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7 - Könige als treibende Kraft  

 

 

   Die Rolle der Gesellschaftsordnung 

193-218

Im dritten Jahrtausend vor Christus ging eine grundlegende Veränderung in der menschlichen Kultur vor sich. Es begann die Geschichte, im Sinne von überlieferbaren, geschriebenen Berichten über die Gescheh­nisse der Zeit; und eine Reihe von Institutionen neuen Typus, die wir mit Zivilisation assoziieren — ein Begriff, den ich später anders definieren und qualifizieren werde —, entstand an einigen großen Strömen. 

Die Archäologen haben versucht, diesen Wandel hauptsächlich als Ergebnis technologischer Veränderungen hinzustellen: der Erfindung der Schrift, der Töpferscheibe, des Webstuhls, des Pflugs, der Herstellung metallener Werkzeuge und Waffen und des Ackerbaus im großen Maßstab. Gordon Childe führt sogar den zweifel­haften Begriff der städtischen Revolution als Endstadium der früheren landwirt­schaftlichen Revolution ein.

Alle diese technischen Verbesserungen waren wichtig; doch hinter ihnen stand eine noch wichtigere Triebkraft, die übersehen wurde: die Entdeckung der Macht einer neuen Gesellschaftsform, die das menschliche Potential zu steigern und Änderungen in jedem Daseinsbereich zu bewirken vermochte — Änderungen, die für die kleinen, simplen Gemeinschaften des frühen Neo­lithikums nicht einmal vorstellbar war.

In meinem Versuch einer hypothetischen Rekonstruktion der vorgeschichtlichen Zeit suchte ich zu zeigen, daß jeder technische Fortschritt mit psycho-sozialen Veränderungen, als Voraussetzung und als Folge, verbunden war: die emotionelle Vereinigung und strenge Disziplin des Rituals, die Anfänge begrifflicher sprachlicher Kommunikation, die moralische Einordnung aller Tätigkeiten unter die Disziplin der Tabus und rigorosen Gebräuche zur Gewährleistung der Gruppen­zusammenarbeit.

Auf diesen drei Grundpfeilern - Gemeinschaft, Kommunikation und Zusammenarbeit - ruhte die Dorfkultur. Aber außerhalb des begrenzten Territoriums des Stammes oder des Dorfes wirkten diese Elemente der Sozialisierung nur sporadisch und schwach. Die Gemeinschaftsstruktur an sich war universal. Aber jede Gruppe war eine soziale Insel, abgeschnitten von anderen Gruppen. Wo immer diese Dorfkultur sich selbst überlassen war, versteinerte sie schließlich; und wenn sie sich später weiterentwickelte, dann entweder, indem sie sich gezwungener­maßen mit einer größeren Gesellschaft verband, oder indem sie Institutionen einer höheren Zivilisation übernahm.

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Aus dem frühen neolithischen Komplex erwuchs eine Gesellschaftsordnung anderer Art: nicht mehr in kleinen Einheiten verstreut, sondern in einer großen Einheit vereinigt; nicht mehr demokratisch, das heißt auf nachbarlicher Vertrautheit, gewohnten Gepflogenheiten und Konsens beruhend, sondern autoritär, zentral gelenkt, unter der Kontrolle einer herrschenden Minderheit; nicht mehr auf ein kleines Gebiet begrenzt, sondern bewußt »die Grenzen überschreitend«, um Rohmaterial zu erbeuten und wehrlose Menschen zu versklaven, Herrschaft auszuüben und Tribut einzutreiben. Diese neue Kultur strebte nicht nur nach Verbesserung des Lebens, sondern auch nach Ausdehnung der kollektiven Macht. Durch Vervollkommnung neuer Machtmittel hatten die Führer der neuen Gesellschaft bis 3000 vor Christus eine wirtschaftliche und militärische Macht solchen Ausmaßes organisiert, wie sie bis zu unserer Zeit nicht mehr übertroffen werden sollte.

Zu diesem Zeitpunkt verlagert sich die menschliche Tätigkeit von der begrenzten horizontalen Ebene des Dorfes und der Familie auf die vertikale Ebene einer ganzen Gesellschaft. Die neue Gesellschaft bildete eine hierarchische Struktur, eine soziale Pyramide, die von der breiten Basis bis zur obersten Spitze viele Familien, viele Dörfer, viele Berufe, of viele unterschiedliche Lebensregionen und nicht zuletzt viele Götter in sich vereinigte. Diese politische Struktur war die grundlegende Erfindung des neuen Zeitalters; ohne sie wären weder seine Monumente noch seine Städte gebaut worden, noch wären diese, das muß man hinzufügen, immer wieder vorzeitig zerstört worden.

Einige der positiven kulturellen Ergebnisse dieser Veränderung habe ich in meinem Buch The City in History bereits umrissen, darum möchte ich mich hier auf die technologischen Resultate konzentrieren. Es scheint, daß die neue Gesellschaftsordnung aus der Begegnung und Vereinigung zweier kultureller Komplexe entstanden ist, deren prähistorische Entwicklung wir bereits zu erklären versuchten. Und es ist nicht überraschend, daß diese Verbindung in den heißen Flußtälern des Jordans, des Euphrats, des Tigris, des Nils und des Indus eintrat. Von den palästinensischen, iranischen und abessinischen Hochtälern kamen der Jäger und der Holzfäller und, wie es scheint, auch die ersten Ackerbauern. In den Niederungen, aus deren Sümpfen und Seen grüne Inseln der Kultivierung aufzutauchen begannen, gab es noch genügend Wild, das den Jäger anzog und den Bauern störte; so waren sie zeitweilig in einer glücklichen Symbiose miteinander verbunden.

Aber von Süden und Osten kam die mesolithische Garten- und Obstbaumkultur, deren spezifische Produkte, Zucker und Öle, Stärke und Gewürze, die notwendige Ergänzung zum Getreide waren und dazu beitrugen, viel größere Bevölkerungen zu ernähren.

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Völker, die von Datteln, Kokosnüssen oder der Brotfrucht leben, sind so frei vom Zwang der Arbeit, daß ihr ursprüngliches Wohngebiet ohne weiteres als Garten Eden erscheinen könnte, wie es Herman Melville noch vor etwa einem Jahrhundert erschien. Die Vermischung dieser beiden Kulturen wird durch die Entdeckung mesopotamischer Artefakte in Harrapa und Mohenjo-Daro am Indus bestätigt, und Woolley fand im Flußschotter von Ur zwei Perlen aus Amazonit, einem Stein, dessen nächstliegendes bekanntes Ursprungsgebiet die Nilgiri-Hügel in Zentralindien sind; möglicherweise wurden schon in einem früheren Stadium Kulturpflanzen ausgetauscht.

Sowohl die technischen als auch die sozialen Komponenten der Zivilisation traten fast gleichzeitig in den klassischen Stromtälern, vom Nil bis zum Hoang Ho, in Erscheinung; und wenn die Verflechtung einer Vielfalt von Bedürfnissen und Erfindungen für die immense Machtexplosion verantwortlich war, die tatsächlich stattfand, so könnte man keine besseren geographischen Bedingungen für sie finden. Denn ehe Fahrzeuge auf Rädern erfunden und Pferde und Kamele domestiziert waren — ja sogar bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts —, war der Fluß das Rückgrat von Transport und Kommunikation; selbst die riesigen Ozeane waren ein geringeres Hindernis für den menschlichen Verkehr als Gebirge und Wüsten.

Die großen Ströme waren Sammelbecken nicht nur für Wasser, sondern auch für Kultur, nicht nur für Pflanzen, sondern auch für Aktivitäten und technische Erfindungen; und der Strom lieferte das Wasser, das notwendig war, um aus dem sandigen Boden große Ernteerträge herauszuholen. In Mesopotamien waren zwei, manchmal drei Gersten- oder Weizenernten im Jahr möglich. Unter einer geeigneten Leitung, die im Entstehen begriffen war, konnte die Subsistenzwirtschaft des Dorfes in eine Überfluß­wirtschaft verwandelt werden.

Die neue Energiezufuhr aus Nahrung, vergleichbar jener aus Kohle und Erdöl im neunzehnten Jahrhundert, war sowohl Grundlage als auch Antrieb für eine neue Gesellschaftsform. Doch kein Werkzeug und keine Maschine im üblichen Sinne war für die Form dieser Organisation verantwortlich, denn der neue institutionell-ideologische Komplex setzte sich — mit Gewißheit in Ägypten und wahrscheinlich in Mesopotamien und anderswo — durch, ehe geräderte Fahrzeuge und Pflüge erfunden waren, von der Schrift ganz zu schweigen. Einfache mechanische Erfindungen beschleunigten und erleichterten die Entstehung der neuen Organisationsform.

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   Neue Maßstäbe 

Vom Blickpunkt unserer gegenwärtigen Technik scheint der Übergang zur Zivilisation schwer interpretierbar. Wenngleich kein einzelner technischer Faktor den Übergang von der neolithischen Wirtschaft zu den typischen Formen einer machtbezogenen Wirtschaft kennzeichnete, war doch Macht in Fülle vorhanden. Macht genug, um Berge, wenn nicht zu versetzen, so doch zu bauen, ehe Metall geschmolzen wurde und hartkantige Metallwerkzeuge in Verwendung kamen. Dennoch konzentrierte sich die Zivilisation von Anfang an auf die Maschine; und wir werden das Neue in der postneolithischen Technik besser verstehen, wenn wir die neuen Erfindungen zusammen mit den Herrschaftsinstitutionen betrachten, die sie erforderten. Dann werden wir sehen, wie die Macht einer unsichtbaren Maschine die Maschine selbst vorwegnahm.

Betrachten wir die frühen Aufzeichnungen aus Sumer und Ägypten, so sehen wir, daß die Hauptquelle der Macht damals noch die Landwirtschaft war: der großflächige Getreideanbau auf abgesteckten und abgemessenen Feldern, deren Grenzraine von den öffentlichen Stellen wiederhergestellt werden mußten, wenn die Flut sie verwaschen hatte. Der Getreideanbau geht unter öffentlicher Kontrolle vor sich, denn der Boden und seine Produkte gehören der örtlichen Gottheit, und der Überschuß wird ordnungsgemäß in zentralen Kornkammern innerhalb der befestigten Zitadelle der neuerbauten Städte gespeichert. 

Als die Bevölkerung in den Flußtälern zunahm und der verfügbare Boden knapp wurde, machten Bewässerung und Kanalisation, einst im Dorf sporadisch in kleinem Maßstab durchgeführt, ein erweitertes System öffentlicher Organisation möglich; und in der geordneten Ausübung dieser totalen Kontrolle durch den Tempel und den Palast wurde die Schrift erfunden, zuerst nur zu dem Zweck, die Menge erhaltener oder ausgegebener Produkte aufzuzeichnen. Die Beamten, die das Getreide einsammelten und verteilten, konnten die gesamte Bevölkerung kontrollieren.

In diesen Vorgängen treten zunehmend zwei Veränderungen hervor: eine Veränderung der Struktur und eine solche des Maß­stabes. Der gemeinsame Faktor all jener Aktivitäten ist die Zunahme an technischer Ordnung, mathematischer Exaktheit, spezialisierten Könnens und Wissens und vor allem an zentralisierter Intelligenz. Diese neuen Qualitäten ergaben sich unmittelbar aus der systematischen Beobachtung des Himmels und der sorgfältigen Aufzeichnung der Konstellation der Himmelskörper und des Ablaufs der Jahreszeiten.

Unsere Kenntnis der babylonischen Astronomie und Mathematik stammt zwar aus sehr späten Dokumenten, doch läßt die Aufstellung des ägyptischen Kalenders am Anfang des dritten vorchristlichen Jahrtausends auf einen langen Prozeß exakter Beobachtung und auf eine Form mathematischer Notierung schließen.

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Die Beschäftigung mit den Himmelskörpern und die Entdeckung eines dynamischen Ordnungsmusters in deren scheinbar zufälliger Verteilung mag einer der frühesten Triumphe des zivilisierten Menschen gewesen sein.

Die Pflege dieser neuen Sprache gab denen, die sie beherrschten — den Priestern —, die Fähigkeit, astronomische und später meteorologische Vorhersagen zu machen. Dies war eine Quelle ihrer, übernatürlichen Autorität als Interpreten kosmischer Einflüsse und deren Folgen für die Menschen. Diese Kunst konnte nicht so leicht wie die Magie durch unbeeinflußbare Ereignisse entkräftet werden. Die kosmische Ordnung, die sich auf solche Weise enthüllte, befriedigte eines der tiefsten Bedürfnisse des Menschen — obgleich dieses Bedürfnis vielleicht letztlich ein Produkt jener Ordnung war. Wenn Voltaire meinte, daß die Priesterschaft nur dazu geschaffen worden war, um einfältige Gläubige zu betrügen und zu erpressen, ohne etwas Sinnvolles zu leisten, so übersah er die Tatsache, daß der Tempel mit seinem höheren Wissen sehr wesentlich zur Landwirtschaft in großem Maßstab beitrug, indem er die Arbeitsvorgänge aufeinander abstimmte.

Die ersten Stadien dieser religiösen Transformation fallen in die Zeit vor der Erfindung der Schrift und können aus späteren Dokumenten rekonstruiert werden. Doch gibt es allgemein Beweise dafür, daß Interesse und Autorität sich von Göttern der pflanzlichen und tierischen Fruchtbarkeit — menschlichen Schwächen, Leiden, Unglück und Tod unterworfen — auf Himmels­gottheiten verlagerte: Mond, Sonne und Planeten, Blitz und Sturmwind, mächtig und unerbittlich, schrecklich und unüberwindlich, in ihrem Lauf nicht aufzuhalten. Atum und Enlil, wie später Marduk und Zeus, waren Inkarnationen kosmischer Macht. In einein hethitischen Ritual bei der Errichtung eines neuen Königspalastes finden wir noch heute die Formel: »Mir, dem König, haben die Götter, der Sonnengott und die Wettergötter, das Land und mein Haus anvertraut.«

Erd- und Himmelsgötter blieben in den meisten Kulturen nebeneinander bestehen; doch wenngleich die Vegetationsgötter weiterhin freundlicher, liebenswerter und polulärer blieben, so besteht kein Zweifel, welche mächtiger waren.

Regelmäßigkeit und Ordnung, die erstmals mit dem neolithischen Schleifen und Polieren eingetreten waren und sich in geometrischen Mustern und Ornamenten äußerten, breiteten sich nun über die ganze Landschaft aus: Rechtecke, Dreiecke, Pyramiden, gerade Linien, abgegrenzte Felder zeugen sowohl von astronomischer Ordnung als auch von strenger menschlicher Kontrolle. Standardisierung war das Kennzeichen der neuen königlichen Ökonomie auf jedem Gebiet. 

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Kung Fu-tse charakterisierte eine viel frühere Errungenschaft dieser Kultur, als er sagte: »Nun haben die Kutschen im ganzen Reich Räder von gleicher Größe, alle verwenden die gleichen Schriftzeichen, und für das Verhalten gelten die gleichen Regeln.«

Vor allem aber änderten sich die Maßstäbe. Quantifizierung und Vergrößerung sind die Merkmale der neuen Technologie. An die Stelle des kleinen neolithischen Schreins trat der gewaltige Tempel, das »berggleiche Haus«, und nahebei die riesige Kornkammer; statt eines Haufens hinfälliger Lehmhütten für ein paar Dutzend Familien eine von Mauern umgebene Stadt mit tausend oder mehr Familien, nicht mehr bloß Heimstatt für Menschen, sondern Heim eines Gottes: wahrhaftig ein Ebenbild des Himmels. Und dieselbe Änderung der Maßstäbe zeigt sich in jedem Bereich, nicht zuletzt im Lebenstempo. Veränderungen, die einst Dutzende von Jahren gebraucht hätten, fanden nun fast über Nacht statt, nicht weil bessere Werkzeuge und Geräte zur Verfügung standen, sondern weil ein höchst effizienter, bis dahin unbekannter Typus gesellschaftlicher Organisation entstanden war.

Da unser Beweismaterial hauptsächlich aus der kurzen Bronzezeit und der darauf folgenden Eisenzeit stammt, waren die Gelehrten versucht, die Betonung auf die vielen technischen Verbesserungen zu legen, die der Gebrauch von Kupfer und Bronze ermöglicht hatte. Ich will jedoch die Aufmerksamkeit auf die radikalen Veränderungen lenken, die dem Zeitalter der Metalle um viele Jahrhunderte, möglicherweise um Jahrtausende vorangingen.

Gordon Childes Versuch, die plötzliche ungeheure Erweiterung der Macht und Selbstsicherheit des Menschen hauptsächlich mit Erfindungen wie dem Pflug und dem Streitwagen zu erklären, ließ die wichtigste Tatsache außer acht — nämlich, daß der techno­logische Exhibitionismus, der den Beginn des Pyramidenzeitalters kennzeichnet, nur mittels kleiner, einfacher, primitiver Werkzeuge bewirkt wurde: Meißel, Sägen, Holzhämmer, Seile. Um die riesigen Steine meilenweit zu den Pyramiden von Gizeh zu transportieren, benutzte man Holzschlitten, und ohne Hilfe von Rad, Flaschenzug, Seilwinde, Kran oder auch nur tierischer Kraft wurden sie in Position gebracht; die Menschen selbst waren mechanisiert.

 

  Der Königskult  

 

Die bessere Nahrungsversorgung und die Bevölkerungszunahme, die den Anbruch der Zivilisation charakter­isierten, könnte man sehr wohl als Explosion, wenn nicht als Revolution bezeichnen; und zusammen lösten sie eine Reihe kleiner Explosionen in verschiedenen Richtungen aus, die sich in Intervallen durch die ganze Geschichte fortsetzten.

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Aber dieser Energieausbruch war institutionellen Kontrollen und physischen Zwängen unterworfen, wie sie nie zuvor existiert hatten. Und diese Kontrollen beruhten auf einer Ideologie und einem Mythos, die vielleicht auf magische Zeremonien in paläolithischen Höhlen zurückgingen. Im Mittelpunkt der ganzen Entwicklung stand die neue Institution des Königtums. Der Mythos der Maschine und der Kult des Gottkönigtums sind gemeinsam entstanden.

Bis zum neunzehnten Jahrhundert war die konventionelle Geschichtsschreibung weitgehend eine Chronik der Taten und Untaten von Königen, Adeligen und Heeren. Aus Protest gegen die bewußte Vernachlässigung des Alltags der einfachen Menschen verfielen demokratisch eingestellte Historiker in das andere Extrem und bagatellisierten die Rolle, welche die Könige und die aus dem Königtum hervorgegangenen Institutionen tatsächlich gespielt haben. Heute betrachten Historiker und Anthropologen das Königtum objektiver, schon deshalb, weil die Massierung zentralisierter ökonomischer und politischer Macht im modernen totalitären oder quasitotalitären Staat ein neues Licht auf die frühesten Gebilde ähnlicher Art wirft.

Wie Henri Frankfort in seiner brillanten Interpretation gezeigt hat, ist die Institution des Königtums eine der frühen Neuerungen, die wir nach Zeit, Ort und Trägern ungefähr bestimmen können, ziemlich genau in Ägypten, weniger exakt in Mesopotamien. Die historische Leistung beginnt, wie auf zwei berühmten ägyptischen Tafeln dargestellt wird, an dem Punkt, wo der paläolithische Jägerhäuptling, der Erste unter Gleichen, zum mächtigen König wird, der alle Macht und Vorrechte der Gemeinschaft in seiner Person verkörpert.

Es besteht kein Zweifel über den Ursprung der bedingungslosen Suprematie und der spezifischen Eigenschaften des Königs: Es war die Jagd, die die Initiative, das Selbstvertrauen, die Unbarmherzigkeit entwickelte, welche Könige üben müssen, um die Herrschaft zu erlangen und zu behalten; und es waren die Waffen des Jägers, die seinen Befehlen, ob sie nun rational oder irrational waren, den Rückhalt der Gewalt verliehen — vor allem der Bereitschaft, zu töten.

Diese ursprüngliche Verbindung zwischen Königtum und Jagd ist in der gesamten geschriebenen Geschichte sichtbar geblieben: von den Stelen, auf denen sich ägyptische wie assyrische Könige ihrer Tapferkeit als Löwenjäger rühmen, bis zur Erhaltung riesiger Jagdreviere als unantastbare Domänen der Könige unserer eigenen Epoche. Benno Landsberger vermerkt, daß bei den Königen des assyrischen Reichs Jagen und Kämpfen faktisch austauschbare Tätigkeiten waren. Der skrupellose Gebrauch der Jagdwaffen, um die politischen und ökonomischen Aktivitäten ganzer Gemeinschaften unter Kontrolle zu halten, war eine der wirksamsten Erfindungen des Königtums. Daraus entstand schließlich eine ganze Reihe sekundärer mechanischer Erfindungen.

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In der Mischung aus paläolithischer und neolithischer Kultur fand zweifellos auch ein Austausch psycholog­ischer und sozialer Begabungen statt, und in gewissem Ausmaß mag dies von allgemeinem Vorteil gewesen sein. Vom paläolithischen Jäger mag der neolithische Bauer die Phantasie gewonnen haben, die der stumpfe, sparsame, nüchterne Ablauf der Landwirtschaft nicht erweckte. Bisher hat man in den frühesten neolithischen Dörfern keine Jagdwaffen oder gar Kriegswaffen ausgegraben, obgleich sie in der Eisenzeit allgemein gebräuchlich geworden waren; und diese Waffenlosigkeit erklärt vielleicht die Gefügigkeit des primitiven Bauern, sein bereitwilliges Kapitulieren und seine faktische Versklavung: Denn er hatte weder den erprobten Mut, noch die nötigen Waffen, noch auch die Möglichkeit, sich in großer Zahl zur Verteidigung zusammenzuschließen.

Aber gleichzeitig vermittelte das pünktliche, umsichtige, methodische Leben der Bauerngemeinschaft den angehenden Herrschern einiges von den neolithischen Gewohnheiten der Ausdauer und der Disziplin, die vom Jägerleben mit seinen sporadischen Energieausbrüchen und seinem Ungewissen Erfolg nicht gefördert wurden. Beide Arten von Begabung waren für den Fortschritt der Zivilisation vonnöten. Ohne die Sicherung eines Mehrertrags aus der Landwirtschaft hätten die Könige nicht Städte erbauen, eine Priesterschaft, eine Armee und eine Bürokratie erhalten — und Krieg führen können. Dieser Spielraum war nie allzu groß; in alten Zeiten wurde der Krieg häufig durch Vereinbarung aufgeschoben, bis die Ernte eingebracht war.

Doch nackte Gewalt allein kann die ungeheure Konzentration menschlicher Energie, die konstruktive Umwandlung des Lebens­bereichs, die imposanten Kunstwerke und Zeremonien nicht hervorgebracht haben. Das erforderte Kooperation oder zumindest ehrfürchtige Unterwerfung und passive Zustimmung der ganzen Gemeinschaft.

Die Einrichtung, die diesen Wandel auslöste, die Institution des Gottkönigtums, war das Ergebnis eines Bündnisses zwischen dem tributfordernden Jägerhäuptling und den Hütern eines wichtigen religiösen Schreins. Ohne diese Verbindung, diese Heiligung, diese strahlende Erhöhung hätten die Forderungen der neuen Herrscher nach bedingungsloser Unterwerfung unter den königlichen Willen nicht verwirklicht werden können; es bedurfte außerordentlicher, übernatürlicher Autorität, von einem Gott oder einer Gruppe von Göttern abgeleitet, um das Königtum in einer großen Gesellschaft durchzusetzen. Waffen und bewaffnete Männer, Spezialisten im Töten, waren von wesentlicher Bedeutung; aber Gewalt allein reichte nicht aus.

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Noch vor den geschriebenen Aufzeichnungen weisen Ruinen aus der frühesten prädynastischen Al'Ubaid-Periode von Ur darauf hin, daß die Wandlung schon stattgefunden hatte: Dort, wie auch anderswo, fand Leonard Woolley einen Tempel innerhalb eines heiligen Bezirks, wo auch die königliche Kornkammer stand. Nahrungsspeicher und Bank zugleich. Die priesterliche oder königliche Behörde, die das Getreide einsammelte, speicherte und verteilte, hatte die Mittel zur Hand, um eine zahlreiche Bevölkerung in Abhängigkeit zu halten — vorausgesetzt, daß die Kornkammer ständig von Mauern und Kriegern geschützt war.

Unter dem schirmenden Symbol seines Gottes, der in einem massiven Tempel wohnte, übte der König, der zugleich Hohepriester war, eine Macht aus, wie kein Jagdhäuptling als bloßer Führer seiner Bande sie jemals zu beanspruchen gewagt hätte. Dadurch wurde die Stadt, einst bloß ein vergrößertes Dorf, zum heiligen Ort, sozusagen zum göttlichen »Transformator«, in welchem die tödlichen Hochspannungsströme der Gottheit für menschliche Zwecke umgewandelt wurden.

Diese Verquickung göttlicher und weltlicher Macht setzte eine riesige Menge latenter Energie frei, wie in einer Kernreaktion. Gleichzeitig schuf sie eine neue institutionelle Form, von der es im einfachen neolithischen Dorf oder in der paläolithischen Höhle keine Spur gibt: eine Enklave der Macht, dominiert von einer Elite, in grandiosem Stil von Tributen und Steuern lebend, die gewaltsam aus der ganzen Gemeinschaft herausgepreßt wurden.

Die Wirksamkeit des Königtums beruht in der gesamten Geschichte auf eben dieser Verbindung der räuberischen Tapferkeit und Führerschaft des Jägers mit der Sternkunde und göttlichen Eingebung des Priesters. In primitiveren Gesellschaften wurden diese Aufgaben lange Zeit von einem Kriegshäuptling und einem Friedenshäuptling getrennt repräsentiert. In beiden Fällen beruhten die magischen Attribute des Königtums auf besonderer funktioneller Eignung — der Bereitschaft, Verantwortung zu tragen und Führungs­entscheidungen zu treffen. Die Führung wurde von der Priesterschaft unterstützt, die die Naturerscheinungen beobachtete und die Fähigkeit besaß, Zeichen zu deuten, Wissen zu sammeln und die Ausführung von Befehlen zu sichern. Der König beanspruchte und erhielt die Macht über Leben und Tod der ganzen Gemeinschaft. Diese Art und Weise, in einem großen Gebiet Kooperation herzustellen, steht im Gegensatz zu den bescheidenen Lebensformen des Bauerndorfes, dessen Alltagspraxis auf der Grundlage wechselseitiger Verständigung und Vereinbarung abläuft und von Gewohnheiten, nicht von Befehlen geleitet wird.

In Ägypten galt der König fast von Anfang an, in Mesopotamien zeitweise als göttlich. An diesem Punkt beginnt die überlieferte Geschichte Ägyptens. Kraft der Vereinigung kosmischer und irdischer Kräfte war der Herrscher gleichzeitig ein lebender Mensch und ein unsterblicher Gott.

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Er wurde geboren und starb wie andere Menschen, doch er würde wiedergeboren werden, wie sein zweites Selbst, Osiris; und seine Macht erneuerte sich jeden Tag wie die der wiederkehrenden Sonne, Atum-Re, die nach sicherer Reise durch die Nacht im Osten aufgeht.

Gleich Ptah, der ägyptischen Urgottheit, erschuf der König mit den Worten, die aus seinem Mund kamen, eine Welt; und wenn er einen Befehl aussprach, mußte man ihm gehorchen. Er besaß nicht nur die Macht über Leben und Tod der Gemeinschaft, er war auch deren lebende Inkarnation; sie waren eins, wie Ptah selbst eins war mit allem, was er geschaffen hatte. Das Leben Pharaos war das Leben der Gemeinschaft, sein Reichtum war ihr Reichtum, seine Gesundheit die ihre. Die Gemeinschaft lebte und gedieh in der Person des Königs; und wenn die Menschen ihm bei jeder Nennung seines Namens ehrfürchtig »Leben, Reichtum und Gesundheit« wünschten, sicherten sie damit sich selbst diese Wohltaten.

Die früheren Häuptlinge und ihr wohlbewaffnetes Gefolge, die Gefahren und Strapazen nicht fürchteten, aber die mühsamen Pflichten der Bauern und Hirten nicht kannten und systematischer Arbeit abgeneigt waren, bedienten sich wahrscheinlich schon jener protomilitärischen Eigenschaften, um Macht auszuüben und von ihren eingeschüchterten, gefügigen, waffenlosen Dorfnachbarn Tribut in Form von Nahrung oder Frauen zu erpressen. Die Waffe, mit deren Hilfe diese neue Gewaltherrschaft etabliert wurde, war (mit Verlaub, Herr Childe!) nicht der Kampfwagen der Bronzezeit, von dem man noch viele Jahrhunderte entfernt war, sondern eine weit primitivere, die Keule. Ein solcher Knüppel mit einem schweren Steinkopf, der sich dazu eignete, ein verwundetes Tier mit einem einzigen Schlag auf den Schädel zu töten, erwies sich gewiß als ebenso wirksam gegenüber eingeschüchterten, unbewaffneten Bauern oder dem gefangengenommenen Häuptling und den Kriegern eines rivalisierenden Stammes, wie sie als kauernde Gestalten auf erhalten gebliebenen Tafeln und Stelen erscheinen. Davon zeugt das Ende des Kampfes, den Marduk mit der urzeitlichen Göttin Tiamat ausfocht: »Mit seiner erbarmungslosen Keule zertrümmerte er ihren Schädel.«

Es ist daher nicht erstaunlich, daß aus der Zeit der politischen Vereinigung des oberen und des unteren Niltales, in der das ägyptische Königtum entstanden ist, Massengräber mit einer ungewöhnlichen Menge zertrümmerter Schädel stammen. Die Bedeutung dieser Waffe, besonders Zeit und Ort ihres Erscheinens, wurde sonderbarerweise übersehen. James Mellaart bemerkt, daß die Wirtschaft in Hacilar im sechsten vorchristlichen Jahrtausend durch einen starken Rückgang der Jagd und das Fehlen von Jagdwaffen gekennzeichnet ist; Keule und Schleuder aber haben überlebt. 

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Es ist daher kein Zufall, daß die Keule in nur wenig sublimierter Form als Zepter jahrtausendelang das Symbol königlicher Autorität und unangreifbarer Macht geblieben ist. Wenn das britische Parlament tagt, liegt ein gigantisches Exemplar auf dem Tisch des Vorsitzenden.

Soviel zu der Entwicklung, die zur Etablierung des Königtums geführt hat. Der nächste Schritt, der es auf jene Grundlagen stellte, auf denen es sich — mit kleinen Unterbrechungen — mehr als fünftausend Jahre hielt, gehört schon zur Geschichte oder vielmehr zur Religionsgeschichte, denn er bestand in der Anwendung übernatürlicher Kräfte zur Lenkung menschlichen Verhaltens.

Den Schlüssel zu dieser zweiten Stufe liefert uns die berühmte Tat von Menes, dem Vereiniger Ober- und Unterägyptens und ersten historischen Pharao — eine Tat, die von späteren Königen im Lauf der Geschichte oft wiederholt wurde: die Errichtung eines Tempels, der den Anspruch des Pharaos, der Sonnengott Atum-Re zu sein, bekräftigen sollte, und zwar in Memphis, an einer Stelle, wo zweifellos schon vorher ein Heiligtum gewesen war. Aus dem Dokument, das von diesem Ereignis berichtet, geht hervor, daß man schon damals an die Präexistenz eines allumfassenden Gottes, Ptah, glaubte, dessen Kräfte die Schöpfung durchdringen.

Zur Zeit, da das Königtum sich als einigender Faktor herausbildete, der die lokalen Grenzen sprengte, gab es bereits eine Vielzahl von Gottheiten, männliche und weibliche, große und kleine — »personifiziert« oder besser gesagt, »animalisiert« in Gestalt von Falken, Käfern, Kühen, Flußpferden und Löwen, jede mit anderem Charakter und anderen sozialen Funktionen, häufig auch mit einem anderen Aspekt der Umwelt verbunden. Aus dieser fruchtbaren, vielköpfigen Götterfamilie, mit ihrem Schwärm von entfernteren Verwandten in jedem kleinen Dorf, war der Sonnengott in Ägypten der vorherrschende geworden; und die neue Autorität des Königtums stützte sich nicht allein auf brutale Gewalt, sondern auf den Anspruch, die ewige Macht und Ordnung des Kosmos zu vertreten.

Hier entstand eine neue Art von Wissenschaft, von anderer Art als die scharfe Beobachtung und intime Vertrautheit, die die Domestizierung begünstigt hatten; sie basierte auf einer abstrakten, unpersönlichen Ordnung, auf Zählen, Messen und exakter Aufzeichnung — ohne deren frühe Entwicklung hätten so vollendete Monumente wie die Pyramiden nicht erbaut werden können. Die Tage zu zählen, den Mondzyklus und das Sonnenjahr zu beobachten, das Anschwellen und Übertreten des Nils vorher­zusehen — all das gehörte zu den Aufgaben der Priesterkaste. Diese neue Macht und Ordnung fand, wie bereits bemerkt, einen nützlichen symbolischen Ausdruck in der Einrichtung des ersten ägyptischen Sonnenkalenders.

Obwohl die astronomische Ordnung von dramatischen Legenden, sinnschweren Metaphern und infantiler Magie überlagert war, erfaßte sie alle Lebensbereiche.

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Die entstehenden Institutionen der Zivilisation waren machtbezogen, auf den Kosmos ausgerichtet, mechanisch reguliert und kontrolliert. Raum und Zeit, Macht und Ordnung wurden die Hauptkategorien einer göttlich gelenkten Existenz; die Bahnen des Mondes und der Sonne sowie große Ausbrüche von Naturgewalten, wie Flut, Sturm und Erdbeben, hinterließen tiefe Eindrücke in den Gemütern und erweckten, wie es scheint, zumindest in der herrschenden Minorität den Wunsch, es den Göttern gleichzutun und selber physische Macht auszuüben.

In dem altchinesichen Buch der Wandlungen (I Tsching) heißt es: »Wir mögen dem Himmel voraus sein, aber der Himmel wird seinen Lauf nicht ändern; wir müssen folgen und uns an seine Zeit und an seine Jahreszeiten anpassen.« Überall, früh und spät, war dies die Grundlage der neuen Lebensordnung und die Quelle einer noch strengeren Reglementierung. »Im alten China«, bemerkt Joseph Needham, »war die Bekanntgabe des Kalenders durch den Kaiser ein Recht, das der Ausgabe von geprägten Münzen mit Bild und Inschrift in (späteren) westlichen Staaten entsprach.«

Beide Formen waren Symbole rationaler Ordnung und physischen Zwanges und beide blieben bezeichnender­weise jahrtausendelang ein Monopol der Könige oder der Priester: Denn das Vorrecht, Münzen zu prägen und einheitliche Gewichte und Maße festzusetzen, ist ein Symbol der Staatssouveränität, während der Kalender, der heute fast überall gilt, von Julius Cäsar eingeführt und von Papst Gregor XIII. korrigiert wurde. Ohne diese von allen geteilte Ehrfurcht für die unerschütterliche kosmische Ordnung hätte den großen technischen Errungenschaften der frühen Zivilisation die mathematische Präzision und die physikalische Meisterschaft gefehlt, die sie auszeichnen.

Durch die Identifizierung des Königs mit der unpersönlichen und vor allem unerbittlichen Ordnung der Himmel erhielt die Königsmacht einen immensen Überschuß an Energie; die politische Autorität des Königs, auf Waffen und militärischen Zwang gestützt, wurde ungeheuer vergrößert durch die übernatürlichen Kräfte, die ihm zugeschrieben wurden. In Ägypten, wo die Königsmacht absolut und ihre Vergöttlichung am besten gesichert war, stützte sie sich zusätzlich auf eine enge Verbindung mit älteren Vorstellungen von den organischen Lebenskräften — Horus, der Sohn, und sein Vater Osiris waren zuerst Gottheiten dei Vegetation, des Ackerbaus und des Handwerks gewesen. In der Symbolik war der König ursprünglich ein Stier, die Inkarnation physischer Kraft und sexueller Fruchtbarkeit, im Unbewußten zweifellos mit der heiligen Kuh Hathor verbunden, die zugleich Rindergöttin und Mondgöttin war.

Mondgötter, Sonnengötter, Sturmgötter, so bemerkt Eliade, »basierten auf den Hierophanien des Himmels (hoch, hell, leuchtend, Himmel, Regen): Der sumerische Himmelsgott Anu wurde zum Hauptgott der Babylonier, und sein Tempel in Uruk wurde Himmelshaus genannt«.

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Diese Fixierung auf kosmische Kräfte war eine vernünftige Interpretation der menschlichen Existenz, der Abhängigkeit des Menschen von Naturereignissen, die er nicht beeinflussen konnte. Zwar wurden die paläolithische Identifizierung mit der Tierwelt und die neolithische Durchtränkung mit Sexualität beibehalten, aber die Himmelsreligionen schlugen einen erhabenen Ton an. Die Betrachtung des weiten Firmaments, das Bewußtsein großer Zeiträume kann in früheren Kulturen nur ansatzweise vorhanden gewesen sein: Abgesehen von runden Amuletten und geritzten Knochen gibt es in der Höhlenkunst kein erkennbares Anzeichen dafür.

Dieses neue Interesse am Erhabenen, Entfernten, Regelmäßigen, Vorhersagbaren und Berechenbaren fiel mit der Entstehung des Königtums zusammen; aber die älteren Welterklärungen wurden nicht so leicht aufgegeben. Im Gegenteil, die trügerischen Praktiken der sympathetischen und der verbalen Magie blieben weiterbestehen und wurden auf die Himmelsgötter übertragen; das Wort schien immer noch so wichtig, daß in einer Legende die Göttin Isis versucht, mit Hilfe der Magie Atums geheimen Namen zu erfahren, um sich Macht zu sichern. Der Turiner Papyrus aus der neunzehnten Dynastie (1350 bis 1200 vor Christus), in dem diese Legende enthalten ist, war selber eine Zauberformel, dessen Worte als Heilmittel gegen Schlangenbisse gesprochen wurden.

Doch schließlich setzten sich die Himmelsgötter durch. Die Himmelserscheinungen, mit zunehmender Sorgfalt und Exaktheit gemessen, bürgten für eine geordnete Welt, die zumindest teilweise über dem ursprünglichen Chaos oder der menschlichen Willkür stand. Als Hauptrepräsentant dieser himmlischen Mächte konnte der König überall, jedenfalls in seinem eigenen Herrschafts­bereich, die Ordnung aufrechterhalten. War die Ordnung einst vornehmlich auf das Stammesritual und die artikulierte Sprache beschränkt, so wurde sie nun universal.

Später übertrugen die Babylonier den Begriff der vorherbestimmten Ordnung auch auf die scheinbar regellosen Geschehnisse des täglichen Lebens: Sie berechneten die Bahnen und die Stellung der Planeten und bezogen sie auf die Geburtsstunde eines Menschen, um dessen ganzen Lebenslauf vorherzusagen. Die biographischen Angaben, die für eine solche Ermittlung notwendig waren, beruhten auf systematischer Beobachtung. Der wissenschaftliche Determinismus hat also ebenso wie die mechanische Reglementierung seinen Ursprung in der Institution des Gottkönigtums. Lange vor den ionischen Wissenschaftlern des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts wurden die fundamentalen mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen der Astronomie gelegt. Das also war die Konstellation rationaler Einsichten und irrationaler Vorstellungen, die die neue Technologie der Macht hervorbrachten.

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Bevor wir den Konsequenzen dieses Wandels nachgehen, wollen wir sehen, wie die gleichen Erscheinungen sich unter völlig anderen geographischen und sozialen Bedingungen auswirkten. Damit der Mythos des Gottkönigtums die Kräfte der Zivilisation mobilisieren und sich durch den aus ihm abgeleiteten Mythos der Maschine noch mehr erweitern konnte, mußte er imstande sein, über lokale Verhältnisse hinauszugehen und sich unterschiedliche Kulturelemente zunutze zu machen. Tatsächlich sickerte in späteren Zeiten das Königtum nicht nur in primitivere Stammesgesellschaften ein, sondern sein technisch-institutioneller Komplex breitete sich auf die eine oder andere Weise über die ganze Welt aus, von China und Kambodscha bis Peru und Mexiko.

Hier werde ich das Beweismaterial verwerten, mit dem Henri Frankfort so fachkundig umging.

 

   Mesopotamien liefert die Bestätigung  

 

In Mesopotamien entstand das Königtum ungefähr zur gleichen Zeit wie in Ägypten, obwohl sich in keinem der beiden Fälle ein genaues Datum feststellen läßt. Der alte sumerische König List läßt keinen Zweifel am Ursprung des Königtums: Es sei »vom Himmel herabgestiegen«. Das heißt, das Königtum war von Anfang an ein religiöses Phänomen, nicht bloß ein Ausdruck physischer Tapferkeit und organisierter Menschenführung, noch auch einer bloßen Erweiterung verehrter Ahnenautorität.

Im Königtum Sumer oder Akkad verbanden sich von Anfang an Autorität und Macht, Verständnis und Befehl - die gleichen Qualitäten, die Breasted als die Attribute des Sonnengottes nach 3000 vor Christus feststellte. Mit dieser neuen Funktion ging eine entsprechende Erweiterung des Zeitgefühls einher. Die ägyptische, die mesopotamische, die Hindu- und die spätere Maya-Religion, sie alle umfassen Jahrtausende; und einem einzigen König, Lugalbanda, wurde eine eintausendzweihundert Jahre dauernde Herrschaft zugeschrieben, was selbst für eine Dynastie eine lange Zeit gewesen wäre. Sogar wenn die Jahre in Wirklichkeit nur Monate gewesen wären, wie frühere Kommentatoren der Manethoschen Zeittafel annahmen, wäre dies immer noch eine sehr lange Zeitspanne. So sprach man also Königen nicht nur eine erweiterte kosmische Macht zu, sondern auch ein intensiveres und längeres Leben. Jede Dimension der Existenz war vergrößert, im Himmel wie auf Erden.

Gewiß, in Mesopotamien betrachteten sich die Könige, angefangen von Naram-Sin, nur zeitweise als Götter; Henri Frankfort, der weit ausholt, um die wirklichen Unterschiede zwischen der sumerischen und der ägyptischen Kultur zu unterstreichen, zählt dennoch fast zwanzig solche Fälle im Lauf von achthundert Jahren.

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Doch daß dieser Anspruch überhaupt erhoben wurde, zeigt, daß die Voraussetzungen in Wirklichkeit nicht allzu verschieden waren. Sicherlich hatte das Königtum überall etwas von Göttlichkeit an sich; alle Könige übten ihre außerordentliche Autorität »von Gottes Gnaden« aus, denn der König war ein notwendiger Vollstrecker göttlicher Gebote und auch der entscheidende Faktor für die Durchführung großer kollektiver Vorhaben, wie des Baus von Städten und von Kanälen.

Es ist bezeichnend, daß gerade in der dritten Dynastie von Ur — einer Periode starker Bautätigkeit — alle Könige außer dem Begründer der Dynastie Göttlichkeit beanspruchten. Dieses Faktum zeigt die entscheidende Verbindung zwischen dem Gottkönigtum und dem charakteristischen öffentlichen Arbeitsprogramm der Megamaschine. Kleine Arbeiten konnten kleinen Leuten überlassen werden, doch große Aufgaben waren Sache des Königs, kraft seiner besonderen Machtbefugnisse, vor allem der einzigartigen Macht, eine kolossale Arbeitsmaschine zu schaffen.

Wie in vielen primitiven Stammesgemeinschaften, die in den letzten Jahrhunderten untersucht wurden, und wie in späteren historischen Staaten wechselte der König zwischen einer sakralen und einer weltlichen Rolle hin und her; einmal war er religiöses, ein andermal militärisches Oberhaupt. Diese Dualität ist bei verschiedenen primitiven Stämmen heute noch zu finden und zieht sich durch die ganze Geschichte der Zivilisation. Bis heute ist der Träger der britischen Krone das nominelle Oberhaupt der Staatskirche, deren erzbischöfliche Sanktion wiederum eine unerläßliche Voraussetzung der Königswürde ist - wie Edward VIII. entdecken mußte. Das war seit jeher die archetypische Situation. So nahm auch der Emporkömmling Napoleon, um seine Legitimität als Kaiser zu bekräftigen, bei seiner Krönung die Dienste des römischen Pontifex in Anspruch — wenngleich er, als er die Krone den Händen des Papstes entriß, um sie sich selber aufs Haupt zu setzen, ein Sakrileg beging, von dem jeder alte Babylonier ihm hätte sagen können, daß es den Fluch des Himmels auf seine ehrgeizigen Pläne bringen würde.

Sowohl für die Errichtung als auch für die Erhaltung des Königtums war eine Infusion göttlicher Macht notwendig. Aber der ständige Verkehr mit dem Himmel, den die Führungsrolle des Königs erforderte, bedurfte der Hilfe von Priestern, Wahrsagern, Magiern, Traumdeutern und Sterndeutern, und diese wiederum waren in ihrem eigenen Status und Amt von der weltlichen Macht und dem Reichtum des Königs abhängig.

Dieses Bündnis zwischen königlicher Militärgewalt und oft zweifelhaften Repräsentanten übernatürlicher Mächte nahm eine ähnliche Allianz von Wissenschaftlern und Vertretern der mathematischen Spieltheorie mit höheren Regierungsbehörden von heute vorweg; und sie war ähnlichen Korruptionen, Fehlkalkulationen und Halluzinationen unterworfen.

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Immer wieder beeinträchtigte die Abhängigkeit von unverifizierbaren Himmelsbotschaften die Fähigkeit, in der Schlacht rationale Entscheidungen zu treffen, etwa auf der Grundlage offenkundiger, greifbarer Tatsachen. Oft genug zählten die verworrenen Ratschläge des Wahrsagers mehr als das professionelle Wissen der Soldaten, wie die Mari-Briefe bezeugen.

Für die theologische Basis des Königtums zeugt also Mesopotamien ebenso klar wie Ägypten, bei allen historischen und geographischen Unterschieden in der Kultur. Und die Worte der frühesten Könige beider Länder finden ihren Widerhall in der ganzen Geschichte, sowohl in den Aussprüchen legitimer Könige wie Ludwig XIV. als auch in den nicht minder extravaganten Behauptungen eines Hitler, eines Stalin oder eines Mao, denen unterwürfige und bewundernde Anhänger Allwissenheit andichteten. Die Worte, die der junge babylonische Gott Marduk aussprach, bevor er zum Hauptverteidiger seiner Mitgötter gegen die alte Göttin der Urgewässer, Tiamat, wurde, hatten die Könige auszusprechen gelernt, lange bevor Marduk seinen Platz im babylonischen Pantheon einnahm. Die Götter sind in Wirklichkeit die vergrößerten Könige des Unterbewußtseins, während die Könige zu personifizierten Traumgöttern wurden, die sichtbar über das Wachleben herrschen und ihren Anspruch auf unverletzliche Souveränität auf den gesamten Staatsapparat übertragen.

Als Bedingung seiner Machtübernahme besteht Marduk darauf, daß seine Befehle von den anderen Göttern unbedingt befolgt werden. »Mein Wort soll an eurer Stelle die Schicksale bestimmen; unabänderlich soll sein, was ich hervorbringe; weder widerrufen noch geändert werden soll der Befehl, der von meinen Lippen kommt ...« Diese Worte sollte man sich merken. Sie geben die Bedingungen bekannt, unter denen der neue kollektive Mechanismus ins Leben gerufen wurde.

Diese neue Betonung der uneingeschränkten Befehlsgewalt war, wie es scheint, in gewissem Maße eine notwendige Reaktion auf die Unruhe und die Schwierigkeiten, die sich mit der Bevölkerungszunahme vervielfachten. Geordnete Verhältnisse und Sicherheit wurden nun zu einem politischen Erfordernis; denn während kleine Volksgruppen weiterwandern können, wenn sie bedroht sind, ist es nicht möglich, eine ganze Stadt oder einen dichtbesiedelten Landstrich zu räumen, wenn sie zu bestimmten Jahreszeiten von Überschwemmungen oder von Dürre und Hungersnot heimgesucht werden. 

Die Probleme der Flußregulierung und der Behebung von Flutschäden, der Verteilung von Wasser für Bewässerungszwecke, der jährlichen Speicherung von Nahrungsmitteln in ausreichender Menge, um eine Hungersnot zu vermeiden, ehe die neue Ernte eingebracht ist — all das ging über die Kräfte lokaler Gemeinschaften. Es gab ein echtes Bedürfnis nach zentralisierender Autorität in diesen großen Flußtälern; und mangels einer rationaleren Autorität entsprach das Königtum diesem Bedürfnis.

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Wenngleich der neolithische Ackerbau eine bis dahin nicht gekannte Fülle an Nahrungsmitteln produzierte, so brachte gerade dieser Überfluß neue Ängste hervor. »In der ganzen Geschichte Mesopotamiens glaubte man, daß das Königtum nicht Begleiterscheinung einer geordneten Gesellschaft war, sondern Produkt von Angst und Verwirrung«, sagt Frankfort. Doch ich kenne Fälle von Freunden, die einmal sehr arm waren und dann zu Wohlstand gelangten, und habe beobachtet, daß Reichtum und Sicherheit sie in Ängste versetzen konnten, die ihnen unbekannt waren, als sie nicht wußten, woher sie das Essen für den nächsten Tag nehmen würden.

Während es in Mesopotamien oft große Naturkatastrophen gab, angefangen mit der Sintflut der biblischen Geschichte, kannte selbst das glückliche Ägypten solche Sorgen, ganz abgesehen von den sieben mageren Jahren in der biblischen Josephslegende. Ägypten liefert noch andere dokumentarische Hinweise auf Mißernten und Hungersnöte, nicht nur durch Heuschreckenplagen, sondern auch durch ungenügende Sommerflut des Nils. In solchen Krisen bedurfte es einer unanfechtbaren Autorität, die die Arbeitskräfte vieler Gemeinden richtig einsetzen und die Vorräte gleichmäßig verteilen konnte; und in dem Maße, als diese Bemühungen Rettung brachten, konnte der Herrscher, der die Verantwortung übernommen hatte, Dankbarkeit ernten und bei anderen Gelegenheiten auf Unterstützung zählen.

Die Assoziation von Königtum mit Besorgnis, Angst und Krise hat sich leider sehr lange erhalten. Thorkild Jacobsen hat festgestellt, daß die älteste bekannte politische Institution, die durch einen mesopotamischen Text nachgewiesen werden konnte, die Stadtversammlung aller freien Männer war. Diese Versammlung übertrug die Vollmacht, die laufenden Angelegenheiten zu behandeln, einer Gruppe von Ältesten; in Notzeiten aber wählte sie einen König, der »für eine begrenzte Zeit die Verantwortung« übernahm. Jahrtausende später schilderte Herodot eine ähnliche Delegierung von Macht bei den Mediern und Persern; die Römer bestellten, wenn die Gemeinschaft bedroht war, einen Diktator auf Zeit; und die gleiche zeitweilige Konzentration der Macht in einem »nationalen Notstand« zeichnet immer noch die konstitutionellen Vorrechte des Präsidenten der Vereinigten Staaten aus, obwohl erst in jüngster Zeit ein Präsident es gewagt hat, einen Notfall vorzutäuschen, um solche Macht auszuüben und seine kumulativen Fehlurteile sowie sein inhumanes Vorgehen in Vietnam zu rechtfertigen.

Die solcherart im Königtum konzentrierte Macht schuf ihrerseits eine nie versiegende Quelle neuer Krisen in der Institution des Krieges. Überall hatte der Krieg den Vorrang, selbst vor der Jagd, dem wichtigsten Vorrecht und der Haupttätigkeit des Königs.

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Denn bei der Herstellung von Gesetz und Ordnung auf dem geheiligten Territorium ihrer Götter kamen die Könige in Konflikt mit anderen Königen und fremden Göttern, die ebenso anspruchsvoll waren und die gleiche Art blinder Treue und ehrfürchtigen Gehorsams forderten. Allzu oft waren sie versucht, ihre überlegene Macht zu demonstrieren, indem sie in Nachbarstaaten eindrangen und deren Einwohner ausraubten.

Selbst wenn die Natur es mit einer Gemeinschaft gut meinte, war stets die von Menschen geschaffene Katastrophe des Krieges zur Hand, um Chaos anzurichten und die absolute Macht des Königs zu stützen. Konflikte zwischen Städten um Wasserrechte und Ländergrenzen kommen in den Chroniken von Sumer und Akkad häufig vor; doch neben diesen Ansprüchen, die durch vernünftige Kompromisse hätten geregelt werden können, gab es die irrationalen Bestrebungen ehrgeiziger und tyrannischer Götter, völlige Unterwerfung zu erzwingen.

Hier untermauert wiederum Jacobsen die Interpretation Frankforts: »Eine geordnete Welt ist (für die Mesopotamier) undenkbar ohne eine höhere Autorität, die ihren Willen durchsetzt.« 

Man kann Jacobsens Betonung des Glaubens an die höhere Autorität mit einem Zitat aus der ägyptischen Satire über das Handwerk belegen: »Es gibt kein Handwerk ohne Meister.« Der Mesopotamier ist überzeugt, daß die Beamten immer recht haben, oder daß es zumindest keinen Sinn hat, mit ihnen zu streiten. »Der Befehl des Palastes, wie der Befehl Anus, kann nicht geändert werden. Das Wort des Königs gilt; seine Gebote können ebensowenig geändert werden wie die eines Gottes.« Diese Worte erinnern an die heutigen totalitären Staaten, die demokratischen wie die kommunistischen.

Dieses Diktum — der erste klare Ausdruck dessen, was im modernen politischen System als Parteilinie oder Konsens bekannt ist — verringert in diesem Zusammenhang die Bedeutung der vielen Unterschiede zwischen der antiken Zivilisation am Nil und jener an Euphrat und Tigris. In beiden Fällen übte der König gottähnliche Macht aus; und vom pragmatischen Standpunkt aus spielt es keine Rolle, daß er in Ägypten als Gott an sich galt, in Mesopotamien dagegen gewöhnlich nur als »Statthalter«, allerdings mit der »Vollmacht« ausgestattet, im Namen Gottes zu handeln, solange sein Glück anhielt. Seine Aufgabe war es, am ständigen Kampf zwischen Ordnung und Chaos teilzunehmen, der, wie Ephraim Speiser bemerkte, »das Schicksalsdrama war, das sich an jeder Jahreswende erneuerte«.

Angesichts solch furchtbarer Sorgen und solch gewaltsamer Mittel zur Befreiung von ihnen ist es nicht erstaunlich, daß das Dorf sowohl seine Autonomie als auch seine relative Selbstgenügsamkeit diesen höheren Mächten auslieferte: dem Gottkönig und den Beamten des Staates, den Statthaltern und den Steuereintreibern, die rücksichtslos die Befehle des Königs ausführten. Die verstreuten Dörfer erhielten ihre Anweisungen von den Herrschaftszentren.

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Nur wer von den Göttern zum König bestimmt war, konnte auf Erden solch bedingungslosen Gehorsam fordern; nur wer diesen anmaßenden Anspruch gegen Zweifel oder aktiven Widerstand mit Waffengewalt durchsetzen konnte, vermochte die Gewohnheit der Selbstverwaltung zu brechen, die kleine Gemeinschaften auf der Grundlage überlieferter Bräuche und ihrer begrenzten Fähigkeiten, sich zu beratschlagen und nach gesundem Menschenverstand zu handeln, entwickelt hatten.

Gesunder Menschenverstand war das, was dem Königtum fast ex definitione fehlte: Wenn die Befehle des Königs ausgeführt waren, wagte keiner ihm offen zu sagen, wie sie sich ausgewirkt hatten. Mit der absoluten Macht, die die Königswürde verlieh, kamen Arroganz, Rücksichtslosigkeit, Starrheit, Zwang und Uneinsichtigkeit, wie keine kleine Gemeinschaft sie bei irgendeinem ihrer Angehörigen geduldet hätte - wiewohl man die aggressiven und unmenschlichen Eigenschaften, aus denen sich eine so ehrgeizige Führungsweise ergibt, überall antreffen kann, wie Margaret Mead bei den Mundugumors herausfand, deren Führer von der Gemeinschaft als »wirklich böse Männer«, als aggressiv und gierig nach Macht und Prestige angesehen werden.

Sobald aber das Königtum und die Institutionen, die es stützten, erst einmal fest etabliert waren, blieben sie das politische Hauptmodell der zivilisierten Gesellschaft bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts; und im Lauf von fünftausend Jahren breiteten sie sich auf weit primitivere Stammesgruppen aus, wie die Schilluks in Afrika, wo alle magischen Vorschriften und ideologischen Voraussetzungen intakt geblieben sind, fast in der gleichen Form wie in den ersten Anfängen, zusammen auch mit derselben Rasse von Krummhornrindern, an denen die alten Ägypter ihre Freude hatten.

Sofern das Königtum mit der Zeit ein wenig humaner, moralischer und auf bescheidenere Dimensionen reduziert wurde, geschah dies weitgehend durch den hartnäckigen Widerstand der Dorfgemeinschaften, deren Lebensgewohnheiten von den in die Städte ziehenden Dorfbewohnern zum Teil dorthin übertragen wurden. Wir werden sehen, daß unter der Oberfläche der Kampf zwischen einer demokratischen und einer autoritären Technik sich durch die ganze Geschichte zieht.

 

   Die Technik göttlicher Herrschaft  

 

Leider stammen die meisten Angaben über das Königtum aus Dokumenten, die erst Jahrhunderte, sogar Jahrtausende nach den ursprünglichen Ereignissen geschrieben wurden. Nimmt man die untersten Schichten der Stadt Jericho, so entdeckt man, daß es schon vor jeder sichtbaren Spur eines Königtums eine Wirtschaft gegeben hat, deren Überschuß ausreichte, um eine große Stadt zu bauen und ihre Einwohner permanent zu beschäftigen.

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Es ist daher anzunehmen, daß die »demokratische Urgemeinschaft«, wie Frankfort sie nennt, ohne Königtum ein ziemlich hohes Niveau technischer Kooperation und Leistungsfähigkeit erreicht hat. Möglicherweise geschah dies unter einer etwas milderen Regierungsform, die Mittel der Überzeugung anwendete, wie sie, nach Kathleen Kenyons Hypothese, in dem milden, günstigen Klima entstanden sein mochte, das in jenem Gebiet unmittelbar nach dem Schmelzen der Gletscher geherrscht hatte. Die jüngsten Ausgrabungen von Catal Hüyük in der Türkei sprechen ebenfalls für diese Hypothese.

Bevor die eigenen spezialisierten Institutionen des Königtums, die auf Zwang und Bestrafung beruhten, endgültige Form angenommen hatten, waren sie als Mutation in Ackerbaugemeinschaften entstanden, in denen es noch keine permanente Arbeitsteilung oder strenge Kastentrennung gab, nur ein Minimum an ökonomischer Differenzierung durch Berufsspezialisierung, Privateigentum oder Sklaverei — ein Zustand, der mehr oder weniger Hesiods goldenem Zeitalter entspricht. Wenn das stimmt, dann ließe sich daraus ein allgemeines Merkmal des frühen Königtums erklären, das viel später in einer Kultur der Neuen Welt, jener der Inkas, auftauchte, nämlich sein autoritärer Kommunismus: Die Staatsmacht übertrug wohlwollend die kollektive Arbeitsweise und die Verteilung der Arbeitsprodukte, wie sie im Dorf praktiziert wurde, auf das größere Gemeinwesen. Das gleiche Wohlwollen und derselbe Typus von Zwangsorganisation bilden im Grunde die Basis des modernen Kommunismus.

Als das Königtum an die Stelle der selbständigen Ackerbaugemeinschaften trat, übernahm die zentrale Macht — der Tempel oder der Palast — deren lokale Funktionen im großen Maßstab, öffentliches Eigentum blieb öffentliches Eigentum, doch gehörte es nun dem Gott, in der Person des Königs. Und verteilte der Herrscher dieses Eigentum oder neue Ausbeute unter seinem Gefolge, dann wurde es privates Eigentum, das seither in der ganzen Geschichte mit der Aura königlicher, wenn nicht göttlicher Heiligkeit ausgestattet ist. Der vom Tempel festgesetzte Anteil des Gottes am Bodenertrag war die erste Forderung an das Privateigentum — ein alter Brauch, der im Zehent des christlichen Mittelalters seine Fortsetzung fand. Aber jedes Mitglied der Gemeinschaft hatte seinen üblichen Anteil. Solange man den Göttern diente und dem König gehorchte, genoß man Sicherheit und hatte Teil an der göttlichen Wohltätigkeit. Der heutige Wohlfahrtsstaat hat viele dieser Charakteristika bewahrt — oder sollte man sagen »wiedergewonnen«?

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Dieser staatlich verwaltete Kommunismus scheint die früheste Stufe des Königtums zu kennzeichnen; der Boden, die öffentliche Tätigkeit und öffentliches Recht fallen unter die Kontrolle des Königs, und wenn nötig, ersetzen dessen Edikte und Gesetze die uralten Bräuche der Gemeinschaft. Denn durch den König genießt die Gemeinschaft die Gunst der Götter; und solange die Leute ihre Steuer in Form von Getreide und Arbeit entrichten, ist ihre Sicherheit garantiert. Dieser elementare Kommunismus ist für Ägypten und Mesopotamien, und auch für Peru, nachgewiesen; und da das Königtum auf solch traditionellen Formen beruhte, sie nur erweiterte und sicherstellte, erklärt das vielleicht, wieso die härteren Seiten des Systems akzeptiert wurden, obwohl nur allzu bald schreiende Ungleichheiten zwischen Sklaven, Freien und Adeligen die Ausbreitung des Privateigentums begleiteten.

Was man heute noch die staatliche Souveränität nennt, bewahrt unvermindert den ursprünglichen königlichen Anspruch auf Macht und Privilegien, Eigentumsrecht und unbedingten Gehorsam, zusammen mit Strafen und Opfern, wie sie der Herrscher im Namen der nationalen Wohlfahrt zu verhängen für angemessen hält.

Diese Solidarität zwischen einem mit göttlicher Macht ausgestatteten Herrscher und seiner Gemeinschaft erreichte klassischen Ausdruck in Ägypten; wie Frankfort es darstellt: »Was die Menschen von ihren Hirten erwarteten, war ..., daß Pharao von der absoluten Macht, zu der ihn seine Göttlichkeit berechtigte und die ihn wie nichts anderes befähigte, für das Wohl der ganzen Gemeinschaft zu sorgen, vollen Gebrauch mache.« Aber dieses Verhältnis gilt gleichermaßen, wenn auch nicht so maßlos, anderswo. Wilsons Ausspruch über Ägypten: »Es war der König, der Tempel und Städte erbaute. Schlachten gewann, Gesetze schuf und Spenden für die Grabstätten seines Adels leistete«, wurde von Kramer wiederholt, als er die Handlungen des Königs von Lagasch beschrieb. Selbst die traditionelle Redeweise der Könige zeigt dies, wie etwa in Shakespeares Heinrich V., wo die Herrscher einander mit »England« und »Frankreich« ansprechen.

Das Verhältnis zwischen König und Gemeinschaft überwog die Sippen-, Familien- oder Nach­bar­schafts­loyalität; und es erklärt, wieso Könige oder selbst tyrannische Usurpatoren so oft die Unterstützung des Volkes fanden, im Gegensatz zu kleineren Bewerbern um Macht und Autorität, wie Magnaten und Adelige. Unter diesem Zauber der absoluten Macht wurden Funktionen, die später die Maschine übernehmen sollte, zuerst allein vom Königtum konzipiert und ausgeführt.

Anfänglich war diese Macht mit der Idee der Amtswaltung für die Götter und der Verantwortung ihnen gegenüber verbunden. Um 2000 vor Christus konnte kein Pharao auf Unsterblichkeit hoffen, wenn er nicht der Sache der Rechtschaffenheit und Gerechtig­keit diente (Ma'at). In einer Schrift aus dem mittleren Königreich erklärt Atum: »Ich habe die Überschwemmung gemacht, auf daß der arme Mann ebenso sein Recht daran haben möge wie der große Mann. Ich habe alle Menschen gleich gemacht.«

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In dieser Erklärung steckt eine Anerkennung der beharrlichen Forderung, die Macht nicht nur zu legalisieren, sondern auch zu moralisieren; sie in Grenzen zu halten und ihr die Achtung der Menschenwürde abzuringen.

So kehrte das göttliche Haupt dieser Hierarchie, zumindest im Prinzip, zu den egalitären und moralischen Idealen des Dorfes zurück. Gewiß, dieses Verhältnis war immer ambivalent: Die Güte des Herrschers, die in ägyptischen Schriften betont wird, geht einher mit seiner ausgesprochenen Fähigkeit, Schrecken zu verbreiten und Tod zu bringen. Doch die Erinnerung an die Attribute der Dorfgemeinschaft, die im frühen Königtum noch erhalten waren, wog vielleicht teilweise die täglichen Erfahrungen persönlicher Launen und kollektiver Härte auf. Allzu oft identifizierten sich, wie die Dokumente zeigen, die Beamten, die die Anordnungen des Königs ausführten, mit der Quelle der Autorität und übertrieben die königliche Arroganz, ohne sie durch königliche Gnade zu kompensieren.

Viele primitive Gemeinschaften arbeiten sehr wirkungsvoll zusammen, indem sie an überlieferten Gewohnheiten und uralten Sitten festhalten: Konformität ist der Preis gegenseitiger Toleranz, und Verfemung ist die härteste Strafe, die gewöhnlich verhängt wird. Doch um die Ausführung königlicher Befehle über eine lange Kette von Menschen, die oft weit entfernt vom Machtzentrum sind, zu sichern, bedurfte das Königtum einer strikteren Form der Unterwerfung. Sollte die Organisation des Staates reibungslos als eine Einheit funktionieren, dann mußte die Konformität automatisch und vollständig sein.

Dieser mechanische Gehorsam wurde durch verschiedene symbolische und praktische Mittel erreicht, vor allem durch die Herstellung einer unüberwindlichen psychologischen Distanz zwischen dem König und allen anderen um ihn. Seine Person war nicht nur unverletzbar und unberührbar; alle, die vor ihm erschienen, mußten sich zu Boden werfen, als wären sie tot, wohl wissend, daß nichts zwischen ihnen und dem Tod stünde, wenn sie den König beleidigten. Vor dem König kroch der höchste Beamte wie ein Sklave; so heißt es in einem der Tell-el-Amarna-Briefe (etwa 1370 vor Christus): »Vor die Füße des Königs, meines Herrn, des Sonnengottes vom Himmel, werfe ich mich siebenmal siebenmal nieder, aufs Antlitz und auf den Rücken.« Der demütige Bittsteller war »der erste, auf den du deinen Fuß setzest ...«

Solche Unterwürfigkeit, solch kriecherische Selbsterniedrigung hatte nicht ihresgleichen unter den bescheidenen Angehörigen einer Dorfgemeinschaft, bevor zivilisierte Institutionen von oben eindrangen. Doch dieser Drill ermöglichte es, menschliche Wesen in Dinge zu verwandeln, die auf Befehl des Königs zu reglementierter Zusammenarbeit gebracht wurden, um die spezifischen Aufgaben, die man von ihnen verlangte, auszuführen, so sinnlos sie für ihr Familienleben und so unvereinbar sie mit den normalen Dorfgewohnheiten sein mochten.

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Nicht das kleinste Übel dieses Systems war das Gefühl der Erniedrigung, das dadurch entstand, daß die Beamten verpflichtet waren, jeden Befehl einer übergeordneten Autorität sklavisch zu befolgen. M. J. Finley verweist darauf, daß freie Bürger im späteren Griechenland gerade aus diesem Grunde sich heftig dagegen wehrten, höhere Verwaltungsämter zu übernehmen; und infolgedessen wurden sogar führende Verwaltungs- oder militärische Positionen Sklaven anvertraut, die zu gut auf Gehorsam gedrillt waren, um ihre Erniedrigung zu empfinden. Für individuelle Initiative und Verantwortung war in der Megamaschine kein Platz; denn eine solche Freiheit hätte bedeuten können, daß falschen Aufträgen Widerstand geleistet oder unmoralischen nicht gehorcht würde. Die hingebungsvollen Mitglieder der Megamaschine waren stets Eichmanns: doppelt degradiert, weil ihrer Degradierung nicht bewußt.

Mit den Ideen der Unterwerfung und des absoluten Gehorsams, die für den Aufbau einer menschlichen Maschine von entscheidender Bedeutung waren, kamen jedoch auch die Möglichkeiten des Ungehorsams, des Verrats und der Rebellion. Um zu gewährleisten, daß die himmlischen Sanktionen des Königtums gebührend respektiert werden, muß das Königtum letztlich bereit sein, zur Gewalt zu greifen: nicht einfach zur nackten Gewalt, sondern zu Gewalt in grausamer, sadistischer Form, wiederholt bis zu alptraumhaften Grausamkeitsorgien getrieben, so entmenscht wie jene, deren Zeugen wir im letzten Menschen­alter waren — die ausgeklügelten Greuel, die von »zivilisierten« Regierungen in Warschau, Auschwitz, Tokio und Vietnam verübt wurden.

Wiederum dienten hier die Götter den Königen als Vorbild; denn Marduk benützte, als er Tiamat, seine alte Rivalin, bekämpfte, den »bösen Wind«, den Wirbelwind, den Orkan, er gab seinem Sturmwagen ein Gespann: »den Töter, den Gnadelosen, den Trampler, den Schnellen« ... »Scharf waren ihre Zähne und voll Gift«. Auch dieser Charakterzug war nicht nur den notorisch gewalttätigen und grausamen Babyloniern, Assyrern und Hethitern eigen. In den Metaphern, die in der ältesten Pyramiden­inschrift zur Beschreibung eines vergöttlichten Pharaos verwendet werden, stößt man auf eine ungezügelte kannibalische Lust in der Ausmalung der Reichweite und Macht des Königs. In dieser Darstellung erscheint das Königtum faktisch als menschen­fresserische Einrichtung. Um ein Gegenstück zu diesen erschreckenden Symbolen zu finden, muß man bis zu einem Dramatiker unserer Tage gehen, der eine Frau die Genitalien ihres Liebhabers auffressen läßt.

Damit meine Charakterisierung nicht übertrieben erscheine, möchte ich sie mit Ermans Übersetzung untermauern:

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»Er ist es, der Menschen verschlingt; der von den Göttern lebet, der die Boten besitzet und die Botschaften ausschicket ... Der Mit-allen-Messern-Rasende ... er, der sie erdrosselt, der ihre Eingeweide herausreißet, der Bote, der den Tod bringet... Er ist es, der ihren Zauber verzehret und ihre Mächtigkeit verschlinget. Ihre Großen sind für sein Morgenmahl, ihre Mittleren für sein Abendmahl, ihre Kleinen für sein Nachtmahl... Er hat aufgebrochen ihr Rückenbein und ihr Rückenmark, er hat die Herzen der Götter weggenommen, er hat die Rote Krone und die Grüne Krone verschlungen. Er nähret sich von den Lungen der Weisen: er stillet seinen Hunger mit ihren Herzen und ihrem Zauber.«

Diese Charakterisierung als hübschen rhetorischen Einfall abzutun, heißt die Augen vor dem sozialen Kontext der Worte verschließen. Brutaler Zwang war die notwendige Begleiterscheinung der ausgedehnten Organisation und der extensiven Ordnung, die das Königtum einführte. Herodots Geschichte ist voll von abstoßenden Beschreibungen der rasenden Gewalt­tätigkeit von Königen, so etwa die Episode, die er von Kambyses erzählt. Einer von des Königs nächsten Freunden am Hof sagt ihm, er trinke mehr Wein, als ihm guttue. Um zu beweisen, daß der Wein keine Wirkung auf ihn habe, trinkt Kambyses noch zügelloser als zuvor, dann spannt er einen Bogen und zielt auf seines Freundes Sohn, der am anderen Ende des Saales sitzt, trifft ihn mitten ins Herz und reißt dann noch das Herz des Knaben heraus, um dem Vater zu zeigen, daß sein Pfeil es durchbohrt hat.

Die primitive Gesellschaft kennt im allgemeinen nur zwei schwere Verbrechen: Bruch des Inzesttabus und Mord. Jedoch mit dem neuen Verwaltungs- und Gesetzgebungssystem, das vom Königtum eingeführt wurde, stieg die Zahl der als Verbrechen geltenden Handlungen, und die Strafen wurden drakonischer. Ungehorsam gegenüber den Befehlen einer höheren Instanz war die schlimmste aller Sünden. Und sogar eine »kecke Antwort« war ein schweres Vergehen. Wenn wir nach der Praxis der Cheyenne-Indianer urteilen dürfen, mag dies ein Merkmal der paläolithischen Jägergemeinschaft gewesen sein; denn bei ihnen war eines der drei strafbaren Verbrechen Ungehorsam gegenüber dem Befehl des Führers bei der Büffeljagd.

Woolley führt ein hethisches Gesetz an: »Und wann immer ein Diener seinen Herrn ärgert, töten sie ihn oder verletzen seine Nase, seine Augen oder seine Ohren.« Verstümmelungen dieser Art waren die bevorzugten Strafen. Vergleicht man diese Praktiken mit den freundlichen, menschlichen Bräuchen noch existierender primitiver Völker, dann versteht man, daß der repressive Machtkult ein Maß an Grausamkeit und Erniedrigung einführte, das den früheren Gruppen unbekannt war, die körperliche Verstümmelung nur sich selbst zufügten, und dies vor allem aus magischen Motiven.

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Selbst unter den relativ milden Gesetzen Hammurabis war die systematische Bestrafung durch Folter und Körperverstümmelung sanktioniert, während derartiges der archaischen Kleingemeinschaft vor der Eisenzeit fremd war. Die sadistischen Methoden erstreckten sich auch auf die Erziehung und hinterließen Spuren, die erst heute beseitigt werden. Beamte mit Peitsche, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, waren laut Kramer eine Standardeinrichtung der sumerischen Schule; und im Ägyptischen bedeutet das Wort lehren auch strafen. Diese Gleichsetzung hielt sich bis in unsere Zeit, denn Eltern, die ein Kind bestraften — bevor die Permissivität, mit einer Art umgekehrtem Sadismus, der alle bestraft außer das Kind, ins andere Extrem verfiel —, sagten häufig: »Ich werde dich lehren, zu gehorchen!«

Abgesehen von Mord und Vergewaltigung gehen die schlimmsten Verbrechen, die von der zivilisierten Autorität bestraft werden, auf die »unentschuldbare Sünde« des Königtums zurück: Ungehorsam gegenüber dem Herrscher. Mörderischer Zwang war die königliche Formel, um Autorität zu etablieren. Gehorsam zu sichern. Beute, Tribut und Steuern einzutreiben. Im Grunde war jede Königsherrschaft ein Terrorregime. Mit der Ausbreitung des Königtums wurde dieser Terror zu einem integralen Bestandteil der neuen Technologie und der neuen Überflußökonomie. Kurz, das verborgene Gesicht dieses schönen Traums war ein Alptraum, den die Zivilisation bis heute nicht abzuschütteln vermochte.

 

   Zivilisation und »Zivilisation«  

 

Mit dem Königtum wurde die Macht als Abstraktion, die Macht als Selbstzweck zum Hauptmerkmal der »Zivilisation«, im Gegen­satz zu allen frühen Normen und Formen der Kultur.

Zivilisation, noch immer häufig als Wort verwendet, das Lob und Bewunderung ausdrücken soll im Vergleich zu dem, was gewöhnlich als Wildheit und Barbarei bezeichnet wird, gilt allgemein als Synonym für Gesetz, Ordnung, Gerechtigkeit, Bildung, Höflichkeit und Vernunft; und in unserer Zeit impliziert es wachsende Bemühungen, Kunst und Wissenschaft zu fördern und die Lage der Menschen zu verbessern, durch ständigen Fortschritt in der Technik wie auch in den Regierungsmethoden. All diese Ausdrücke der Bewunderung und des Lobes, die im achtzehnten Jahrhundert selbstverständlich und gerechtfertigt erschienen, außer einem vereinzelten Dissidenten wie Rousseau, haben heute einen ironischen Klang bekommen; bestenfalls entsprechen sie einer Hoffnung und einem Traum, die erst erfüllt werden müssen.

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Hier und von nun an verwende ich den Ausdruck »Zivilisation« in Anführungszeichen in einem viel engeren Sinn: um jene Institutionen zu kennzeichnen, die sich erstmals unter dem Königtum herausgebildet haben. Ihre Hauptzüge, in wechselndem Maß in der ganzen Geschichte vorhanden, sind die Zentralisierung der politischen Macht, die Klassentrennung, die lebenslange Arbeitsteilung, die Mechanisierung der Produktion, die Vergrößerung der militärischen Macht, die wirtschaftliche Ausbeutung der Schwachen und die allgemeine Einführung der Sklaverei und der Zwangsarbeit für produktive wie für militärische Zwecke.

Diese Institutionen hätten sowohl den ursprünglichen Mythos des Gottkönigtums als auch den abgeleiteten Mythos der Maschine vollständig diskreditiert, wären sie nicht von einer Reihe kollektiver Merkmale begleitet gewesen, die tatsächlich Bewunderung verdienen: die Erfindung und Führung der schriftlichen Chronik, die Entwicklung der bildenden Kunst und der Musik, das Bestreben, die Kommunikation und den Wirtschaftsverkehr weit über den Bereich der lokalen Gemeinschaft hinaus auszudehnen; schließlich das Ziel, allen Menschen die Entdeckungen, Erfindungen und Schöpfungen zugänglich zu machen, die Werke der Kunst und des Geistes, die Werte und Ziele, die jede einzelne Gruppe hervorgebracht hat.

Die negativen Einrichtungen der »Zivilisation«, die jedes Blatt der Geschichte beschmutzt und mit Blut besudelt haben, hätten nie solchen Bestand gehabt, wäre nicht die Tatsache, daß ihre Vorzüge, obwohl für die herrschende Minderheit bestimmt, letztlich der ganzen menschlichen Gemeinschaft zugutekamen und tendenziell die Entstehung einer universalen Gesellschaft förderten, die dank ihrer Größe und Diversität weit bessere Entwicklungsmöglichkeiten hatte. Sogar unmittelbar zogen ihre Symbole vielleicht jene an, die nur Beobachter dieser Errungenschaften waren. Diese universale Komponente war angesichts der kosmischen Grundlagen der Königsmacht von Anfang an vorhanden; doch die Bemühungen, eine universale Gesellschaft zu schaffen, führten erst in unserer Zeit zum Erfolg, weil früher die technischen Voraussetzungen für schnellen Transport und rasche Kommunikation fehlten.

Doch den Anspruch auf Universalität haben viele, von Naram-Sin bis Kyros, von Alexander bis Napoleon, wiederholt erhoben; einer der letzten allmächtigen Monarchen, Dschingis Khan, proklamierte sich selber zum Alleinherrscher der ganzen Welt. Diese Prahlerei war zugleich Nachwirkung des Mythos vom Gottkönigtum und Vorspiel zum neuen Mythos der Maschine.

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Lewis Mumford - Mythos der Maschine - Kultur, Technik und Macht - Die umfassende Darstellung der  Entdeckung und Entwicklung der Technik - The Myth of the Machine