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9 - Die Bürde der "Zivilisation" 

Mumford-1970

 

 

  Die Sozialpyramide 

245-268

Das Königtum strebte bewußt danach, mit Hilfe der Megamaschine die Kraft und die Herrlichkeit des Himmels in menschliche Reichweite zu bringen. Und dies war insofern erfolgreich, als die immensen Errungen­schaften jenes archetypischen Gebildes lange Zeit hindurch die wichtigen, wenn auch bescheideneren Beiträge aller anderen zeitgenössischen Maschinen an technischer Perfektion und Ausstoß übertrafen.

Ob für Arbeits- oder für Kriegszwecke organisiert, brachte dieser neue kollektive Mechanismus die gleiche Art allgemeiner Reglementierung mit sich, übte die gleiche Art Zwang und Bestrafung aus und beschränkte den greifbaren Nutzen auf die herrschende Minderheit, die die Megamaschine geschaffen hatte und kontrollierte. Zugleich reduzierte sie den Bereich der Gemeinschafts­autonomie, der persönlichen Initiative und der Selbst­bestimmung. Jede standardisierte Komponente unter der höchsten Befehlsebene war nur Teil eines Menschen, dazu verurteilt, nur einen Teil der Aufgabe zu erfüllen und nur einen Teil eines Lebens zu leben. Adam Smiths spätere Analyse der Arbeitsteilung, welche die Veränderungen erklärt, die im achtzehnten Jahrhundert in Richtung eines weniger flexiblen und weniger menschlichen Systems mit höherer Produktivität vor sich gingen, wirft auch ein Licht auf die früheste »industrielle Revolution«.

Im Idealfall sollten die Arbeitskräfte der Megamaschine aus Junggesellen bestehen, losgelöst von Familie, Verantwortung, kommunalen Institutionen und normalen menschlichen Bindungen: ein Junggesellenleben, wie wir es heute noch in Armeen, Klöstern und Gefängnissen finden. Denn die andere Bezeichnung für Arbeitsteilung, hat sie erst einmal den Punkt der lebens­langen Beschränkung auf eine einzige Aufgabe erreicht, ist Zerstückelung des Menschen.

Die von der zentralisierten Megamaschine erzwungene Form wurde schließlich als lebenserstickende Sklavenarbeit auf Gewerbe und Handwerk übertragen; denn es bleibt im Handwerk kein menschlicher Wert erhalten, wenn etwa an einer Strebe sieben Arbeiter in sieben spezialisierten Arbeitsgängen damit beschäftigt sind, diesen einfachen Gegenstand herzustellen. Die Vorstellung, daß alle Arbeit den menschlichen Geist entwürdigt, übertrug sich unmerklich von der Mega­maschine auf alle anderen manuellen Berufe.

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Warum dieser »zivilisierte« technische Komplex als absoluter Triumph betrachtet wurde und warum die Menschheit ihn so lange Zeit geduldet hat, wird immer ein Rätsel der Geschichte bleiben.  

Von nun an war die zivilisierte Gesellschaft in zwei Hauptklassen geteilt: eine Mehrheit, die zu einem Leben harter Arbeit verdammt war und nicht nur arbeitete, um davon leben zu können, sondern um über die Bedürfnisse der Familie und der unmittelbaren Gemeinschaft hinaus einen Überschuß zu produzieren, und eine »vornehme« Minderheit, die manuelle Arbeit in jeder Form verachtete und deren Leben der verfeinerten »Ausübung von Muße« gewidmet war, um Thorstein Veblens sardonische Charakterisierung zu gebrauchen. Zugegeben, ein Teil des Überschusses floß der Förderung öffentlicher Arbeiten zu, die allen Schichten der Gemeinschaft zugute kamen; doch ein viel zu großer Teil davon verwandelte sich in privaten Prunk, Luxusgüter und prahlerische Verfügung über eine große Armee von Dienern, Gefolgsleuten, Konkubinen und Mätressen. In den meisten Gesellschaften aber wurde wohl der größte Teil des Überschusses dazu verwendet, die militärische Megamaschine zu füttern, zu bewaffnen und instandzuhalten.

Die Sozialpyramide, die im Pyramidenzeitalter in Ägypten und in Mesopotamien entstanden war, blieb weiterhin das Modell für jede zivilisierte Gesellschaft, lange nachdem der Bau jener geometrischen Grabmäler aus der Mode gekommen war. An der Spitze stand eine von Stolz und Macht aufgeblähte Minderheit, angeführt vom König und seinen Ministern, Adeligen, Kriegs­herren und Priestern. Die gesellschaftliche Hauptaufgabe dieser Minderheit bestand in der Kontrolle der Megamaschine, in ihrer konstruktiven wie in ihrer destruktiven Form. Davon abgesehen war die einzige Pflicht dieser Minderheit die »Konsum­pflicht«. In dieser Hinsicht waren die ältesten Herrscher die Prototypen der Modeschöpfer und Geschmacksbildner unserer eigenen übermechanisierten Massengesellschaft.

Die historischen Aufzeichnungen beginnen mit dieser Zivilisationspyramide, mit ihrer bereits fest etablierten Klassenteilung und der breiten Basis von Arbeitern, die von der auf ihnen liegenden Last erdrückt wurden. Und da diese Teilung bis in unsere Zeit geblieben ist — und sich in Ländern wie Indien sogar zu unverletzlichen erblichen Kasten verhärtet hat —, wurde sie oft als die natürliche Ordnung der Dinge aufgefaßt. Doch wir müssen uns fragen, wie sie entstanden ist und auf welcher vorgeblichen Basis von Vernunft oder Gerechtigkeit sie so lange verharrte, da eine Ungleichheit im Status, ist sie erst einmal in Gesetz und Eigentum verankert, nur zufällig mit der natürlichen Ungleichheit der Fähigkeiten zusammenfallen kann, die auf die Umgruppierung des biologischen Erbes jeder Generation zurückzuführen ist.

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In der Auseinandersetzung zwischen Leonard Woolley und seinen sowjetrussischen Kommentatoren, in dem Werk Prehistory and the Beginnings of Civilisation, war der englische Archäologe erstaunt, daß sie auf der Korrektur seines Versäumnisses bestanden, einen Umstand zu betonen, der (seiner Meinung nach) so »normal« war, daß er ihn gar nicht für erwähnenswert hielt. Sogar Breasted hat diese Unterlassungssünde begangen; er datiert Gerechtigkeit und Moralempfinden von dem Augenblick an, da der Bitte des redegewandten Bauern, von der willkürlichen Ausplünderung und Mißhandlung durch einen habsüchtigen Landbesitzer befreit zu werden, schließlich »bei Gericht« Gehör geschenkt wurde.

Leider betont Breasted die Verbesserung von Gesetz und Moral, die er »die Morgendämmerung des Gewissens« nannte, allzu stark; er setzt geistig bei der barbarischen Ausnützung der Macht an, die von so frühen Königen wie Narmer und Skorpion sowie von ihren Nachfolgern praktiziert wurde. Damit übersah er völlig die friedlichen, nicht-räuberischen Lebensformen des neolithischen Dorfes, wo Nachsicht und gegenseitige Hilfe dominierten, wie es allgemein in vor»zivilisierten« Gemeinschaften der Fall war. Breasted sieht in jenem berühmten Papyrus die gesteigerte ethische Sensibilität der herrschenden Klasse und deren Bereitschaft, die armen Bauern von der rohen Einschüchterung und gewissenlosen Räuberei zu befreien, die allzuoft von ihren Oberherren praktiziert wurden. Doch er fragt nicht danach, wie eine herrschende Minderheit eine Position erreicht hatte, die ihr die Ausübung solch willkürlicher Macht ermöglichte.

Die Gewissenskrise, die Breasted herausstreicht, wäre verdienstvoller gewesen, hätte sie nicht so lange auf sich warten lassen: eine verspätete Wiedergutmachung, wie der Verzicht auf die Privilegien durch den französischen Adel am Vorabend der Revolution von 1789. Wenn dem redegewandten Bauern, wie dies an der Stelle, wo das Dokument abbricht, angedeutet wird, schließlich Gerechtigkeit zuteil wurde, so doch erst, das sollten wir nicht vergessen, nachdem er von seinen Herren verhöhnt und gequält, ja sogar verprügelt worden war, bloß um die Belustigung an der amüsanten Unverschämtheit, mit der er für seine Rechte einstand und aufzumucken wagte, zu steigern. In dem Einbahnsystem der Kommunikation, das für alle Megamaschinen charakteristisch ist, stellte solch ein freies »Heraussagen der Meinung« eine unglaubliche Beleidigung der hohen Beamten dar, und unter militärischer Disziplin ist dies heute noch der Fall. Im »Übermut der Ämter« hat der moderne Staat diese schlechten Sitten ebenso beibehalten wie die überwältigenden Machtbefugnisse der früheren Herrscher.

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Dieses System geht von der Annahme aus, daß Reichtum, Muße, Komfort, Gesundheit und ein langes Leben rechtens nur der herrschenden Minderheit zustehen, während schwere Arbeit, ständige Not und Entsagung, eine »Sklavenration« und früher Tod zum Los der Mehrheit wurde.

War diese Teilung einmal vollzogen, dann ist es nicht verwunderlich, daß der Traum der arbeitenden Klassen in der ganzen Geschichte, zumindest in jenen relativ glücklichen Perioden, in denen sie einander Märchen zu erzählen wagten, im Wunsch nach Müßiggang und einem Überfluß an materiellen Gütern bestand. Vielleicht hat die Einführung gelegentlicher Volksfeste und Karnevale verhindert, daß diese Wünsche explosiv zum Ausdruck kamen. Aber der Traum von einer Existenz, die jener der herrschenden Klasse glich, wie etwa der Talmi-Schmuck, den die Armen im viktorianischen England trugen, in Messing den goldenen Tand der Oberklasse imitierend, hat sich über alle Zeitalter hinweg erhalten: Er ist noch immer aktiver Bestandteil der Phantasie vom mühelosen Reichtum, die heute wie eine rosa Rauchwolke über Megalopolis hängt.

Von Anfang an, daran kann es keinen Zweifel geben, war das Gewicht der Megamaschine die eigentliche Hauptlast der Zivilisation: Sie machte nicht nur die tägliche Arbeit zur bitteren Strafe, sondern verringerte auch die physische Befriedigung, die den Jägern, den Bauern und den Hirten für ihre bisweilen übermäßig harte Arbeit entlohnte. Niemals war diese Last schwerer als in den Anfängen, als die größten öffentlichen Arbeiten in Ägypten hauptsächlich darauf gerichtet waren, dem Anspruch des Pharaos auf Göttlichkeit und Unsterblichkeit gerecht zu werden.

Um diesem Gespinst aus Illusionen im 29. Jahrhundert vor Christus den Anschein von Glaubwürdigkeit zu geben, wurde das Grab des Prinzen Nekura, Sohn des Königs Khafre aus der vierten Dynastie, nicht nur mit dem Privatvermögen des Prinzen finanziert, sondern zusätzlich von nicht weniger als zwölf Städten, deren Einkommen ausschließlich zur Erhaltung des Grabes herangezogen wurde. So hohe Besteuerung für derart nichtiges Gepränge war noch für den Sonnenkönig charakteristisch, der Versailles erbauen ließ. Doch warum hier haltmachen? Dieser Wesenszug des Königtums taucht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte auf.

Was diese Anstrengungen kosteten, hat Frankfort in einem anderen Zusammenhang festgestellt: »Ägypten wurde zugunsten der königlichen Residenz aller Talente beraubt. Die Gräber von Qua-el-Kebir — ein Friedhof in Mittelägypten, der während des ganzen dritten Jahrtausends in Verwendung war — weisen kärglichste Ausstattung auf, noch dazu von schlechtester hand­werklicher Qualität, und dies in der Blütezeit des alten Königreichs, als die Pyramiden errichtet wurden.« Das sagt alles. Die künftigen Historiker der großen Staaten, die heute eifrig bemannte Raketen in den Weltraum schicken, werden — wenn unsere Zivilisation lange genug leben wird, daß diese Geschichte erzählt werden kann — zweifellos ähnliche Bemerkungen machen.

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   Das Trauma der Zivilisation  

Während die Geschichte der Arbeitsmaschine besser anhand der öffentlichen Werke, wie Straßen und Befestigungen, verfolgt werden kann als durch detaillierte Beschreibungen, besitzen wir erschöpfendes dokumentarisches Material über ihre massive negative Verwendung im Krieg. Denn, ich wiederhole, als Militärmaschine wurde das gesamte Modell der Arbeitsorganisation, wie bereits beschrieben, mit ihren Abteilungen und Kompanien und größeren Einheiten von einer Kultur auf die andere übertragen, ohne wesentliche Änderungen, abgesehen von der Perfektionierung der Disziplin und der Angriffmaschinerie.

Dies konfrontiert uns mit zwei Fragen: Warum verharrte die Megamaschine so lange in dieser negativen Form, und noch wichtiger, welche Motive und Zwecke lagen der Aktivität der Militärmaschine zugrunde? Mit anderen Worten, wie kam es, daß der Krieg an sich zu einem integralen Bestandteil der »Zivilisation« wurde, als höchster Ausdruck »souveräner Macht« gepriesen?

In ihrer ursprünglichen geographischen Umgebung erklärt, ja rechtfertigt sich die Arbeitsmaschine fast von selbst. Mit welchen anderen Mitteln konnte die sogenannte Bewässerungszivilisation die Wasserzufuhr, die für die Erzielung reicher Ernten nötig war, regulieren und nutzen? Bemühungen in begrenztem lokalen Maßstab hätten dieses Problem nicht lösen können. Aber für den Krieg gibt es keine solche Rechtfertigung: Er machte, als Institution, den geduldigen Fleiß der neolithischen Kultur zunichte. Jene, die den Krieg der biologischen Natur des Menschen zuschreiben möchten und ihn als Ausdruck des unbarmherzigen »Kampfes ums Dasein« betrachten, oder als Überbleibsel instinktiver, animalischer Aggression, verstehen nicht den Unterschied zwischen den phantastischen ritualisierten Massakern des Krieges und anderen, weniger organisierten Arten von Feindseligkeit, Konflikten und potentiell tödlichen Antagonismen. Streitlust, Raubgier und Kampf um Nahrung sind biologische Wesenszüge, zumindest bei Fleischfressern; der Krieg aber ist eine kulturelle Institution.

In der Tierwelt sind es vor allem gewisse Ameisenarten, die den Krieg praktizieren, mit organisierten Armeen, die tödliche Kämpfe miteinander ausfechten. Diese sozialen Insekten erfanden vor etwa sechzig Millionen Jahren alle wesentlichen Institutionen der »Zivilisation«, einschließlich des Königtums (eigentlich des Königinnentums), der militärischen Eroberung, der Arbeitsteilung, der Trennung von Funktionen und Kasten, nicht zu reden von der Domestizierung anderer Spezies und sogar Ansätzen zu einer Landwirtschaft.

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Der Hauptbeitrag des Menschen zu diesem Ameisenhügelkomplex bestand in dem machtvollen Stimulans einer irrationalen Phantasie.

In den früheren Stadien der neolithischen Kultur gibt es noch nicht einmal die Andeutung eines bewaffneten Kampfes zwischen Dörfern; möglicherweise erfüllten, wie Bachofen vermutete und Eliade bestätigt, sogar die dicken Mauern um alte Städte wie Jericho eine magisch-religiöse Funktion, ehe man herausfand, daß sie einen entscheidenden militärischen Vorteil boten. Bei den neolithischen Ausgrabungen fällt vielmehr das völlige Fehlen von Waffen auf, während es an Werkzeugen und Töpfen nicht mangelt. Diese — wenngleich negativen — Beweise sind weit verbreitet. Bei Jägervölkern wie den Buschmännern wiesen die älteren Höhlenmalereien keine Darstellung tödlicher Kämpfe auf, während dies in späteren Abbildungen, aus der Zeit des Königtums, sehr wohl der Fall ist. Anderseits Schemen die Bewohner des alten Kreta, wie Childe hervorhebt, obwohl in verschiedene und potentiell feindliche Gruppen getrennt, »friedlich zusammengelebt zu haben, da keine Befestigungen gefunden wurden«.

All das ist nicht überraschend. Krieg ist, wie Grahame Clark in seinem Buch Archaeology und Society richtig sagt, »unmittelbar von der Subsistenzgrundlage abhängig, da es eines Überschusses an Gütern und Menschen bedarf, um eine längere kriegerische Auseinandersetzung durchzuhalten«. Bis die neolithische Gesellschaft soweit war, daß sie Überschuß produzierte, war der paläolithische Jäger damit beschäftigt. Wild zu erlegen. Diese Tätigkeit erhält höchstens fünf bis zehn Menschen pro Quadratmeile. Bei so kleinen Gruppen wäre tödliche Aggression schwierig, ja selbstmörderisch gewesen. Selbst die Festlegung von »Grenzen« zwischen den Jägergruppen läßt, obwohl so etwas möglich wäre, genausowenig den Gedanken an blutige Konflikte aufkommen wie bei den Vögeln.

Die reichen Erträge neolithischer Ernten in den großen Tälern des Nahen Ostens veränderten dieses Bild und modifizierten die Existenzbedingungen des Bauern wie des Jägers. Denn die Risken des Ackerbaus wurden durch gefährliche Tiere vergrößert — Tiger, Nashörner, Krokodile, Flußpferde —, die Afrika und Kleinasien unsicher machten. Diese Räuber, und sogar weniger gefährliche Tiere wie das große Rind (urus) forderten, ehe sie domestiziert wurden, sowohl unter den Menschen als auch unter den Haustieren ihre Opfer, zertrampelten oft die Felder oder fraßen das Getreide.

Den Mut, es mit solchen Tieren aufzunehmen, die Geschicklichkeit, sie zu töten, besaßen die paläolithischen Jäger, nicht die Gärtner und Bauern, die bestenfalls mit dem Netz Fische fangen oder Vögeln Fallen stellen konnten.

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Der Bauer, sich an sein schwer erobertes Stück Land klammernd und an regelmäßige Arbeit gewöhnt, war die Antithese zum abenteuerlustigen, umherstreifenden Jäger und auf Grund seiner sanften Tugenden unfähig zur Aggression. Eine der Ungeheuerlichkeiten, die den Unwillen eines Exponenten der alten Gesellschafts­ordnung erregten, als das Pyramidenzeitalter ein gewaltsames Ende fand, war der Anblick von »Vogelfängern« — einfachen Bauern, nicht Jägern! —, die zu Heerführern wurden.

In Ägypten und Mesopotamien müssen die Gewohnheiten der Seßhaftigkeit vorgeherrscht haben, bevor der Jäger sie ausnützen lernte. Die Tatsache, daß die ersten Städte Sumers oft weniger als ein Dutzend Meilen voneinander entfernt waren, scheint dafür zu sprechen, daß sie zu einer Zeit entstanden waren, ehe solche Nähe Besitzstörung und Konflikte provozieren konnte. Noch wichtiger ist, daß diese Passivität, diese Unterwürfigkeit, vom Mangel an Waffen gar nicht zu sprechen, es den kleinen Jägergruppen leicht machten, von den größeren Bauerngemeinschaften Tribut zu fordern — Schutzgeld würden wir es heute nennen. Daher gab es Krieger, bevor es Krieg gab — so paradox das klingt.

Fast. unvermeidlich ging diese Transformation an mehreren Orten zugleich vor sich; und von diesem Punkt an sind die Beweise für bewaffnete Konflikte zwischen je zwei unabhängigen und politisch organisierten Gruppen die Formel, die Malinowski mit Recht als Kriterium des Krieges betrachtet, zum Unterschied von bloßen Territorialkämpfen nach Vogelart, Raubzügen oder Kopfjagd, unanfechtbar. Krieg impliziert nicht nur Aggression, sondern auch bewaffneten kollektiven Widerstand gegen Aggression; wenn dieser fehlt, kann man von Eroberung, Versklavung und Ausrottung sprechen, aber nicht von Krieg.

Doch Ausrüstung, Organisation und Taktik einer Armee wurden nicht über Nacht erzielt: Es muß eine Übergangsperiode gegeben haben, bevor eine große Masse von Männern dazu ausgebildet wurde, unter einem einheitlichen Kommando zu handeln. Ehe Städte entstanden waren und eine entsprechende Bevölkerungsdichte bestand, war das Vorspiel zum Krieg eine organisierte, aber einseitige Entfaltung von Macht und Kriegslust in Raubexpeditionen, um Holz, Malachit, Gold und Sklaven zu erbeuten.

Ich behaupte, daß die radikale institutionelle Umstellung auf den Krieg nicht allein aus biologischen oder rationalen ökono­mischen Gründen erklärt werden kann. Darunter verbirgt sich eine bedeutsamere irrationale Komponente, die noch kaum erforscht ist. Zivilisierter Krieg beginnt nicht mit der direkten Umwandlung des Jägerhäuptlings in den kriegführenden König, sondern mit einem früheren Übergang von der Tierjagd zur Menschenjagd; und der besondere Zweck dieser Jagd war, wenn wir aus unanfechtbarem späterem Beweismaterial vorsichtige Rückschlüsse ziehen können. Gefangene zu machen, um sie als Menschenopfer darzubringen.

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Es gibt, wie ich bereits im Zusammenhang mit der Domestizierung erwähnt habe, eine Menge verstreuter Beweise, die darauf schließen lassen, daß das Menschenopfer dem Krieg zwischen Stämmen und Städten vorangegangen ist.

Dieser Hypothese zufolge war der Krieg von Anfang an das Nebenprodukt eines religiösen Rituals, dessen Bedeutung für die Gemeinschaft weit über jene banalen Gewinne an Territorium, Beute oder Sklaven hinausging, mit denen spätere Gemeinschaften ihre paranoiden Besessenheiten und ihre grauenhaften kollektiven Vernichtungsorgien zu erklären trachteten.

 

  Die Pathologie der Macht 

 

Wenn eine Person der Macht als Selbstzweck übergroße Bedeutung beilegt, ist das dem Psychologen stets verdächtig: Er sieht darin einen Versuch, Minderwertigkeit, Impotenz und Angst zu verbergen. Ist diese Tendenz mit außergewöhnlichem Ehrgeiz, unkontrollierbarem Haß und Mißtrauen und mit dem Verlust jeglichen Gefühls für die Grenzen der eigenen Persönlichkeit verbunden, was zu Größenwahn führt, so wird dies zum typischen Paranoia-Syndrom, einem der am schwierigsten zu heilenden psychischen Zustände.

Nun hatte aber der frühe »zivilisierte« Mensch allen Grund, die Kräfte, die er selbst durch eine Reihe technologischer Erfolge freigesetzt hatte, zu fürchten. Im Nahen Osten befreiten sich viele Gemeinschaften von den Zwängen der Naturalwirtschaft mit ihrer engbegrenzten domestizierten Umwelt und standen nun einer Welt gegenüber, die nach allen Richtungen expandierte, die Zone der Landwirtschaft erweiterte, von 3500 vor Christus an mittels Ruder- und Segelschiff Rohstoffe aus entfernten Gebieten herbeischaffte und häufig in Kontakt mit anderen Völkern trat.

Unser Zeitalter kennt die Schwierigkeit, in einer Überflußökonomie Gleichgewicht herzustellen; und unsere Tendenz, die Verantwortung für kollektive Handlungen einem Präsidenten oder einem Diktator zu übertragen, ist, wie Woodrow Wilson, lange bevor Diktatoren wieder modern wurden, hervorhob, eine der Möglichkeiten — die leichteste, doch auch die gefährlichste —, um dies zu bewerkstelligen.

Ich habe bereits versucht, die Auswirkungen dieser Situation auf die Entwicklung des Königtums im allgemeinen zu skizzieren; nun möchte ich speziell auf ihr Verhältnis zu den Opferritualen des Krieges eingehen. Als die Gemeinschaft sich ausbreitete und die Wechselbeziehungen sich verstärkten, wurde ihr inneres Gleichgewicht geschwächt, und die Möglichkeit von Zerstörung und Not, Hunger und Tod wurde zu einer ernsteren Gefahr.

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Unter Bedingungen, die von den kleinen Gemeinschaften nicht gemeistert werden konnten, wuchs vermutlich neurotische Angst. Die magische Identifizierung des Gottkönigs mit der ganzen Gemeinschaft verringerte nicht die Anlässe dieser Angst; denn trotz des königlichen Anspruchs auf göttliche Gunst und Unsterblichkeit waren Könige tödlichen Unfällen und Mißgeschicken ausgesetzt; und da der König so hoch über dem gemeinen Mann stand, konnte sein Sturz die ganze Gemeinschaft erschüttern.

Auf einer frühen Stufe, über die es keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt, bildeten Traum und Tatsache, Mythos und Halluzination, empirisches Wissen und abergläubische Mutmaßung, Religion und Wissenschaft ein unentwirrbares Chaos. Ein günstiger Wetterumschlag nach einem Opferritual mochte weitere Sühneschlachtungen in noch größerem Ausmaß zweckmäßig erscheinen lassen. Viel spätere Beweise in Afrika wie in Amerika, von Frazer zusammengetragen, lassen vermuten, daß der König selbst, gerade weil er die Gemeinschaft verkörperte, einstmals als Ritualopfer geschlachtet wurde.

Um den angebeteten Herrscher vor solch einem Schicksal zu bewahren, mag ein Gemeiner vorübergehend in dieses Amt eingesetzt worden sein, um zur gegebenen Zeit geopfert zu werden; und wenn ein solches Opfer in der Gemeinschaft unpopulär wurde — wie in dem klassischen Werk der Maya, Popul Vuh, angedeutet wird —, fand man einen Ersatz, indem man Gefangene aus anderen Gemeinschaften opferte. Für die Umwandlung dieser Überfallsexpeditionen in richtige Kriege zwischen Königen, als ebenbürtigen »souveränen Mächten«, unterstützt von ebenso blutdürstigen Göttern, gibt es keine Unterlagen. Doch dies ist die einzige Hypothese, die alle Komponenten des Krieges miteinander verknüpft und einigermaßen erklärt, wieso diese Institution die gesamte Geschichte geprägt hat.

Die günstigen Bedingungen für den organisierten Krieg, von einer mächtigen Militärmaschine geführt, imstande, mächtige Mauern völlig zu zerstören. Dämme zu vernichten, Städte und Tempel zu schleifen, wurden durch die echten Siege der Arbeitsmaschine immens gesteigert. Doch es ist höchst zweifelhaft, ob die großartigen öffentlichen Unternehmungen, die fast übermenschliche Leistung und Ausdauer erforderten, für rein irdische Zwecke durchgeführt worden wären. Gemeinschaften setzen ihre Kräfte niemals bis zum Äußersten ein oder beschränken gar das individuelle Leben, wenn sie nicht glauben, damit einem großen religiösen Ziel zu dienen. Nur der Kniefall vor dem mysterium tremendum, einer Manifestation der Gottheit in ihrer schrecklichen Macht und strahlenden Glorie, vermag solch exzessive kollektive Anstrengungen hervorzurufen. Diese Macht der Magie übertrifft bei weitem die Verlockung ökonomischen Gewinns.

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In jenen späteren Fällen, da solche Anstrengungen und Opfer scheinbar um rein ökonomischer Vorteile willen vollbracht wurden, wird sich herausstellen, daß dieser weltliche Zweck selber ein Gott geworden ist, ob er nun Mammon oder anders genannt wird.

Allzubald hatte die militärische Organisation, die man gebraucht hatte, um Gefangene zu machen, eine andere heilige Pflicht zu erfüllen: den König und den lokalen Gott tatkräftig gegen Vergeltungsmaßnahmen zu schützen, indem man den Angriffen des Feindes zuvorkam. In dieser Entwicklung wurde die Erweiterung militärischer und politischer Macht bald zum Selbstzweck, als höchster Beweis für die Macht der Gottheiten, die die Gemeinschaft regierten, und für den überragenden Rang des Königs.

Der ewige Kreislauf von Eroberung, Vernichtung und Vergeltung ist der chronische Zustand aller »zivilisierten« Staaten, und Krieg ist, wie Plato sagte, ihr »natürlicher« Zustand. Hier produzierte, wie später noch oft, die Megamaschine, als das vollkommene Instrument königlicher Macht, die neuen Zwecke, denen sie in der Folge dienen sollte. In diesem Sinne machte die militärische Maschine den Krieg »notwendig« und sogar wünschenswert, so wie das Düsenflugzeug den Massentourismus »notwendig« und profitabel gemacht hat.

Seit es schriftliche Aufzeichnungen gibt, ist feststellbar, daß die Ausbreitung des Krieges, als permanente Begleiterscheinung der »Zivilisation«, die kollektive Angst nur vergrößerte, die das Ritual des Menschenopfers zu besänftigen gesucht hatte. Und als die Angst der Gemeinschaft zunahm, konnte sie nicht länger durch das symbolische Opfer, das auf dem Altar geschlachtet wurde, überwunden werden. Dieser symbolische Preis mußte durch den Preis kollektiver Menschenopfer in weit größerem Umfang ersetzt werden.

So ermutigte Angst Befriedigung durch magisches Opfer; Menschenopfer führte zu Menschenjagd; einseitige Menschen­treib­jagden verwandelten sich in bewaffnete Kämpfe und Kriege zwischen rivalisierenden Mächten. So wurde eine immer größere Zahl von Menschen mit immer wirksameren Waffen in diese schreckliche Zeremonie gezerrt, und was anfangs ein gelegentliches Vorspiel zu einer symbolischen Opferung gewesen war, wurde selber zum »höchsten Opfer«, en masse vollzogen. Diese ideologische Verwirrung war der endgültige Beitrag zur Vervollkommnung der militärischen Megamaschine, denn die Fähigkeit, Krieg zu führen und kollektive Menschenopfer aufzuerlegen, blieb die ganze Geschichte hindurch das Kennzeichen jeder souveränen Macht.

Zur Zeit, als es bereits schriftliche Aufzeichnungen über Kriege gab, waren alle vorangegangenen Ereignisse in Ägypten und Mesopotamien begraben und vergessen, wenngleich sie in Wirklichkeit nicht anders gewesen sein mögen als jene, über die wir bei den Maya und Azteken spätere definitive Kenntnis haben.

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Doch noch zu Abrahams Zeiten konnte die Stimme eines Gottes einem liebenden Vater befehlen, seinen Sohn auf einem Privataltar zu opfern; und die öffentliche Opferung von Kriegsgefangenen blieb eine anerkannte Zeremonie in so »zivilisierten« Staaten wie Rom. Daß die modernen Historiker all diese Beweise ignorieren, zeigt, wie nötig der »zivilisierte« Mensch es hatte, diese böse Erinnerung zu unterdrücken, um sich seine Selbstachtung als vernünftiges Wesen, diese lebensrettende Illusion, zu bewahren.

Die beiden Pole der Zivilisation sind daher mechanisch organisierte Arbeit und mechanisch organisierte Zerstörung und Ausrottung. Ungefähr die gleichen Kräfte und die gleichen Methoden waren in beiden Bereichen anwendbar. In gewissem Maße diente systematische tägliche Arbeit dazu, die maßlosen Energien im Zaum zu halten, die nun zur Verfügung standen, um Träume und wilde Phantasien in Wirklichkeit umzusetzen; aber innerhalb der herrschenden Klassen gab es keine solche heilsame Kontrolle. Vom Müßiggang übersättigt, fanden sie im Krieg »etwas zu tun« und in seinen Härten, Verpflichtungen und tödlichen Gefahren ein Äquivalent zu ehrbarer Arbeit. Krieg wurde nicht nur »die Gesundheit des Staates«, wie Nietzsche es nannte; er war zudem die billigste Form von Scheinkreativität, denn er konnte in wenigen Tagen sichtbare Resultate hervorbringen, die die Anstrengungen von vielen Generationen zunichte machten.

Diese immense »negative Kreativität« annullierte andauernd die wirklichen Gewinne der Maschine. Die Beute, die man von einer erfolgreichen militärischen Expedition mitbrachte, war, ökonomisch gesprochen, »totale Enteignung«. Doch sie erwies sich, wie die Römer später entdecken sollten, als ein schlechter Ersatz für die permanente Einkommensteuer, die man jährlich aus einer blühenden ökonomischen Organisation bezog. Wie später beim Raub von Gold in Peru und Mexiko durch die Spanier dürfte dieses leicht erworbene Geld sehr oft die Wirtschaft des Siegers untergraben haben. Wenn eine solche Raubwirtschaft in mehreren großen Reichen vorherrschend wurde und diese einander wechselseitig plünderten, hob sich die Möglichkeit einseitigen Gewinns auf.

Doch um diese sinnlosen Ausbrüche von Feindseligkeit und die Zerstörung geordneter, lebenserhaltender Verhaltensweisen zu kompensieren, führte die Megamaschine eine strengere Form innerer Ordnung ein, als selbst die am meisten traditionsgebundene Stammesgemeinschaft je erreicht hatte. Diese mechanische Ordnung ersetzte das Opferritual; denn Ordnung jeglicher Art, wie restriktiv sie auch sein mag, beschränkt die Notwendigkeit eigener Entschlüsse und vermindert daher die Sorgen. Wie der Psychiater Kurt Goldstein hervorhob, wird »zwanghafter Ordnungssinn« selbst dann lebenswichtig, wenn Angst durch eine physische Gehirnverletzung hervorgerufen wird.

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Opferriten und Zwangsrituale wurden durch das Wirken der Militärmaschine vereinheitlicht. Und war Angst das ursprüngliche Motiv, das die subjektive Antwort der Opferung hervorbrachte, so schränkte der Krieg, während er den Bereich der Opferung erweiterte, zugleich den Bereich ein, in dem normale menschliche Entscheidungen, auf der Respektierung schöpferischen Potentials beruhend, getroffen werden konnten. Mit einem Wort, ein zwanghaftes kollektives Ordnungsschema war die wichtigste Errungenschaft der negativen Megamaschine.

Zugleich wurde der Gewinn an Macht, den die Organisierung der Megamaschine einbrachte, durch die Symptome geistiger Entartung bei jenen aufgewogen, die diese Macht gewöhnlich ausübten: Sie wurden nicht nur entmenscht, sondern verloren allmählich ihren Realitätssinn, wie der sumerische König, der seine Eroberungszüge so weit ausdehnte, daß er bei der Rückkehr in seine Hauptstadt diese in der Hand des Feindes fand.

Vom vierten vorchristlichen Jahrtausend an strotzten die Stelen und Monumente der großen Könige von sinnloser Machtprahlerei und heftigen Drohungen gegen jene, die ihre Grabmäler plündern oder die Inschriften auslöschen mochten — was trotzdem wiederholt vorkam. So wie Marduk in der akkadischen Version des Schöpfungsepos bestiegen die neuen Könige der Bronzezeit ihre Streitwagen, »unbezwingbar und fürchterlich«, »erfahren in Verwüstung und in Zerstörung geübt ... in einen Panzer von Schrecken gehüllt«. Mit solch ekelerregender Gesinnung sind wir noch immer allzu vertraut; sie wird in den Presse­komuniques, die das Pentagon über Atomwaffen ausgibt, nachgeahmt.

Diese andauernde Demonstration der Macht sollte zweifellos die Eroberung erleichtern, indem man den Feind von vornherein einschüchterte. Doch sie spricht auch von zunehmender Irrationalität, fast proportional zu den verfügbaren Zerstörungsmitteln - ähnliches haben wir auch in unserer Zeit erlebt. Diese Paranoia war so methodisch, daß ein Eroberer gelegentlich eine Stadt dem Erdboden gleichmachte, nur um sie dann auf derselben Stelle neu zu errichten und so seine ambivalente Rolle als Zerstörer und Schöpfer, als Teufel und Gott in einer Person zu demonstrieren.

Vor einem halben Jahrhundert mochten die Daten über solche historische Vorgänge noch zweifelhaft erscheinen; aber die Regierung der Vereinigten Staaten folgte genau der gleichen Praxis in der Zerstörung und dem darauffolgenden Wiederaufbau Deutschlands; sie krönte eine verbrecherische Militärstrategie - Bombardierung zum Zweck allgemeiner Vernichtung — mit einem ebenso unmoralischen politischen und ökonomischen Vorgehen, das Hitlers unbelehrbaren Gefolgsleuten in die Hand spielte.

Diese Ambivalenz, diese Funktionenteilung zwischen den zwei Arten der Megamaschine, kommt in der anschaulichen, grausigen Drohung am Schluß eines sumerischen Gedichts zum Ausdruck, das S. N. Kramer zitiert:

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Die Spitzhacke und der Korb erbauen Städte,
Das standfeste Haus, mit der Spitzhacke wird es errichtet ...
Das Haus, das gegen den König rebelliert,
Das Haus, das sich seinem König nicht unterwirft,
Wird durch die Spitzhacke dem König unterworfen.

Als der Königskult fest etabliert war, wurde das Bedürfnis nach Erweiterung der Macht eher stärker als schwächer; denn Städte, die früher in nächster Nachbarschaft friedlich miteinander ausgekommen waren, wie die Gruppe von Städten in Sumer, wurden nun zu potentiellen Feinden: jede mit ihrem eigenen Gott, ihrem eigenen König, mit ihrer Fähigkeit, bewaffnete Truppen zu mobilisieren und die Nachbarstadt zu zerstören. Unter diesen Bedingungen verwandelte sich die ursprünglich neurotische, zeremonielle Kollektivopfer erfordernde Angst in rationale, wohlbegründete Furcht, die Gegenmaßnahmen gleicher Art notwendig machte - oder bedingungslose Kapitulation, wie sie der Ältestenrat in Erech, als dieses bedroht war, vorschlug.

Man beachte, was zum Lobe eines der frühesten Exponenten dieses Machtsystems, Sargons von Akkad, in der Sargon-Chronik gesagt wird: »Er hatte weder Rivalen noch Gegner. Sein Schreckensruhm breitete sich über alle Länder aus.« Um diesen eigenartigen Glorienschein der Macht aufrechtzuerhalten, den, wie Oppenheim bemerkt, nur Könige ausstrahlten, »aßen täglich 5400 Soldaten in seiner Gegenwart«, das heißt in der Zitadelle, wo sie den Schatz und die Kornkammer des Tempels, jene Monopolmittel politischer und ökonomischer Herrschaft, bewachten. Die Mauer rund um die Zitadelle verlieh nicht nur zusätzliche Sicherheit für den Fall, daß die Außenmauern der Stadt durchbrochen wurden, sondern ebenso Schutz gegen Aufstände der einheimischen Bevölkerung. Schon die Existenz eines stehenden Heeres dieser Art, das jederzeit einsatzbereit war, weist auf zwei Umstände hin: die Notwendigkeit eines stets verfügbaren Unterdrückungsapparats zur Aufrechterhaltung der Ordnung, und die Fähigkeit, strikte militärische Disziplin durchzusetzen, da sonst die Armee sich in einen gefährlichen rebellischen Haufen hätte verwandeln können — wie es später in Rom wiederholt geschah.

 

Der Weg des Imperiums  

 

Die ursprüngliche Verbindung des Königtums mit göttlicher Macht, Menschenopfern und militärischer Organisation war wohl ein Hauptmoment der gesamten Entwicklung der »Zivilisation«, die zwischen 4000 und 600 vor Christus vor sich ging.

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Und sie ist, kaum verschleiert, noch heute das Hauptmoment. Der »souveräne Staat« der Gegenwart ist nur das vergrößerte, abstrakte Gegenstück des Gottkönigtums; und die Institutionen des Menschenopfers und der Sklaverei sind immer noch vorhanden, ebenso vergrößert und noch anmaßender in ihren Forderungen.

Die allgemeine Wehrpflicht (Zwangsaushebung nach dem Vorbild der Pharaonen) hat die Zahl der Menschenopfer ins Unermeßliche gesteigert, während die konstitutionelle Regierung, die auf der Zustimmung des Volkes basiert, die Macht des Herrschenden nur noch absoluter gemacht hat, da abweichende Meinungen und Kritik nicht »anerkannt« werden.

Mit der Zeit nahmen die magischen Anreize zum Krieg eine leichter vertretbare, utilitaristische Verkleidung an. Während die Verwendung von Gefangenen für Opferzwecke zu einem entsetzlichen Hinschlachten von Frauen und Kindern führte, ermöglichte es die Schonung der Gefangenen, diese als Sklaven zu verwenden und so die Arbeitsarmee und die ökonomische Leistungs­fähigkeit des Eroberers zu vergrößern. So verdrängten und verschleierten die sekundären Produkte militärischer Unternehmungen — Sklaven, Beute, Land, Tribut, Steuern — trügerisch die einstmals offen zutage liegenden irrationalen Motive. Da das Königtum von einer allgemeinen Steigerung der ökonomischen Produktivität und des kulturellen Reichtums begleitet war, die seine destruktiven Tendenzen offenkundig aufwog, gewöhnten die Menschen sich daran, das Böse als den einzigen Weg zur Sicherung des Guten zu akzeptieren; übrigens hatten sie, solange die Megamaschine nicht zusammenbrach, keine andere Wahl.

Der Untergang so mancher Zivilisation infolge innerer Auflösung und durch Angriffe von außen, von Arnold Toynbee reichlich belegt, unterstreicht die Tatsache, daß die negativen Elemente in diesem Amalgam die Vorteile und Segnungen weitgehend aufhoben. Der einzige bleibende Beitrag der Megamaschine war der Mythos der Maschine: der Glaube, daß diese Maschine von Natur aus unbezwingbar sei — und doch, vorausgesetzt, daß man sich ihr nicht widersetzte, letztlich segensreich. Dieser magische Zauber hält bis heute die Beherrscher der Megamaschine wie die Masse ihrer Opfer gefangen.

Als die Militärmaschine stärker wurde, verlor die Autorität des Tempels an Notwendigkeit, und die Organisation des Palastes, die im großen Territorialstaat reich geworden war und keiner Stütze mehr bedurfte, überschattete oft die der Religion. Oppenheim zieht diesen Schluß aus der Periode, die dem Untergang Sumers folgte; aber Verschiebungen des Macht- und Autoritäts­schwerpunktes ereigneten sich wiederholt. Nur zu oft wurde die Priesterschaft zum gefügigen Werkzeug der Mega­maschine, bei deren Etablierung sie ursprünglich mitgewirkt hatte.

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Gerade der Erfolg der Megamaschine verstärkte die Gefahrenmomente, die bislang nur von menschlichen Schwächen im Zaum gehalten worden waren. Die diesem Machtsystem innewohnende Schwäche zeigt sich in der Tatsache, daß die Könige, hoch über allen anderen Menschen thronend, ständig betrogen, umschmeichelt und mit falschen Informationen versehen wurden — eifrig abgeschirmt vor jeder störenden korrektiven »Rückkopplung«. So lernten Könige nie aus eigener Erfahrung oder aus der Geschichte, daß unbeschränkte Macht lebensfeindlich ist; daß ihre Methoden zweckwidrig, ihre militärischen Siege vergänglich und ihre exaltierten Ansprüche betrügerisch und absurd waren.

Vom Ende des ersten großen Zeitalters der Erbauer in Ägypten, jenem des Pharaos Pepi I. aus der sechsten Dynastie, gibt es Beweise für diese durchdringende Irrationalität, die um so aufschlußreicher sind, als sie von den relativ ruhigen und fügsamen Ägyptern herrühren:

Die Armee kehrte sicher zurück,
Nachdem sie das Land der Sandbewohner zerstückelt ...
Nachdem sie die Umzäunungen niedergeworfen
...
Nachdem sie die Feigenbäume und Weinstöcke gefällt ...
Nachdem sie Feuer an alle Wohnsitze gelegt
...
Nachdem sie Truppen zu vielen Zehntausenden getötet hatte.

Das zeigt den Weg, den Imperien überall gegangen sind: die gleichen prahlerischen Worte, die gleichen verwerflichen Taten, die gleichen schmutzigen Resultate von der frühesten ägyptischen Steintafel bis zur neuesten amerikanischen Zeitung, die, während ich dies schreibe, von den Massengreueln berichtet, welche von den Streitkräften der Vereinigten Staaten mit Napalmbomben und Entlaubungsgiften an den hilflosen Bauernmassen von Vietnam kaltblütig verübt werden: ein unschuldiges Volk, entwurzelt, terrorisiert, vergiftet und lebendig geröstet in einem vergeblichen Versuch, die Machtphantasien der militärisch-industriell-wissenschaftlichen Elite der Vereinigten Staaten »glaubwürdig« zu machen.

Doch gerade durch die Begünstigung von Zerstörung und Massenvernichtung überwand der Krieg in all seiner destruktiven Spontaneität zeitweise die immanenten Begrenzungen der Megamaschine. Daher das Gefühl freudiger Erleichterung, das den Ausbruch eines Krieges so oft begleitet hat, wenn die Fesseln des Alltags gesprengt und die Toten und Verkrüppelten, die es geben würde, noch nicht gezählt waren.

Bei der Eroberung eines Landes oder der Einnahme einer Stadt wurden die gesitteten Tugenden der Zivilisation in ihr Gegenteil verkehrt. Achtung des Eigentums wich mutwilliger Zerstörung und Raub, sexuelle Repression offiziell sanktionierter Vergewaltigung; der Haß der Volksmassen gegen die herrschenden Klassen wurde geschickt auf die günstige Gelegenheit umgeleitet, fremde Feinde zu verstümmeln oder zu töten.

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Kurz, Unterdrücker und Unterdrückte richteten ihre Aggressionen, anstatt sie in der eigenen Stadt auszutragen, auf ein gemeinsames Ziel — den Angriff auf eine andere Stadt. Je größer die Spannungen und je härter die tagtäglichen Repressionen der Zivilisation, desto nützlicher wurde daher der Krieg als Sicherheitsventil. Schließlich erfüllte der Krieg eine weitere, noch unerläßlichere Funktion, wenn meine Hypothese von der Verbindung zwischen Angst, Menschenopfern und Krieg sich als richtig erweist. Der Krieg lieferte seine eigene Rechtfertigung, indem er neurotische Angst durch rationale Angst angesichts realer Gefahr ersetzte. War der Krieg einmal ausgebrochen, dann gab es Grund genug für Angst, Furcht, und kompensierende Entfaltung von Mut.

Offenbar war ein chronischer Kriegszustand ein hoher Preis für die vielgerühmten Wohltaten der »Zivilisation«. Eine dauerhafte Verbesserung war nur durch die Entkräftung des Mythos vom Gottkönigtum zu erreichen, durch die Demontage der allzu mächtigen Megamaschine und die Beseitigung ihrer erbarmungslosen Ausbeutung von Arbeitskraft.

Psychisch gesunde Menschen haben nicht das Bedürfnis, von absoluter Macht zu phantasieren; sie können mit der Realität fertig werden, ohne sich selbst zu verstümmeln und vorzeitig mit dem Tod zu liebäugeln. Aber die entscheidende Schwäche einer übermäßig reglementierten institutionellen Struktur — und die »Zivilisation« war von Anfang an fast ex definitione überreglementiert — besteht darin, daß sie nicht dazu tendiert, psychisch gesunde Menschen hervorzubringen. Die strenge Arbeitsteilung und das Kastenwesen bringen unausgeglichene Charaktere hervor, und die mechanische Routine begünstigt in der Regel jene unter Zwängen leidenden Menschen, die sich fürchten, es mit der verwirrenden Fülle des Lebens aufzunehmen.

Mit einem Wort, die hartnäckige Mißachtung organischer Grenzen und menschlicher Fähigkeiten unterminierten die wertvollen Beiträge zur Ordnung der menschlichen Dinge und zum Verständnis für die Stellung des Menschen im Kosmos, welche die neuen Himmelsreligionen eingeführt hatten. Die Dynamik und das Expansionsvermögen der zivilisierten Technik hätten sich als bedeutendes Gegengewicht zu den Fixierungen und der Isolierung der Dorfkultur erweisen können, wäre ihre eigene Lebensordnung nicht noch restriktiver gewesen.

Nun ist aber jedes System, das auf dem Anspruch auf absolute Macht beruht, verwundbar. Hans Christian Andersens Märchen vom Kaiser, der in seinem Luftschiff auf die Reise geht, um die Welt zu erobern, und von einer winzigen Mücke besiegt wird, die in sein Ohr gerät und ihn quält, steht für eine Vielzahl von Mißgeschicken.

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Das stärkste Stadttor kann durch List oder Verrat geöffnet werden, wie Babylon und Troja erkennen mußten; und die bloße Legende von Quetzalcoatls Rückkehr hielt Montezuma davon ab, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die kleine Truppe von Cortez zu überwältigen. Selbst die strengsten königlichen Befehle können von Männern ignoriert werden, die noch ihren eigenen Gefühlen gehorchen oder ihrem eigenen Urteil vertrauen — wie der gutherzige Holzfäller, der heimlich seinem König trotzte und Ödipus das Leben rettete.

Nach dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend wurde die riesige Arbeitsmaschine nur noch sporadisch verwendet; nie wieder erreichte sie den Gipfelpunkt an Leistung, von der die schönen Proportionen der Großen Pyramide zeugen. Privateigentum und private Beschäftigung übernahmen nun allmählich viele vormals öffentliche Funktionen in dem Maße, als die Aussicht auf Profit die Angst vor Strafe zu überwiegen begann. Anderseits förderte die Militärmaschine, obwohl sie in der sumerischen Phalanx früh einen Höhepunkt der Reglementierung erreicht hatte, viele technische Verbesserungen auf anderen Gebieten. Es ist kaum übertrieben, zu sagen, daß mechanische Erfindungen bis zum dreizehnten Jahrhundert nach Christus mehr dem Krieg als dem Frieden zu verdanken waren.

Dies gilt für lange Strecken der Geschichte. Der Streitwagen der Bronzezeit ging dem allgemeinen Gebrauch von Transport­lastwagen voraus, brennendes Öl wurde zur Abwehr des Feindes von der belagerten Stadt verwendet, ehe man es als Antriebskraft für Motoren oder als Heizstoff benutzte. Die assyrische Armee verwendete aufgeblasene Rettungsgürtel, um Flüsse zu überqueren. Tausende Jahre bevor Schwimmwesten für Zivilisten erfunden wurden. Auch die Arten der Metallverwendung entwickelten sich rascher in der Armee als im zivilen Leben: Die Sense wurde an Streitwagen befestigt, um Menschen niederzumähen, ehe sie an der Mähmaschine befestigt wurde, die dem Ackerbau diente; Archimedes' Wissen über Optik und Mechanik wurde dazu verwendet, die römische Flotte, die Syrakus angriff, zu zerstören, ehe es für konstruktive industrielle Zwecke angewandt wurde. Kriegführung war, vom griechischen Feuer bis zur Atombombe, von der ballista bis zur Rakete, die Hauptquelle jener technischen Erfindungen, die auf metallurgischem oder chemischem Wissen beruhten.

Doch wenn alle diese Erfindungen erklärt und bewertet sind, erweist es sich, daß keine von ihnen, nicht einmal alle zusammen, so viel zur technischen Leistungsfähigkeit und zu großangelegten kollektiven Unternehmungen beigetragen haben wie die Megamaschine. Sowohl in ihrer konstruktiven als auch in ihrer destruktiven Form hat die Megamaschine eine neue Arbeitsweise geschaffen und einen neuen Leistungs­standard aufgestellt.

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In einem gewissen Ausmaß sind Disziplin und Opferbereitschaft, wie die Armee sie fordert, ein notwendiges Element jeder großen Gesellschaft, die ihren Blick über den Horizont des Dorfes hinaus erhebt: etwas von der geordneten Buchhaltung, die Tempel und Palast in die Wirtschafts­angelegenheiten eingeführt haben, braucht jedes große System, das sich auf praktische Kooperation und Handel stützt.

Die automatische, unabhängig von genauer menschlicher Überwachung, wenn nicht von oberster Kontrolle, arbeitende Maschine war schon in dem abstrakten Modell der Megamaschine enthalten. Was einst schwerfällig, mit unvollkommener menschlicher Kraft, notwendigerweise stets in großem Maßstab, getan wurde, bahnte den Weg für mechanische Arbeitsgänge, die nun geschickt in kleinem Maßstab durchgeführt werden können: Ein automatisches Wasserkraftwerk kann eine Energie von 100.000 PS umsetzen. Offenbar waren viele technische Triumphe unseres Zeitalters bereits in der frühesten Megamaschine latent vorhanden, mehr noch, ihre Früchte wurden in der Phantasie zur Gänze vorweggenommen.

Doch damit wir nicht über Gebühr auf unsere technischen Fortschritte stolz sind, wollen wir daran denken, daß eine einzige Wasserstoffbombe heute mit Leichtigkeit zehn Millionen Menschen töten kann und daß die Menschen, die über diese Waffen entscheiden, nachweisbar ebenso für praktische Fehlkalkulationen, Fehlurteile, krankhafte Phantasien und psychotische Nerven­zusammenbrüche anfällig sind wie die Könige der Bronzezeit.

 

Reaktionen gegen die Megamaschine

 

Das Schwergewicht der Megamaschine lag anscheinend von Anfang an auf dem destruktiven Moment. Soweit die Megamaschine intakt an spätere Zivilisationen weitergegeben wurde, blieb ihre Kontinuität in der negativen Form der Militärmaschine — mit ihrem Drill, ihrer Standardisierung, ihren spezialisierten Gliederungen — gewahrt. Das trifft auch auf Einzelheiten der Disziplin und Organisation zu, wie die frühe Arbeitsteilung zwischen Stoßwaffen und Ferngeschossen, zwischen Bogenschützen, Lanzenträgern, Schwertkämpfern, Kavallerie und Wagenlenkern.

Sei kein Soldat, empfiehlt eine ägyptische Schrift aus dem Neuen Königreich: Der Rekrut »bekommt einen brennenden Schlag auf den Leib, einen schrecklichen Schlag aufs Auge ... und sein Schädel hat eine klaffende Wunde. Er wird hingelegt und geschlagen ..., er ist zerschlagen und verletzt von Peitschenhieben«. Auf solchen soldatischen Grundlagen wurde »strahlende Macht« aufgebaut: Der destruktive Prozeß begann bei der Ausbildung der kleinsten Einheit. Offenkundig hat der »preußische Geist« des Ausbildungs­feldwebels eine lange Geschichte.

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Es wäre tröstlich, zu glauben, daß die konstruktiven und die destruktiven Elemente der Megamaschine einander gegenseitig aufhoben und Raum ließen für die Entwicklung wichtigerer menschlicher Ziele, die auf den früheren Errungenschaften der Domestizierung und Humanisierung basierten. Zum Teil war dies auch der Fall, da große Teile Asiens, Europas und Amerikas nur nominell, wenn überhaupt, erobert wurden und ihre Bewohner, abgesehen von Steuer- und Tributleistungen, weitgehend ein isoliertes und in sich geschlossenes Gemeinschaftsleben führten; bisweilen steigerten sie ihren Provinzialismus bis zur Selbstverdummung und hoffnungslosen Trivialität. Doch die größte Gefahr für die Leistungs­fähigkeit der Megamaschine kam wahrscheinlich von innen her: von ihrer Starrheit und der Unterdrückung individueller Fähigkeiten, und vom schieren Mangel eines vernünftigen Ziels.

Abgesehen von ihrer destruktiven Zweckbestimmung hatte die Militärmaschine noch viele andere inhärente Begrenzungen. Der Machtzuwachs wirkte sich auf die herrschenden Klassen darin aus, daß er die hemmungslosen Phantasien des Unbewußten freisetzte und sadistischen Impulsen Raum gab, für die es bis dahin kein kollektives Ventil gegeben hatte. Und zugleich hing die Leistung der Maschine von schwachen, keineswegs unfehlbaren, dummen oder eigensinnigen Menschen ab, so daß der Apparat sich unter Streß aufzulösen drohte. Die mechanisierten menschlichen Bestandteile selbst konnten nicht dauernd zusammengehalten werden ohne einen tiefen magisch-religiösen Glauben an das System, wie er sich im Götterkult ausdrückte. Daher muß es unter der glatten, eindrucksvollen Oberfläche der Megamaschine, selbst wenn sie von furchtgebietenden symbolischen Gestalten unterstützt wurde, von Anfang an viele Brüche und Sprünge gegeben haben.

Zum Glück konnte die menschliche Gesellschaft nicht in genaue Übereinstimmung mit dem theoretischen Gebäude gebracht werden, das der Königskult errichtet hatte. Ein zu großer Teil des Alltagslebens entzieht sich der wirksamen Aufsicht und Kontrolle und erst recht der Zwangsdisziplin. Von frühesten Zeiten an gibt es Hinweise auf Empörung, Widerstand, Ausweichen, Flucht: All das findet man in der klassischen Geschichte vom Auszug der Juden aus Ägypten. Selbst wenn kein kollektives Ausweichen möglich war, erwiesen sich die täglichen Vorgänge auf dem Bauernhof, in der Werkstatt, auf dem Marktplatz sowie die Stärke der Familienbindungen und des regionalen Zusammengehörigkeitsgefühls und die Verehrung kleinerer Götter als geeignet, das System der totalen Herrschaft zu schwächen.

Wie schon gesagt, scheint der schwerste Zusammenbruch der Megamaschine in jener Frühzeit erfolgt zu sein, als das Pyramidenzeitalter, nach den Überresten der Grabstätten zu urteilen, sich auf dem Höhepunkt befand. Nur ein revolutionärer Aufstand kann die Erklärung für das etwa zweihundertjährige Interregnum zwischen dem Alten Königreich und dem Mittleren Königreich sein.

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Und obgleich der archaische Machtkomplex schließlich erneuert wurde, war er durch einige wichtige Konzessionen modifiziert, unter anderem durch die Ausdehnung der Unsterblichkeit (einst ein Privileg der Pharaos oder der Oberklasse) auf die ganze Bevölkerung. Gibt es auch keine Aufzeichnungen über die eigentlichen Ereignisse, die den Sturz der Zentralregierung herbeigeführt und vollzogen haben, so besitzen wir doch, abgesehen von der beredten Aussage des Schweigens und der fehlenden Bautätigkeit, einen lebendigen Bericht über Veränderungen, wie sie nur nach einer gewaltsamen Revolution erfolgen konnten, von einem Anhänger der alten Ordnung, Ipuwer. Seine Klage gibt eine Darstellung der Revolution, von innen her gesehen, die ebenso bildhaft, wenn auch ebenso belletristisch ist wie Doktor Schiwagos Darstellung von der bolschewistischen Revolution.

Die erste Revolte gegen die etablierte Ordnung stellte die Machtpyramide, die der Megamaschine zugrundelag, auf den Kopf: Die Gattinnen der großen Herren wurden gezwungen, Dienerinnen und Prostituierte zu werden, sagt uns der Papyrus, und einfache Leute übernahmen Machtpositionen. 

»Torwächter sagen: <Laßt uns gehen und plündern> ... Ein Mann betrachtet seinen Sohn als seinen Feind ... Adelige wehklagen, während Arme frohlocken ... Schmutz ist im ganzen Land. Es gibt wirklich keinen, dessen Kleider weiß sind in diesen Zeiten ... Die die Pyramiden bauten, werden Bauern ... Die (gespeicherten) Getreidevorräte liegen offen da für jedermann.«

An diesem Punkt hatte die Wirklichkeit offenkundig die mächtige theologische Mauer durchbrochen und die soziale Struktur umgestürzt. Für eine Zeitlang lösten sich der kosmische Mythos und die zentralisierte Macht auf, während Feudalherren, Großgrundbesitzer, regionale Statthalter, Ratsherren in Stadt und Dorf, wieder in den Dienst der kleinen Ortsgötter gestellt, die Last der Regierung übernahmen. All dies hätte kaum geschehen können, wären nicht die schrecklichen Bürden, die das Königtum den Menschen auferlegt hatte, trotz der großartigen technischen Errungenschaften der Megamaschine unerträglich geworden.

Diese frühe Revolution bewies etwas, dessen wir heute vielleicht wieder eingedenk sein sollten: daß weder exakte Wissenschaft noch Technik gegen die Irrationalität jener gefeit ist, die das System beherrschen. Vor allem, daß auch die stärkste und wirksamste Megamaschine gestürzt werden kann, daß menschliche Irrtümer nicht ewigen Bestand haben. Der Zusammenbruch des Pyramidenzeitalters hat bewiesen, daß die Megamaschine auf menschlichem Glauben basiert, der zerbröckeln kann, auf menschlichen Entscheidungen, die sich als fehlerhaft erweisen können, und auf menschlicher Zustimmung, die, wenn der Zauber diskreditiert ist, versagt werden kann.

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Die menschlichen Elemente, die die Megamaschine bildeten, waren von Natur technisch unvollkommen: niemals absolut verläßlich. Bis wirkliche Maschinen aus Holz und Metall in ausreichender Menge erzeugt werden konnten, um die menschlichen Komponenten zum großen Teil zu ersetzen, sollte die Megamaschine verwundbar bleiben.

Ich habe diese Revolte angeführt, deren Konsequenzen, wenn auch nicht die einzelnen Ursachen, bestätigt sind, weil sie für viele andere Herausforderungen, Aufstände und Sklavenrebellionen stehen, die wahrscheinlich aus den offiziellen Chroniken sorgfältig eliminiert wurden. Zum Glück können wir die Gefangennahme und Flucht der Juden, deren Zwangsarbeit für die ägyptische Megamaschine aufgezeichnet wurde, hinzufügen; ebenso wissen wir von dem Sklavenaufstand, der in Rom unter der aristo­kratischen Senatsherrschaft ausbrach. Wir haben Grund, anzunehmen, daß es noch viele andere Revolten gab, die ebenso gnadenlos niedergeschlagen wurden wie Wat Tylers Rebellion und die Pariser Kommune von 1871.

Doch es gab normale Formen, Entfremdung und Widerstand, wenn nicht aktive Vergeltung, zum Ausdruck zu bringen. Manche dieser Formen waren in der Tat so normal, daß sie in nichts anderem bestanden als in der gesunden Entwicklung wirtschaftlicher Tätigkeit im kleinen Maßstab und weltlicher Interessen.

Die Stadt, obgleich zu Beginn selber ein königliches Großunternehmen, war nicht nur ein aktiver Rivale der Megamaschine, sondern auch, wie sich herausstellte, eine humanere und effektivere Alternative, besser geeignet, ökonomische Aufgaben zu organisieren und sich auf eine Vielzahl menschlicher Fähigkeiten zu stützen. Denn die große ökonomische Stärke der Stadt lag nicht in der Mechanisierung der Produktion, sondern in der Vereinigung der größtmöglichen Vielfalt von Berufen, Begabungen und Interessen. Anstatt menschliche Verschiedenheiten zu nivellieren und menschliche Reaktionen zu normieren, um eine wirksame Leistung der Megamaschine als geschlossene Einheit zu erzielen, anerkannte und betonte die Stadt die Unterschiede. 

Durch ständigen Kontakt und ständige Zusammenarbeit waren die führenden Männer und die Bürger der Stadt imstande, sogar ihre Konflikte dazu auszunützen, potentielle menschliche Fähigkeiten hervorzulocken, die durch Reglementierung und soziale Konformität unterdrückt worden wären. Die Kooperation in der Stadt, auf der Basis freiwilligen Austauschs, war im ganzen Verlauf der Geschichte eine ernsthafte Konkurrenz der mechanischen Reglementierung und hat diese tatsächlich häufig verdrängt.

Gewiß, die Stadt konnte sich niemals völlig den Zwängen der Megamaschine entziehen; wie hätte sie dies auch tun können, da doch die Zitadelle, Ausdruck der Verschmelzung von geistlicher und weltlicher Macht, das Zentrum beherrschte, als sichtbares Zeichen der unentrinnbaren Gegenwart des Königs?

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Doch das Leben der Stadt zog den vielstimmigen Dialog zwischen den Menschen dem eintönigen Monolog der Königsmacht vor, wenngleich diese wertvollen Attribute des Stadtlebens sicher nicht in den ursprünglichen Absichten des Königs gelegen waren und häufig unterdrückt wurden.

Ähnlich ermunterte die Stadt auch die Bildung von kleinen Gruppen und Verbindungen auf der Basis von Nachbarschaft und Beruf, deren bedrohliche Unabhängigkeit die souveräne Autorität stets mit Argwohn betrachtete. Die Tatsache bleibt bestehen, daß, wie Leo Oppenheim hervorhob, in Mesopotamien, wenn nicht in Ägypten, nur die Stadt genügend Kraft und Selbstachtung besaß, um die Staatsorganisation herauszufordern. »Eine kleine Anzahl alter und bedeutender Städte genoß Privilegien und Ausnahmerechte in bezug auf den König und dessen Macht... Im allgemeinen forderten die Einwohner der Freien Städte, je nach der politischen Lage mit mehr oder weniger Erfolg, Befreiung von Fronarbeit, Befreiung vom Militärdienst ... sowie Steuerfreiheit.« Oder, um die von mir eingeführte Terminologie zu verwenden: Diese alten Städte forderten ein hohes Maß an Befreiung von der Megamaschine.

 

Die Zügelung der Megamaschine 

 

Da die grundlegende institutionelle Wandlung, die der Errichtung der Megamaschine voranging, magischen und religiösen Charakter hatte, ist es nicht verwunderlich, daß die wirksamste Reaktion gegen die Maschine ebenfalls aus jenen mächtigen Quellen kam. Eine solche Reaktion scheint mir die Einrichtung des Sabbath zu sein: Dies war ein Weg, die Megamaschine periodisch zum Stillstand zu bringen, indem man ihr die Arbeitskräfte entzog. Einmal in der Woche war die kleine intime Grundeinheit, die Familie und die Synagoge, an der Reihe; sie machten, im Effekt, die menschliche Komponente geltend, die der große Machtkomplex unterdrückte.

Der Sabbath breitete sich, zum Unterschied von anderen religiösen Feiertagen, von Babylon auf die ganze Welt aus — hauptsächlich durch drei Religionen: Judentum, Christentum und Islam. Doch er war lokal begrenzten Ursprungs, und die hygienischen Gründe, die von Karl Sudhoff zu seiner Erklärung vorgebracht werden, sind zwar physiologisch stichhaltig, doch begründen sie nicht seine Existenz. Einen ganzen Tag der Arbeitswoche auszuschalten, ist eine Vorgangsweise, die nur in einem Gebiet denkbar war, wo es einen ökonomischen Überschuß gab, wo der Wunsch bestand, einen lästigen Zwang abzuwerfen, und ein Bedürfnis, die wichtigeren Belange des Menschen geltend zu machen. Die letztgenannte Möglichkeit muß, so sollte man annehmen, besonders anziehend für eine unterdrückte und ausgebeutete Gruppe wie die Juden gewesen sein.

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Nur am Sabbath genossen die untersten Klassen die Freiheit, die Muße und die Würde, die sonst nur der auserwählten Minderheit an allen Tagen zu Gebote stand.

Solche Zügelung, solche Herausforderung war offenkundig nicht das Ergebnis bewußter Beurteilung und Kritik des Macht­systems; sie muß viel tieferen, dunkleren kollektiven Quellen entsprungen sein, im Grunde vielleicht dem Bedürfnis, das Innenleben ebenso durch ein geordnetes Ritual zu kontrollieren wie durch Zwangsarbeit. Doch die Juden, die den Sabbath heiligten und ihn an andere Völker weitergaben, waren sicherlich mehr als einmal Opfer der Megamaschine geworden, da sie als ganze Gruppe in Knechtschaft gerieten; und in der Zeit des babylonischen Exils verbanden sie den Sabbath mit einem zweiten Nebenprodukt dieser Episode, mit der Einrichtung der Synagoge.

Diese organisatorische Einheit war frei von den Beschränkungen aller älteren Religionen, die an territoriale Götter, an eine ferne Priesterschaft und an eine Hauptstadt gebunden waren, da sie überallhin verpflanzt werden konnte; während der Führer einer solchen Gemeinschaft, der Rabbi, mehr Gelehrter und Richter als Priester und Diener einer königlichen oder städtischen Macht war. Wie die Dorfgemeinschaft beruhte die Synagoge auf einem Ich-und-Du-Verhältnis, auf direktem Kontakt; sie wurde nicht allein durch enge Nachbarschaft, nicht einfach durch ein gemeinsames Ritual und einen besonderen Tag für den Gottesdienst zusammengehalten, sondern ebensosehr durch regelmäßige Instruktion und Diskussion in Fragen der Sitten, der Moral und der Gesetze. Diese letztgenannte intellektuelle Aufgabe, die sich in der Stadt entwickelte, hatte der Dorfkultur gefehlt.

Soweit bekannt, besaß bis 600 vor Christus keine andere Religion diese wesentlichen Attribute, einschließlich Übertragbarkeit durch kleine Einheiten und Universalität, obwohl Woolley diese Merkmale auf die Religionsausübung im eigenen Haus zurückführt, die Abraham in Ur gelernt haben mag, wo sogar das Begräbnis in einer Krypta neben dem Wohnhaus stattfand. Mit der Synagoge gewann die jüdische Gemeinschaft die Autonomie und die Fähigkeit der Selbsterneuerung wieder, die das Dorf durch das Wachstum größerer politischer Organisationen verloren hatte.

Diese Tatsache erklärt nicht nur das wunderbare Überleben der Juden durch endlose Jahrhunderte der Verfolgung, sondern auch ihre weltweite Verbreitung. Noch bedeutsamer ist, daß sie zeigt, wie diese kleine Organisation, obwohl ebenso unbewaffnet und der Unterdrückung preisgegeben wie das Dorf, sich als aktiver Kern einer selbständigen Geisteskultur fünfundzwanzig Jahrhunderte lang halten konnte, während alle größeren, nur auf Macht gestützten Organisationen zerfielen. Die Synagoge besaß eine innere Kraft und Beharrlichkeit, an denen es hochorganisierten Staaten und Reichen, bei all ihren vorübergehend wirksamen Zwangsmitteln, stets gebrach.

Gewiß, die kleine kommunale Einheit, in ihrer judaischen Form, wies ernsthafte Schwächen auf. Vor allem war ihre Grund­voraussetzung, das Bestehen eines Bundes zwischen Abraham und Jehova, der die Juden zum auserwählten Volk machte, ebenso anmaßend wie der Anspruch des Gottkönigtums. Dieser unglückliche Fehler verhinderte lange Zeit, daß das Beispiel der Synagoge in größerem Maße Nachahmung fand und als Mittel zur Herstellung einer universaleren Gemeinschaft diente, was erst geschah, als die Häresie des Christentums entstand. 

Die jüdische Exklusivität übertraf sogar jene des Stammes oder des Dorfes, wo zumindest häufig Heiraten außerhalb der Gruppe ermutigt wurden. Trotz dieser Schwäche zeigen gerade die Antagonismen, welche die jüdische Gemeinschaft hervorrief, daß diese sowohl in der Synagoge als auch in der strikten Einhaltung des Sabbath ein Mittel gefunden hatte, um die Megamaschine zu behindern und ihren übermäßigen Ansprüchen entgegenzuwirken.

Die Feindseligkeit, die die Juden und die frühen Christen in allen großen Staaten erweckten, war ein Ausdruck der Hilflosigkeit militärischer Gewalt und »absoluter« politischer Macht gegenüber einer kleinen Gemeinschaft, die durch einen traditionellen gemeinsamen Glauben, unverletzliche Riten und rationale Ideale zusammengehalten wurde. Denn Macht kann sich auf die Dauer nicht durchsetzen, wenn nicht jene, denen sie auferlegt wird, Grund haben, sie zu respektieren und sich ihr zu beugen. Kleine, scheinbar hilflose Gemeinschaften, die einen inneren Zusammenhalt besitzen und wissen, was sie wollen, haben sich auf lange Sicht viel wirksamer gegen willkürliche Macht zu wehren verstanden als die stärksten militärischen Einheiten — und sei es auch nur, weil es so schwer ist, sie festzunageln und zur Konfrontation zu zwingen. 

Dies erklärt die Bemühungen souveräner Staaten aller Zeiten, solche Organisationen einzuschränken und zu unterdrücken, ob es sich nun um religiöse Sekten, Quäker, Kirchen, Gilden, Universitäten oder Gewerkschaften handelt. Und seinerseits zeigt dieser Antagonismus den Weg, auf dem die moderne Megamaschine in Zukunft gezügelt und einem bestimmten Maß nationaler Einflüsse und demokratischer Kontrolle unterworfen werden könnte.

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