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7  -  Gedanken über die gemeine Kröte

 

<Tribüne>, 12.4.1946

8. Rezensent 

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Noch vor der Schwalbe und den Narzissen, und nicht viel später als die Schneeglöckchen, begrüßt die gemeine Kröte den Frühling auf ihre Art, indem sie nämlich aus einem Loch im Boden kriecht, in dem sie seit dem vorigen Herbst begraben lag, und sich so schnell wie möglich zu dem nächstgelegenen Wasser begibt. 

Irgend etwas — ein Erschauern der Erde etwa oder vielleicht nur ein Temperaturanstieg um wenige Grade — hat ihr angezeigt, daß es Zeit sei aufzuwachen. Einige Kröten scheinen rund um die Uhr zu schlafen und hin und wieder auf ein ganzes Jahr zu verschwinden — ich selbst habe mehr als einmal mitten im Sommer eine Kröte aus der Erde ausgegraben, die offensichtlich ganz lebendig und wohlauf war.

Im Frühjahr, nach ihrem langen Winterschlaf, hat die Kröte ein vergeistigtes Aussehen wie ein strenggläubiger englischer Katholik gegen Ende der Fastenzeit. Ihre Bewegungen sind langsam, aber zielstrebig. Sie ist sichtlich abgemagert, weshalb die Augen ungewöhnlich groß wirken. Man hat jetzt Gelegenheit, etwas zu bewundern, was einem sonst entgeht, nämlich ihre Augen, die schönsten von allen lebenden Tieren. Sie schimmern wie Gold, genauer gesagt, wie einer jener goldfarbenen Halbedelsteine, die man manchmal an Siegelringen sieht und die, glaube ich, Chrysoberylle heißen.

Nach ein paar Tagen im Wasser richtet die Kröte ihre ganzen Anstrengungen darauf, durch Einverleibung kleiner Insekten ihre Kräfte wiederzugewinnen, und tatsächlich hat sie in kurzer Zeit ihre alte Größe erreicht. Soweit sich feststellen läßt, beginnt jetzt bei ihr eine Periode intensiver Geschlechtlichkeit. 

Vorausgesetzt, daß es ein Männchen ist, ist sie unausgesetzt bestrebt, ihre Arme um etwas zu schlingen, und wenn es nur ein Ast oder ein Finger ist, den man ihr hinhält. Sie wird ihn sofort mit erstaunlicher Kraft umklammern, und es dauert lange, bis sie begriffen hat, daß es kein Weibchen ist. Im Wasser kann man häufig Scharen von Kröten beobachten, die sich übereinanderwälzen, wobei eine an der anderen hängt, ohne Unterschied des Geschlechts. Nur nach und nach geht die Aussonderung vor sich, bis die einzelnen Paare zusammengefunden haben. Das Männchen hockt ordnungsgemäß auf dem Rücken des Weibchens. 

Jetzt kann man Männchen und Weibchen deutlich voneinander unterscheiden. Das Männchen ist schlanker und dunkler und hat die Arme fest um den Hals des Weibchens unter ihm geschlungen. Ein oder zwei Tage später ist der Laich abgelegt, und zwar in langen Schnüren, die sich um die Schilfpflanzen winden und bald nicht mehr zu sehen sind. Nach ein paar Wochen wimmelt das Wasser von winzigen, unzähligen Kaulquappen, die schnell größer werden, erst Hinterbeine, dann Arme entwickeln und schließlich den Schwanz abwerfen. Etwa im Hochsommer tritt die junge Krötengeneration auf den Plan, kleiner als ein Daumennagel, aber sonst in allen Teilen voll ausgebildet. Sie kriecht an Land, und das alte Spiel kann von neuem beginnen.

Ich habe vom Laichen der Kröten nur deshalb gesprochen, weil es eins der Zeichen des Frühlings ist, die den größten Eindruck auf mich machen. Und weil die Kröte, im Gegensatz zur Lerche und Primel, nie die besondere Beachtung lyrischer Dichter gefunden hat. Ich weiß, daß viele Leute eine Abneigung gegen Reptilien und Amphibien haben, und will auch keineswegs behaupten, daß man sich für Kröten interessieren müßte, um den Frühling schön zu finden. Dafür gibt es ja soviel andere Dinge, den Krokus, die Mistel, den Kuckuck, den Schwarzdorn etc. Entscheidend erscheint mir, daß die Schönheiten des Frühlings jedem zugänglich sind und nichts kosten. 

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Selbst in den verkommensten Straßen meldet sich das Nahen des Frühlings in irgendeiner Form, und sei es durch ein helleres Stück Blau zwischen den Schornsteinen oder das frische Grün an den Zweigen eines Holunders auf einer Trümmerhalde aus der Bombenzeit. Immer wieder staunt man, daß die Natur, sozusagen inoffiziell mitten im Herzen Londons, ihren Weg unbeirrt fortsetzt. Ich habe einen Falken über den Gaswerken von Debtford kreisen sehen und das erstklassige Solo einer Amsel in der Euston Road gehört. In einem Umkreis von vier Meilen müssen Hunderttausende, wenn nicht Millionen Vögel leben, und es ist ein tröstlicher Gedanke, daß keiner auch nur einen halben Penny Miete zu zahlen braucht.

 

Um auf den Frühling zurückzukommen, so sind nicht einmal die düsteren Straßen um die Bank von England imstande, sich gänzlich gegen ihn zu verschließen. Er schleicht sich überall ein, wie die neuen Giftgase, gegen die kein Filter hilft. Für gewöhnlich wird der Frühling immer wieder als <Wunder> begrüßt, eine abgedroschene Bezeichnung, die aber in den letzten fünf oder sechs Jahren tatsächlich eine neue, lebendige Bedeutung bekommen hat. Nach dem Winter, den wir damals erdulden mußten, erscheint einem der Frühling als Wunder, weil es einem schwerer fällt zu glauben, daß er wirklich kommt. 

Seit Februar 1940 bin ich so von Mitte Februar ab die fürchterliche Vorstellung nicht losgeworden, der Winter könnte zu einem Dauerzustand werden. Aber Persephone steht etwa um die gleiche Zeit wie die Kröte immer von neuem von den Toten auf. Plötzlich, gegen Ende März, tritt das <Wunder> ein, und das freudlose Elendsviertel, in dem ich wohne, ist mit einem Schlage wie verwandelt. Unten auf dem Platz sind die schwarzen Ligusterbüsche über Nacht hellgrün geworden, die Kastanie entrollt ihre Blätter, Narzissen kommen heraus, der Goldlack setzt Knospen an, und selbst die Uniform des Polizisten gewährt mit ihrem hellen Blau einen frühlingshaften Anblick. 

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Der Fischhändler hat ein freundliches Lächeln für seine Kunden, und sogar die Sperlinge haben die Farbe ihres Gefieders gewechselt, nachdem sie den balsamischen Hauch in der Luft gespürt und sich zu einem Bad entschlossen haben, dem ersten seit September vorigen Jahres.

Ist es sehr verwerflich, sich am Frühling und andern Veränderungen der Jahreszeiten zu freuen? Um es genauer zu sagen - ist es politisch vertretbar, in einer Zeit, in der wir unter den Ketten des Kapitalismus ächzen oder wenigstens ächzen sollten, das Leben ab und zu lebenswert zu finden? Etwa wenn eine Amsel ihr Lied ertönen läßt oder eine Ulme im Oktober sich gelb färbt oder die Natur uns sonst ein erfreuliches Schauspiel bietet, das gratis ist, aber, wie Redakteure linker Zeitschriften sagen würden, nichts mit Klassenkampf zu tun hat? Diese Anschauung wird fraglos von vielen vertreten.

Aus Erfahrung weiß ich, daß ein Passus in einem meiner Artikel, der auf meine Liebe zur Natur hindeutet, entrüstete Zuschriften zur Folge hat. Wenn der Grundton dieser Zuschriften auch durch das immer wiederkehrende Wort <sentimental> gekennzeichnet ist, scheinen hier zwei Argumente durcheinander zu gehen. 

Das eine besagt, daß Freude jeglicher Art unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu so etwas wie politischem <Quietismus> führt. Die werktätigen Massen, so meint man, müßten in einem Dauerzustand von Unzufriedenheit erhalten werden, und unsere Aufgabe sei es, ihnen ihr Elend noch eindringlicher ins Bewußtsein zu hämmern, statt ihnen erfreuliche Dinge vor Augen zu führen, die sie auch heute schon genießen könnten.

Das andere Argument geht davon aus, daß wir in einem Zeitalter der Technik leben, und daß jeder, der die Technik ablehnt oder auch nur ihren Herrschafts­bereich einzuengen versucht, zum alten Eisen gehört, reaktionär ist und sich leicht der Lächerlichkeit preisgibt. 

Das wird oft noch durch die Behauptung verstärkt, daß Stadtmenschen gern einer gewissen Naturschwärmerei verfallen, weil sie keine Ahnung haben, was Natur in Wirklichkeit bedeutet.

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Diejenigen, die beruflich mit ihr zu tun hätten, so wird weiter argumentiert, liebten sie ganz und gar nicht und hätten und besäßen nicht das mindeste Interesse für Vögel und Blumen, und wenn, so ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit. Sich für Natur begeistern könne nur jemand, der in der Stadt lebe und in der wärmeren Jahreszeit zum Wochenende einen Ausflug ins Grüne unternehme.

Das letzte ist nachweislich falsch. Die ganze mittelalterliche Literatur, einschließlich der Volksballaden, ist von einer fast georgianischen Schwärmerei für die Natur erfüllt, und die Kunst von Bauernvölkern wie der Chinesen und Japaner beschäftigt sich fast ausschließlich mit Bäumen, Vögeln, Blumen, Flüssen und Bergen.

Das erstgenannte Argument ist scheinbar nicht so leicht zu widerlegen, aber nicht weniger falsch. Selbstverständlich sollte Unzufriedenheit bei uns die Grundstimmung sein, es kann sich nie darum handeln, Mittel und Wege zu finden, um aus einer Situation, die auf uns allen lastet, »das Beste zu machen«. Und doch, wenn wir uns unter den gegenwärtigen Umständen jede Freude versagen wollten, wie wird dann die Zukunft aussehen, für die wir kämpfen? Wenn man nicht mehr imstande ist, sich über die Wiederkehr des Frühlings zu freuen, worin besteht dann das Glück in einem rationalisierten Gesellschaftssystem? Was wird der Mensch mit der freien Zeit anfangen, die ihm die Maschine verschafft? Mich hat schon oft der Gedanke bedrückt, ob das Leben nicht Gefahr läuft, eintöniger statt reicher zu werden, wenn einmal alle wirtschaftlichen und politischen Fragen gelöst sein werden, und ob die Freude beim Anblick der ersten Primel nicht wichtiger sein könnte als Eiskrem beim Klang einer Wurlitzer Orgel.

Dadurch, daß man sich die kindliche Freude an Bäumen, Fischen, Schmetterlingen und — um zum Ausgangspunkt zurückzukehren — Kröten erhält, trägt man, wie ich glaube, ein wenig dazu bei, eine friedliche, menschenwürdige Zukunft wahrscheinlicher zu machen. Vertritt man dagegen den Standpunkt, daß nichts so bewundernswert sei wie Stahl und Beton, so trägt man zur Aussicht auf eine Welt bei, in der die überschüssige menschliche Aktivität über keine anderen Ventile verfügt als Haß und Führerkult.

Jedenfalls, der Frühling ist da, sogar in London N. 1, und niemand soll mich hindern, ihn zu genießen. Das ist ein sehr befriedigender Gedanke. Wie oft habe ich Kröten bei der Paarung oder zwei Hasen bei einem Boxkampf in einem grünen Getreidefeld beobachtet und all der gewichtigen Persönlichkeiten gedacht, die mich gern daran gehindert hätten, wenn sie gekonnt hätten. Zum Glück konnten sie nicht. Solange man nicht krank ist, Hunger leidet, in Angst lebt oder in ein Gefängnis oder Ferienlager eingesperrt ist, ist der Frühling noch immer der Frühling. In den Arsenalen türmen sich die Atombomben immer höher, Polizei patrouilliert durch die Städte, eine Flut von Lügen entströmt den Lautsprechern, aber unbeirrt umkreist die Erde die Sonne, und alle Diktatoren und Bürokraten, so sehr sie den Vorgang mißbilligen, sind nicht imstande, ihn zu verhindern.

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8. Bekenntnisse eines Rezensenten      <Tribüne>, Mai 1946  

 

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In einem muffigen, kalten Wohn-Schlafzimmer voll von Zigarettenstummeln und halbgeleerten Teetassen sitzt ein Mann in einem von Motten angefressenen Hausrock an einem wackligen Tisch und versucht, zwischen Stößen von angestaubtem Papier Platz für seine Schreibmaschine zu schaffen. 

Er kann das Papier nicht fortwerfen, da der Papierkorb schon randvoll ist, und weil sich zwischen den Blättern neben unbeantworteten Briefen und unbezahlten Rechnungen ein Scheck über zwei Pfund befinden könnte, den er mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit vergessen hat, bei der Bank einzuzahlen. Ferner sind Briefe mit Adressen dazwischen, die er eigentlich in sein Notizbuch hätte eintragen müssen, aber bei dem Gedanken, danach oder überhaupt nach irgend etwas suchen zu müssen, überkommt ihn der unbezwingliche Wunsch, Selbstmord zu begehen.

Der Mann ist fünfunddreißig Jahre alt, sieht aber aus wie fünfzig. Er ist kahl, hat Krampfadern und trägt eine Brille, genau gesagt: er würde sie tragen, wenn sie — seine einzige — nicht ständig unauffindbar wäre. Normalerweise ist er entweder unterernährt, oder er hat einen Kater. Dies nur, falls er kurz zuvor eine Glückssträhne gehabt hat.

Im Augenblick ist es halb zwölf Uhr vormittags. Seinem Programm nach sollte er vor zwei Stunden angefangen haben zu arbeiten, aber hätte er selbst eine ernsthafte Anstrengung in dieser Richtung unternommen, wäre er durch das ununterbrochene Läuten des Telephons, ein schreiendes Baby, das Geknatter eines Preßlufthammers auf der Straße und die schweren Stiefel seiner Gläubiger, welche pausenlos die Treppe herauf- und hinunterpolterten, daran gehindert worden. Die letzte Störung bestand in der zweiten Post, mit der zwei Rundschreiben und eine rot-gedruckte Steuerveranlagung kamen.


Überflüssig zu sagen, daß der Mann Schriftsteller ist. 

Er könnte Gedichte machen oder Romane schreiben oder Drehbücher für den Film oder für den Funk arbeiten - alle, die etwas mit Literatur zu tun haben, sind einander ziemlich ähnlich. In diesem Fall handelt es sich jedoch um einen, der Bücher bespricht.

Halb unter Stößen von Papier begraben liegt ein umfangreiches Paket, das fünf Bücher enthält. Die Redaktion hat sie ihm mit der Bemerkung zugestellt, er könnte sie vielleicht in einer Besprechung behandeln, da sie recht gut zusammenpaßten. Die Bücher sind vor fünf Tagen eingetroffen, aber der Kritiker litt die letzten achtundvierzig Stunden an moralischer Paralyse, und so war es ihm völlig unmöglich, das Paket zu öffnen. Erst gestern hat er wild entschlossen die Schnur durchschnitten und festgestellt, daß es sich bei den Büchern um folgende Titel handelt: Palästina am Scheideweg, Milchwirtschaft im Lichte der Wissenschaft, Kurze Geschichte der europäischen Demokratie (680 Seiten, 4 Pfund Gewicht), Stammesgebräuche in Portugiesisch-Ostafrika und einen Roman Im Liegen lebt sich's leichter - vermutlich aus Versehen dazwischengeraten. Seine Besprechung, schätzungsweise 800 Worte, muß spätestens bis morgen mittag bei der Redaktion abgeliefert werden.

Bei drei von den Büchern handelt es sich um Themen, von denen er so wenig Ahnung hat, daß er gezwungen sein wird, wenigstens fünfzig Seiten zu lesen, um keinen Blödsinn zu schreiben. Dadurch würde er sich nicht nur beim Autor (der natürlich die Praktiken von Kritikern kennt), sondern auch beim gewöhnlichen Leser blamieren.

Etwa um vier Uhr nachmittags hat er endlich die Bücher aus ihrer Umhüllung befreit, doch noch immer leidet er an einer nervösen Lähmung, die ihn hindert, sie aufzuschlagen.

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Der Gedanke, sie lesen zu müssen, ja nur das Papier zu riechen, stimmt ihn so düster wie der Gedanke an kalten Reispudding mit Lebertran. Trotz allem wird sein Manuskript auf geheimnisvolle Weise pünktlich im Verlag eintreffen. Irgendwie ist es immer noch rechtzeitig eingetroffen.

Etwa gegen neun Uhr abends hat er einen verhältnismäßig klaren Kopf, und bis zum frühen Morgen wird er in dem immer kälter werdenden Zimmer sitzen und der Zigarettenrauch sich zu einem undurchdringlichen Nebel verdichten. Mit dem durch Erfahrung geschulten Blick des Kritikers wird er ein Buch nach dem andern durchfliegen, um jedes schließlich mit dem Ausruf aus der Hand zu legen: »Mein Gott, ist das ein Mist!«

Wenn der Tag zu grauen beginnt, wird er hohläugig, unrasiert und denkbar schlecht gelaunt ein bis zwei Stunden auf ein leeres Blatt starren, bis ihn der drohende Finger des Uhrzeigers aufschreckt und an die Arbeit treibt. Und plötzlich ist er mitten im Schreiben, und die alten, abgedroschenen Phrasen wie »Ein Buch an dem niemand vorübergehen sollte .....« oder »Keine Seite, auf der nicht etwas Bemerkenswertes steht.....« »Von besonderem Wert sind die Kapitel, die sich mit.....« etc., etc. ordnen sich reihenweise aneinander wie Eisenfeilspäne unter der Einwirkung eines Magneten.

Die Besprechung hat genau die vorgeschriebene Länge erreicht und ist genau um die drei Minuten früher fertig geworden, die er für den Weg zum Verlag braucht.

Inzwischen ist ein neues Paket mit schlecht zusammengestellten, wenig verlockenden Büchern mit der Post gekommen. So geht es weiter, ohne Ende. Und mit welch kühnen, hochfliegenden Hoffnungen hat der nervöse, geschundene und gehetzte Mann vor noch nicht fünf Jahren seine Laufbahn als Schriftsteller angefangen.

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Ist das alles übertrieben? Nun, man braucht nur einen berufsmäßigen Kritiker zu fragen, einen, der, sagen wir, hundert Bücher im Jahr bespricht, ob er ernstlich bestreiten kann, daß es so ist und sich so verhält, wie ich es beschrieben habe. Jeder Schriftsteller gleicht mehr oder weniger meinem Mann, mit der Einschränkung, daß gerade das unaufhörliche, wahllose Besprechen von Büchern eine besonders undankbare, entnervende und aufreibende Arbeit ist. Sie verlangt nicht nur, daß man für Kitsch und leeres Zeug Worte des Lobes finden muß — obwohl auch das dazugehört, wie ich gleich zeigen werde —, sie verlangt vor allem, daß man sich fortgesetzt zwingen muß, zu Büchern Stellung zu nehmen, zu denen man von sich aus nicht die geringste Beziehung hat. 

Auch ein gehetzter, gelangweilter Kritiker hat sich doch immer ein Interesse an Büchern bewahrt, und unter den Tausenden, die jährlich erscheinen, wird es vermutlich fünfzig oder hundert geben, über die er wirklich mit Vergnügen schreiben würde. Ist er in seinem Beruf eine führende Kapazität, wird er zehn oder zwanzig davon in die Hand bekommen, wahrscheinlicher jedoch nur zwei oder drei. Seine ganze übrige Arbeit, so gewissenhaft er bemüht sein mag, Lob und Tadel gerecht zu verteilen, ist reiner Humbug. Er schüttet seinen unsterblichen Geist in die Gosse, viertelliterweise.

Die meisten Kritiker geben von den Büchern, die sie besprechen, ein unzureichendes oder geradezu irreführendes Bild. Seit dem Kriege ist es Verlegern nicht mehr so leicht möglich wie vorher, literarische Redaktionen unter Druck zu setzen und sich Hymnen auf jedes von ihnen herausgebrachte Buch zu bestellen. Andererseits ist das Niveau der Buchkritik gesunken, teils wegen Platzmangel, teils wegen anderer Schwierigkeiten. Bei dem Resultat, das dabei herauskommt, ist man schon auf den Gedanken verfallen, Bücher nicht mehr von Berufsschriftstellern, sondern, etwa bei Fachbüchern, von Fachleuten besprechen zu lassen, und den größten Teil, besonders Romane, Amateuren zur Besprechung zu geben. 

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Jedes Buch kann im einen oder andern Leser eine zumindest emotionelle Reaktion hervorrufen, und sei es selbst leidenschaftliche Ablehnung. Seine Ansicht wäre zweifellos interessanter als die eines gelangweilten Berufsschreibers. Leider sind solche Dinge, wie jeder Redakteur weiß, nur schwer zu organisieren. In der Praxis wird er lieber immer wieder auf seinen Stamm zurückgreifen, seine >Festen<, wie er sie nennt.

Das alles wird sich nur schwer ändern lassen, solange man es selbstverständlich findet, daß jedes Buch eine Besprechung verdiene. Es ist fast unmöglich, Bücher >en masse< zu kritisieren, ohne die meisten über Verdienst zu loben. Erst wenn man so etwas wie eine berufliche Beziehung zu Büchern bekommen hat, merkt man, wie schlecht die meisten sind. In mehr als neun von zehn Fällen mußte das einzig objektive, wahrheitsgemäße Urteil lauten: »Völlig wertlos<, und die subjektive Stellung des Kritikers: <Das Buch interessiert mich in keiner Weise, und bekäme ich nicht dafür etwas bezahlt, würde ich keine Zeile darüber schreiben.> Um das oder ähnliches zu lesen, dafür zahlt das Publikum nicht. Es verlangt eine Art Hinführung zu dem Buch, das ihm angeboten wird, eine Wertung. Sobald jedoch die Frage der Wertung angeschnitten wird, brechen alle Maßstäbe zusammen. Erklärt zum Beispiel ein Kritiker — und jeder erklärt so etwas mindestens einmal in der Woche —, <König Lear> sei ein gutes Stück oder <Die vier Gerechten>* ein guter Reißer — was heißt da <gut>?

Ich habe es praktisch immer für das Beste gehalten, die meisten Bücher mit Stillschweigen zu übergehen und den wenigen, um die es sich lohnt, mehr Platz einzuräumen, das heißt mindestens tausend Worte. Für Neuerscheinungen könnte sich ein Hinweis von ein bis zwei Zeilen als nützlich erweisen.

Die übliche Besprechung mittlerer Länge, also etwa sechshundert Worte, ist und bleibt wertlos, selbst wenn dem Kritiker daran liegt, das Buch zu besprechen. 

Normalerweise hat er kein Verlangen danach. Der Zwang, Woche für Woche Kritiken von der Länge einer Viertelspalte von sich zu geben, macht aus ihm sehr schnell die unglückliche Figur im Hausrock, wie ich sie eingangs beschrieben habe. Zum Glück gibt es auf dieser Welt immer noch einen, auf den er hinuntersehen kann, und nach meiner Erfahrung auf beiden Gebieten kann ich sagen, daß ein Buch-kritiker besser dran ist als ein Filmkritiker, der außer Haus arbeiten, bereits um elf Uhr vormittags zu den Pressevorführungen erscheinen und, von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, seine bessere Überzeugung für ein Glas schlechten Sherry verkaufen muß.

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* von Edgar Wallace, erschienen 1905.

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