Zivilisation.

Von nun an hört die Vergangenheit auf, durch spärliche Siedlungs­reste und verstreutes Gerät vertreten zu sein, und wir finden vergrabene Städte, Tempel und alle Arten von Kunstwerken, und stoßen schließlich auf Schriftzeichen und guterhaltene Aufzeichnungen. 

Doch obwohl diese Funde uns viel erzählen über das, was zwischen dem 4. und dem 1. Jahrtausend vor Christi Geburt geschah, so sagen sie uns nicht, warum es geschah. 

Hier müssen wir unsere Zuflucht wieder bei einem neuen Mythos suchen, um den ganzen Prozeß etwas verständlicher zu machen. Wie wir gesehen haben, hörte die begrenzte Welt des Dorfes und des Stammes nicht auf zu existieren. Auf der ganzen Erde gibt es noch kleine menschliche Restgemein­schaften, die sich der nivellierenden Ordnung der Zivilisation nicht unterwarfen.

Selbst wenn neue Ideen oder Werkzeuge ihre althergebrachten Gewohnheiten beinflußten oder sie manchmal revolutionierten, wie z.B. das Pferd den Lebensstil der Prärie-Indianer, so veränderten sie sich dennoch meistens so langsam, daß sie zur Zeit ihrer Entdeckung durch europäische Forscher im 16. Jahr­hundert noch das gleiche Leben führten, das die zivilisierten Menschen, wenigstens in den Städten, vor tausend bis viertausend Jahren aufgegeben hatten. 

Einige dieser Stammesgruppen, wie z.B. die Buschmänner Australiens, scheinen von der übrigen Menschheit so vollkommen abgeschnitten gewesen zu sein wie die Beuteltiere, die isoliert wurden, als die Landbrücke zwischen Australien und Asien verschwand; andere, z.B. die Hottentotten Afrikas, weisen anatomische Merkmale, wie überstarke Fettpolster des Gesäßes, auf, die an Steinfiguren aus einer zwanzig oder dreißig Jahrtausende zurückliegenden Zeit erinnern.

Die reiche Vielfalt der Stammes-Kulturformen hat die modernen Anthropologen fasziniert; seit Denis Diderot, der im 18. Jahrhundert lebte, ist es Mode geworden zu glauben, daß es keine gemeinsamen Merkmale der Kulturen gibt, außer der Tatsache ihrer Existenz, oder daß es auf alle Fälle keinen gemeinsamen Wertmaßstab gibt und keine konforme Tendenz menschlichen Fortschritts, außer der zur rein quantitativen Vermehrung und Differenzierung; kurz, jede Kultur scheint eine Welt für sich zu sein und muß aus ihren eigenen Voraussetzungen verstanden werden. 

Diese Denkweise, die versucht, mit dem Hochmut und der Grausamkeit der erobernden Zivilisationsvölker zu versöhnen, übersieht die Schwäche dieser introvertierten Gemeinschaften, nämlich die Tatsache, daß sie introvertiert waren. Wie streng man auch in seiner Beurteilung der Zivilisation sein mag, man darf nicht vergessen, daß sie die Umwelt des Menschen erweiterte und mit der Zeit Persönlichkeiten und Ideen hervorbrachte, die seine begrenzte Meinung von sich selbst überwanden.

Im allgemeinen zogen es isolierte Stammesgemeinschaften vor, ihre Güter und Fähigkeiten für sich selbst nutzbar zu machen und in eigenem Besitz zu behalten, anstatt sie freiwillig einem größeren Verband zur Verfügung zu stellen und andere Gemeinschaften daran teilhaben zu lassen. Doch sie zahlten einen Preis für dieses »Untersichbleiben«; sie beschränkten die Möglichkeiten weiteren menschlichen Wachstum«. Grays Elegie in einem ländlichen Kirchhof, eine Klage über die möglichen Miltons und Hampdens, die in ihrer dörflichen Umwelt keine Gelegenheit hatten, ihre Talente zu entfalten, könnte Tausende Male in jeder Stammeskultur gesungen werden.

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Auch wenn solche tiefe Lebensweisheit sich irgendwo in der Isolierung entwickelte, so gelangte sie selten über den engen Umkreis hinaus, wenn ein verirrter Vertreter der Zivilisation sie nicht entdeckte.

Diese Stumpfheit, Trägheit und kollektive Selbstgenügsamkeit war natürlich nicht auf Stammeskulturen beschränkt; man findet sie als hemmende, wenn nicht pathologische Züge bei allen Gemeinschaften. Hat Philipp II. von Spanien am Vorabend des großen Wandels, den die neuen wissenschaftlichen Methoden mit sich brachten, nicht alle Reformer und Erfinder als gefährliche Ketzer verfolgt? Hat nicht sogar Montaigne, dieser freie Geist, erklärt, daß es besser sei, jedes Maß an Ungerechtigkeit zu erdulden, als mit den Institutionen der Vorfahren, die sich noch als brauchbar erwiesen, zu experimentieren?

  

  § 2  

 

Wie entstand nun die Zivilisation? Welcher Vorgang vereinigte Dutzende und Hunderte von verstreuten Dörfern in jener politischen Organisation, die wir Staat nennen? Wie kam es, daß einige dieser Dörfer sich in ihrem Umfang und ihrer sozialen Zusammensetzung so vergrößerten und komplizierten, bis aus ihnen eine neue Art menschlicher Siedlung entstand, nämlich die Stadt mit ihrer Mischung von Sippen, Talenten und Berufen, ihrer Arbeitsteilung, ihrer Vielfalt an Möglichkeiten und ihren überraschenden ästhetischen Formen? Durch welchen inneren Wandel wurde altehrwürdiger Brauch geschriebenes Gesetz, wurden die alten Dorfrituale zum Drama und Zauberergeheimnisse zu einem organisierten und einheitlichen Kult, der auf kosmischen Mythen begründet war und ungeahnte Perspektiven des Raumes, der Zeit und der Macht eröffnete? Warum hat, kurz gesagt, ein wachsender Teil der Menschheit sich während der letzten vier oder fünf Jahrtausende der Zivilisation verschrieben oder sich, wie die ländliche Gesellschaft, in ihrem Kielwasser treiben lassen?

Mit Recht lehnen wir heute den Mythos des 18. Jahrhunderts vom Gesellschaftsvertrag ab, durch den jedes Glied der Gemeinschaft angeblich seine ursprüngliche Selbständigkeit und Freiheit für den Schutz von Leben und Eigentum durch die organisierte Regierung aufgab; doch dieser Mythos birgt in seinem Kern ein Stück Wahrheit. 

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Die Institutionen der Zivilisation waren das Ergebnis zweckbewußter Überlegung und Wahl, ja, sie scheinen ein Teil des allgemeinen Anwachsens der Selbst­bewußtheit, der individuellen und der kollektiven, zu sein, das sich aber nicht automatisch vollzog, sondern auf Grund einer mächtigen Anstrengung des Kollektivwillens. Mit diesem neuen Bewußtsein traten aber auch Erscheinungen auf, die der stabilen, homogenen Kultur der einfacheren Gesellschaften verhältnismäßig fremd waren, nämlich innerer Zwist, Wettbewerb, Spannungen und Konflikte.

Die Zivilisation brachte eine neue Art von Einheit hervor, die auf Teilung und Spezialisierung beruhte, eine neue Uniformität, die durch beabsichtigte Unterdrückung erzwungen wurde, eine neue Übereinstimmung, die einer teilweisen Versöhnung der Gegensätze entsprang, doch nicht wie in der primitiven Gesellschaft aus der angestammten Einmütigkeit geboren wurde, sondern aus einer gemeinsamen Auffassung vom letzten Sinn und Zweck des Lebens. Während die archaische Kultur auf einer inneren, kaum je bewußt formulierten Ordnung beruhte, stützt sich die Zivilisation auf ein in Paragraphen niedergelegtes Gesetz, das weitreichender ist als alle Beschränkung, die der Mensch sich je auferlegt hatte, und durch ausführliche Gebote und Verbote verschiedenartige Gemeinschaften und unterschiedliche Lokalbräuche miteinander in Einklang bringen soll.

Wirtschaftlich basierte die neue Ordnung auf der gewaltsamen Ausbeutung der Bauern und Handwerker durch eine bewaffnete Minderheit entweder fremder Eroberer oder alteingesessener Landeigentümer; denn die Zivilisation brachte die Gleichsetzung des menschlichen Lebens mit Eigentum und Macht mit sich, ja, Besitz und Macht wurden wertvoller als Leben. Die Arbeit hörte auf, eine freiwillige Betätigung aller für alle zu sein, sie wurde zu einer käuflichen Ware, die auf dem Marktplatz gehandelt wurde, einschließlich sexueller Dienstleistungen. Diese systematische Unterordnung des Lebens unter seine materiellen und gesetzlichen Mächte existierte schon zu Beginn der Zivilisation und ist noch immer der Fluch jeder modernen Gesellschaft; die Werte der Zivilisation wurden in weitem Umfang geschaffen und erhalten — und dies ist ihr tragischer Widerspruch — durch methodischen Zwang und willkürliche Gewalt. Unter diesem Aspekt ist die Zivilisation eine ständige Beleidigung der menschlichen Würde.

Die allgemeinen Begleitumstände dieses Wandels sind uns heute ziemlich klar, wenn die Details auch von Gebiet zu Gebiet variieren. Zwischen 7000 und 2000 v.Chr. wurde auf einer breiten Front zwischen Ägypten und China eine Reihe großer technischer Fortschritte erzielt, beginnend mit der Kultivierung der Pflanzen und erweitert durch die Domestizierung der Haustiere und Lasttiere.

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Vor allem der Anbau von Körnerfrüchten auf fruchtbarem oder künstlich bewässertem Boden ermöglichte die Ernährung großer Volksmassen auf einem kleinen Territorium; die Ernten, die in fetten Jahren für magere Jahre gespeichert werden konnten, schufen Sicherheit, Kontinuität und Siedlungsmöglichkeiten in einem früher nie gekannten Ausmaß. Die Bronzezeit mit ihren teuren Waffen und Wagen, die ihren Besitzern ein Machtmonopol verliehen, förderten die Zentralisierung der politischen Herrschaft, während in der darauffolgenden Eisenzeit diese neuen technischen Hilfsmittel zwar billiger, aber zur Eroberung der Natur und zur Versklavung des Menschen benutzt wurden.

Als das Ochsengespann und der Pflug eingeführt waren, konnten die schweren reichen Böden der Stromtäler in Kultur genommen und die großen Verkehrs- und Transportstraßen gebaut werden. Ein fast unerschöpfliches Reservoir an Arbeitskräften ermöglichte schnelle Fortschritte in der Wasserregulierung durch den Bau von Kanälen und Dämmen, die Anlage von Grabensystemen und die Umkehrung von Flußläufen, wie z.B. in Mesopotamien. Durch diese kollektiv organisierten Verbesserungen wurde das Stromtal zu einer wirtschaftlichen und politischen Einheit. 

Dieser äußere Wandel war begleitet von einer entsprechenden sozialen Strukturänderung, denn die Zivilisation bewirkte eine doppelte Umformung des Menschen nach verschiedenen Richtungen; sie entwickelte im Pharao oder Herrscher die autonome Persönlichkeit und brachte durch verstärkte Teilung und Spezialisierung der Arbeit den geteilten Untertanenmenschen hervor, der seine primitive Ganzheit verloren hatte, ohne das neue Attribut seines Herrschers, die Autonomie, zu gewinnen.

Wir wollen zunächst die zweite dieser Umwandlungen betrachten. In der einfachen Struktur der primitiven Gesellschaft waren die Rollen und Beschäftigungen in weitem Umfang austauschbar; abgesehen von biologischen Spezialisierungen auf Grund des Geschlechts, konnte in einer gegebenen Situation jedes Glied der Gemeinschaft die Rolle jedes ändern übernehmen. Mit den Jahreszeiten und den Lebensphasen wandelten sich auch die Pflichten und Verrichtungen des Menschen. Die Tatsache, daß einer seine Arbeit gut verstand, verdammte ihn nicht dazu, sie während seines ganzen Lebens zu tun, vielleicht mit Ausnahme des Zauberers oder Priesters, des frühesten Typus des Spezialisten.

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Die Zivilisation dagegen schuf Berufsgruppen mit endgültig festgelegten Beschäftigungen, die Soldaten, die Händler, die Gelehrten, die Schreiber, die Verwaltungsbeamten. In Scharen, wie keine frühere Kultur sie hätte einsetzen und erhalten können, übten diese Spezialisten ihre Berufe mit fachmännischer Könnerschaft und sicherer Routine ihr ganzes Leben lang aus. Seit damals bis auf unsere Tage bedeutet »Leben« im wesentlichen nur noch Arbeitsleben, das fast jede Verbindung mit den universellen Interessen des früheren ländlichen Haushalts verloren hat, besonders für das männliche Mitglied der städtischen Gemeinschaft.

Obwohl bis in unsere Zeit diese Spezialberufe nie mehr als nur einen kleinen Teil, höchstens zehn Prozent, der Bevölkerung darstellten, prägten ihre Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit den Stil des »zivilisierten« Lebens. Selbst die Götter spiegelten das Prinzip der Spezialisierung wider; jeder Gott hatte seinen besonderen Machtbereich, doch keiner, nicht einmal Atum oder Marduk, übten alle Funktionen der Göttlichkeit aus.

Indem er so eine komplexe Gesellschaft, zusammengesetzt aus einer Vielzahl von Kasten, Berufen, Gilden und Organisationen, schuf, verlor der zivilisierte Mensch den nachbarlichen Kontakt und seelischen Gleichklang der Dorfgemeinschaft, in der Arbeit und Spiel und Familie und Religion eng miteinander verknüpft waren; vor allem verlor er die durch die vertraute Atmosphäre bedingte Einfalt und Aufrichtigkeit. Doch er gewann eine scheinbare Unabhängigkeit und Vielseitigkeit, und die verschiedenen Teilmenschen, die er schuf, eröffneten, lange bevor er Spezialmaschinen erfand, die Möglichkeit einer begrenzten mechanisierten Ordnung.

Jede zivilisierte Gruppe entwickelte ihre eigenen Interessen, Bräuche und »Geheimnisse«, die sie daran hinderten, ihr Leben mit der Gesamtheit der Gesellschaft zu identifizieren. Die Tatsache, daß diese komplexe Gesellschaft nicht mehr die sichtbare Gemeinschaft des Dorfes war, ermutigte bis zu einem gewissen Grad zur Distanzierung und Emanzipation. Indem sie ihrer besonderen Organisation beitraten, sonderten die Spezialisten sich von andern Fachgruppen ab und schlossen sie aus ihrem Lebensbereich aus. Jeder Beruf hatte seine Einweihungsriten und seine Berufsgeheimnisse. Auf höchster Ebene bildeten sich kleinste Verschwörergruppen, um sich einen größeren Anteil an den Gütern der Allgemeinheit zu sichern. 

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Die auf Privatbesitz begründete soziale Einteilung in Klassen und die wirtschaftliche, auf technische Spezialisierung begründete Isolierung der Berufe wirkten in der gleichen Richtung; sie führten zur Bildung eines Teil-Selbstes, das seine spezialisierte Fähigkeit über sein ganzes Selbst stellte, und einer Teil-Gemeinschaft (»die Eingeweihten«), die ihre eigenen Belange über die der Gemeinschaft stellte.

Zunächst schien der Nutzen dieser Entwicklung für das Individuum unbestreitbar zu sein. Der zivilisierte Mensch erreichte in seinem frühen Stadium einen Grad von Autonomie, Unabhängigkeit und Selbstbewußtheit, und damit auch Freiheit, der in der primitiven Gesellschaft unbekannt war. Jeder der Helden in der Ilias war durch Geburt ein höchst individualisierter Charakter und nicht irgendein unprofilierter Grieche oder Trojaner. Doch am Ende dieses Prozesses wurde der zivilisierte Mensch, dieses emanzipierte Selbst, »selbstisch«; er identifizierte seine persönlichen Interessen nicht mehr mit dem Wohlergehen der Gruppe. Während er in einer immer größer werdenden Gemeinschaft, die er nie ganz übersehen konnte, immer unbedeutender wurde, versank er allmählich in eine gewisse Anonymität, die er sich zunutze machte. Er fühlte sich versucht, für sich selbst zu beanspruchen, was einst der ganzen Gesellschaft gehört hatte. »Ich und mein« galten jetzt mehr als »Wir und unser.« Wo die Zivilisation regiert, gilt dieser Maßstab immer noch.

  

  § 3  

 

Die andere Umwandlung des zivilisierten Menschen vollzog sich in der entgegengesetzten Richtung, sie führte zur Erhöhung seiner einzelnen Person und ihrer Ausstattung mit unbegrenzter Macht. Dieser Vorgang hatte seinen Grund in der wachsenden Kompliziertheit der neuen Strom-Zivilisationen, die eine Regulierung des Wasserlaufes, die Festsetzung der durch Hochwasser immer wieder zerstörten Grenzmarkierungen, die Einführung von Gemeinschaftsarbeit, die Erhebung von Steuern, die Überwachung des Handels, die Kodifizierung des Rechts und die Bewachung der Grenzen erforderte. In dieser neuen Ordnung war die Hauptstadt das Sammelbecken der Einigung, und innerhalb dieser Stadt waren der Palast und der Tempel die Sitze konzentrierter Macht und bürokratischer Verwaltung. Im Palast und im Tempel thronte einsam über allen der göttliche Herrscher, in dem der Mensch zum erstenmal das Höchstmaß an möglicher Individualität erreichte.

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Der absolute Alleinherrscher bildete die Spitze der politischen und sozialen Pyramide. Er ersetzte den archaischen Ältestenrat, die lokale Versammlung freier, doch durch Brauch gebundener Menschen. Die Einsetzung eines Einzelherrschers fand, wie Henri Frankfort nachgewiesen hat, in Notzeiten statt, wenn schnelle Entscheidungen getroffen werden mußten. Der König, der buchstäblich die Gesellschaft personifizierte, konnte sich als einziger von den Fesseln der lokalen Bräuche, Gewohnheiten und überkommener Spruchweisheiten, die den neuen Realitäten nicht mehr entsprachen, befreien. 

Der königliche Befehl verlieh der Gesellschaft, die durch ihn zum Handeln gezwungen wurde, die Attribute einer autonomen Körperschaft, und zwar Freiheit, die Macht der Wahl und der Entscheidung und Fähigkeit schneller, einheitlicher Reaktion. Herodot machte vor langer Zeit die gleiche Beobachtung; er schildert die Gesetzlosigkeit und die Verwirrung der Meder und erzählt dann, wie Deioces, ein führender Mann in seinem kleinen Dorf, zur höchsten Herrschaft aufstieg, indem er sich der Pflege des Rechts widmete. Eine derartige Konzentration der Macht und der Verantwortung muß sich in vielen Gegenden vollzogen haben, als die Gesellschaft immer komplexer wurde und unerwartete Krisen neue Methoden erforderten. In solchen Augenblicken vollzog sich wahrscheinlich auch der entscheidende Wandel von der verstreuten Dorfkultur zur zentralisierten Stadtkultur, wenn er auch später oft unter Druck wieder rückläufig wurde und zu einer Art begrenzter Feudalherrschaft führte.

Doch das Hauptmerkmal dieser Entwicklung besteht darin, daß der absolute Herrscher sowohl in der Politik als auch in der Religion zu einer autonomen Persönlichkeit wurde, die vollkommen souverän und unabhängig von ihrer sozialen Umgebung war und sich ihre Gesetze selbst gab. Während die differenzierte Arbeitsteilung sich schnell in der gesamten Gesellschaft durchsetzte, blieb die Entstehung der vollkommen autonomen Person ein verhältnismäßig seltenes Ereignis in der menschlichen Geschichte. Wenn der einfache Mensch auch schon verhältnismäßig früh den Anspruch des Herrschers auf Unsterblichkeit teilte, so dauerte es dennoch Jahrtausende, bis der Gemeinschaft als Ganzem andere königliche Attribute, und dann nur widerwillig und grollend, zugestanden und als natürliche Menschenrechte betrachtet wurden.

Das Hauptmerkmal der Zivilisation als Gesamterscheinung aber ist die durch technischen Fortschritt, symbolische Abstraktion und zentralisierte politische Autorität bewirkte Zusammenfassung größerer Menschengruppen in Zweckgemeinschaften von einem Ausmaß, wie sie früher nicht existiert hatten.

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Das schriftliche Festhalten der Ereignisse, das Niederschreiben der Legenden und Mythen, der einheitliche Kalender, die verbindliche Währungseinheit, die gemeinschaftlichen Versorgungseinrichtungen, der gemeinsame Versammlungsort, der Zehntausende von Menschen zu einer organisierten Masse vereinigte, waren die großen Leistungen der Zivilisation, die heute noch das Fundament aller öffentlichen Ordnung im Zusammenleben der Menschheit bilden. Daß die Zivilisation diese Erweiterung der Umwelt des Menschen ermöglicht hat, rechtfertigt in nicht geringem Maß ihre schwerwiegenden Nachteile.

Denn leider hat die Zivilisierung des Menschen eine Schattenseite; je mehr der Mensch sich Gesetzen unterworfen fühlt, um so berechnender wird er, und je gewandter und intelligenter er wird, um so egoistischer ist er. Wenn durch die Zivilisation in ihm auch Sehnsüchte und Wünsche geweckt werden, die den bescheidenen Erwartungen der archaischen Kultur fremd waren, so wird er auch das Opfer schwerer seelischer Störungen, die ihn zu verbrecherischen Übergriffen verleiten. So hat die Zivilisation zu ungeheuerlichen Entartungen des Lebens, zu Bestialitäten und Massenschlächtereien geführt, deren primitive Gemeinschaften weder psychisch noch physisch fähig waren.

Etwas Unsichtbares, Innerliches, aber zweifellos Kostbares ging bei dem Übergang zur Zivilisation verloren, oder fast verloren. Doch der Verlust an Tiefe wurde teilweise wettgemacht durch Gewinn an Breite; unter der Herrschaft eines gemeinsamen Gesetzes und eines gemeinsamen Lebensstils trafen und vermischten sich unvergleichlich mehr Menschen. Die Zivilisation hat zumindest die Inzucht und Isolation der primitiven ländlichen Gesellschaft überwunden.

Trotz ihrer inneren Widersprüche hat die Entfaltung der Zivilisation echte Werte hervorgebracht, die keine primitive Gesellschaft aufweist. Allein durch das Gewicht ihrer zahlenmäßigen Stärke eröffnete die Zivilisation ihren Gliedern neue soziale und intellektuelle Möglichkeiten. Wenn wir annehmen, daß in einer Generation, sagen wir unter zehntausend Menschen, ein Mensch von außergewöhnlichen Fähigkeiten geboren wird, dann müßte eine Gemeinschaft von nur tausend Menschen mehrere Generationen warten, bis ein überlegener Geist in ihr auftaucht, und in ihrer Isolation würde dieser Geist keine Nahrung finden, um sich zu entwickeln. 

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Doch eine Gemeinschaft von hunderttausend Menschen, etwa in Sumer oder Akkad, in Athen oder Rom, in Peking oder Benares, kann mindestens fünfzig überragende Köpfe in einer Generation hervorbringen, und diese Köpfe fänden auf Grund der zeitlich und räumlich engen Nachbarschaft mit ihresgleichen vielfache Anregung zu ihrer Entfaltung und gegenseitigen Befruchtung zum Wohl des Ganzen. So hängt der Fortschritt in der Spezialisierung der Berufe und in der Verfeinerung und Vervollkommnung aller Produktionsniethoden von der Bevölkerungszahl ab, denn sie bestimmt den Bedarf und bedingt die Gestellung der erforderlichen Vielfalt an Arbeitskräften. Mit wachsender Bevölkerungsstärke wächst auch die Produktivität, selbst ohne neue technische Erfindungen.

Es war von sinnfälliger Symbolik, daß die Funktion des ägyptischen Schöpfergottes Atum darin bestand, »die Welt in Ordnung zu bringen und jedem seinen Platz und seine Arbeit anzuweisen«; dies war auch die Leistung der Zivilisation. Sie vervielfältigte die Kräfte und erweiterte die Ordnung; sie schuf sichtbare Kraft in den Heeren und Arbeitskolonnen, sichtbare Ordnung in den Kanälen, Warenspeichern und Städten. Die Schönheit eines geordneten Lebens war außerdem kein geringer ästhetischer Triumph. Doch in dieser Leistung fehlte der wiederholende und zwangsmäßige Charakter nie ganz; Regelmäßigkeit, äußere Disziplin und spezialisiertes Können wurden nur durch die Bereitwilligkeit erkauft, auf viele der verlockenden Abenteuer, die das Leben spontan bot, zu verzichten. Die Feiertage im Leben und auch die erotische Sphäre wurden im Interesse der Arbeitsintensität und der organisierten Ordnung isoliert und spezialisiert. Diese alles umfassende Ordnung hat das »zivilisierte Selbst« geprägt.

Obwohl die Routine des Lebens immer zwingender und differenzierter wurde, hat die Zivilisation durch ihre Beherrschung der äußeren Organisation ganze Klassen von der Notwendigkeit des Broterwerbs befreit und ihnen erlaubt, ihren Geist zu pflegen, und zwar ebenfalls in einem festgelegten Rahmen. In der Stadt floß der wirtschaftliche Überschuß in Kapitalinvestierungen, die eine primitive Kultur nie zustande gebracht hätte; es wurden Tempel, Paläste, Sternwarten, Bibliotheken und Gerichtsgebäude errichtet und unterhalten. Wenn sie auch oft mißbraucht wurden, so dienten diese Institutionen doch allen Menschen. In dem dynamischen Zusammenspiel öffentlicher und privater Interessen wurde das Leben zu einem Drama, und mit der Zeit typisierte dieses Drama die Vorgänge des Lebens und spiegelte sie wider. Der zivilisierte Mensch war außerhalb der Stadt nicht mehr »er selbst«; denn ohne seinen städtischen Hintergrund wurde er unsicher in der Darstellung seiner Rolle und verfehlte seine Einsätze.

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In Chaldäa und Ägypten erweiterten die Priester ihre persönliche Macht und Autorität durch die Beobachtung des Himmels; sie studierten den Lauf der Sterne und führten das Sonnenjahr ein. Die astronomische Zeitmessung brachte genauere Regelmäßigkeit in das Leben und paßte die persönliche Ordnung der unpersönlichen kosmischen Ordnung an. Indem er die Arbeit des Menschen mit den voraussagbaren Naturereignissen und ihren Zyklen synchronisierte, hat der Kalender eine an die Jahreszeiten gebundene Reihenfolge in alle menschlichen Betätigungen, beginnend mit der Landwirtschaft, eingeführt. Außerdem verfeinerte die astronomische Wissenschaft den gesamten Prozeß des Zählens und Rechnens; denn die Abstraktion der Zahl machte eine neue Art von Symbolismus möglich, die mit der Zivilisation aufkam, den Symbolismus des Geldes, und führte schließlich zur Gleichsetzung von Macht und Reichtum mit Geld.

Die Zivilisation ersetzte eine primitive Tauschwirtschaft durch eine Geldwirtschaft, wenigstens in den großen städtischen Zentren; trotzdem erhielt sich die archaische Naturalwirtschaft in den ländlichen Gegenden, wenn auch leicht angekränkelt von einer abstrakten Gewinnsucht. In der neuen städtischen Umgebung wurde der zivilisierte Mensch überfallen und aufgestachelt von Sehnsüchten und Verlockungen, von Ängsten und Illusionen, die der Mensch der archaischen Periode nicht gekannt hatte. Und Hesiod und Amos erhoben ihre Stimme im Namen des archaischen Menschen und protestierten gegen diese neue Lebensauffassung.

Sie hatten Grund zu diesem Protest. Zweifellos erfuhr das Leben in den großen städtischen Zentren eine Intensivierung bei jenen, die die neuen Formen der Religion, des Handels, der Rechtsprechung und der Verwaltung beherrschten, doch es machte sich auch eine Verkümmerung des Lebens und ein Verfall der Werte in den kleinen Gefolgsgemeinschaften bemerkbar. Während die Gesellschaft als Ganzes durch Organisation, Disziplin, Koordinierung und Arbeitsteilung immer mächtiger wurde, wurde der einzelne Mensch immer schwächer; er wurde zu einem minimalen Teilchen des Ganzen, in dem er eine verschwindend kleine Rolle spielte im Vergleich mit derjenigen in einer kleinen Gemeinschaft, zu einem stellvertretenden Teilhaber an den Werten der großen Gemeinschaft. 

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Gewiß, die vereinte Kraft der Zivilisation war viel größer als die, die der Mensch in der mehr persönlichen Sphäre der Dorfgemeinde hätte aufbringen können; war dies vielleicht der Grund, weshalb er es sich einfallen ließ, sein ungeteiltes Selbst in der Person des Monarchen zu erhöhen und zu verehren, ja als Gott anzubeten? In Urzeiten und auch heute scheint diese stellvertretende kollektive Erhöhung ein Ausgleich für die Dürftigkeit der persönlichen Existenz zu sein.

 

  § 4  

 

Einige der Errungenschaften der Zivilisation mag der archaische Mensch abgelehnt haben, und wenn man auf die gesamte Entwicklung zurückschaut, mag man manche der Institutionen, die sich in jeder Zivilisation unliebsam breitgemacht haben, ablehnen, ohne jedoch wie Rousseau auch die Werte zu verwerfen, die sie tatsächlich geschaffen haben.

Das auffallendste negative Kennzeichen der Zivilisation ist der ihr innewohnende soziale Widerspruch. Für die dünne Schicht der führenden Klasse hat die Zivilisation zweifellos eine Intensivierung des Lebens, eine Erweiterung des Bewußtseins und eine Steigerung des Selbstbewußtseins, verbunden mit einem Stolz auf die alle Opfer rechtfertigenden kollektiven Leistungen, zur Folge gehabt. Diejenigen jedoch, denen die Opfer auferlegt wurden, bildeten die große Mehrheit, und ihre Bereitwilligkeit, sich in diese Zwangsordnung einzufügen, ist selbst heute noch rätselhaft. 

Zunächst einmal verschloß die Arbeitsteilung ihnen manche Tür, die ihnen in einer weniger straff organisierten Gesellschaft offenstanden; und der freiwillig ertragene Zwang, Tag für Tag die gleiche Arbeit verrichten zu müssen, ohne in den unmittelbaren vollen Genuß der geschaffenen Güter zu gelangen, das Sichabfinden mit dem Trost zweifelhafter künftiger Belohnung und mit der Tatsache, daß das Arbeitsleben Energien verzehrt, die im Spiel und in der Liebe natürlicher verbraucht werden könnten, dies alles sind Begleit­erscheinungen der Zivilisation, die sich aus der Vernunft nicht rechtfertigen lassen. 

Obwohl man den Stolz und die Anmaßung des Schreibers, der seinen Beruf über alle andern stellte, in Rechnung stellen muß, so bleibt die etwa um 2000 v.Chr. entstandene ägyptische Satire über die Berufsstände eine klassische Darstellung dieser allgemeinen Entleerung des Lebens. Doch von Anfang an beruhte die Zivilisation auf der entpersönlichenden Wirkung der mechanischen Arbeit, und die freudige Hinnähme dieser traurigen Tatsache ist vielleicht das Hauptmerkmal des zivilisierten Menschen. Wenn keine äußere Macht diesen Zwang auf ihn ausübt, erlegt der zivilisierte Mensch ihn sich selbst durch sein Streben nach Geld, Geltung und Macht auf.

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Die Verdrängung, die Freud als eine notwendige Folge der Zivilisation betrachtet, ist zweifellos eine Tatsache, doch sie ist nicht beschränkt auf den Bereich des Sexuellen, sondern erstreckt sich auf alle autonomen physischen und geistigen Funktionen des Menschen und ist in ihnen von noch größerer Bedeutung. Das Geschlecht spielt eher eine ausgleichende Rolle; von den orgiastischen Riten der frühen Religionen bis zur Ausbeutung der Liebe zu politischen und kommerziellen Zwecken in den späteren Gesellschaften diente die Sexualität als ein Gegengewicht gegen andere Formen der Verneinung. 

Die Frau hat sich in der Verfolgung ihrer eigenen biologischen Ziele immer in gewissem Maße der lebensverengenden Tendenz der Zivilisation widersetzt; in diesem Sinne ist Merediths Behauptung, daß die Frau das letzte Geschöpf sei, das sich durch den Menschen zivilisieren ließe, zweifellos wahr. Als die Frauen unseres Jahrhunderts den Anspruch erhoben, zu allen bisher von Männern ausgeübten Berufen zugelassen zu werden, vergaßen sie zu fragen, wieweit diese Berufe sich durch die Vernunft rechtfertigen lassen oder wie man ihre starre Routine lockern könnte, um sie den natürlichen Bedürfnissen des Lebens besser anzupassen. Anstatt die Männer zu einem Leben zurückzuführen, das die ureigenen Interessen der Frau, nämlich Liebe, Familie und Erziehung, voll und gerecht berücksichtigte, begnügten sich die Führerinnen der Frauenbewegung mit dem halben Leben, das die Männer sich selbst nur zugestanden.

Wenn das Arbeitsleben des zivilisierten Menschen mit seiner bedingungslosen Unterordnung so etwas wie eine geistige Verirrung darstellt, dann erscheinen seine fragwürdigen Leistungen auf dem Gebiet des Rechts und der Ordnung eine noch strengere Kritik zu verdienen. Durch die Übertragung der polizeilichen Funktionen auf den Staat hat der zivilisierte Mensch die innere Sicherheit der Gesellschaft erhöht, indem er sie vor blutigem Bruderzwist, willkürlicher Gewalt, Ungerechter Beschränkung der Freiheit und Raub am Eigentum schützte. Doch der Preis für Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit innerhalb des Staates war eine Zunahme der Unsicherheit und ^ Gewaltdrohung außerhalb der Landesgrenzen.

Von Anfang an war, wie schon Plato bemerkte, der Krieg die natürliche Beziehung zwischen den zivilisierten Staaten. Das Äußerste an Vernunftwidrigkeit vollbrachte die Zivilisation, indem sie die Kriegskunst erfand, perfektionierte und zu einem strukturellen Bestandteil des zivilisierten Lebens machte.

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Denn der Krieg war nicht ein Überbleibsel der primitiven Formen feindseliger Auseinandersetzung, wie sie im Mythos des Leviathan beschrieben werden; in seinen typischen Aspekten, seiner straffen Disziplin, seiner Beherrschung großer Menschenhaufen als Einheiten, in seinen organisierten Massenmorden, seinen heroischen Opfern, seiner radikalen Zerstörung, Ausrottung, Plünderung und Versklavung war er die ganz spezifische Errungenschaft der Zivilisation, der Höhepunkt ihres Dramas, die endgültige Verneinung, die in tragischer Weise alle früheren Abwertungen rechtfertigte. Die organisierte Armee war nicht nur das Instrument der zivilisatorischen Macht, sondern ihr Symbol, sie war die erste Anwendung der Technik in der Politik und führte zur selbstmörderischen Bedrohung der gesamten Menschheit durch den Mißbrauch der höchsten Leistung der Zivilisation, der Freisetzung der Kernenergie.

Abgesehen von seinen offensichtlichen Vorwänden, nämlich der Ausdehnung der Staatsmacht, dem Zuwachs an Arbeitskräften, der Möglichkeit, durch Plünderung mehr zu gewinnen als durch mühevolle Arbeit, hat der Krieg noch einen ändern tieferen Daseinsgrund; er projizierte die inneren Konflikte des Staates, die die Zivilisation zunächst hervorrief und dann unterdrückte, nach außen. Wie die Zivilisation Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung eröffnete, die sich nicht geboten hatten, bevor größere Menschengruppen zu zusammenhängenden Riesenorganisationen vereinigt wurden, so sammelte und band sie auch die explosiven Kräfte, die immer wieder ihrer Kontrolle entglitten. Organisierte Macht bringt Zivilisation hervor, sie kann aber auch zum Element ihrer Auflösung und endgültigen Zerstörung werden.

Eine weitere verderbliche Nebenwirkung des Krieges war die ungerechte Verteilung der Früchte der Zivilisation, denn mit der Zeit unterwarf er eine Reihe von Tätigkeiten einem organisatorischen Zwang, von dem sie sich unter dem Einfluß gesünderer menschlicher Bedürfnisse frei gehalten hätten. Unter dem Druck der allgemeinen Nivellierung und Entpersönlichung durch berufliche Spezialisierung machte der Mensch sich selbst zu einer Maschine, lange bevor er einen vergleichsweise ebenso komplizierten und wirksamen nicht-menschlichen Mechanismus erfand. Mit der Entwicklung der Zivilisation erstarrte ihre Arbeitsteilung, die nicht notwendigerweise nachteilig sein mußte, wenn sie vernünftige Austauschmöglichkeiten offenließ, zu strengen Kastensystemen.

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Diese Tendenz führte in ihrer letzten Konsequenz zur Bildung der auf Vererbung gegründeten sozialen Kasten Indiens, die mit einer peinlich genauen Abgrenzung der Berufe verbunden war; doch keine Zivilisation war und ist frei von dieser Art Karikatur der Gestalt des Menschen. Die Menschen machten sich selbst zu kollektiven Maschinen, Jahrtausende, bevor sie die technische Fertigkeit erlangten, Maschinen zum handelnden Gegenstück ihres kollektiven Selbst zu machen.

Wenn auch noch keine menschliche Organisation so weit gegangen ist, die Arbeiterkaste unfähig zur Fortpflanzung zu machen, so hinterlassen dennoch die bestehenden physiologischen Unterschiede zwischen den Klassen und Berufen eine deutliche Spur in den Krankheits- und Sterblichkeitsstatistiken der fortschrittlichen Länder, und selbst in relativ dynamischen Gesellschaften können Kastengrenzen und wirtschaftliche und soziale Schranken nicht leicht überschritten werden, denn auch in ihnen gilt die gesellschaftliche Stellung oft mehr als die berufliche Eignung und Fähigkeit.

So schuf sich der Mensch, indem er die Errungenschaften der Zivilisation auf die Spitze trieb, aus eigenem Antrieb und selbständig eine Gesellschaftsform, die in der Natur nur entsteht bei Wesen, die ebenso spezialisiert und verkrüppelt sind wie er, nämlich den Insektenstaat. Und nun, da er diesen Irrtum wiedergutmachen muß, um sich vor seinen eigenen unseligen Erfindungen zu schützen, ist es Zeit, andere verwandte Institutionen, die er bis jetzt allzu selbstzufrieden für selbstverständlich hält, mit strengerem Blick zu prüfen.

   

  § 5  

 

Sklaverei, Zwangsarbeit, soziale Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung und organisierte Kriegsführung stellen die Schattenseite des »Fortschritts der Zivilisation« dar. In veränderter Form sind diese »negativen Fortschritte« auch heute noch wirksam; während der Fluch der Zwangsarbeit teilweise von uns genommen worden ist, hat der Krieg durch die Erfindung von kraftgetriebenen und automatischen Maschinen einen zunehmend rein zerstörerischen Charakter angenommen und ist in unseren Tagen, alle physikalischen Grenzen und moralischen Schranken durchbrechend, zum totalen Völkermorden geworden, das jetzt alles Leben auf unserm Planeten bedroht.

Dies war ein hoher Preis für das, was die Zivilisation an wahrer Vermenschlichung geleistet hat, doch in der ganzen Welt haben die Menschen einst diesen Preis gezahlt.

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Obwohl vom Urbeginn an eine herrschende Minderheit die Kräfte der Zivilisation unter ihre Kontrolle genommen und sich ihre Güter angeeignet hat, hat die Menschheit sich bis heute mit dieser Tatsache willig abgefunden.

Diese Zuteilung der Früchte der Zivilisation an einige wenige scheint jeder Vernunft zu widersprechen und jeder Erklärung zu spotten. Was veranlaßte die Masse der Menschen, diese offensichtliche Ungerechtigkeit hinzunehmen? Die Härten und Opfer einer strengen Organisation wären vielleicht gerechtfertigt unter dem Aspekt eines ausgeklügelten Ausgleichs zwischen Gewinn und Verlust, wenn der Nettogewinn gleichmäßig über die ganze Gesellschaft verteilt würde. Doch seit Jahrtausenden ist eine solche Verteilung nicht erwogen, geschweige denn versucht worden. Nur widerwillig wurde das Prinzip der Gerechtigkeit gleichmäßig angewandt, so daß der Richter nicht mehr für jene entschied, die ihn bestochen hatten, sondern für diejenigen, die im Recht waren. Es war ein Meilenstein in der Geschichte der Justiz, wie Breasted erklärte, als ein Richter so weit ging, einen Fall zuungunsten seiner Verwandten zu entscheiden. Sklaven und Arme hatten keine Rechte, die Höhergestellte anerkannten, und es gelang ihnen nur sehr selten, auf der sozialen Stufenleiter Fuß zu fassen, und nie, sich auf ihr zu behaupten.

Diese Haltung gegenüber der Zivilisation bleibt unverständlich, wenn man nicht den Einfluß des Irrationalen und des Übernatürlichen in Rechnung stellt. Die Zivilisation wurde ermöglicht durch eine innere Umwandlung, die so tief und kompliziert war, daß sie sich einer sicheren Analyse entzieht; es war ein Vorgang, der zwei überhöhte Formen des Seins hervorbrachte, den Helden und den Gott, und ihre Funktionen im Amt des Königs vereinigte. Hierdurch befreite sich der zivilisierte Mensch von seiner Sorge um sein inneres Selbst; er wandte sich zunehmend äußeren Objekten zu, die unabhängig waren von körperlichen Empfindungen, und sein ideales Selbst wurde der Held, eine Persönlichkeit von riesiger Kraft, die Taten von großer Kühnheit vollbrachte, wie die Arbeiten des Herkules, und sein göttlicher Held war Prometheus, der für den Menschen das Feuer vom Himmel stahl.

Die Prüfungen des Helden sind physischer Art, das Töten von Riesen und Drachen, das Bewegen von Riesenfelsen, das Umkehren von Flußläufen, und durch solche Leistungen taten sich die gottähnlichen Monarchen der alten Zivilisationen in unterschiedlichein Maße hervor. Diese Hinwendung zur äußeren Wirklichkeit war ein

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historisches Merkmal der Integration des menschlichen Ich, einer ersten autonomen Auseinandersetzung mit allen Erscheinungen außerhalb des eigenen Selbst, die ihm widerstehen und auf die es reagiert. Dies war der Weg zu weiterer Individuation und bewußter Beherrschung der äußeren und der inneren Welt. Zweifellos war diese Notzeit des Menschen zugleich auch die Blütezeit des Heldenepos, und an dieser erweiternden Veränderung des allgemeinen Bewußtseins nahmen auch die Benachteiligten und Unterdrückten teil, so wie die ausgebeuteten Fabrikarbeiter des 19. Jahrhunderts den Glauben an technische Verbesserungen und sozialen Fortschritt teilten.

Durch den Helden und den König errichtete der Mensch ein überhöhtes Bild seines Selbst und gab sich ein Gefühl der Fähigkeit zu Taten und Leistungen, von denen er vorher kaum geträumt hatte. Wir können aus dem Auftauchen von geflügelten Geschöpfen in der Kunst schließen, daß in jener Zeit auch der kühne Traum vom menschlichen Flug zum erstenmal Gestalt annahm, denn wir finden keine Belege für ihn in den Darstellungen des Höhlenmenschen der älteren Steinzeit. In der Gestalt des Helden bürdete der zivilisierte Mensch sich schwerere Aufgaben auf und mutete sich größere und längere Anstrengungen zu als je zuvor. Entspannung und Befriedigung, die normalen Belohnungen für normale Arbeit, erschienen ihm jetzt eher als Gefahren denn als Verlockungen. 

Gilgamesch, der Held des frühen babylonischen Epos, verschmähte die Liebe der Göttin Inanna, doch er erschlug mit Bravour den Stier, den sie auf ihn hetzte. Odysseus büßte unter der Verzauberung durch Calypso seine Tatkraft ein, und Samson verlor, als er in die Arme der Delilah sank, seine physische Stärke. Nur indem er seinen Geschlechtstrieb unterdrückt und seine ganze Energie auf seine Arbeit konzentriert, besitzt der heroische Mensch die Kraft, seine übermenschlichen Aufgaben durchzuführen. Die Pioniere der Zivilisation fühlen sich nicht zu Hause in der Welt der Frau; bei ihren heroischen Abenteuern lassen sie sie hinter sich. Wenn sie, wie Herakles, prahlen, in einer Nacht mit fünfzig Frauen geschlafen zu haben, dann zeigt diese Prahlerei, daß sie das Brechen von Rekorden mit echtem Liebesgenuß verwechseln, was einen weiteren Beweis für ihr unentwickeltes erotisches Leben darstellt.

Der primitive Mensch war von einem Gefühl der Einheit mit der Welt beseelt; Steine, Bäume, Tiere, Geister, Menschen sprachen zu ihm und antworteten ihm, er war in ihnen und ein Teil von ihnen.

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Der zivilisierte Mensch lebt vom Kampf und vom Widerstand; er muß überwinden oder überwunden werden, und je schrecklicher der Kampf ist, um so stärker ist sein Lebensgefühl. Von dieser Haltung beherrscht, straft er sich selbst und diejenigen, die er bekämpft, und gerade in widrigen Lebenslagen, bei Überschwemmungen, Schiffbrüchen, Erdbeben, Feuersbrünsten oder im Krieg wächst er zu seinen höchsten Leistungen empor, während Zeiten des Wohlergehens ihn fett und träge machen, denn sie bieten keinen Anreiz zur Betätigung seiner nach außen gerichteten Kräfte.

Durch die Zivilisation wurde das Leben mehr als ein monotoner Ablauf von Tagen und Verrichtungen, es wurde zum agon, zum Wettstreit, zu einem fortgesetzten Test auf Stärke und Gewandtheit, bei dem alle Kräfte oft bis zum Zerreißen angespannt werden mußten, es wurde zu einem immerwährenden Kampf auf Leben und Tod, zur Agonie. Indem er den Helden erfand und ihm nacheiferte, dehnte der zivilisierte Mensch die Dauer seiner Anspannungen aus und verstärkte ihre Intensität. In Zeiten verhältnismäßiger Ruhe erhielt er sich vorsorglich seine Fähigkeit zu übermenschlichen Taten durch Übung, Selbstzucht und Kampfspiel. Doch er konnte seine neuen Kräfte nicht entfalten und beherrschen, ohne auf andere zu verzichten; der Tod nahm einen immer breiteren Raum ein in seinein Alltag, und das Leben wurde verdrängt, verneint. Es ist unleugbar, daß die Zivilisation trotz ihrer ins Übermenschliche gesteigerten Vitalität alle Funktionen, die Leben zeugen, nähren und erhalten, mit dem Odium der Schwäche, Sentimentalität und Verweichlichung behaftet. Im zivilisierten Menschen haben Sexualität und Arbeit die Rollen getauscht, die Produktion hat den Vorrang vor der Reproduktion, der Fortpflanzung, und Acker und Mutterleib sind an die zweite Stelle gerückt.

Doch während der Held jene Tendenz der Zivilisation verkörperte, die zur totalen Hingabe an die Arbeit führte, beschwor der zivilisierte Mensch durch den Kult der Götter, die eine Überhöhung seines inneren Selbst darstellten, aus seinem Unbewußten die Kräfte, die ihm halfen, die Härten und Entbehrungen seines neuen Lebensstils auszugleichen. Denn durch die Zivilisation wurde er zunehmend von seinen natürlichen Lebensquellen abgeschnitten, und sein Selbsterhaltungstrieb wehrte sich gegen diese Bedrohung. Das Bewußtsein seiner Sterblichkeit verstärkte sich, vielleicht auch, weil die Zivilisation seine Lebenserwartungen erhöht hatte. Anstatt den Tod als etwas Naturgegebenes hinzunehmen, begann der zivilisierte Mensch,

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ihn zu bekämpfen, und ein großer Teil seines Lebens wurde zu einem Schauspiel dieses Kampfes. Die Mythologie der Sumerer läßt eindeutig ihre Anschauung erkennen, daß die herrschenden kosmischen Kräfte die Karten gegen den Menschen gemischt haben und daß der Tod immer das Spiel gewinnt. Und die Ägypter steigerten sich durch ihre ausgeklügelten Bemühungen, den Tod durch Mumien, Grabkammern und Pyramiden zu überwinden, in den trügerischen Glauben, sie hätten ihn ins Leben verpflanzt, und machten ihn so zum Beherrscher beider Reiche.

Die Zivilisation erweiterte in gleichem Maße das Wissen und die Angst des Menschen, und die Mächte des Universums wurden drohender, je mehr seine vereinten Kräfte wuchsen. So wurden die Götter allein verantwortlich für alles irdische und himmlische Geschehen, für Leben und Tod; nur durch Unterwerfung, durch blinden Gehorsam, konnte der gewöhnliche Mensch hoffen, zum bescheidenen Nutznießer ihrer Macht zu werden. Dieses Gefühl der menschlichen Unzulänglichkeit scheint sich im gleichen Maß verstärkt zu haben, in dem die Gemeinschaft durch ihre Ausdehnung und Komplizierung über das menschliche Begriffsvermögen hinauswuchs, und selbst der absolute Herrscher wurde in seiner Bewegungsfreiheit beschränkt wie der König des Schachspiels, dieses altehrwürdigen Symbols der Faustregeln der frühen Zivilisation.

Als Vernunft und Ordnung in methodischem Vordringen die Oberhand im Leben zu gewinnen drohten, griffen das Irrationale und das Übernatürliche ein, um das soziale Gleichgewicht zu erhalten; denn indem sie den Dienst an den Göttern befahl, sicherte die Religion in Zeiten, da die selbstische Vernunft dem Einzelnen geraten hätte, sein Glück nur in seinem eigenen Erdenleben zu suchen, den Bestand der Gemeinschaft durch die von ihr inspirierten gemeinsamen Anstrengungen und Opfer ihrer Glieder. Wenn die Bedingungen des täglichen Lebens zu hart und die Opfer für die Aufrechterhaltung der zivilisierten Ordnung zu schwer wurden, eröffnete die Religion Aussichten auf ein fernes Glück, auf eine andere Welt Und ein anderes Leben nach dem Tode. Henri Bergsons Erklärung der Religion als Produkt des Bewußtseins von der Kürze des Lebens, der Gewißheit des Todes und des Mißverhältnisses zwischen unsern Plänen und unsern Leistungen, trifft in besonderem Maße auf die präaxialen Religionen der frühen Zivilisation zu. Doch einige dieser Vorstellungen verblaßten in den höheren Religionen der späteren Zeit.

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  § 6  

 

In der Folge nämlich eröffnete die Zivilisation den irrationalen und aufrührerischen Elementen der menschlichen Natur große schöpferische Ausdrucksmöglichkeiten durch die zu Institutionen gewordenen Hochreligionen. In ihnen bot der Mensch den zahlreichen geheimnisvollen Kräften, die manchmal sein Leben zu fördern schienen und es manchmal zu vernichten drohten, die Stirn; in ihnen bereicherte er durch Kräfteübertragung und Identifikation mit dem Göttlichen sein eigenes Machtgefühl. Doch die Umwandlung von Leben in Unsterblichkeit und von menschlicher Unwissenheit in göttliches Allwissen wurde nicht leicht erreicht. Als er sich zum erstenmal ausruhte, verlor Gilgamesch die Frucht, die der Schlange ewiges Leben verliehen hatte, während Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben Wurden, nur weil sie den Apfel vom Baum der Erkenntnis gekostet hatten.

Religion, wie wir ihr in. der frühen Zivilisation begegnen, ist offenbar ein Aufruhr unbewußter Kräfte. Die göttlichen Mächte scheinen aus dem glühenden Magma der menschlichen Seele auszubrechen, denn die Götter haben zunächst nichts zu tun mit Moral oder bürgerlicher Ordnung, mit Liebe oder Gerechtigkeit. Weit davon entfernt, Moralisten zu sein, sind sie eher reiner Ausdruck der Wollust, Wildheit und Willkür, also eben jener Eigenschaften und Energien, die die Zivilisation, scheinbar zum Besten der Menschen, zu zähmen, zu verändern oder mindestens nützlicheren Zwecken zuzuführen sucht. In diesem Sinne sprach Horus zu den Feinden seines Vaters Osiris: »Eure Arme sind festgebunden an euren Köpfen, ihr Ungeheuer. Ihr seid von hinten gefesselt. Ihr seid die Bösen, die enthauptet werden müssen. Ihr sollt nicht leben.« Der gleiche tödliche Zorn kommt aus dem Munde Jehovas, der alle Mittel der Vernichtung, vom Schwert bis zur Plage, gegen die anwendet, die seinem erwählten Volk im Wege stehen.

Man mag die Gestalten dieser furchtbaren Gottheiten, wenigstens teilweise, als Versuche deuten, durch unbewußte Versinn­bildlichung den durch die Zivilisation unterdrückten Lebenskräften wieder zu ihrem Recht zu verhelfen; sie waren auch ein Mittel, ein vernunftwidriges, aber verständliches, eine lebendige überpersönliche Autorität zu schaffen als Ersatz für die auf allgemeiner Übereinstimmung beruhende Moral, die in einer aus heterogenen Elementen zusammengesetzten Gesellschaft ohne gemeinsame Werte und Bräuche verlorengegangen war.

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Schließlich förderten die Götter, ohne absichtlich zu diesem Zweck geschaffen zu sein, die gesellschaftliche Klasseneinteilung, die die natürliche Harmonie und menschliche Solidarität der primitiveren Kulturen zerstörte.

Später wurde der unbewußte Vorgang, der die Gottheiten schuf, durch bewußte Manipulation korrumpiert. Schon in der Zeit, als das Ägyptische Totenbuch entstand, finden wir Beweise dafür, daß die Priester dem Glauben durch Zauberei nachhalfen und gegen Bezahlung Unsterblichkeit garantierten, wobei sie Formulare benutzten, auf denen der Gläubige den Betrag seiner Spende einsetzen konnte, also viele Jahrtausende, bevor Jakob Fugger sein Monopol für christlichen Ablaßhandel schuf. Gleichzeitig vollzog sich die Identifizierung der übernatürlichen religiösen Macht, die aus dem Unbewußten des Menschen geboren worden war und genährt wurde, mit der organisierten politischen Macht und den sie ausübenden Beamten des Staates, dessen Haupt ein Priester oder sogar ein Gott war. Dieser allen Religionen gemeinsame Zug der Selbstentwürdigung rechtfertigt den zynischen Humor Voltaires in seinem Urteil über die Kirche.

Wenn die Religion trotz dieser Verweltlichung und Verfälschung in allen Zivilisationen eine positive Rolle gespielt hat, dann geschah dies, weil die sowohl im Kosmos als auch in der menschlichen Seele wirkenden geheimnisvollen Kräfte zu wichtig sind, um unbeachtet zu bleiben. Im Guten und im Bösen hat die Religion den Bereich der schöpferischen Möglichkeiten erweitert. In der Religion schuf die Zivilisation einen Ausgleich für ihre Enttäuschungen, indem sie künstlerische Leistungen anregte und Ideale entstehen ließ, die so tief in der menschlichen Natur verwurzelt waren, daß sie dem Menschen höher standen als sein eigenes Leben.

Solange der Glaube der Menschen an die Götter und ihre Hoffnung auf ein zukünftiges Leben lebendig blieben, d.h., solange sie sich aus dem Lebensquell ihres Unbewußten gegen die Härten und Ungerechtigkeiten der Zivilisation stärken konnten, erfüllten sie die Anforderungen der äußeren Welt resigniert, wenn nicht gar freudig. Was geschieht, wenn der äußere Druck zu stark wird und das Unbewußte sich verwirrt und die Beute von Dämonen wird, beginnen wir erst in unsern Tagen zu begreifen. Die so von der Zivilisation bewirkte Stabilität — und die von einer überweltlichen Religion am vollkommensten beherrschte Zivilisation, nämlich die Ägyptens, hatte die längste Lebensdauer — beruhte auf einem mühsam erhaltenen Gleichgewicht zwischen der äußeren und der inneren Lage des Menschen.

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Als mit der Zeit die Menschen die Kunst des Miteinanderauskommens lernten, wurden ihre Götter sanfter und wohltätiger. Dank der transzendentalen Ansprüche der Religion ermutigte die Zivilisation die höheren Funktionen des Menschen wie nie zuvor. Mit der Macht kam die Muße und mit der Muße der tiefere Gedanke. Die physischen Anstrengungen des Jägers, des Bergmannes und des Bauern verbrauchen ihre gesamte Vitalität. Emersons Entdeckung, daß ihm nach einem Vormittag Gartenarbeit keine Ideen mehr kamen, dürfte für alle geistig Schaffenden gelten. Zuviel körperliche Arbeit, ebenso wie zuviel Alkohol, eine zu schwere Mahlzeit und zu häufiger Geschlechtsverkehr, schwächen die Fähigkeit zu produktivem Denken.

Indem die Religion eine Klasse absonderte, die in stiller Gemeinschaft und durch öffentliche Rituale die Werte des Unbewußten pflegte und verbreitete, erweiterte sie auch den Bereich des bewußten, ausgerichteten Gedankens; der Priester, der Prophet, der Weise, der Gelehrte, der Wissenschaftler, der Barde, sie waren alle Glieder einer Familie, und mit der Zeit sammelten sie genügend Kraft, sowohl die seelenlose Routine der Zivilisation wie auch die ausgleichende Irrationalität der frühen Religionen zu überwinden.

 

  § 7  

 

Wenn unser Mythos die Gründe für die allgemeine Hinnahme der Zivilisation, obwohl sie wenigen so viel und vielen so wenig gab, dargelegt hat, so haben wir nur teilweise die lange Dauer ihrer Herrschaft erklärt.

Wir sehen uns mit der Tatsache konfrontiert, daß alle großen Zivilisationen sich abgrenzten und abschlossen, und zwar in einem solchen Maße, daß in unserer Zeit zwei umfangreiche Philosophien der Geschichte geschrieben wurden, ohne daß ihre Verfasser die vorhandenen Berührungspunkte und gegenseitigen Beeinflussungen zwischen den Zivilisationen, die sogar von den Eroberungszügen eines Alexander und Dschingis-Khan in gewissem Grad gefördert wurden, berücksichtigten.

Doch welche Rechtfertigung kann die Zivilisation bieten für ihre Schmälerung der vollen Lebensmöglichkeiten, wenn sie nicht ständig die Grenzen des zwischen­menschlichen Verkehrs erweitert und ihre Kräfte nicht stärker in den Dienst des Allgemeinmenschlichen stellt? Sind weder die Götter noch die Ziele der Zivilisation es wert, daß der Mensch sich auf dieser Erde plagt?

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In Wirklichkeit hat der Mensch die Zivilisation nie rückhaltlos bejaht noch sein zivilisiertes Selbst ehrlich geliebt. Neben den unnatürlichen Klassen­unterschieden und der ungerechten Güterverteilung, den hartnäckigen Urübeln der Zivilisation, gibt es noch andere Beleidigungen der Menschenwürde durch die Nutznießer der Zivilisation, die sich ihre Langeweile im Krieg vertreiben und sich durch Zerstörung bereichern.

Die Zivilisation verdankt ihre lange Lebensdauer vornehmlich zwei Faktoren, nämlich der ständigen Rekrutierung frischen, noch nicht desillusionierten Menschenmaterials, das in jeder Generation von den ländlichen Bezirken, in denen das Leben weniger kompliziert war, geliefert wurde, und der Erhaltung ländlicher Sitten und Gebräuche, verbunden mit einer ständigen Infiltration schlichter überlieferter Lebensweisheit, beginnend mit den ältesten Lehrschriften des weltweisen Ägypters Ptah-Hotep bis zu den Gleichnissen Jesu. Die Zivilisation ist, wenigstens bis in unsere Zeit, durch unverdorbene und ungezähmte heidnische Kräfte am Leben erhalten worden, und als diese nicht mehr genügten, wurde sie, wie wir sehen werden, wiederbelebt durch die Hoffnung auf eine nachzivilisatorische Zeit, die ihr eröffnet wurde von den axialen Religionen; diese Religionen formten alle Werte der Zivilisation um zu einem neuen Lebensstil und benutzten auch ihre schlimmsten Seiten als Mittel der Erlösung.

Doch vergessen wir nicht, daß die Ausdehnung der Zivilisation auch das Gefüge der archaischen Gesellschaft, von deren elementarer Moral sie zehrte, schwächte; was der Mensch einst unbewußt zum Besten seiner wenigen sichtbaren Nachbarn getan hatte, mußte er jetzt bewußt zum Besten unzähliger unsichtbarer Mitbürger tun, und seine Leistungen ließen nach. Es war kein Zufall, daß Augustus Caesar das römische Reich zu konsolidieren versuchte, indem er die Feste und Rituale der archaischen Gesellschaft wiederbelebte; er schien mehr auf die natürlichen Empfindungen des Volkes zu bauen als auf bewußtes ethisches Denken, wie die Stoiker es taten.

Die heroischen Anstrengungen, die die Menschen befähigten, den großen Schritt zur mechanistischen Organisation zu unter­nehmen und ihre gemeinsamen Kräfte auf Ziele zu richten, die weit über die unmittelbaren Bedürfnisse des Weiterlebens hinausgingen, erlahmen nach einer gewissen Zeit in allen Zivilisationen, und es tritt ein Zustand der Ermüdung und Unlust zu neuen Abenteuern ein, in dem man eich darauf beschränkt, das Räderwerk in Gang zu halten. Allmählich hört dann auch der Wille zur Ordnung auf, sinnvoll und zweckgerichtet zu sein, das Leben wird leer, die Opfer und Lasten erscheinen größer als die greifbaren Erfolge.

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So erreicht jede Zivilisation einen Punkt, an dem sich der Mensch, wie in dem altägyptischen Gespräch mit seinein Schatten-Selbst, seiner Seele, fragt, warum er weiterleben soll, und ob es nicht besser wäre, zu sterben. Diese innere Auflösung von Sinn und Wert des Daseins wird beschleunigt durch äußere Schicksalsschläge und Mißerfolge, wie Arnold Toynbee ausführlich nachgewiesen hat; doch er betont, daß die Hauptgründe für diesen Zerfall innerlicher Natur sind. Und die vielleicht ernsthafteste Selbstschädigung des Menschen liegt in der Tatsache, daß sein Bemühen, die physische Hülle der Zivilisation, die Hauptquelle ihrer Werte, auszudehnen, zu einer Verdickung ihrer Mauern und einer steten Verengung seines eigenen Lebensraumes führt. Die Zivilisation beginnt mit einer Materialisation menschlichen Geistes und endet in einem geistlosen Materialismus — ein leerer Triumph, gegen den sogar das Selbst sich auflehnt, das ihn errungen hat.

 

Der plötzliche Schwund von Sinn und Werten in einer Zivilisation, der oft eintritt, wenn sie ihre höchste Blüte erreicht zu haben scheint, ist seit langem eines der Rätsel der Geschichte, mit dem auch wir uns heute wieder konfrontiert sehen. Wenn die Werte der Zivilisation wirklich eine Erfüllung der menschlichen Sehnsüchte bedeuteten, dann wäre es unmöglich, diese innere Leere und Seelenlosigkeit zu erklären. Militärische Niederlagen, wirtschaftliche Krisen und politische Spannungen sind keine hinreichenden Gründe für diesen inneren Zusammenbruch, sie sind bestenfalls Symptome, denn der Sieger ist zugleich Opfer, und wer reich wird, fühlt sich verarmt. Der tiefere Grund für das Absterben der Zivilisation scheint die Selbstentfremdung des Menschen, seine Abwendung von den Quellen seines Lebens zu sein.

Wenn ständige Mißerfolge und wachsende Enttäuschung zu dem führen, was unsere Zeit mit dem Modewort »existentieller Ekel« bezeichnet, scheinen nur noch verzweifelte Auswege offenzustehen. Einer dieser Auswege, der harmloseste von allen, im internationalen literarischen Jargon »Eskapismus« genannt, besteht in der Emanzipation von der Gesellschaft durch Engagierung in rein physische Abenteuer oder durch geistige Selbstausschließung und freiwillige Isolierung. Dieser Ausweg wird oft beschritten in der Rette-sich-wer-kann-Stimmung des ebenfalls zum Zeitbegriff gewordenen Emigranten oder Flüchtlings, der sich vor einer drohenden Katastrophe in Sicherheit bringt. Wem dieser Ausweg versperrt ist, der greift vielleicht zu den alten Betäubungs­mitteln des starken Getränks oder der wahllosen Geschlechtsliebe, die zwar rasche Erleichterung bringen mögen, aber den Ekel, den sie löschen sollten, nur vertiefen.

Ein anderer, scheinbar positiver Weg, der aber in Wirklichkeit und letzten Endes nur verzweifelte Selbst­verleugnung des Menschen ist, besteht in der ausschließlichen Hinwendung zur Technik, die das Leben sinnlos und die Maschine zum Fetisch und Objekt einer frustralen Liebe macht. Oft führt die Perfektionierung und Verherrlichung der Technik zu infantilen Spielereien, aber auch zu perversen Monstrositäten, die Gesundheit und Leben bedrohen.

Gegen diese schleichende Krankheit der Zivilisation konnten die großen offiziellen Religionsgemeinschaften kein wirksames Heilmittel bieten; ihr institutioneller Zwang und ihre eigenen materiellen Anforderungen haben die äußere Bürde des Menschen vergrößert, ohne seine innere Depression zu erleichtern. Nur ein einziger Weg zu hoffnungsvoller Weiterentwicklung hat sich uns bis jetzt geöffnet, ein Weg, der die Axiome der Zivilisation verwirft und das menschliche Leben auf eine neue Grundlage stellt. Der Anfang dieses Weges liegt in der Welt der axialen Religionen.

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Lewis Mumford 1956