Erster Teil:

Unser Dasein
in Raum 
und Zeit

 

     

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Unsere Familie 
in der engeren und 
gesellschaftlichen Umwelt 

Wenn dem Menschen sein Dasein als Ganzes zum erstenmal zum Problem wird, dann wird er zunächst die Frage nach dem Wo, nach dem Ort also, und nach dem Stellenwert seines eigenen Wesens im Rahmen der Gesamt­wirklichkeit stellen. Geht er der Frage "Wo stehe ich?" planmäßig nach, so bemerkt er, daß er sich immer in Zusammenhängen, in Bezugssystemen vorfindet.

Er wird zuerst ganz nahe und greifbare Zusammenhänge entdecken: seine Beziehung zur Mutter, zum Vater, zu seinen Geschwistern, wenn er welche hat, mit einem Wort: sein Dasein im Rahmen einer Familie. Gleichsam in weiter ausgreifenden Kreisen wird er dann zu immer umfassenderen Zusammenhängen vorstoßen, in denen er sein Dasein vollzieht. Die wichtigsten Bezugssysteme bis hin zu unserer Stellung im Ganzen des Universums sollen im folgenden kurz behandelt werden. Denn eigentliche Orientierung gewährt nur der Blick auf das Ganze, nicht das Wissen um das Verwobensein in die allernächsten und engsten Zusammen­hänge. Orientierung im Weltmaßstab, in der ganzen Weite des Universums muß daher die Aufgabe dieses Buches sein. Zum Abenteuer einer geistigen Weltraumfahrt lädt es ein.

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1. Unsere nächste und nähere Umgebung 

 

1.1 Unser Dasein in der Familie

Im allgemeinen beginnt jeder Mensch sein Dasein in einer Familie; über Ausnahmen wird noch gesondert zu sprechen sein. Familie heißt eine Gemeinschaft von erwachsenen Personen mit Kindern oder Jugendlichen, die darin über einen längeren Abschnitt ihres Lebens aufwachsen und dabei nachhaltige Einflüsse für ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung erfahren.

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Nicht jede Familie erfüllt die heute bei uns gängige Klischeevorstellung, daß zwei Elternteile, Vater und Mutter, mit wenigen eigenen Kindern zusammenleben. Oft ist nur ein Kind vorhanden, manchmal nur ein Elternteil; statt leiblicher Kinder können es Adoptiv- oder Pflegekinder sein; die Erwachsenen können auch die Großeltern sein. Früher bildeten häufig drei Generationen die Familie: Großeltern, Eltern und Kinder; man spricht dann von der Großfamilie im Gegensatz zu der heute üblichen Kleinfamilie. Verhältnismäßig selten sind in unserer heutigen Gesellschaft kinderreiche Familien, in denen vier oder mehr — vielleicht sogar zehn und mehr — Kinder aufwachsen.

Im Rahmen eines umfassenden Selbst- und Weltverständnisses muß jeder sich einmal darüber klar werden, was seine Familie und die darin lebenden Bezugspersonen — Vater, Mutter, Geschwister oder wer sonst dazugehört — für ihn bedeuten, was er von ihnen empfangen hat und was er aus diesem Bezug in seinem Denken, Fühlen und Handeln gemacht hat. Diese Frage kann jeder nur für sich selbst beantworten. Einiges aber, was in diesem Zusammenhang für alle gilt, sei hier aufgeführt.

Wir werden durch unsere Beziehung zu unseren Eltern — oder den sie vertretenden Bezugspersonen — in unseren Kinderjahren geprägt für unser ganzes Leben. Vom neugeborenen Kind gilt in besonderem Maße, was der Philosoph Friedrich Nietzsche vom Menschen überhaupt gesagt hat: Es ist das nicht festgestellte Wesen, das zwar eine Menge in seinem Erbgut angelegter Möglichkeiten enthält, die jedoch beileibe nicht alle zur Verwirklichung gelangen. Diejenigen Möglichkeiten aber, die verwirklicht werden, verdanken dies überwiegend dem Vorgang der Prägung. Dieser von dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz besonders untersuchte Vorgang bezeichnet — allgemein gesprochen — die tief in die Psyche des Menschen hineinreichenden Ergebnisse von Lernvorgängen, die sich durch spätere Umwelteinflüsse, Erziehung und Erlebnisse nicht oder nur schwer verändern lassen. Nur mit großer Mühe kann der Mensch später gewisse Auswirkungen dieser Prägung von sich abstreifen, wenn er sich ihrer bewußt geworden ist.

Im Unterschied zum Tier kommt ja der Mensch als ein äußerst unfertiges Wesen auf die Welt. Daher konnte der Soziologe Rene König vom neugeborenen Kind etwas übertrieben sagen, es sei "noch kein Mensch, sondern die bloße Möglichkeit des Menschen". Durch diese "bloße Möglichkeit" ist es in einem weit größeren Maße als neugeborene Tiere — mit Ausnahme der sogenannten Nesthocker — auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen. Aber dieser Umstand hat auch etwas sehr Positives, nämlich eine weitgehende Bildsamkeit und Prägbarkeit des Menschenkindes.

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Der Basler Biologe Adolf Portmann nennt die leibliche Geburt des Menschen wegen der Unfertigkeit des Neugeborenen eine Frühgeburt. Sie macht eine Art zweiter Geburt notwendig, eine eigentliche Menschwerdung, die erst am Ende des ersten Lebensjahres eintritt. Diese vollzieht sich mit Hilfe der ersten mitmenschlichen Beziehungen, in die das Kind hineingeboren wird und durch die es die erforderlichen Anreize zu seiner Entwicklung erfährt.

Die Wissenschaft der Soziologie spricht hier von einer ersten (primären) Sozialisation (A), durch die das Menschenkind erst zu einer im Rahmen einer Gesellschaft vernünftig handelnden Person zu werden vermag. Sie bezeichnet die Familie als grundlegende Primärgruppe, d.h. als die eng zusammenlebende Gruppe, die entscheidend diejenigen Lernvorgänge in Gang setzt und fördert, durch die der einzelne erst zu einem sozialen, gemeinschaftsfähigen Wesen wird und später geeignet ist, selbst Aufgaben in den Lebensgemeinschaften der Menschen zu übernehmen. Welche wesentliche Rolle die Familie in der Entwicklung des Einzelmenschen spielt, zeigt sich besonders dann, wenn dieses Beziehungsgefüge von Mutter, Vater und Kind(ern) ausfällt, wovon später noch die Rede sein wird.

 

1.1.1  Die Beziehung zur Mutter

Wir sagten bereits: Der Mensch lebt und verwirklicht sich stets nur in Zusammenhängen, in Bezugs­systemen. Sie begleiten ihn von der Wiege bis zum Grab. Die erste den Menschen prägende, in gewisser Weise sogar erst erschaffende zwischenmenschliche Beziehung ist die des Neugeborenen zu seiner Mutter. "Für das Neugeborene besteht die Umwelt gleichsam aus einem einzigen Individuum, der Mutter oder ihrer Stellvertreterin", sagt der Kinderpsychologe Rene Spitz. Die Lebensgemeinschaft zwischen Mutter und Säugling ist im ersten Lebensjahr so eng, daß man in der Kinderpsychologie von einem fast geschlossenen Zweiersystem spricht.

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Das körperlich und seelisch noch so mangelhaft ausgeformte Kind im ersten Lebensjahr empfängt durch das Zusammenleben mit der Mutter oder ihrem Stellvertreter die erste "soziokulturelle" Formung: Es nimmt einfache Gewohnheiten des gegenseitigen Austauschs von Gefühlsregungen an; es erlebt schattenhafte Umrisse einer Ordnung, indem es in einem ungefähren zeitlichen Rhythmus genährt und trockengelegt wird; es lernt durch wiederholtes Sehen regelmäßig auftretende Personen, vor allem die eigene Mutter, als bekannt anzuerkennen, und nimmt auf diese Weise eine erste soziale Umwelt umrißhaft wahr.

In diesem Stadium äußern sich schon die gegensätzlichen Gefühlsregungen der Geborgenheit und der Angst, die den Menschen dann in verschiedenen Abwandlungen lebenslang begleiten. Das Gefühl der Geborgenheit kann man am Lächeln des Kindes erkennen. Zwar lächelt der Säugling im ersten und zweiten Lebensmonat beim Erscheinen jedes beliebigen menschlichen Gesichtes. Doch setzt nachfolgend ein Unterscheidungs­vorgang ein, der etwa im achten Lebensmonat zu seinem Höhepunkt gelangt und sich darin äußert, daß Bekannte (Mutter, Vater, Geschwister) angelächelt, Unbekannte abgelehnt werden. Zuwendung und Abwendung, Anlehnung und Angst — diese einfachen wechselseitigen Gefühlsäußerungen, die in jeder menschlichen Gemeinschaft eine so große Rolle spielen — entstehen also schon im ersten Lebensjahr.

So früh zeigt sich auch bereits, daß der Mensch einen Bereich der Geborgenheit braucht in der Gestalt von Bezugspersonen, denen er vertrauen kann. Wo die erste Bezugsperson im Leben des Kleinkindes, die Mutter oder eine sie ständig vertretende Person, fehlt, dort führt das Fehlen mütterlicher Pflege und Liebe zu teilweise nicht wiedergutzumachenden Schäden, zu schweren Persönlichkeitsstörungen, die ihre Ursache in Entzugserscheinungen und einer darauf fußenden allgemeinen Angst haben. Die Mutter oder "Ersatzmutter" stellt für das Kleinkind ein Fundament der Sicherheit bei Furcht und Gefahr dar. In Situationen dieser Art klammert sich das Kind instinktiv nicht etwa an seinen Vater oder an eine andere bekannte Person, sondern an seine Mutter.

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Man hat diese Erscheinung in der Psychologie und Soziologie dadurch zu erklären versucht, daß man die gefühlsbetonte und dauerhafte Bindung an die Mutter vom Primärtrieb des Hungers und Durstes und dem damit verbundenen Akt des Saugens ableitete. Neuere Versuche an Rhesusaffen, die zwar bei der Geburt reifer sind als der menschliche Säugling, jedoch in grundlegenden Reaktionen der Zuneigung, des Saugens, der Kontaktaufnahme und dergleichen keine wesentlichen Unterschiede zum Menschenkind zeigen, haben jedoch genau das Gegenteil ergeben: Das Saugen als Akt der Befriedigung von Hunger und Durst, jenes vermeintlichen Primärtriebes, steht beim Säugling ganz entschieden im Dienste seines Dranges nach häufiger und unmittelbarer Körperberührung mit der Mutter. "Kontaktbehaglichkeit" als bedeutsame Form der Zuneigung ist dem Kleinkind wichtiger als der angebliche "Urtrieb" der Sättigung. Dafür spricht auch, daß Säuglinge selbst dann noch, wenn sie längst satt sind, selig an der Brust der Mutter haftenbleiben.

Der Hunger nach Liebe und Geborgenheit, der ein Grundbedürfnis des Menschen, auch des Erwachsenen, darstellt, muß also schon beim Kleinkind ebenso notwendig gestillt werden wie sein Bedürfnis nach Nahrung. Diese Notwendigkeit zeigt sich besonders deutlich, wenn das Gegenteil eintritt. Durch Untersuchungen in Säuglingsheimen hat Rene Spitz nachgewiesen, daß Säuglinge, die innerhalb des ersten Lebensjahres ein bis fünf Monate lang ohne Mutter und ohne ausreichende liebevolle Zuneigung aufwuchsen, depressiv, d.h. dauernd seelisch bedrückt, wurden, was sich unter anderem in Schlafstörungen, Weinerlichkeit, erstarrtem Gesichtsausdruck, verlangsamter Entwicklung ausdrückte. Das Fehlen des Liebesobjekts Mutter oder eines etwa gleichwertigen Ersatzes über die Dauer von fünf Monaten hinaus führte schließlich zur unheilbaren Krankheit des "Hospitalismus", die durch einen zunehmenden seelischen und dann auch körperlichen Verfall, eine herabgesetzte Widerstandskraft gegenüber Krankheiten und eine stark erhöhte Sterblichkeit gekennzeichnet ist.

Es hat sich auch gezeigt, daß irgendeine beliebige Form der Zuneigung, der "Gefühlszufuhr" durch die Umwelt, dem Liebesbedürfnis des Kleinkindes keineswegs genügt. Die liebende Gemeinsamkeit — Kommunikation in der Fachsprache der Psychologen — zwischen Mutter und Säugling ist von ganz besonderer Art und Tiefe; sie läßt sich mit sachlichen Begriffen kaum beschreiben. Die sogenannte primäre Mütterlichkeit ist ein noch nicht ganz aufgeklärter, eigenartiger Zustand der Mutter, der sich durch ein Vorherrschen zärtlich-unmittelbarer und vorwiegend unbewußter Kontaktgefühle zum Säugling und durch eine gewisse Entrücktheit gegenüber der Umwelt, soweit sie nicht das Kind betrifft, auszeichnet.

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Durch die Vertrauen einflößende, kommunikative Haltung der Mutter werden im Säugling Lernvorgänge ausgelöst, die als Entwicklungsschritte in Richtung auf die "eigentliche Menschwerdung", die soziokulturelle Geburt des Kindes, wirken. Indem es das Bild der "guten Mutter" in sein Inneres hineinnimmt, gewinnt das Kind ein gewisses Gefühl von der Bedeutung seines eigenen Ich, einen Anfang von Selbstvertrauen. Wer einmal der unbestrittene Liebling der Mutter war, behält nach der Meinung des Psychoanalytikers Sigmund Freud für das ganze Leben eine "Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht".

Es ist daher ungemein wichtig, daß die Persönlichkeit der Mutter seelisch im Gleichgewicht und nicht schwankend oder gestört ist. Wenn eine Mutter wegen der in unserer Zeit häufigen egoistischen Einstellung nicht mehr zu einem ganz herzlichen, seelisch-gefühlsmäßigen Verhalten fähig ist, so kann das bereits seelische Ausfallserscheinungen beim Kind zur Folge haben, auch wenn sie ständig "pflichtgemäß" dafür sorgt. Eine unverhüllte Ablehnung des Kindes jedoch, eine zu ängstliche Besorgnis, ein Hin-und-her-Pendeln zwischen Verwöhnung und Entzug oder häufige Stimmungsschwankungen wirken sich deutlich zum Nachteil der ganzen Entwicklung des Kindes aus.

So ist die Mutter das erste Universum für den Menschen, seine ganze, noch sehr begrenzte "kleine Welt". Der Eindruck des vertrauten Antlitzes der Mutter vermittelt dem Kleinkind den für den Erwachsenen kaum begreifbaren und nicht voll nachvollziehbaren Sinneseindruck einer unaussprechlichen Geborgenheit im Schoße der Wirklichkeit. Es gewinnt durch die Zuwendung der Mutter die Grundlage für ein immer stärker werdendes Urvertrauen in eine sinnvolle Harmonie des Weltalls. Wo sich dieses Urvertrauen angesichts später festgestellter Unstimmigkeiten im Weltgeschehen verdüstert, bleibt doch in dem Menschen, der als Kind ein hohes Maß an mütterlicher Liebe empfangen hat, die Kraft lebendig, einen Sinn der Welt und des eigenen Daseins in allen und trotz aller Mißhelligkeiten zu suchen und zu setzen.

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Allmählich erweitert sich die kleine Welt von Mutter und Kind. Die enge Lebensgemeinschaft der beiden lockert sich. Das Kleinkind muß erste Grenzüberschreitungen in Richtung auf die Bereicherung seiner Umwelt­beziehungen vollziehen. Das geht nicht ohne unangenehme Erfahrungen und Auseinandersetzungen vor sich; denn die für die Entfaltung, Reifung und Verwirklichung der menschlichen Person notwendigen Entwicklungsschritte bedeuten einerseits Trennung von Gewohntem und Liebgewordenem, andererseits Bereicherung und Erweiterung des Gesichtskreises, Vertiefung und Ausweitung des eigenen Seins. 

Ein solches einschneidendes Erlebnis der Trennung ist für den Säugling bereits der Abschluß der Stillperiode. Er erfährt dunkel durch diese erste Art einer Trennung von der Mutter, daß sich der Lauf der Welt nicht nach seinen Wünschen richtet. Er hat damit aber auch unbewußt die erste Stufe des Aufstiegs zur Unabhängigkeit und Selbständigkeit erstiegen.

Doch bleibt die Beziehung zur Mutter auch im weiteren Laufe des Lebens von großem Einfluß auf die seelische Entwicklung des Kindes. Die Psychologen sprechen von einer Mutterbindung und meinen damit ein überwiegend unbewußtes Verhaftetsein an ein Mutterbild, d.h. eine gefühlsbetonte, oft idealisierte Vorstellung vom Wesen der Mutter, das auch noch auf die Gefühle des Erwachsenen mitbestimmend einwirkt. Vor allem wird ein Sohn in seiner Einstellung zum anderen Geschlecht meist durch eine Idealvorstellung vom Wesen der Frau geleitet, die sich in ihm durch die Beziehung zur Mutter gebildet hat.

 

1.1.2  Die Beziehung zum Vater

Einen wesentlichen Schritt zur Selbständigkeit macht das Kleinkind, wenn es sich zu seinem Vater in Beziehung setzt. Dieser Schritt gleicht einer kleinen Revolution: Das fast geschlossene Zweiersystem Mutter-Kind wird aufgesprengt, das darin gegebene fast problemlose Verhältnis wird von einer Dreierbeziehung abgelöst, die problemgeladener und konfliktreicher ist. Eine neue, "dreipolige" Welt eröffnet sich dem Kind. Es muß sich innerlich mit jemandem auseinandersetzen, der, wie es selbst, der Mutter nicht gleichgültig ist. Das birgt den Anlaß für Rivalität, für Konkurrenz. 

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Erst viel später wird das Kind erfahren, daß es seine eigene Existenz einer körperlich-seelischen Vereinigung der Eltern, vielleicht sogar einer liebenden Verschmelzung der Sinne, Körper, Gefühle und Seelen dieser beiden Menschen verdankt, die jetzt noch die beiden einzigen Bezugspersonen für es sind.

Schon seit Jahrzehnten kündigen Fachwissenschaftler den Anbruch einer "vaterlosen Gesellschaft" an. Es wird unter anderem behauptet, daß der Vater für die geistige und kulturelle Entwicklung der Kinder ohnehin keine wesentliche Bedeutung habe; die Erziehung der Kinder falle fast ganz in den Aufgabenbereich der Mütter. Man hält es sogar für möglich, in absehbarer Zeit die Väter weitgehend durch künstliche Befruchtung zu ersetzen; das "Kind aus der Retorte" wäre dann praktisch ohne Vater.

Im Gegensatz dazu entdecken allmählich Psychologen und Soziologen die tatsächliche, jedoch dem oberflächlichen Beobachter entgehende Wechselbeziehung zwischen Vater und Kind. Worin besteht diese Beziehung und ihre Bedeutung?

Es ist anfangs für das Kleinkind nur die Atmosphäre in der Familie, die der Vater — falls anwesend — wesentlich mitbestimmt oder mitbestimmen kann. Er ist zunächst einfach da, aber dieses bloße Dasein bewirkt schon eine ganze Menge. Denn der Horizont des Kindes erweitert sich. In seiner kleinen Welt tritt neben der Mutter ein erwachsenes Wesen auf, das irgendwie andersgeartet ist als diese. So geht ihm allmählich das männliche Geschlecht des Vaters und später die durchgängige Aufteilung der Menschheit in Frauen und Männer auf.

"Es gibt nicht nur Frauen auf der Welt", ist eine erste umstürzende Erkenntnis des Kleinkindes. "Und die Frau, die meine Mutter ist, steht in ganz bestimmten Wechselbeziehungen zu dem Mann, der mein Vater ist", folgt als weitere Einsicht auf dem Fuß. Das Kind lernt, muß lernen, die Existenz dieses Mannes im Rahmen seiner eigenen Welt und das besondere Verhältnis des Vaters zur Mutter anzuerkennen. Es muß einsehen, daß diese beiden Erwachsenen Bedürfnisse haben, die mit den eigenen Interessen nicht immer übereinstimmen und die es zu achten gilt. Es spürt, daß es mit dem ausschließlichen Besitzanspruch an die Mutter nicht durchkommt, daß es Regeln in den Beziehungen zwischen den Angehörigen gibt, die seinen Wünschen nicht entsprechen, die es nicht willkürlich außer Kraft setzen kann. 

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So erlebt es im Schoße der Familie schattenhaft die Vorwegnahme der Bedingtheiten, Erfordernisse, Gesetze und Zwänge der Gesellschaft. Das wird selbstverständlich noch deutlicher, wenn Geschwister vorhanden sind. Denn dadurch — durch die offensichtlichen, positiv oder negativ gefühlsbetonten Beziehungen zwischen Vater und Mutter, Vater und Sohn, Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Mutter und Tochter — werden die Verhältnisse in der Familie noch verwickelter und gleichen auf diese Weise noch mehr den vielschichtigen Beziehungen in der Gesellschaft.

Der Vorgang einer zunehmend bewußt werdenden Beachtung des Vaters und einer sich verstärkenden Prägung durch ihn beginnt im zweiten Lebensjahr. Das Kind lernt den Charakter des Vaters kennen, seine aus der Sicht des Kindes guten und schlechten Eigenschaften, sein zärtliches oder rauhes, liebevolles oder gereiztes Verhalten zur Mutter, die Art seines Umgangs mit den Geschwistern, die Weite oder Enge seiner Umweltinteressen, sein Sich-Kümmern oder Sich-nicht-Kümmern um es selbst. Es vermag mit der Zeit die Reaktionen des Vaters auf bestimmte Situationen abzuschätzen, es erspürt die Lebhaftigkeit oder Gehemmtheit, die ruhige Besonnenheit oder verkrampfte Anspannung seines Wesens.

Damit ist die Lage umrissen, in der es zur Identifikation, zur Gleichsetzung (A) mit dem Vater kommen kann. Die Vorgänge der Prägung und der Identifikation sind von der Psychologie und Verhaltensforschung noch nicht restlos ausgeleuchtet. Sicher aber ist, daß Jungen etwa im dritten Lebensjahr beginnen, sich dem Vater anzugleichen, ja sich mit ihm gleichzusetzen. Der Vater wird zum wichtigsten Vergleichsobjekt, zum Mittel, durch das der Junge sein eigenes Selbst, sein männliches Wesen zu finden sucht. Handlungen, Worte, Gesten, teilweise sogar das Mienenspiel des Vaters werden nachgeahmt. Man möchte, wenn der Vater einem imponiert, so werden wie er, von ihm möglichst viel lernen. Dieser Vorgang der Vateridentifikation wird in Gang gesetzt, weil zum grundlegenden Anlagenbestand des Menschen allem Anschein nach die "naturgegebene Triebfeder" (B. Hassenstein) von Erkunden, Neugierde, Spielen und Nachahmen gehört. Aufgrund dieser Antriebe ist der junge Mensch bereit, zu lernen, d.h. sich Wissen, Können und Sein anderer geistig anzueignen. 

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Ein von der Natur ihm eingegebenes Programm des Tätigwerdens ermöglicht ihm die Übernahme des Verhaltens der Erwachsenen und die Orientierung in der Umwelt. Dazu gehört auch, daß die gewonnenen Erfahrungen vom Kind gespeichert werden; und in der Tat ist seine Fähigkeit, spielend zu lernen und Erfahrenes zu behalten, enorm.

So lernt das Kind total. Sein ganzes junges Leben ist in gewisser Hinsicht ein Lernprozeß, freilich ein müheloses, spielendes Lernen. In einer Atmosphäre von Angst, Zwang und fehlender Geborgenheit wird dieser Vorgang sofort gehemmt. Wenn aber Mutter und Vater harmonisch gereifte Persönlichkeiten sind, gewinnt die Tochter leichter das Verständnis für ihre künftige Rolle als Frau mit bestimmten Pflichten, Aufgaben und Vorrechten, gelangt der Sohn leichter zur Überzeugung, daß er nicht wie seine Mutter werden kann, sondern im Leben die Rolle des Mannes und Vaters — wenn auch vielleicht mit Korrekturen — spielen muß. "Der Charakter des Vaters, das Ausmaß, in dem er sein Privatleben meistert, und seine Fähigkeit, diese abstrakten Dinge durch Zuneigung an seinen Sohn weiterzugeben, all das ist die Voraussetzung dafür, daß dieser seine Männlichkeit akzeptiert. Der Sohn lernt vom Vater, was es bedeutet, ein Mann zu sein" (M. Green).

Der fehlende, verständnislose oder in seiner Rolle unsichere Vater bewirkt oft auch Unsicherheit und Ängstlichkeit in seinem Sohn bezüglich der Rolle im Leben, für die er sich entscheiden soll. Es kann dann geschehen, daß der Sohn sich einer gewalttätigen Bande anschließt, weil er glaubt, durch diese Gruppe und ihr forsches Auftreten seine fehlende oder unsichere Männlichkeit ersetzen zu können. Denn solche Gruppen haben ihre eigenen "Männlichkeits-Gesetze" der Verachtung alles Schwachen, Alten und Weiblichen, und der Zwang, mit dem sie die Befolgung ihrer Regeln durchsetzen, soll den unausgereiften Willen ihrer einzelnen Mitglieder verstärken oder ersetzen. In einer solchen Gruppe kann die Vergewaltigung eines Mädchens als Beweis besonderer Männlichkeit gewertet werden und ist in Wirklichkeit doch nur die — sinnlose — Verdrängung eines Minderwertigkeitsgefühls, weil man auf andere Weise den Mädchen nicht imponieren zu können glaubt.

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Der Umgang einer ausgeglichenen Vaterpersönlichkeit mit der Mutter des Jungen und mit Frauen überhaupt zeigt diesem jedoch die Möglichkeit des richtigen Verhaltens zur Frau. Er erschließt ihm die Einsicht, daß so ein Verhalten weder in der Beherrschung der Frau noch in Abhängigkeit von ihr bestehen kann, sondern nur in einer vernünftigen und redlichen Partnerschaft auf der Grundlage der Gleichberechtigung.

In unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ist es vorwiegend der Vater, der dem Sohn die Forderungen und Ansprüche dieser Gesellschaft vermittelt. Die vom Vater gebilligten Werte und Ziele einer Gesellschaft oder einer für ihn maßgebenden gesellschaftlichen Gruppe wird sich der Sohn in dem Maße aneignen, in dem sich der Vater als ihr glaubwürdiger Vertreter im praktischen Leben erweist. Wenn ein Vater sich für Werte begeistert, die über die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Familie hinausgehen, und fähig ist, die in ihm angelegten Begabungen zu entfalten, gleichzeitig aber auch zu Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung bereit ist, dann vermittelt er dem Sohn einen Einblick in die auch für ihn erstrebenswerte Einheit von Freiheit und Ordnung, dieser sich gegenseitig ergänzenden Grundwerte unserer Gesellschaft.

Eines ist sicher: Ein Vater, der sich um seine Kinder nicht genügend kümmert, bleibt für sie ein Leben lang bedeutungslos. Wo er aber seine geistige Sorgepflicht wahrnimmt, kann er Werte in seine Nachkommen einpflanzen, die für ihre persönliche Selbstverwirklichung, ihr Lebensglück und ihr harmonisches Auskommen mit anderen von entscheidender Wichtigkeit sind. Das Leitbild eines verantwortungs­bewußten, den Widerständen und Schicksalsschlägen des Lebens die Stirn bietenden, zugleich aber rücksichtsvollen Vaters stellt einen Halt dar, an dem sich der sich entwickelnde Charakter des Sohnes orientieren, aufrichten und kräftigen kann. Aber auch seine geistige Entwicklung kann der Vater durch sein Gespräch, seinen Rat und gelegentliche Hilfe erheblich anregen und fördern.

Was hier über die wichtige Rolle des Vaters bei der Erziehung des Kindes gesagt wurde, darf nicht als ein verspätetes Eintreten für einen väterlichen Herrschaftsanspruch gewertet werden. Die Künder der "vaterlosen Gesellschaft" haben zweifellos in einem Punkt recht: Der Vater als autoritärer, selbstherrlicher Patriarch soll der Vergangenheit angehören. 

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Aber wichtiger als je zuvor erscheint in unserer modernen Krisenwelt, die gerade auf Jugendliche eher verstörend wirkt, ein Vater, der als erfahrener älterer Freund und Partner mit Zuspruch, Aufmunterung, Wohlwollen und angemessenem Lob, aber auch mit Ernst, Entschiedenheit und Überzeugungskraft die Entfaltung seiner Kinder begleitet und feinfühlig anzuregen versteht.

Die Bedeutung des Vaters soll aber auch nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als ob ein Kind, das seinen Vater nicht kennt oder einen schlechten Vater hat, nun unbedingt auf Abwege geraten müßte. Es wird im allgemeinen wohl größere Schwierigkeiten haben, sich im Leben zurechtzufinden und es zu meistern. Aber ein guter Vertreter des Vaters, Vorbilder aus der weiteren Verwandtschaft oder dem geistigen Umkreis des Kindes (Kindergarten, Jugendheim, Schule o.a.) und die eigene Fähigkeit, sich von negativen Einflüssen zu befreien, können trotzdem eine positive Entwicklung ermöglichen. Natürlich stehen Jungen, die nur von der Mutter großgezogen werden, in der Gefahr, die von ihr erlernten Verhaltensregeln in der Krise der Pubertät als Ballast über Bord zu werfen. Aber sie müssen nicht zwangsläufig dieser Gefahr erliegen.

 

Wir haben hier vornehmlich von der Bedeutung des Vaters für die Erziehung des Knaben gesprochen. Ist aber der Vater etwa für die Erziehung eines Mädchens entbehrlich, weil es ja schon seines Geschlechts wegen sich nicht mit dem Vater gleichzusetzen wünscht? Gerade in unserer Zeit wird häufig von männerfeindlich eingestellten Frauen ein Zerrbild des Vaters in schwärzesten Farben gemalt. Und sicher ist auch die Kritik am Verhalten von Vätern zu ihren Töchtern vielfach berechtigt. Vielen Herrschernaturen unter den Vätern schwebte nur ein einziges Ideal bei der Erziehung ihrer Töchter vor: sie zu fleißigen, besorgten, folgsamen und dienstbaren Ehefrauen und "Hausmüttern" zu machen. Nur die Söhne sollten zu Aktivität, Selbständigkeit und Selbstbehauptung erzogen werden. Männliche Herrschaft — weibliche Anpassung: so hieß das althergebrachte Erziehungsprogramm in vielen Familien.

Das soll hier keineswegs verteidigt werden. Aber man sollte auch hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Ein Vater, der die Gleichberechtigung der Geschlechter anerkennt und seine Rolle entsprechend mit Vernunft und Taktgefühl wahrnimmt, kann einen erheblichen Beitrag zur positiven seelischen Entwicklung der Tochter leisten. 

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Zwar wird das Mädchen vor allem in der Mutter sein Leitbild suchen, sich mit der imponierenden, das Leben meisternden, feinfühligen und an neuen Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft teilnehmenden Mutter gleichsetzen wollen. Aber das große Problem: "Wie die Männer wohl sind?" wird ihr zunächst am Vater als dem ersten ihr begegnenden Mann bewußt.

Er ist zunächst das so ziemlich einzige Exemplar der "Gattung Mann", mit dem es die Tochter täglich zu tun hat. Seine Andersartigkeit im Vergleich zur Mutter und zu ihr selbst bringt sie in einen gewissen Abstand zu ihm, den sie aber verringern oder überwinden möchte. So wird der Mann, der ihr Vater ist, zum ersten, unbewußten Objekt ihrer Werbung, ihrer Liebe, ihrer Gewinnungsversuche. In der Beziehung zu ihm erfährt sie ihre Weiblichkeit. Von der Frage, ob sie die Zuneigung des Vaters gewinnt, hängt wesentlich ihre spätere Liebesfähigkeit ab. Hier wird der Grund für die spätere erotische Einstellung zu Männern gelegt. Erfolglose Bemühungen der Mädchen um die Gunst ihrer Väter führen nicht selten zu Abweichungen in ihren Liebesgefühlen.

Wird jedoch die Mutter vom Vater schlecht behandelt oder im Stich gelassen, so ist das für die Tochter ein anschaulicher Beweis, daß "die Männer" schlecht sind und daß es sich nicht lohnt, sich mit ihnen in eine Liebesbeziehung einzulassen. Das vaterlose Mädchen aber wird oft empfindlicher, verletzlicher und komplizierter als andere und sucht vielleicht Kontakt zu gleich Enttäuschten. Es kann aber auch seine weiblichen Vorzüge zu raffinierten Mitteln entwickeln, um sich die Männer zu unterwerfen..

Man sagt, daß ein schlechter Vater schlimmer ist als gar kein Vater. Das gilt möglicherweise für Töchter noch mehr als für Söhne. Aber auch negative Einflüsse eines Vaters müssen nicht als zwingend für die Entwicklung eines üblen Charakters aufgefaßt werden. In jedem Menschen ist ein eigenständiger Drang des Lebens wirksam, der zu einem Ergebnis durchbrechen kann, das aus den Bedingungen der Familie nicht vorherzusehen ist. Selbst wenn Vater und Mutter auf der Höhe ihrer Erziehungsfähigkeit stehen, kann die Entwicklung eines Kindes unglücklich verlaufen; und andererseits kann sich ein Kind auch aus ungünstigen Familienverhältnissen zu positiver Bewältigung des Lebens durchringen.

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1.1.3  Die Beziehung zu Geschwistern

Neben den Beziehungen zu Mutter und Vater dürfen wir die zu Geschwistern in ihrer Bedeutung nicht unterschätzen. Sie sind allerdings bisher weniger eingehend erforscht und wegen der Vielfalt der möglichen Abwandlungen — nach Zahl, Geschlecht, Altersabstand und Reihenfolge der Geschwister — auch schwerer zu erfassen. Das Vorhandensein von Geschwistern ist ja auch gar nicht so selbstverständlich wie das von Mutter und Vater. Gerade in unserer Zeit ist die Zahl der Familien mit nur einem Kind so groß geworden, daß man das geschwisterlose Aufwachsen eines Kindes nicht ebenso als einen Ausnahmefall, als eine Mangelerscheinung ansieht wie das Fehlen von Vater oder Mutter.

Und doch ist es sicher, daß von Geschwistern so starke und wertvolle Entwicklungsanreize für das heranwachsende Kind ausgehen, daß ihr Ausbleiben sich als Schaden auswirken kann. Das Einzelkind muß sich nicht, wie das Kind mit Geschwistern, ständig auf andere kindliche Partner einstellen, sich ihnen mitteilen und mit ihnen teilen und, vor allem, sich ihnen gegenüber behaupten. Es lebt nur mit Erwachsenen zusammen, hat es oft schwer, ihr Denken und Handeln zu begreifen, und übernimmt von ihnen vielleicht zu früh Ansichten und Gewohnheiten. Es wird besonders beachtet und behütet, oft mit Ängstlichkeit und zu großer Nachgiebigkeit gegenüber seinen Wünschen und Einfällen, und dadurch verwöhnt und übermäßig anspruchsvoll. Dies alles bringt dem Einzelkind Nachteile für sein geistiges und seelisches Wachstum und für die Entfaltung seines Charakters.

Für Eltern eines Einzelkindes ist es daher eine wichtige Aufgabe, dafür zu sorgen, daß es mit anderen Kindern zusammenkommt, mit ihnen spielen und sprechen und sich auseinandersetzen kann, und zwar nicht erst im Kindergarten, sondern schon vom zweiten oder dritten Lebensjahr an. Gerade die Sprach­entwicklung wird durch Verständigungsversuche und "Gespräche" zwischen Kleinkindern sehr gefördert, mit ihr aber auch die geistige Entwicklung; das zeigt sich in der Regel deutlich in der rechtzeitigen Schulreife. Es ist daher sehr erfreulich, wenn Eltern, die kein eigenes zweites Kind mehr bekommen können, ein weiteres in Pflege oder zur Adoption annehmen; sie helfen damit ihrem eigenen Kind ganz erheblich.

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Die besondere Bedeutung der Beziehung zwischen Geschwistern liegt wohl darin begründet, daß das Sich-in-Beziehung-Setzen und Sich-Auseinandersetzen mit anderen Personen dann besonders anregend wirkt, wenn diese auf der gleichen oder einer ganz nahen Stufe mit der eigenen geistigseelischen Entwicklung stehen. Die Fähigkeit zum Auffassen, Vorstellen und Begreifen ist dann bei den Partnern sehr ähnlich, die Empfindungen gleichen sich weitgehend, ein hoher Grad von Gemeinsamkeit entsteht. 

Das Verhalten eines nur wenig Älteren ist leicht nachzuahmen und regt stark zur Nachahmung an; andererseits macht es Freude, einem wenig Jüngeren etwas zu zeigen und vorzumachen. So gibt der Umgang mit anderen Kindern immer wieder den Anstoß zum Hinausschreiten über die eigene Ichbezogenheit, über das Verhaftetsein und Kreisen in den eigenen Empfindungen und Erwartungen. Im frühen Kindesalter ergibt sich schon eine Kleingruppenbeziehung, in der jedes Kind aufmerksam das Verhalten und Tun der anderen Kinder beobachtet, es sich anzueignen versucht und auf diese Weise spielend lernt.

So können die Grundwerte menschlicher Gemeinschaft wie Achtung des Eigenwertes des Anderen, Rücksicht­nahme, Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeitssinn, Verzicht, selbstlose Zuneigung und Liebe schon im Alltag der Familie erfahren werden, wenn man Schwestern und Brüder hat.

Schon das Aufwachsen mit einem einzigen Geschwister ist in dieser Hinsicht von hohem Wert. Noch günstiger werden die Zusammenhänge, wenn zwei oder drei Geschwister da sind, darunter auch solche des anderen Geschlechts. Gerade das Erleben des unterschiedlichen Empfindens und Reagierens bei Bruder und Schwester ist eine wesentliche Hilfe für das Erlernen des richtigen Verhaltens gegenüber dem anderen Geschlecht für die ganze Lebensdauer.

Zwischen mehreren Geschwistern können sich besondere Zu- und Abneigungen zu einzelnen, aber auch Abhängigkeitsverhältnisse bilden. Dabei können auch Einflüsse und Beziehungen entstehen, die einem oder mehreren der Geschwister in ihrer Entwicklung schädlich sind; Herrschsucht und Gewalttätigkeit, Neid, Haß und Angst können aufkommen und wachsen. Es ist daher eine ständige Aufgabe der Eltern, das Verhältnis der Geschwister zueinander zu beobachten und, wenn nötig, zu beeinflussen oder auch zu verändern.

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Je größer die Zahl der Kinder und damit der Geschwister in einer Familie ist, um so stärker wird ihre Bedeutung füreinander. Die Jüngeren wachsen durch Nachahmung der Älteren und Einordnung in schon gefestigte Gewohnheiten verhältnismäßig reibungslos ins gemeinsame Leben hinein, was den Eltern ihre Erziehungsaufgaben erleichtern kann. Die älteren Geschwister nehmen ihnen einen Teil der elterlichen Fürsorge und Einflußnahme ab. Wird die Kinderzahl jedoch sehr groß, etwa über sieben oder acht (nach anderen Meinungen erst über zehn), dann kann dies zu einer Überforderung der Eltern und zu einer Verschlechterung des ganzen Familienlebens führen.

Für die Entwicklung eines Kindes kann auch seine Stellung in der Geschwisterreihe von Bedeutung sein: das Älteste kann z.B. überfordert, das Jüngste verwöhnt, ein anderes vernachlässigt werden. Auch ob ein Junge oder Mädchen erwünscht oder gar ersehnt oder aber unerwünscht zur Welt gekommen ist, spielt manchmal für die Bedingungen seines Aufwachsens eine Rolle.

Wenn ein Neugeborenes in einer Familie ankommt, dann stellt das die älteren Geschwister vor Probleme ihres sozialen Verhaltens. Das bisher Einzige oder Jüngste verliert seine Stellung als lange Zeit bevorzugtes Objekt der elterlichen, insbesondere der mütterlichen Aufmerksamkeit und Zuneigung. Das kann zu Ablehnung des neues Geschwisterchens, zu Eifersucht, Mißgunst und sogar Haß führen, die nur schwer zu überwinden sind; ihre Überwindung allerdings ist ein wertvoller Lernvorgang. Der Familienzuwachs kann aber auch den Pflege- und Sorgetrieb älterer Geschwister wecken. Jedenfalls ist ein solches Ereignis Anlaß zu einem die bisherige Ichbegrenztheit überschreitenden Verhalten, ein Anstoß zum Aufbrechen egoistischer Gefühle zugunsten der Annahme und Anerkennung eines Du. Das gilt besonders für das bisher einzige Kind.

Daß ein Einzelkind auf alle positiven Einflüsse und Möglichkeiten aus diesen Beziehungen verzichten muß, ist bedauerlich und kann ihm sehr zum Nachteil gereichen. Im Interesse der Kinder ist es wünschenswert, daß die Neigung zur Einkind-Familie nicht noch weiter zunimmt und die Einsicht wieder wächst, daß Geschwister für jedes Kind eine Bereicherung seiner geistig-seelischen, insbesondere aber seiner sozialen Entwicklung darstellen.

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1.1.4 Aufgaben und Probleme der Familie heute

Wenden wir uns wieder der Familie als Ganzem zu. Es ist nicht Aufgabe dieses Buches, in die vielschichtige Problematik des Familienlebens ausführlich oder gar erschöpfend einzudringen. Zu der beabsichtigten Orientierung gehört aber auch ein Überblick über die Aufgaben der Familie von heute und ein Blick auf diejenigen Probleme, die für sie in Gegenwart und naher Zukunft bedrohlich werden können.

Der Soziologe F.X. Kaufmann bestimmt die Familie als "die Wohn- und Haushaltsgemeinschaft der Erzeuger mit den von ihnen Erzeugten, zumindest bis an die Schwelle des Erwachsenenalters". Das ist sachlich richtig, beschränkt sich aber auf die rein materielle Seite und läßt einen wichtigen Bestandteil außer Acht: die Familie als Bereich geistig-seelischer Vorgänge, Erfahrungen und Entwicklungen. Diesen Gesichtspunkt trifft ein anderer Autor, wenn er die Familie als "Schule der Menschlichkeit" bezeichnet (M. Rhonheimer).

Unter Berücksichtigung beider Sichtweisen kann man die Aufgabe der Familie etwa so umreißen: Die erwachsenen Mitglieder sorgen in partnerschaftlicher Zusammenarbeit dafür, daß die mit ihnen zusammenlebenden Kinder und Jugendlichen in ihren naturgegebenen Anlagen und Möglichkeiten materiell, geistig und seelisch so angeregt und gefördert werden, daß sie zu selbständigen, human empfindenden und handelnden und kultivierten Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen.

Voraussetzung für die Erfüllung dieser Aufgabe ist eine grundsätzlich positive Einstellung der Eltern zum Kind, eine freundschaftliche Gesinnung, die auch die jeweilige Eigenart eines Kindes wahrnimmt und achtet und dadurch im Erziehen selbst immer noch dazulernt.

Keine geeignete Grundeinstellung für die Aufgabe der Familie ist es, wenn die Eltern ihre Kinder als Besitz ansehen und von ihnen vor allem eine Bereicherung ihres eigenen Lebens erwarten. Auch das einfache Schema von Befehl und Gehorsam, von materieller Versorgung und dankbarer Kindesliebe ist ebenso unbefriedigend wie das Verfolgen festgelegter Ziele mit den Kindern, z.B. Nachfolger und Erben zu haben für Betrieb und Besitz. Ohne ein hohes Maß von selbstloser Zuneigung zu den Kindern ist eine gute Erziehung nicht denkbar.

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Aus dieser freundschaftlichen Grundhaltung der Eltern ergeben sich ihre erzieherischen Mittel und Maßnahmen im einzelnen. Für sie können keine Rezepte gegeben werden, weil sie sich immer den Personen und Situationen im Einzelfall anpassen müssen. Allgemein kann man nur auf die Grundsätze möglichster Gewaltfreiheit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit hinweisen.

Die Erziehung in der Familie kann nicht frei sein von Konflikten; ständiges gutes Einvernehmen, eine immer heitere Wetterlage sind unerfüllbare Illusionen. Schon die Notwendigkeit, die anzuwendenden Maßnahmen dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder anzugleichen, ist eine ständige Quelle von Schwierigkeiten. Wann und inwieweit kann die anfangs notwendige Autorität zugunsten eines freundschaftlichen Vertrauensverhältnisses abgebaut werden? Wie weit können Bedürfnisse und Wünsche der Kinder angesichts der materiellen Lage und der Eigenansprüche der Eltern erfüllt werden? Wieviel Verständnis, Entgegenkommen, Hilfsbereitschaft und Mitarbeitswillen haben beide Seiten füreinander? Solche und ähnliche Fragen ergeben sich in der Praxis immer wieder. Ihre Lösung ist ohne Auseinandersetzungen und Kraftproben, aber auch ohne Kompromisse und Zugeständnisse nicht möglich.

Ein Problem erscheint noch besonders überlegenswert: Wie lange soll das Erziehungsverhältnis, die materielle Versorgung, der gemeinsame Haushalt andauern? Der oben erwähnte Soziologe spricht von der "Schwelle des Erwachsenenalters"; das ist aber ein sehr dehnbarer Begriff. Es gibt Frühreife, die aus der häuslichen Obhut herausdrängen zur eigenen Wohnung, vielleicht schon mit einem Partner, aber dabei noch finanziell versorgt sein möchten. Frühverdiener lösen sich leichter von der Familie als Jugendliche in langdauernder Berufsausbildung; andererseits streben Studenten oft stark nach Eigenleben. Der Zeitpunkt der Volljährigkeit ist nicht nur im Hinblick auf die veränderte Rechtslage von Bedeutung. Mancher "Nesthocker" aber kann sich kaum aus der elterlichen Fürsorge lösen und läuft Gefahr, seine eigene Selbständigkeit zu versäumen.

In diesem Problemkreis liegt viel Stoff für Auseinandersetzungen, Ärger und Enttäuschung. Eine befriedigende Lösung wird um so leichter, je freundschaftlicher und vertrauensvoller das Verhältnis vorher war. 

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Oft ergibt sich dann eine Fortsetzung angenehmer Beziehungen, wenn auch in lockerer Form ohne Wohngemein­schaft und mit hohem Selbständigkeitsgrad, zwischen erwachsenen Kindern mit ihren Familien und den alternden Eltern; dann können Großeltern gute Freunde und manchmal willkommene Helfer im weiteren Familienbereich sein.

Fragen wir nun noch nach den Problemen, die sich aus der gesellschaftlichen Lage von heute für die Familie ergeben. Wird das neue Ehe- und Scheidungsrecht den Wunsch nach Ehe und Familie beeinträchtigen? Wird die Bereitschaft, Kinder zur Welt zu bringen und großzuziehen, weiter abnehmen und die Bevölkerung der Bundesrepublik schwinden lassen? Wird wachsender Egoismus die Neigung zur Familiengründung vermindern und zu einer unfruchtbaren Gesellschaft von Alleinstehenden führen, die nur noch verdienen, verbrauchen und genießen?

Demgegenüber wollen Soziologen mit Statistiken beweisen, daß die Familie nach wie vor die beliebteste und begehrteste Form des Gemeinschaftslebens ist, trotz Ehescheidungen und Versuchen mit neuen Formen des Zusammenlebens. Sie sprechen von der "Stabilität" der Familie. Für instabil, d.h. Wandlungen unterworfen halten sie jedoch die gesellschaftlichen Vorstellungen über die Ehe, über Rechte und Pflichten der Ehepartner, der Eltern und Kinder, über die Eigentums- und Arbeitsordnung der Familienangehörigen, über die Verteilung der Rollen innerhalb der Familie. Von einer Auflösung der "Institution Familie" könne aber nicht die Rede sein; es gebe kein anderes überzeugendes Muster einer dauerhaften Paarbeziehung von Eltern und des Zusammenlebens von Eltern mit ihrem Nachwuchs.

Sicher ist, daß das Schicksal der Familie als Einrichtung eng mit der Entwicklung des Staates, der Gesell­schaft und des Volkes verknüpft ist und daß die Vorgänge in diesen Großverbänden auf die Familie ebenso einwirken wie der Zustand der Familien auf diese zurückwirkt. Der Jurist Hans E. Troje sagt über die heutige Familie: "Die Familie ist das denkbar komplexeste System. Es erfolgreich am Leben zu erhalten, erfordert alle humanen Fähigkeiten der Beteiligten. Familie zu sein ist die Leistung, die dem Menschen das Äußerste an Verständnis, Intelligenz, Haltung, Wandlungsfähigkeit usw. abverlangt... Die Art von Familie, um die es geht, ist das bisher größte und mit den meisten Risiken behaftete Wagnis der Menschheit." Die partnerschaftliche Familie von heute kann als das fruchtbarste Bewährungsfeld für die Entfaltung aller Möglichkeiten des Menschen angesehen werden.

 

 

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