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2 - Die Wiederkehr des Sonnengottes 

Mumford-1970

 

 

   Sonnenkult und Wissenschaft 

367-391

Soviel über die lange Reihe technologischer Veränderungen, die, vermutlich schon im elften Jahrhundert beginnend, im Zeitalter der Entdeckungen einen Höhepunkt erreichten. Doch wie es sich traf, lagen die entscheidenden technischen Verbesserungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts außerhalb des unmittelbaren Bereichs der Theologie — denn das große Ereignis, das über allen anderen Aktivitäten stand und die westliche Lebensanschauung umwandelte, war ein religiöses Phänomen: die Wiederkehr der Himmelsgötter und im besonderen des Sonnengottes.

Nicht, daß die Religion des Sonnengottes jemals völlig verschwunden wäre: In der neuen, vom Sonnenkult hergeleiteten institutionellen Praxis, die sich im Pyramidenzeitalter herausbildete, waren die Umrisse der großen Zivilisationen vorgezeichnet, und die Religion der Himmelsgötter, in deren Mittelpunkt die Person und Autorität des Gottkönigs stand, hatte sich entweder durch spontane Wiedererfindung oder durch unmittelbaren menschlichen Kontakt mit Personen und Ideen über die ganze Erde verbreitet; mit der Ausübung politischer und militärischer Herrschaft und mit Hilfe großer kollektiver Maschinen wurden erstaunliche Höchstleistungen der Geotechnik vollbracht: der Bau von Kanälen, Entwässerungssystemen, mächtigen Mauern, Tempeln und Städten.

Die oberste Gottheit der neuen Religion und des neuen mechanischen Weltbilds war kein geringerer als Atum-Re, der selbst­gezeugte Sonnengott, der aus dem eigenen Samen das Universum und alle untergeordneten Gottheiten — außer dem älteren Nun oder Ptah — ohne die Mithilfe des weiblichen Prinzips empfangen hatte. Um die Unmittelbarkeit dieser Reihenfolge zu bestätigen, braucht man sich nur zu erinnern, daß Kopernikus im Zuge der Korrektur der astronomischen Berechnungen des griechisch-ägyptischen Astronomen Ptolemäus (zweites Jahrhundert unserer Zeitrechnung) zu der Erkenntnis kam, daß die Erde, anstatt Zentrum des Universums zu sein, tatsächlich in einer vorhersagbaren Umlaufbahn um die Sonne kreist; indem Kopernikus der Sonne eine zentrale Position gab, war er in Wirklichkeit ein besserer Ägypter als Ptolemäus.

Wenn es einen Punkt gibt, von dem man sagen könnte, daß dort das moderne Weltbild als Ausdruck einer neuen Religion und als Grundlage eines neuen Machtsystems erstmals konzipiert wurde, so war dies das fünfte Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts. Damals wurde nicht nur Nikolaus Kopernikus' De Revolutionibus Orbium Coelestium publiziert, sondern auch Vesalius' Abhandlung über Anatomie, <De Humani Corporis Fabrica> (beide Werke 1543), Jerome Cordans Algebra, Die große Kunst (1545), und Fracastoros Bazillentheorie der Krankheiten, De Contagione et Con-tagiosis Morbis (1546). Für die Wissenschaft war dies das Jahrzehnt der Jahrzehnte, unübertroffen bis in unser Jahrhundert. Sollte der Leser bezweifeln, daß dies sowohl eine religiöse als auch eine wissenschaftliche und letztlich auch eine technologische Revolution war, dann möge er mit seinem Widerspruch warten, bis ich ihm die Beweise vorgelegt habe.

Die übliche Art, die kopernikanische Wende zu interpretieren, ist die Annahme, ihre erschütterndste Wirkung sei der Zusammenbruch der theologischen Vorstellung gewesen, daß Gott die Erde zum Zentrum des Universums gemacht hätte und daß es ihm vor allem auf den Menschen ankäme. Wenn die Sonne tatsächlich das Zentrum war, dann drohte der ganze Bau dogmatischer christlicher Theologie — mit ihrem einmaligen Schöpfungsakt, mit der menschlichen Seele als dem zentralen Interesse Gottes und der moralischen Probezeit des Menschen auf Erden als Vorbereitung auf die Ewigkeit, in der Gottes Wille sich erfüllen sollte — zusammenzubrechen.

Durch die neue Brille der Wissenschaft gesehen, wurde der Mensch kleiner: Als astronomische Quantität gesehen, bedeutete die Menscheit kaum mehr als ein kurzlebiger Mückenschwarm auf dem Planeten. Hingegen wurde die Wissenschaft, die diese erschütternde Entdeckung durch bloßen Gebrauch gewöhnlicher menschlicher Fähigkeiten, nicht durch göttliche Offenbarung, gemacht hatte, zur einzigen vertrauenswürdigen Quelle authentischen, achtbaren Wissens. Aber solche Schlußfolgerungen, so selbstverständlich sie heute erscheinen mögen, wurden von jenen, die zutiefst von der neuen Religion bestrickt waren, nicht unmittelbar gezogen. Drei Jahrhunderte lang versuchte der westliche Mensch beiden Welten das Beste abzugewinnen, ohne in Gedanken die selbstgesetzten Grenzen zu überschreiten.

Die unmittelbare Wirkung der neuen Theologie war eine ganz andere: Sie half, die alten Komponenten des Machtsystems, das letztlich vom Pyramidenzeitalter Ägyptens und Mesopotamiens herkam, wiederzu­beleben oder zu verjüngen. Wie im ersten Teil dieses Buches beschränke ich den Begriff Pyramidenzeitalter nicht strikt auf die ägyptische Kultur oder auf die vier Jahrhunderte (2700 bis 2300 vor Christus), als Pyramiden von zunehmender Größe tatsächlich gebaut wurden. Ich gebrauche ihn vielmehr als ein Kürzel, um die Veränderungen zu bezeichnen,

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die im vierten Jahrtausend vor Christus sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien vor sich gingen und durch eine typische Konstellation der Institutionen und der kulturellen Erfindungen gekennzeichnet waren: Kult des Gottkönigtums, astronomische Zeitmessung, schriftliche Aufzeichnungen, Teilung und Spezialisierung der Arbeit, organisierte Eroberung durch Krieg und Errichtung imposanter Monumental­bauten, Tempel, Paläste, ummauerter Städte, Kanal- und Bewässerungssysteme — und nicht zuletzt die Konstruktion der einst unsichtbaren Megamaschine.

Ist Ägypten auch der klassische Ort des Pyramidenzeitalters, so bedeutet dies nicht, daß Ägypten allen anderen Kulturen überlegen war oder sie unmittelbar beeinflußt hat. Doch die Tatsache, daß jener Institutionenkomplex, wenn auch nicht immer die Pyramidenform selbst, später in weit voneinander getrennten Kulturen, nicht nur in China, in Turkestan und im Iran, sondern auch in Kambodscha, Thailand, Peru und Mexiko zu finden ist, scheint diese Bezeichnung zu rechtfertigen.

Mit der Wiederherstellung ihrer alten zentralen Position im Denken der herrschenden Klassen wurde die Sonne tatsächlich wieder zum Gott. Dies geschah nicht nur, weil sie die wichtigste Energiequelle auf Erden war, was sie heute noch ist, sondern weil die Sonne der zentrale Bezugspunkt in der Bahn der Planeten einschließlich der Erde ist; die mechanische Regelmäßigkeit, die bereits in Maschinen, vor allem im Uhrwerk, erreicht war, widerspiegelte en miniature die absolute Ordnung des Kosmos. Im Lauf von weniger als hundert Jahren hatte die Sonne im Denken der wissenschaftlichen Beobachter ihre Position geändert: Sie war nicht mehr Satellit oder Diener, sondern Herr der menschlichen Existenz.

Im Sinne der neuen Gottheit müssen alle komplexen Phänomene auf das Meßbare, das Wiederholbare, das Vorhersagbare, das letztlich Kontrollierbare reduziert werden; zuerst im Geist, schließlich aber auch in der Organisierung des Alltagslebens. Der Sonnengott, das Symbol zentralisierter Macht, wurde zum vollendeten Vorbild für alle menschlichen Institutionen; und die Priester der Wissenschaft, deren mathematische Messungen diese Quelle kosmischer Ordnung erstmals erschlossen und nutzbar gemacht hatten, besaßen nicht die Spur eines Vorgefühls der möglichen Konsequenzen. In aller Unschuld legten die Astronomie und die Himmelsmechanik die Grundlagen für eine absolutistische Ordnung, in der Politik wie in der Wirtschaft, die Punkt für Punkt jener glich, welche dem Pyramidenzeitalter zugrundegelegen war. Aber es dauerte vier Jahrhunderte, ehe die große pharaonische Erfindung des Pyramidenzeitalters, die Megamaschine, wieder zusammengefügt werden konnte.

Die Verbindung der neuen Astronomie mit der Wiederbelebung des Gottkönigtums und zentralisierter politischer Macht ist kein bloßer Zufall und schon gar kein müßiges Gedankenspiel.

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Der größte europäische Monarch des siebzehnten Jahrhunderts, Ludwig XIV., dramatisierte trotz seiner Frömmigkeit als katholischer Fürst seine absolute Macht, indem er sich selbst den Namen Le Roi Soleil, der Sonnenkönig, gab. Und schon vor Ludwig XIV. verglich Norden in A Christian Familiar Comfort den Staat mit dem Himmel und Königin Elisabeth und den Kronrat mit dem primum mobile oder dem mächtigsten Himmelskörper. »Der roi soleil ist in der Tat einer der beharrlichsten aller elisabethanischen Gemeinplätze«, fügt Tillyard hinzu. War diese zentrale Macht erst einmal etabliert, so tauchten all die anderen Institutionen des alten Systems in nur wenig verändertem Gewand wieder auf: Priesterschaft, Armee, Bürokratie. Mit ihrer Unterstützung wurde der ganze Kult wieder wirksam und arbeitete auf ein System absoluter Macht hin, das imstande war, große Menschenmassen zu unterwerfen und zu beherrschen und so die Grenzen des »Menschenreichs«, wie Francis Bacon sagte, bis zur »Verwirklichung aller möglichen Dinge« auszudehnen.

Das erste Zeichen für die Thronbesteigung des Sonnengottes erschien also nicht in der Technik, sondern in der Politik: Die neue Religion bestärkte sowohl ideologisch als auch praktisch den Glauben an die Macht, an grenzenlose, uneingeschränkte Macht. »Wissenschaftliches Denken«, bemerkte Bertrand Russell einmal, die wissenschaftliche Weltanschauung richtig deutend, »ist im wesentlichen Machtdenken - das heißt, ein Denken, dessen bewußter oder unbewußter Zweck darin besteht, seinem Träger Macht zu geben.« Die Verehrung des Sonnengotts war das Ergebnis derselben Interessenkonstellation, die in der Astrologie den Anstoß zur Wiederaufnahme der Planetenbeobachtung gegeben hatte.

Nun war die Astrologie viel früher schon vom heiligen Augustinus und von anderen christlichen Theologen als heidnischer Aberglaube, als unvereinbar mit dem Glauben an die ausschließliche Vorsehung Gottes und den freien Willen des Menschen verdammt worden. Mit der späteren Zersetzung des christlichen Glaubens erhielt die Astrologie eine besondere Rolle als Ersatzreligion; und die Suche nach okkultem Wissen, das auf dem Zusammenhang zwischen der Geburtsstunde eines Menschen und der Stellung der Gestirne beruht, erforderte nicht nur exakte Zeitmessung, sondern auch genaue Beobachtung des Himmels. So begünstigte die Astrologie die Astronomie, so wie die Alchimie die Chemie förderte. Diese Studien waren wichtiger wegen der Methode als wegen ihrer angeblichen Resultate. Sowohl Kopernikus als auch Kepler stellten Horoskope; und durch genaue Beobachtung der Planetenbewegungen wie auch durch mühselige mathematische Berechnungen bestätigte Tycho Brahe die Schlußfolgerungen des Kopernikus und ermöglichte Keplers Korrekturen.

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Von Anfang an erfreute sich die Astronomie der Gunst des Hofes. Die Aufstellung des Sonnenkalenders war immer schon ein wichtiges Attribut der Königsmacht, wo diese auch entstand; und ein Menschenalter nach der Abhandlung des Kopernikus verordnete das geistliche Haupt der Christenheit, der Papst, die jüngste Revision des Kalenders. Nicht ohne Grund hält der Vatikan sich immer noch seine eigenen Astronomen, wenn auch nur, um die beweglichen Festtage zu regulieren. Jeder Königshof in Europa besaß seinen Hofastrologen, so wie es seine Vorgänger in Ägypten und Babylon Tausende Jahre früher gehalten hatten. Ohne dieses starke Interesse an der Astrologie hätte die Wissenschaft nicht die Unterstützung erhalten, deren sie sich bei Königen und Staatsmännern erfreute — eine Unterstützung, welche die weitverbreitete Meinung widerlegt, die moderne Wissenschaft hätte sich anfänglich gegen harte Widerstände durchsetzen müssen.

Aber die Astrologie leistete noch einen anderen Beitrag zur exakten Wissenschaft: Sie erhob den Glauben an den Determinismus in seiner striktesten Form zum Dogma; denn sie interpretierte einzelne Lebensereignisse als kollektive statistische Wahrschein­lichkeiten, auf der Grundlage von Daten, die auf königlichen Befehl aus einer großen Zahl einzelner Lebens­geschichten gesammelt und geordnet wurden. So hat das königliche Patronat nicht bloß die Beobachtung der Sterne gefördert, sondern auch den Grundstock zum nüchternen, pragmatischen Determinismus der Naturwissenschaften gplegt. Hatte diese unbeweisbare Annahme sich erst einmal in den Köpfen festgesetzt, dann konnte sie sogar einen stolzen Mathematiker zu der Prahlerei veranlassen, man vermöge auf Grund genügender Kenntnis eines einzigen Ereignisses die Position und den Zustand jedes anderen Teilchens im Universum vorherzusagen. Diese unglückselige intellektuelle Hybris bereitete schon frühzeitig den Boden für das verdächtige Bündnis zwischen wissenschaftlichem Determinismus und autoritärer Herrschaft, das heute die menschliche Existenz bedroht.

Ursprünglich unter dem Einfluß der Astrologie, verwandelte die Astronomie die rein religiöse Himmels­auffassung, die auf ein Jenseits — auf Unendlichkeit, Ewigkeit, Unsterblichkeit — orientiert war, in die Wissenschaft von den Bewegungen der Himmelskörper im grenzenlosen Weltraum, der sich mit jeder Verbesserung des Teleskops erweiterte. Die begrenzte, in sich geschlossene, auf den Menschen bezogene Welt der christlichen Offenbarung war aus dieser neuen Sicht nicht mehr glaubhaft. Daß diese neue Welt, die dem Licht, der Energie und der Bewegung den Vorrang gab, ebenso subjektiv und anthropomorph war wie die ältere Betrachtungsweise, mußte erst entdeckt werden. Aber an der unmittelbaren Wirkung auf die Astronomen ist nicht zu zweifeln. Wie Butterfield sagt: »Kopernikus wird lyrisch und beinahe ehrfürchtig, wenn er über den königlichen Charakter und die zentrale Position der Sonne schreibt.« In diesem Zustand emotioneller Verzückung wurde der Sonnengott wiedergeboren und die alte Megamaschine erneut zusammengefügt und wiederaufgebaut.

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Obwohl Galilei kein Mystiker wie Johannes Kepler war und obwohl er zögerte, etwas gegen die vorherrsch­ende ptolemäische Beschreibung der Planetenbewegungen zu sagen, hatte er die gleichen Gefühle wie Kopernikus, zumal das neu erfundene Teleskop ihn den Fix- und den Wandelsternen viel näher brachte. »Wer am weitesten sieht, steht am höchsten«, sagte Galilei; und in der Widmung seines Dialogs über die Weltsysteme fügte er stolz hinzu: »Die Hinwendung zum großen Buch der Natur, dem wahren Gegenstand der Philosophie, ist der Weg, einen weit hinauf sehen zu lassen ... Wenn daher jemals Menschen beanspruchen konnten, sich durch ihre Geistesgröße deutlich von den anderen zu unterscheiden, so waren es Ptolemäus und Kopernikus, die die Ehre hatten, am weitesten zu sehen und die Weltsysteme am tiefsten zu ergründen.«

Leider wiederholten die neuen Denker bei dem Versuch, das Buch der Natur genauer zu lesen, den Fehler von Thales und Aristarch: Unüberlegt verbannten sie den Denker selbst aus dem Bild, so kategorisch und willkürlich, wie Sokrates — und nach ihm die christlichen Theologen — der Natur den Rücken gekehrt hatten. Erst als die Astronomen entdeckten, daß eine Fehlerquelle in ihren Beobachtungen die Zeitspanne war, die das Nervensystem braucht, um eine Botschaft vom Auge zum Gehirn zu übermitteln, erkannten sie, daß es keinen Teil der Außenwelt gibt, der nicht zum Menschen gehört oder anders als mit Hilfe der physiologischen Eigenschaften und der kumulativen Kulturleistungen des Menschen erforscht werden kann — daß schon die Vorstellung eines vom Menschen unabhängigen Universums selbst eine spezifisch menschliche Hervorbringung war, die mit der Geschichte und dem Bewußtsein des Menschen zusammenhing.

Was Größe und Bedeutung des Menschen verringerte, waren offenbar nicht die neuen Wahrheiten, welche die Astronomie über die Unermeßlichkeit der physikalischen Natur enthüllte, sondern alte Wahrheiten über ihn selbst, die er vernachlässigt hatte. Jene, die aufwärts, auswärts und vorwärts blickten und bereit waren, astronomische Entfernungen zu überwinden, vergaßen, abwärts, inwärts und rückwärts zu blicken; der Sonnengott hatte sie verwirrt und geblendet, so daß sie die wissenschaftliche Realität als eine Landschaft ohne Menschen auffaßten — und dabei die Künstler vergaßen, die ungezählte Generationen damit verbracht hatten, diese Landschaft zu malen, und ohne die das Universum in seiner unermeßlichen Weite buchstäblich undenkbar wäre.

Die neue Welt, die von Astronomie und Mechanik erschlossen wurde, beruhte in der Tat auf einer dogmatischen Prämisse, die von Anfang an nicht nur die Präsenz des Menschen, sondern auch die Erscheinungen des Lebens ausschloß.

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Nach dieser neuen Prämisse war der Kosmos primär ein mechanisches System, das nur anhand eines mechanischen Modells völlig verstanden werden konnte. Nicht der Mensch, sondern die Maschine wurde zum entscheidenden Merkmal in diesem neuen Weltbild; daher bestand der Hauptzweck der menschlichen Existenz darin, dieses System zu bestätigen, indem der Mensch die von der Sonne ausgestrahlten Energien nutzbar machte und lenkte und jeden Teil der Umwelt den strengen Befehlen des Sonnengottes gemäß umgestaltete. In dieser mechanischen Orthodoxie sollte der Mensch sein Heil finden.

Obgleich die Religion des Sonnengottes, die den neuen Machtkomplex hervorbrachte, ungeheure praktische Folgen — politische, militärische und ökonomische — haben sollte, wäre es ein Irrtum, zu glauben, diese Motive seien von Anfang an im Vordergrund gestanden; vielmehr waren es die numinosen und luminösen Aspekte der Astronomie, die in ihrer Losgelöstheit von den drückenden Sorgen der Menschen eine neue, von menschlicher Selbstsucht unbefleckte Heilsbotschaft anzubieten schienen. In eine Welt, die noch vom unablässigen Streit der Theologen widerhallte und in ideologische Verwirrungen verstrickt war, brachte die neue Astronomie eine klärende Ordnung, die durch ihr bloßes Erscheinen — um einen damals gebräuchlichen Ausdruck zu verwenden — »Sphärenmusik« heraufbeschwor.

Diese neue Welt von Licht und Weite, unberührt von der Präsenz des Menschen, war bis in unsere Epoche hinein ein Refugium vor dem dogmatischen Zank und den grausamen religiösen Verfolgungen, die das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert kennzeichneten. Noch im achtzehnten Jahrhundert waren die am häufigsten verwendeten Worte der Wissenschaftler, wenn sie das neue, von Newton in solcher Erhabenheit dargestellte Natursystem im Sinne hatten, »Ordnung« und »Schönheit«. Wenngleich die Stille des unendlichen Raumes Pascal erschreckte, war es gerade diese Stille und Weite, die vielen gequälten Geistern Trost verschaffte.

Übersieht man die religiöse Aura, die über den großen wissenschaftlichen Entdeckungen von Kopernikus bis Newton schwebte und niemals völlig verschwand, so entgeht einem der verborgene subjektive Beitrag der neuen Weltanschauung und ihre große geistige Macht. Während der christliche Himmel zusammenschrumpfte, dehnte sich der astronomische Himmel aus. Solch gewaltige Veränderungen, wie sie in den letzten dreihundert Jahren vor sich gingen, konnten sich nur aus einer tiefen religiösen Neuorientierung heraus entwickeln, die jeden Aspekt der Existenz durchdrang. Nur aus solchen Voraussetzungen läßt sich der ungeheure Einfluß erklären, den das astronomische und mechanische Weltbild auf viele der fähigsten Geister ausübte — und noch immer ausübt.

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So wie den geographischen Entdeckungen dämonische und kriminelle Impulse folgten, welche die utopischen Hoffnungen zerstörten, so war hinter der wohltätigen Ordnung und der geometrischen Schönheit der neuen Wissenschaft leider ein altes Machtsystem wieder auferstanden, und zwar in bis dahin unvorstellbarem Ausmaß. Weit davon entfernt, die menschlichen Belange auf Bedeutungslosigkeit zu reduzieren und alle weltlichen Ambitionen zu entmutigen, förderte der neue Kult paradoxer­weise eine ungeheure Konzentration auf die Meisterung des irdischen Lebens: Entdeckung, Erfindung, Eroberung, Kolonisierung — das alles war auf unmittelbare Erfüllung gerichtet. Das Heute, nicht das Hernach zählte.

Indem sie den Blick auf den Himmel und auf die Bewegungen der Himmelskörper richteten, führten die wissenschaftlichen Revolutionäre eine strenge religiöse Tradition fort, die auf die Anfänge der Zivilisation, wenn nicht noch weiter zurückgeht; unmittelbar knüpften sie bei den alten Griechen an. Als Pythagoras gefragt wurde, warum er lebe, antwortete er: »Um den Himmel und die Natur zu betrachten.« Das schlug den neuen wissenschaftlichen Ton an. Ähnlich erwiderte Anoxagoras, wie de Santillana berichtet, auf den Vorwurf, er mache sich nichts aus seinen Landsleuten und seiner Stadt, zum Himmel deutend: »Dort ist mein Land.« Die Ersetzung des christlichen Universums, das auf die Existenz des Menschen und dessen letztliche Erlösung gerichtet war, durch ein rein unpersönliches Universum ohne Gott, von der glühenden Sonne abgesehen, ohne sichtbaren Zweck oder erstrebenswertes menschliches Ziel, dürfte ein schlechtes Geschäft gewesen sein — ja, ein bedauernswerter Verlust. Aber zum Ausgleich wurde die Wissenschaft zur einzigen Quelle des Sinns und die Erforschung wissenschaftlicher Wahrheit zum höchsten Lebenszweck.

Henry A. Murray hat dieser Orientierung auf den Himmel einen Namen gegeben — Asiensionismus; er versteht darunter nicht nur die Vorliebe für Astronomie, sondern die allgemeine psychische Ausrichtung auf Helligkeit, Schweben, Fliegen, Klettern, Aufwärtsdeuten und Aufwärtsstreben, vielleicht auch die hierarchische Ordnung, in der die höchste Einheit oder die höchste Person das äußerste an Macht, Intelligenz oder göttlicher Autorität repräsentiert. Aber Murray zeigte auch, daß die Umwelt immer weniger von lebenden Organismen bevölkert ist, je höher man zur symbolischen Bergspitze aufsteigt, und die Luft immer dünner und schwerer zu atmen wird - sowohl faktisch als auch bildlich weniger geeignet für menschliches Leben. Nicht zufällig, sondern auf Grund innerer Notwendigkeit, um den Lebenskräften gerecht zu werden, stand dem Sonnengott, Atum-Re, im ägyptischen Pantheon Osiris gegenüber, der Freund des Menschen, Lehrer von Ackerbau und Handwerk, der Gott von Leben und Tod, von Bestattung, Wiederauferstehung und Erneuerung; der Gott, der in anderer Form zum Mittelpunkt des christlichen Universums wurde.

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Für jene, die immer noch meinen, daß ich die subjektive, emotionale, religiöse Anziehungskraft der neuen kosmischen Ordnung mit der Sonne als Mittelpunkt übertreibe, möchte ich Keplers Worte zitieren. Sie sind um so überzeugender, als Kepler in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler imstande war, das alte ideologische Vorurteil zugunsten vollkommener Formen, wie der des Kreises, so weit zu überwinden, daß er nach vielen Bemühungen, diesen Schluß zu umgehen, die Bahn der Erde um die Sonne als Ellipse erkannte. Man höre nun seine Beschreibung der Sonne, in der die beiden Himmel, der alte der christlichen Theologie und der neue der Astronomie, der exakten Wissenschaft, miteinander verschmelzen und eins werden.

»Vor allem«, sagt er, »so ein Blinder es auch leugnen möge, ist der wunderbarste aller Himmelskörper die Sonne: Ihr innerstes Wesen ist nichts Geringeres als das reinste Licht; es gibt keinen größeren Stern als sie; einzig und allein sie ist Erzeugerin, Bewahrerin und Erwärmerin aller Dinge; sie ist eine Quelle von Licht, reich an fruchtbarer Wärme und wunderschön, hell und rein anzusehen, die Quelle der Sehkraft, Malerin aller Farben, obgleich selbst ohne Farbe, Königin der Planeten genannt wegen ihrer Bewegung, Herz der Welt wegen ihrer Kraft, Auge der Welt wegen ihrer Schönheit, und sie allein sollten wir des Allerhöchsten Gottes würdig erachten, so er an einem stofflichen Wohnsitz Gefallen finden und einen Ort wählen sollte, um dort mit den seligen Engeln zu weilen.«

Vieles an dieser Beschreibung beruht natürlich auf Tatsachen; aber Keplers Rhetorik ist die Sprache religiöser Anbetung. Und es spricht nicht gegen die Auffassung, daß die Sonnenanbetung als Wiedergeburt der Religion zu betrachten ist, wenn man entdeckt, daß Kopernikus und Kepler darin nicht die einzigen waren. Tillyard, zum Beispiel, weist darauf hin, daß die Sonne im elisabeth­anischen Zeitalter allgemein als materielles Gegenstück Gottes betrachtet wurde. Der zeitgenössische Autor des Cursor Mundi kam sogar, von jedem christlichen Standpunkt aus, in gefährliche Nähe offener Ketzerei, denn er bezeichnete die Sonne als Gott-Vater, die Sphäre der Fixsterne als den Sohn und den dazwischenliegenden »Äther« als den Heiligen Geist.

Durch einen seltsamen Zufall war die Zeitspanne zwischen Kopernikus' Abhandlung über die Planeten­bahnen und Newtons Gravitationsgesetz ungefähr gleich lang wie die zwischen dem Bau der ersten Stufenpyramide in Ägypten und der Errichtung der großen Pyramide in Gizeh. »Wo die Geschichte dank Königen oder Imperien im Vormarsch ist«, sagt Mircea Eliade, »herrscht die Sonne.«

Niemand kann bezweifeln, daß in der westlichen Welt die Geschichte vom sechzehnten Jahrhundert an im Vormarsch war, oder daß es die Könige Portugals, Spaniens, Englands und Frankreichs waren, Monarchen von Gottes Gnaden, die die Initiative ergriffen, mit dem eigenen Volk große Teile der Erde zu erobern und zu kolonisieren.

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Mittlerweile versiegten die mehr begrenzten Unternehmungen der Venezianer und der Genueser, der Florentiner und der Hanseaten, der Führer der ersten Welle von Wanderungen und Eroberungen, denn sie waren nicht vom Zauber des Gottkönig­tums begünstigt und daher nicht mit dem neuen kosmischen Sitz der Macht und mit dem Mythos, der ihn unterstützte, verbunden. Indem Kopernikus die Sonne zum Mittelpunkt des Planetensystems machte, hatte er, ohne es zu wissen, auch Europa zum Mittelpunkt der beiden neuen Welten gemacht, die zur gleichen Zeit entstanden: der Neuen Welt der geographischen Entdeckungen und der neuen Welt der Maschine. Diese erwies sich als ein der geistigen Kolonisierung offenstehendes Imperium, noch größer und reicher als jenes, das durch militärische Eroberung und Besiedelung gewonnen wurde.

Schließlich wurde ein bestimmter Platz in Europa, das astronomische Observatorium in Greenwich, zum anerkannten Standort für die Zeitrechnung in beiden neuen Welten; und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war Großbritannien das Zentrum des einzigen globalen Weltreichs in der Geschichte, da es, anders als Dschingis Khans Machtbereich, als einziges sich wahrheits­gemäß rühmen konnte, daß in ihm die Sonne niemals unterging. Aber der Anspruch war vermessen, und gleich allen anderen Kolonialreichen erwies sich das neue Staatsgebilde als kurzlebig; am Ende fiel die Verlegung dieses Observatoriums von seinem ursprünglichen Ort — eine schmerzhafte, wenn auch ungewollte Symbolik — mit dem Zerfall des britischen Empires zusammen. Diese historische Koinzidenz ist beinahe zu exakt.

Drei Jahrhunderte vergingen, ehe die vollen Konsequenzen jener Wandlungen zum Vorschein kamen oder als ein zusammen­hängendes Ganzes gesehen werden konnten; das heißt, ehe die Gesetzmäßigkeiten, die am Himmel beobachtet wurden — sogar in solch einem Fall wie der vorausgesagten Bahn des Halleyschen Kometen, der pünktlich wiederkehrte —, auf jede Art Organisation, mechanische wie menschliche, übertragen werden konnten. Um die ungeheuren Folgen der Veränderungen zu verstehen, denen wir heute gegenüberstehen und von denen manche die Möglichkeiten weiterer menschlichen Entwicklung aufzuhalten oder sogar völlig zu zerstören drohen, müssen wir die subjektiven und ideologischen Grundlagen der Entdeckung dieser beiden neuen Welten im Detail erforschen. In den folgenden Kapiteln werde ich die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die Neue Welt der Maschine und auf die menschliche Seite der Folgen dieser Technologie für »Leben, Prosperität und Gesundheit« des modernen Menschen richten.

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Die Samen, die im sechzehnten Jahrhundert plötzlich aufgingen, waren lange im Boden vergraben gewesen, bereit, im richtigen Augenblick Keime zu treiben. Es gab keinen einzigen Gedanken in dem neuen wissenschaftlichen und technischen System, der nicht in irgendeiner Form schon vorher existiert hätte. Himmelsmechanik, astronomische Messungen, Heliozentrismus, empirische Beobachtungen und Experimente, die Entdeckung, daß die Erde ein Sphäroid ist, die Anschauung, daß Veränderung allein real und Statik eine Illusion ist (Heraklit), daß Materie, wie schwer auch immer, aus winzigen Partikeln, gleich in der Sonne tanzenden Stäubchen, zusammengesetzt ist, die Atomlehre von Leukippos und Demokrit, Epikur und Lukretius — kurz, die Haupthypothesen der Wissenschaft nach dem sechzehnten Jahrhundert —, all das war, wenn auch nur ungefähr, von den Ägyptern, Babyloniern, Chinesen, Griechen. Römern und Arabern formuliert worden, ehe die einzelnen Fragmente wieder ausgegraben und zusammengesetzt wurden. Vor allem waren die beiden Hauptwissenschaften, die Astronomie und die Geometrie, ein integraler Bestandteil der Wissenschaft des Mittelalters und ihrer speziellen Gabe, metaphysische Abstraktionen zu handhaben.

Doch es kam ein Moment — ein Moment, der etwa zweihundert Jahre dauerte —, wo diese wertvollen Einsichten unter dem direkten Einfluß des Sonnengottes aufeinander einwirkten und zu einem einzigen System von Macht und Organisation verschmolzen: in Diagrammform dargestellt durch das enthumanisierte mechanische Weltbild. Dieses Diagramm, so häufig in der Technik angewandt — und für so nützliche Zwecke anwendbar —, wurde damals mit der Realität verwechselt. Umgekehrt wurden alle Erscheinungen des Lebens in rein mechanische Formen gezwängt und damit viele der wichtigsten Wesenszüge der Organismen, Persönlichkeiten und menschlichen Gemeinschaften unterdrückt. Diese mechanistische Umkehrung war um so leichter, als die älteren Mythen und die verworrenen Kollektivträume angesichts der aufsteigenden Sonne sich von selbst auflösten. All dies hatte weitreichende Folgen.

Während viele der älteren Ideologien fälschlich eine statische Welt mit der Erde als Mittelpunkt und nur sehr begrenzten Möglichkeiten der Veränderung, meist zyklischer oder apokalyptischer Art, angenommen hatten, förderte die neue Ideologie ein intensives Interesse an Raum, Zeit und Bewegung in ihrem weitesten kosmischen Rahmen, nicht in dem Rahmen, in dem Organismen tatsächlich in ihrem irdischen Lebensraum funktionieren, vermischt mit anderen Organismen und in Verfolgung ihrer eigenen weitergehenden Lebensmöglichkeiten. Abstrakte Bewegung ergriff Besitz vom westlichen Geist. Die Erdrotation, die majestätische geometrische Bahn der Planeten, die Pendelschwingung, der Bogen, den sausende Projektile beschrieben, der exakte Gang des Uhrwerks, der Umlauf der Wasserräder, der beschleunigte Lauf von Segelschiffen oder Landfahrzeugen — all dies wurde nun an sich interessant.

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Geschwindigkeit verkürzt die Zeit; Zeit ist Geld; Geld ist Macht. Weiter und weiter, schneller und schneller — galt als Inbegriff des menschlichen Fortschritts.

Die Alltagssprache reichte nicht mehr aus, um diese eindringlich dynamische Welt zu beschreiben, noch half sie, diese zu lenken. Dazu bedurfte es neuer Symbole und logischer Operationen — Algebra, Trigonometrie, Differenzial­rechnung und Vektoren­analyse. Wenngleich keine wirkliche Analogie zwischen einem Planetensystem und einer Maschine besteht, haben doch beide die Eigenschaften der Bewegung und der Meßbarkeit; und so erwiesen sich die abstrakten Fortschritte, die zuerst in Astronomie und Mechanik gemacht wurden, als nützlich für mechanische Erfindungen in allen Bereichen, sowohl direkt als auch auf Umwegen; denn in beiden Fällen war es notwendig, qualitative organische Faktoren auszuschließen und sich auf Quantitäten zu konzentrieren.

Dieses Verhältnis war reziprok: Die zunehmende Verwendung von Artillerie im Krieg erheischte verbesserte wissenschaftliche Grundlagen, um die Zielgenauigkeit zu erhöhen, und diese wiederum erheischte das Fernglas, um das bloße menschliche Auge zu ergänzen. Ein ebensolches militärisches Erfordernis führte zur Entwicklung des Computers.

So ist es kaum verwunderlich, daß Galilei im Arsenal von Venedig eines seiner besten Laboratorien fand und daß seine Beobachtung der schwingenden Lampe im Dom von Pisa die Verwendung des Uhrpendels zur Verbesserung der Zeitmessung hervorbrachte.

Umgekehrt wurden aus der Maschine abgeleitete Metaphern und Analogien geschickt, wenn auch vergröbert, auf Organismen angewandt; das Leben auf seine quantitativen mechanischen und chemischen Komponenten zu reduzieren, schien eine unfehlbare Methode, ihm alles Geheimnisvolle zu nehmen. Einer der originellsten und fruchtbarsten Beiträge zum Studium lebender Organismen im siebzehnten Jahrhundert war Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs, wobei er das Herz als eine Pumpe mit Rohren, Venen oder Arterien genannt, beschreibt, deren Blutstrom durch Ventile reguliert wird. Borelli wiederum versuchte, die Fortbewegung der Tiere in ebenso mechanischen Begriffen zu interpretieren. Beides waren bewundernswerte Beiträge, solange ihre deskriptive Unvollkommenheit nicht als die des lebenden Organismus aufgefaßt wurde; denn das Leben war das »filter­passierende Virus«, das hämisch durch die Poren des neuen mechanischen Behälters entschlüpfte.

Diese Weltanschauung setzte sich in der Gedankenwelt der Gesellschaft nicht auf einen Schlag durch; nur in der Rückschau fügen sich die Ereignisse des sechzehnten Jahrhunderts zu einem erkennbaren mechanischen Muster zusammen. Die neue Ideologie sickerte vielmehr durch tausend Spalten und Risse in die allgemeine Denkweise ein, wogegen keine Verbote einzelner Bücher oder Lehren durch kirchliche Edikte auf lange Sicht etwas ausrichten konnten.

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Tatsächlich hat die Wissenschaft, trotz Konflikten und Scharmützeln mit der Kirche, keine Märtyrer hervorgebracht — obwohl es religiöse Märtyrer wie Michael Servetus und humanistische Märtyrer wie Giordano Bruno gegeben hat. Das Schicksal des letztgenannten, der trotzig den Lehren der Kirche widersprach, steht im Gegensatz zu dem von Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes, die vorsichtig dem Martyrium auswichen und darum nicht ganz zum Schweigen gebracht werden konnten.

Die Furcht vor der unerbittlichen Inquisition hat allerdings häufig Publikationen über neue Erkenntnisse verzögert und deren Verbreitung gebremst; aber Stolz und Eitelkeit einzelner Wissenschaftler, die danach trachteten, sich die Priorität zu sichern und neue Entdeckungen in Anagrammen und ähnlichen Verkleidungen zu verbergen, sind ebenfalls an der Verzögerung neuer Ideen mitschuldig. Was immer die Kirche auch sagen oder tun mochte, Tatsache ist, daß Könige und Kaiser, seit Friedrich II. von Sizilien, wiederholt Wissenschaftlern ihre Gunst gewährt haben.

Sobald die Wissenschaftler sich entschlossen, Theologie, Politik, Ethik und aktuelle Ereignisse aus der Sphäre ihrer Diskussionen zu verbannen, waren sie den Staatsoberhäuptern willkommen. Als Gegenleistung — und dies bleibt eines der schwarzen Punkte gegen die strenge wissenschaftliche Orthodoxie mit ihrer bewußten Gleichgültigkeit moralischen und politischen Fragen gegenüber — schwiegen die Wissenschaftler gewöhnlich zu öffentlichen Angelegenheiten und waren äußerlich, wenn nicht ostentativ, loyal. Deshalb machte ihre geistige Isolierung sie zu prädestinierten Rädchen der neuen Megamaschine. Napoleon I., dem diese politische Neutralität bekannt war, mißtraute deshalb den Humanisten und schloß sie aus seinem Kreis als Stören­friede aus, während er Mathematiker und Naturwissenschaftler schätzte.

Selbst unter dem Eindruck der Provokation des Mißbrauchs der Atomenergie als Instrument des Völker­mordes durch die Regierung der Vereinigten Staaten im Jahre 1945 gingen die Kernphysiker, obgleich nicht wenige unter ihnen menschliche Bedenken und moralische Besorgnisse hegten, niemals so weit, einen Generalstreik der Wissenschaftler und Techniker vorzuschlagen. Nur eine mutige Minderheit verschmähte die Förderung und den Lohn, den die Regierung ihnen für ihre Zustimmung, wenn schon nicht für aktive Mitwirkung anbot. Die Wissenschaft, ich wiederhole, produzierte viele Heilige, die ihr Leben mit mönchischer Hingabe ihrer Forschungsarbeit widmeten, aber keine nennenswerten rebellischen Märtyrer gegen das politische Establishment. Aber wie wir später sehen werden, ist diese Distanzierung, diese Weigerung vielleicht endlich doch schon im Kommen.

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  Träume von der Neuen Welt kontra Realitäten der Alten Welt 

 

Dies waren also, in knappsten Umrissen, die beiden neuen Welten, die vom abendländischen Menschen im sechzehnten Jahrhundert Besitz ergriffen: die geographische Neue Welt und die mechanische Neue Welt. Und diesen beiden ist meiner Ansicht nach eine dritte Neue Welt hinzuzufügen, die Neue Welt der historischen Zeit, die in den letzten paar Jahrhunderten den ganzen menschlichen Horizont erweitert hat. Diese Eroberung der Zeit hat in subtiler Weise die Perspektive des modernen Menschen verändert und neue Möglichkeiten eröffnet, ihn aus dem Griff seiner unbewußten Vergangenheit mit ihren vergrabenen Traumata und ihrer sinnlosen Wiederholung erwiesener Irrtümer befreit. Aber die Vollendung dieses Prozesses liegt noch in der Zukunft.

Was ich nun erklären will, ist die Frage, wieso die beiden ersten Initiativen fehlschlugen, als sie von Vorstellungen und Plänen zu deren Verwirklichung übergingen. Wie kommt es, daß die Entdeckungen und die Kolonisierung mit solch schändlicher Brutalität, mit solcher Mißachtung traditioneller menschlicher Werte, mit so wenig Bedachtnahme auf die Zukunft verbunden waren, obwohl doch diese Anstrengungen zumeist im Namen einer besseren Zukunft gemacht wurden? Und wie kommt es, daß die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, mit ihrem Zweck, den Menschen von der Last schwerer Arbeit auf niedrigem Existenzniveau zu befreien, ihm neue Lasten aufbürdete, neue Krankheiten, neue Entbehrungen brachte, in einem Alltag, in welchem es dem Menschen an jedem Kontakt mit der Sonne, dem Himmel und mit anderen Lebewesen, auch denen seiner eigenen Art, mangelt?

Kurz, wie geschah es, daß die schöne neue Welt von Shakespeares Sturm zur ironischen Schönen neuen Welt Aldous Huxleys wurde — die nun allgemein als das unausweichliche Schicksal des modernen Menschen dargestellt wird? Auf diese Fragen kann noch niemand mehr als eine mutmaßende und unvollständige Antwort geben. Doch es mangelt nicht an gewissen Schlüsseln zu dieser kolossalen Fehlentwicklung. Beide Bewegungen entstanden in einer Periode, da in Europa das große Gewebe des christlichen Glaubens, verkörpert in den Zeremonien, Ritualen, Dogmen und täglichen Übungen der Kirche, sich aufzulösen begann.

Im sechzehnten Jahrhundert hatten sich die Verhältnisse in Westeuropa so weit gebessert, daß die morbide Furcht und Angst, die Verzweiflung und Enttäuschung, welche die Ausbreitung des Christentums über das ganze Römische Reich bewirkt hatten, nicht mehr mit der Realität übereinstimmten. Für den Augenblick schien der Totentanz vorbei zu sein; nicht mehr im Himmel, sondern wieder auf Erden suchten die Menschen ihr Heil; und nicht durch Gebete, gute Werke und göttliche Gnade, sondern durch eigene energische und systematische Anstrengungen trachteten sie ihre Lage zu verbessern.

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Allmählich verschwand der Himmel, jener leuchtende Ort im menschlichen Geist, vom Firmament; Könige, Ratsherren und Gelehrte wandten sich nun den Sternen und den Planeten zu, um das Schicksal vorauszusehen und danach ihre Pläne zu richten. Früher noch, als Ludwig XI. seinen vertrauten Höfling Joinville fragte, ob er lieber in diesem Leben gesund und in Ewigkeit verdammt oder leprakrank sein und erlöst werden wolle, verzichtete Joinville ohne Zögern auf die Erlösung um den Preis der Lepra. Das war ein heimlicher Wendepunkt.

Wie stark auch ihr Festhalten an den äußeren Zeremonien der Kirche oder ihr verspätetes Glaubens­bekenntnis in der Todesangst auf dem Sterbebett, die Menschen begannen mehr und mehr so zu handeln, als wäre ihr Glück, ihr Wohlstand und ihr Heil nur auf Erden zu erreichen, womöglich mit Mitteln, über die sie selber verfügten. Wenn Gott auch nicht tot war, so war der Mensch doch wenigstens lebendig geworden, von neuer physischer Vitalität, zuversichtlich, mutig, sexuell überschäumend; er bestieg Berge, die er einst gefürchtet hatte, überquerte Meere, die ihn nie zuvor gelockt hatten, und verwandelte im allgemeinen, wie schon gesagt, fünf der sieben christlichen Todsünden in positive Tugenden, an erster Stelle den Stolz, die Sünde, die Luzifers Höllen­sturz verursacht hatte.

 

Jahrhunderte vergingen, bis die Ideologie der Neuen Welt an die Stelle des christlichen Glaubens­bekenntnisses trat; und der Übergang zur Neuen Welt der Maschine wurde gebremst durch eine Gegenbewegung zur Wiedergewinnung des inneren Lebens, die mit den Franziskanern und den Waldensern begann, sich später in den protestantischen Sekten fortsetzte, während es auf dem Höhepunkt der Aggression in der Neuen Welt — in Peru, Yukatan und Paraguay — reinen Rebellen innerhalb der Kirche gelang, durch ihre Fürsorge für die heidnischen Eingeborenen selber ein Zipfelchen christlicher Gnade zu erhaschen und sogar die Erinnerung an das Leben, das sie einmal geführt hatten, schriftlich festzuhalten.

Doch schließlich triumphierten die neuen Kräfte: Macht in all ihren Formen stieg dem Menschen zu Kopf wie die starken Getränke, Brandy und Whisky, die sie eben erst destillieren gelernt hatten.

Vom christlichen Über-Ich befreit — oder allzu oft in perverser Weise von diesem Über-Ich angeregt —, nahmen Mord und Gier unter dem Deckmantel missionarischen Eifers überhand. Die Entdeckung war nur die Vorstufe der Ausbeutung; mit ihr kamen Krieg, Sklaverei, wirtschaftliche Ausplünderung, Piratentum und Umweltzerstörung: das alte Trauma der »Zivilisation«, von dem seither jede fortgeschrittene Kultur geprägt war.

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Die Entdeckung, daß die Welt stets gnadenlosen Männern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist, wurde von den Jägerhäuptlingen und Protomonarchen des fünften vorchristlichen Jahrtausends gemacht, deren blutige Keulen die wehrlosen Gärtner und Bauern Ägyptens und Sumers unterworfen hatten; und eben mit der Erfindung, Organisierung und Verteilung der echten Güter der Zivilisation, von denen manche, etwa die Eisenwerkzeuge, schließlich den besiegten Gruppen zugute kamen, wiederholte und vergrößerte der neue Machtkomplex nur die Fehler des alten.

Doch mit jedem weiteren Schritt des westlichen Menschen in die Neue Welt, mit deren Verheißung natürlicher Schätze, sozialer Gleichheit, persönlicher Unabhängigkeit, gegenseitiger Hilfe — und all diese großartigen, glänzenden neuen Versprechungen schienen in Reichweite der Pioniere zu sein —, machte er zwei Schritte zurück in seine »zivilisierte«, aber grausam brutalisierte Vergangenheit und wiederholte methodisch all die Sünden, welche die sonst so wertvollen Errungenschaften des Pyramiden­zeitalters begleitet hatten. Die Verheißung einer großen Vorwärtsbewegung war authentisch; aber die Regression in die Vergangenheit, der Rückfall in die alten Perversionen der Macht, war nicht minder real. Gegen solche Kräfte erwies sich die gesunde romantische Reaktion, die im achtzehnten Jahrhundert begann, als hoffnungslos naiv — und schließlich als machtlos.

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war ein beträchtlicher Teil der neuen Kultur dennoch vielen Unzulänglichkeiten früherer Kulturen entronnen, ohne die Vorteile der Traditionen der Alten Welt aufzugeben. In den freien Staaten und Territorien Nordamerikas war die Sklaverei abgeschafft. Verschwunden waren auch lebenslange Fesselung an eine einzige Beschäftigung, strikte Arbeitsteilung, übermäßige Standesunterschiede zwischen manuellen und intellektuellen Berufen; vorbei war es mit dem Geheimwissen einer kleinen geschlossenen Gruppe; mit der Autorität einer unantastbaren Priesterschaft und eines allmächtigen Monarchen; mit der Fernlenkung durch eine Bürokratie, deren eigener Wohlstand von Leben, Gesundheit und Wohlstand eines Königs von Gottes Gnaden abhing; verschwunden waren — zumindest nach der amerikanischen Revolution — die Zwangs­maßnahmen einer fremden Armee, die kaltblütig den Willen des Herrschers ausführte.

All diese Bürden waren beseitigt oder wesentlich erleichtert worden, wenn nicht überall, so doch in weiten Bereichen; während dank dem gedruckten Buch und verbesserter direkter Kommunikation durch die Telegraphie, die Vorläuferin anderer Formen der Telekommunikation, die Völker und Nationen ihre gegenseitige Abhängigkeit voneinander zu ahnen, ja in gewissem Maß schon zu erkennen begannen. Nicht zuletzt wurde mit dem eifrigen Gebrauch vieler arbeitsparender und energievermehrender Einricht­ungen die Last lebensverkürzender übermäßiger Arbeit gemildert.

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Im frühen neunzehnten Jahrhundert hatte ein englischer Beobachter berechnet, daß ein Hafenarbeiter, der auf einem Dock in Liverpool Säcke ablädt, im Lauf des Tages ungefähr 48 Meilen traben mochte. Aber in allen Industriezweigen wurde diese unmenschliche Last langsam erleichtert: Maschinenkraft ersetzte Muskelkraft.

Kurz, es gab große Bereiche, in denen sich die mechanische Neue Welt mit der geographischen Neuen Welt verbunden hatte, um die Lebensformen aller alten Machtsysteme zu modifizieren, wenn nicht völlig zu untergraben. Brachte dieser Gewinn auch einen Verlust an spezialisiertem Können auf gewissen Gebieten mit sich, so verhieß er dafür mehr menschliche Würde und Selbst­achtung.

Dies waren keine geringen Fortschritte und Verbesserungen; und sie erklären weitgehend den zuversicht­lichen triumphierenden Ton, der auf dem Höhepunkt dieser Bewegung um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus den Schriften Emersons, Whitmans und Melvilles herausklingt; dieser war, selbst an den düstersten Stellen von Moby Dick, der Meinung, daß die Unabhängigkeitserklärung — Unabhängigkeit von der Vergangenheit und ihren Zwängen, nicht nur von der britischen Herrschaft — eine wesentliche Änderung bewirkt habe. Aber man kann seine Sache leicht verderben, wenn man die Errungen­schaften der Neuen Welt als vollkommener und dauerhafter hinstellt, als sie tatsächlich waren; man muß dann viele Abstriche machen. Ich möchte darum noch einmal betonen, inwiefern der romantische Traum seinen Verheißungen nicht gerecht wurde oder sie gar verriet.

Die nordamerikanischen Staaten hatten in aller Form die Sklaverei abgeschafft; aber die Schaufeltrupps aus irischen und chinesischen Einwanderern, die die Eisenbahnen bauten, waren während ihrer Arbeitszeit kaum von Sklaven, wenn auch nur zeitweiligen, zu unterscheiden. Die Republik hatte Zivilgerichtsbarkeit, Gesetz und Ordnung soweit entwickelt, daß im Commonwealth von Massachusetts Gewalt und Verbrechen selten genug waren, um Daniel Websters Behauptung zu rechtfertigen, keiner müßte über Nacht seine Haustür versperren. Aber diese demokratischen Gemeinden waren dennoch Teil eines Nationalstaates, der das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch gnadenlos gegen die rechtmäßigen Besitzer des Landes, die Indianer, Krieg führte; der heute noch deren Nachkommen schamlos beraubt und mißhandelt; und der Mexiko in einem schändlichen Krieg Millionen Hektar Land raubte.

Theoretisch förderte das Regierungssystem der Neuen Welt die Gleichheit und verteilte tatsächlich riesige Bodenflächen großzügig an jene, die sie bearbeiten wollten; aber es lieferte Boden aus staatlichem Besitz an private Holz-, Eisenbahn-, Bergwerks- und Erdölmagnaten aus, vergrößerte so die ökonomische Ungleichheit und unterstützte die Reichen und Skrupellosen auf Kosten aller anderen Bürger.

Kurz gesagt, Krieg, Unterdrückung, menschliche Entfremdung und wirtschaftliche Ausbeutung blieben bestehen.

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Es ist unnötig, eine lange Reihe solcher negativer Beispiele anzuführen. Es genügt, festzustellen, daß es kaum einen möglichen oder erzielten Fortschritt gab, der selbst in einem so demokratischen Land wie den Vereinigten Staaten nicht von 1830 an bedroht und um 1890 bereits untergraben war. Der Mensch der Neuen Welt schaufelte, um ein Paradoxon zu verwenden, sein eigenes Grab, ehe er noch aus der Wiege geklettert war. Zieht man also die drei Komponenten des Traums von der Neuen Welt, die utopische, die romantische und naturalistische sowie die technische Komponente, in Betracht, dann muß man sehen, daß die beiden ersten als erreichbare Möglichkeit verschwunden waren, lange bevor die letzte Grenze erobert war. Damit behielt der mechanische Machtimpuls die Oberhand. Selbst innerhalb der Neuen Welt hatte der andere Teil der großen Vision, die Möglichkeit, die menschlichen Kräfte durch systematische wissenschaftliche Forschung und durch technische Erfindung zu erweitern, faktisch gesiegt; er hatte nicht nur gesiegt, sondern suchte sich die Vorrechte der Natur und die Verheißung eines gelobten Landes anzumaßen.

 

Bis zum neunzehnten Jahrhundert schienen die geographische und die mechanische Neue Welt gleichen Gewinn zu bieten. Tatsächlich erschien vielen die territoriale Neue Welt als attraktivere Alternative: als ein Fluchtweg in ein Reich mühelosen Überflusses und Reichtums, oder als Rückkehr zu natürlicher Einfachheit und freundlichem Glück; dagegen schien die technische Neue Welt zwar zum gleichen Ziel zu führen, aber auf einem ganz anderen, langweiligeren Weg. Solange das territoriale Refugium offenstand, zumindest als Möglichkeit, mochte man die zunehmende Reglementierung des Lebens als vorübergehende Unannehmlichkeit, die nicht unbedingt zur permanenten Unterdrückung werden mußte, hinnehmen: Das Grenzland lockte jene an, die es vorzogen, vom Boden zu leben. So diente die territoriale Neue Welt lange Zeit, zumindest geistig, als Sicherheitsventil; und als sie am weitesten geöffnet war, zwischen 1814 und 1914, waren selbst die Armen, Ausgebeuteten und Verzweifelten nicht ohne Hoffnung: Sie konnten vom gelobten Land jenseits des Ozeans nicht nur träumen, sondern auch unbehindert dorthin auswandern.

Es liegt in der Natur der Dinge, daß es unmöglich war, dieses Gleichgewicht zwischen den beiden Neuen Welten zu wahren; denn als die Erdbevölkerung zunahm und aller guter Boden auf den dünnbesiedelten Kontinenten in den Händen der Bauern und Viehzüchter war, erweiterte sich der Wirkungsbereich der Maschine, und sie beherrschte in zunehmendem Maße nicht nur den Produktions­prozeß, sondern auch jeden anderen Aspekt des Lebens.

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So zerrann der ursprüngliche Traum von der Neuen Welt; oder besser gesagt, er hielt den Geist nur insoweit gefangen, als er den Erfordernissen der Maschine entsprach. Unter den Gelehrten Nordamerikas ist es üblich geworden, die romantische Idee, sowohl die wilde Natur als auch der bebaute Boden seien wesentlich für eine volle. menschliche Entfaltung, herablassend zu belächeln. Dieses bukolische oder pastorale Ideal, wie die Apologeten von Megalopolis es nennen, unter­scheidet sich angeblich unvorteilhaft von ihrem umgekehrten Romantizismus, nicht nach der Natur, sondern nach der Maschine zu leben.

Doch selbst diese Missionare des technischen Fortschritts können die alte Leidenschaft für die Natur, die immer noch als Wesensteil unserer Erbschaft der Neuen Welt fortbesteht, nicht völlig ignorieren; denn sie haben einen vorfabrizierten Ersatz für die Wildnis erfunden, oder zumindest ein Äquivalent für das Lagerfeuer des Jägers. Der alte paläolithische Herd ist ein Hinterhof-Picknick-Grill geworden, wo, umgeben von Plastikvegetation, maschinell gefertigte Frankfurter auf offenem Feuer gebraten werden; dieses wird mit gepreßten Holzkohlenbriketts genährt, die von einem mit Kabel an eine weit entfernte Steckdose angeschlossenen Glühkörper zur Entzündung gebracht werden, während die versammelte Gesellschaft auf dem Fernsehschirm oder auf einer Filmleinwand den Bericht über eine Reise durch ein afrikanisches Großwildreservat verfolgt. Ach, Wildnis! Für viele meiner Landsleute ist dies, fürchte ich, die Endstation des Pioniertraums von der Neuen Welt.

Die Alternative war anspruchsvoller, eher geeignet, als wissenschaftliche Tat rationalisiert zu werden, aber letztlich ebenso unfruchtbar: die Wiederaufnahme des alten Zyklus von Entdeckung, Erforschung und Kolonisierung, bezogen auf das Sonnen­system oder auf ferne Planeten — einen sterilen Mond, eine abweisende Venus, einen todbringenden Mars — als Endstation. Daß dieser Traum heute wiederbelebt werden soll, gerade an dem Punkt, wo viele Denker die schweren Nachteile — ja die erschreckenden Folgen — dieser ganzen einseitigen Entwicklung entdeckt haben, ist ein Zeichen dafür, daß unsere Führer zum großen Teil den Kontakt mit den Realitäten des Lebens verloren und aufgehört haben, den Auswirkungen der von ihnen so hochgeschätzten Ideen und Errungenschaften auf die Menschen Beachtung zu schenken.

Dennoch verdient der Geist, der hinter der Erforschung der beiden neuen Welten steht, Achtung. Die ursprünglichen Visionen von der Neuen Welt und die Institutionen und Aktivitäten, die diesen Visionen entsprangen, eröffneten neue und wichtige Bereiche menschlicher Erfahrung; und kein Vorhaben, das wie dieses Buch, darauf abgestellt ist, die stete Wechselwirkung von Technik und menschlicher Entwicklung zu verfolgen, kann an ihnen vorbeigehen.

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Wenngleich manche Hoffnungen scheiterten, sind doch viele hochgespannte Erwartungen — Telekommunikation, Fliegen, Umwandlung der Elemente, Atomkraft — erfüllt worden, in einem Tempo und einer Vollkommenheit, die oft jene, die für den Erfolg verantwortlich sind, überrascht und sogar erschreckt haben.

 

   Keplers Traum  

 

Einer der Gründe, warum die entscheidende Schwäche beider Aspekte der Entdeckungen von den wenigsten begriffen wurde, besteht darin, daß man ihre subjektive Seite vernachlässigt, ja nicht einmal deren Existenz erkannt hat; vor allem deshalb, weil die Wissenschaftler bei der Überwindung des Subjektivismus früherer Systeme die vielen Beweise für die Subjektivität ihrer eigenen neuen Wissenschaft entschieden leugneten. Doch gerade zu Beginn drückte sich dieser Subjektivismus mit klassischer Klarheit in Keplers Traum aus, der um mehr als drei Jahrhunderte die Welt vorwegnahm, in der wir heute leben: ihr empirisches Wissen, ihre praktischen Einrichtungen, ihre zwanghaften Triebe, ihre mystischen Bestrebungen — und schließlich, besonders bezeichnend, ihre wachsende Desillusionierung.

Kepler, ein Jahrhundert nach Kopernikus, aber nur wenige Jahre nach Galilei geboren, verkörperte in seiner Person die drei Hauptaspekte der neuen Transformation: die wissenschaftliche Seite in seiner klassischen Entdeckung der bis dahin unvermuteten elliptischen Bahn, die die Planeten rund um die Sonne beschreiben; die religiöse Seite in seiner offenen Anbetung der Sonne und des Sternenhimmels als ein stoffliches, sichtbares Äquivalent des verblassenden christlichen Himmels; und schließlich seine ungehemmte technische Phantasie; denn er wagte es in den Zeiten der Segelschiffe und der kurztragenden, ungenau schießenden Kanonen, in lebhaft realistischen Bildern die erste kraftbetriebene Reise zum Mond zu schildern.

Kepler war nicht nur ein Sonnenanbeter, sondern auch ebenso mondnärrisch wie viele der heutigen Techniker in der National Aeronautics and Space Administration (NASA). Als Student widmete er eine seiner Dissertationen an der Tübinger Universität der Frage, wie die Weltraumphänomene sich einem Beobachter darbieten würden, der seinen Standort auf dem Mond hätte. Er sah bereits im Geist, was die ersten Astronauten aus ihrer Raumkapsel kaum plastischer erblickten; und Plutarchs Werk Das Gesicht des Mondes faszinierte ihn so, daß er 1609 in seiner Optik vierzehn Zitate daraus entnahm.

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Dreihundert Jahre lang blieb Keplers Somnium (Traum), erst nach seinem Tode publiziert, eine nur wenigen bekannte literarische Kuriosität; zum Teil, weil er nur im lateinischen Original existierte, zu dem 1898 eine gleichermaßen schwerverständliche deutsche Übersetzung hinzukam, aber mehr noch, weil das Werk zu phantastisch erschien, um ernst genommen zu werden. Kepler selbst jedoch zögerte nicht, sein Mondflugprojekt Galilei vorzulegen, denn er hatte seinen Plan für eine Mondlandung schon im Sommer 1609 ausgearbeitet und rechtfertigte sein Interesse an der Erforschung des Erdtrabanten mit den gleichen Argumenten, die zur Rechtfertigung von Forschungsreisen zur See angeführt wurden.

»Wer hätte (vor Kolumbus) geglaubt«, schrieb er, 

»daß ein riesiger Ozean friedlicher und sicherer überquert werden kann als die schmale Fläche der Adria, der Ostsee oder des Ärmelkanals? ... Man schaffe Schiffe oder Segel, die den himmlischen Winden angemessen sind, und es wird sich jemand finden, der selbst die Leere (des interplanetaren Raums) nicht fürchtet. So laßt uns für jene, die bald diese Reise versuchen werden, die Astronomie aufstellen.«

Man beachte das Wort »bald«. In Taipi sagte Herman Melville 1846 voraus, daß noch vor dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts Bewohner der amerikanischen Westküste über das Wochenende nach Honolulu fliegen würden. Aber Keplers ungeduldige Vorhersage war sogar noch kühner. Jene, die im wissenschaft­lichen und technischen Fortschritt nur eine Reihe vorsichtiger, beharrlicher Schritte von einer soliden Entdeckung zur anderen sahen, rechneten nicht mit diesem feurigen subjektiven Drängen. Keplers plötzlicher Sprung von rein wissenschaftlichen astronomischen Forschungen zu dieser umwerfenden praktischen Anwendung hilft die heute weitverbreitete Begeisterung für Weltraumphantasien verstehen, nun, da diese realisierbar geworden sind.

Die Tatsache, daß diese Phantasien in Keplers Geist gerade in dem Augenblick auftauchten, als die ersten tastenden theoretischen Fortschritte gemacht waren, scheint anzuzeigen, daß sie tiefen gemeinsamen Quellen der kollektiven Psyche entsprangen. Das gleiche Selbstvertrauen, die gleichen ehrgeizigen oder aggressiven Impulse, die einen Cortez bei der Unterwerfung Mexikos trugen, waren auch in den führenden Köpfen der Astronomie und der Mechanik am Werk, wenngleich in subtilerer und sublimierterer Form.

Kepler war durchaus nicht der einzige. Die auf den Weltraum orientierten Abenteurer spürten die Zukunft, wie man sagt, in den Knochen — das heißt in ihrem Unbewußten; und da ihre Tätigkeit diese Zukunft näherbringen half, trugen ihre Vorhersagen die Erfüllung in sich. Diese Mentalität war viel stärker verbreitet, als die meisten Gelehrten bis vor kurzem dachten — dies hat vor allem Marjorie Nicolson entdeckt. Anderthalb Jahrhunderte vor Edgar Allan Poes Beschreibung von Hans Pfaals Ballonfahrt zum Mond erschien ein Zeitungsbericht über eine Luftschiffreise von Wien nach Lissabon, ohne die Leichtgläubigkeit der Bevölkerung zu überfordern.

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Und im achtzehnten Jahrhundert beschrieb Samuel Johnson in seinem Roman Rasselas ganz rational die Möglichkeit der Luftschiffahrt, wobei er auch einen Weltraumflug für möglich erklärte, sobald der Luftschiffer einen Punkt außerhalb des Gravitationsfeldes der Erde erreicht hätte, so daß er die rotierende Erde unter sich vorbeiziehen lassen könnte.

Das Bemerkenswerte an Keplers Mondfahrtprojekt, abgesehen von der Kühnheit der Konzeption, war sein scharfer Blick für die komplizierten Details. Er hatte im Kopf bereits einige der größten Hindernisse geprüft, obwohl er sehr wohl wußte, daß die Lösung dieser Probleme über die technischen Mittel seiner Zeit hinausging. »Zu einem so ungestümen Auffliegen«, betonte er, 

»können wir nur wenige menschliche Gefährten mitnehmen ... Das Abheben ist sehr schwer für ihn, denn er wird gedreht und geschüttelt, als ob er, aus einer Kanone geschossen, über Berge und Meere segeln würde. Deshalb muß er vorher mit Betäubungs- und Beruhigungsmitteln in Schlaf versetzt werden, und seine Glieder müssen so angeordnet sein, daß der Stoß sich gleichmäßig auf die einzelnen Gliedmaßen verteilt, da sonst der Oberteil seines Körpers vom Rumpf getrennt oder der Kopf von den Schultern gerissen würde. Dann kommt eine neue Schwierigkeit: schreckliche Kälte und Atemnot... Viele weitere Schwierigkeiten entstehen, die zu zahlreich sind, als daß man sie aufzählen könnte. Absolut kein Schaden stößt uns zu.«

Diese letzte Beteuerung war voreilig; aber Kepler stand offenbar unter einem inneren Zwang, sich durch scheinbar unüber­windliche Schwierigkeiten und durch mögliche Fehlschläge nicht entmutigen zu lassen. Wie der Künstler in Rasselas mag er gesagt haben: »Nichts wird je versucht werden, wenn zuerst alle möglichen Einwände widerlegt werden müssen.«

Daß dieser extravagante Traum nicht so leicht in die Praxis umzusetzen war, wie Kepler es in seiner Ungeduld antizipierte, ist weit weniger erstaunlich als die Tatsache, daß er zu einem so frühen Zeitpunkt von Keplers Geist Besitz ergriff. Kepler in seiner Sonnenanbetung scheint erkannt zu haben, daß die vom Sonnengott ausgehenden Kräfte neue Möglichkeiten eröffnen und es nicht schwer haben würden, die riesigen Opfer zu fordern, die nötig wären, um eine Mondreise möglich zu machen. All die Kräfte, die durch die Erforschung unseres eigenen Planeten in Bewegung gesetzt worden waren, wurden später, ohne an Schwung zu verlieren und ohne die Methoden und die Zielsetzungen erheblich zu ändern, auf die Erforschung des interplanetaren Raums übertragen — aber auch begleitet von den gleichen Fehlern: von demselben maßlosen Stolz, derselben Aggressivität, derselben Mißachtung wichtiger menschlicher Belange und demselben Beharren auf wissenschaftlicher Entdeckung, technischem Erfindungsreichtum und rascher Fortbewegung als Hauptziel des Menschen.

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Was wir heute wissen und was Kepler nicht wissen konnte, ist, daß die Erforschung des Weltraums einer Megamaschine von weit größerem Ausmaß als dem der vorangegangenen bedarf, um den Erfolg zu garantieren; und es dauerte Jahrhunderte, bis diese Megamaschine fertig war.

Keplers Traum überschritt die Grenzen vorsichtiger Spekulation; doch gerade dadurch lenkt sie die Aufmerksamkeit auf ein anderes Charakteristikum seines Zeitalters: Die von der Wissenschaft angeregten Phantasien des siebzehnten Jahrhunderts stehen der Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts oft näher als die für den Menschen ergiebigeren, aber relativ prosaischen Unternehmungen der Industrie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts; denn deren vielgerühmte technischen Fortschritte bestehen im allgemeinen bloß in der Anwendung neuer Energiequellen und eines mehr militärähnlichen Organisations­typus auf die ältesten neolithischen Produktionszweige: auf Spinnen, Weben, Töpferei, oder auf die in der Bronze- und Eisenzeit entstandenen Künste des Bergbaus und des Metallschmelzens.

Im siebzehnten Jahrhundert sah Joseph Glanvill, der noch genug an Hexerei glaubte, um dagegen ein Buch zu schreiben, auch andere praktische Folgen der Wissenschaft voraus, wie den Phonographen und die Telekommunikation. Noch bemerkenswerter: Ein englischer Bischof, Dr. John Wilkins, eine Zeitlang Leiter des Trinity College in Cambridge, schrieb 1638 ein Buch, in dem er eine Reise zum Mond in Aussicht nahm; und in einer Arbeit mit dem Titel Mercury or the Swift Messenger (1641) sagte er eine Reihe neuer Erfindungen voraus, wie das Grammophon und den »fliegenden Wagen«. Ein Jahr später, in A Discourse Concerning a New World, meinte er: »Sobald die Kunst des Fliegens entdeckt ist, wird einer aus unserem Land die erste Kolonie in jener anderen Welt gründen.«

Vielleicht ebenso wichtig wie Keplers realistisch-phantastische Schilderung eines Mondfluges, den er sich optimistisch als eine Angelegenheit von Stunden dachte, ist eine Beschreibung von Organismen, die sich unter den auf dem Mond herrschenden Bedingungen extremer Kälte und extremer Hitze entwickelt haben könnten. Denn er schmückt diese Reise mit einem Alptraum von nicht geringerer psychologischer Bedeutung aus. Mit erstaunlicher ökologischer Einsicht übersetzte Kepler die physikalischen Bedingungen des Lebens auf dem Mond in entsprechende biologische Anpassungsformen.

Er stellte sich vor, daß prävolvane Lebewesen die kalte Seite des Mondes und subvolvane die heiße Seite bewohnen, wo man Pflanzen vor den Augen wachsen und an einem einzigen Tag verwelken sehen könne; wo die untermenschlichen Bewohner keinen festen und sicheren Wohnsitz haben, an einem einzigen Tag ihre ganze Welt durchqueren, um den zurückweichenden Wassern zu folgen, auf Beinen, die länger sind als die unserer Kamele, oder auf Flügeln oder in Schiffen; wo jene, die auf der Oberfläche bleiben, von der Mittagssonne gekocht und als Nahrung für die herannahenden Nomadenhorden der Prävolvaner dienen würden, die aus dem höhlenreichen Inneren emporsteigen.

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Kepler, dies sei vermerkt, hegte keine romantischen Illusionen, wie die Legende sie Ponce de Leon zuschreibt, der angeblich in Amerika den Jungbrunnen suchte; Kepler entwarf nichts Geringeres als eine schmerzliche Phantasmagorie von organischer Deformation und Entartung, von grotesken Geschöpfen im Fieber sinnloser Aktivität und ziellosen Reisens — ein lunarischer Jet Set. Im Gegensatz zu seinem hypothetischen eintägigen Kreislauf von Reife und Tod gestattete Kepler den Subvolvanern, Städte zu bauen — aber hauptsächlich, notabene, aus einem typisch technokratischen Grund: um das Problem zu lösen, wie man sie bauen könnte!

Man muß Kepler nicht nur erstaunliche Fähigkeiten wissenschaftlicher Deduktion zugestehen, sondern auch eine gleichermaßen realistische Phantasie in bezug auf biologische Bedingungen; denn er nahm keinen Augenblick lang an, daß in einer so unwirtlichen Umwelt ähnliche Lebensformen wie auf der Erde sich entwickeln könnten. Leider wirft diese Tatsache eine ernste Frage auf, die zu beantworten unmöglich und über die zu spekulieren fruchtlos ist: Warum nahm Kepler an, daß eine Reise zu einem solchen Himmelskörper der Mühe wert wäre? Warum endeten die höchsten Errungenschaften der Technologie, deren symbolischer Ausdruck auch heute der Flug zu fernen Planeten ist, in Phantasien von unförmigen Monstern und grausamen Todesarten, wie sie oft kleine Kinder in ihren Bettchen heimsuchen? Hätten wir eine Antwort auf diese Frage, so würden wir wahrscheinlich viele andere lebensnegierende Irrationalitäten, die heute sogar die Überlebenschancen des Menschen bedrohen, genügend begreifen, um sie zu überwinden.

Keplers Somnium braucht nur in rationale moderne Begriffe übersetzt zu werden, um als eindringliches Warnsignal zu dienen. Wie sah Keplers himmelerforschender Geist die neue, von Wissenschaft und Technik geschaffene Welt? Er sah eine Welt mit anderen Lebensgesetzen, eine Welt, in der die Prozesse von Wachstum und Verfall auf einen einzigen Tag reduziert waren und in der ephemere Kreaturen nur existierten, um sogleich verschlungen zu werden. In dieser Welt besteht der einzige Schutz gegen eine grausame Umwelt darin, sich in unterirdische Schutzbunker zurückzuziehen; und die Hauptbeschäftigung ihrer unglückseligen Bewohner wäre ständige Bewegung. Kurz, eine monströse Heimat, in der nur Monster sich heimisch fühlen könnten. Indem er sich von der Erde löste, ließ Kepler zwei Milliarden Jahre organischen Lebens zurück, mit all den immens schöpferischen Aktivitäten und Partnerschaften lebender Spezies, die in der Denkfähigkeit des Menschen ihren Höhepunkt erreichen.

Was die Lebenswerte betrifft, könnte man alle Planeten des Sonnensystems für einen Quadratkilometer bewohnter Erde eintauschen.

Wäre diese alptraumhafte Schlußfolgerung eine Eigentümlichkeit Keplers, so könnte man sie als persönliche Verirrung behandeln; aber dieses Thema ist auch in späteren technologischen Kakotopien anzutreffen. In H. G. Wells' Zeitmaschine gelangt der Erzähler zu der Erkenntnis, daß der technologische Fortschritt zu Freizeit und Luxus sich als selbstzerstörerisch erwiesen hat; er reist weiter in die Zeit und sieht alles Leben auf dem Planeten nach und nach schwinden. Im wachsenden Bau der Zivilisation erblickt er nur einen »unsinnigen Haufen, der am Ende unvermeidlich einstürzen und seine Erbauer vernichten wird«. Diese böse Vorahnung stand so sehr im Widerspruch zu Wells' bewußtem Bekenntnis zum wissenschaftlichen Fortschritt, daß er zu einer überraschenden Schlußfolgerung kam: »Wenn es so ist, bleibt uns nur übrig, so zu leben, als ob es nicht so wäre.« Mit anderen Worten, wir sollten lieber unsere Augen schließen und unseren Geist versperren. Eine schöne Endstation für die wissen­schaftliche Suche nach himmlischer Wahrheit, die Kopernikus und Kepler begonnen hatten!

Bis jetzt habe ich zu erklären versucht, wieso die territoriale Neue Welt mit ihren scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten von Anfang an unter den moribunden Institutionen und überholten Zielen litt, denen die Entdecker zu entkommen suchten.

Nun muß ich, viel detaillierter, das Wesen der mechanischen Neuen Welt untersuchen, die immer noch das Bewußtsein und die täglichen Aktivitäten des modernen Menschen beherrscht.

Ich werde zeigen, daß gerade jene Annahmen über Mensch und Natur, die einst den Wirkungsbereich der Technologie erweitern halfen, auch zur Fehldeutung und damit zur Unterdrückung wesentlicher organischer und menschlicher Funktionen führten, schlimmer noch, die Zielsetzungen der Menschen verzerrten, da alle Tätigkeit der Ausdehnung der Macht untergeordnet wurde. Diese Annahmen haben die ideale Hoffnung, die sich an die Entdeckung der beiden neuen Welten knüpfte, zunichte gemacht — die Hoffnung, die Grenzen der menschlichen Existenz zu erweitern und ihre Fundamente zu vertiefen.

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