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18  Zukunftsschrott 

 

Eine Nachbemerkung 1988 zu Wir amüsieren uns zu Tode von 1985

 

 

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Um die Mitte des Jahres 1963 hielten mein Kollege Charles Weingartner und ich einen Vortrag mit verteilten Rollen vor dem <National Council of Teachers of English>. In diesem Vortrag bedienten wir uns des Ausdrucks Zukunftsschock, um die durch einen raschen technologischen Wandel ausgelösten gesell­schaft­lichen Lähmungs­erscheinungen zu bezeichnen. 

Vortrag:  gleichsatz.de/b-u-t/gene/host1.html       en.wikipedia  Inquiry_education 

Meines Wissens waren wir die ersten, die diesen Ausdruck auf einem öffentlichen Forum benutzten. Natürlich war weder Weingartner noch ich so schlau, ein Buch mit dem Titel <Zukunftsschock> zu schreiben, und alles Verdienst dafür, einen guten Titel zu erkennen, wenn man ihm begegnet, gebührt Alvin Toffler Ich erwähne das hier nicht, um über verlorene Tantiemen zu klagen, sondern weil ich erklären möchte, warum ich mich für berechtigt halte, diesen Titel in der Überschrift dieses Essays zu parodieren. 

Da ich einer der ersten war, die die Öffentlichkeit wegen des Zukunftsschocks in Unruhe versetzt haben, ist es mir vielleicht auch gestattet, als einer der ersten die Öffentlichkeit über die Verschrottung der Zukunft in Unruhe zu versetzen.

Ich möchte hier genau beschreiben, was ich unter Zukunftsschrott verstehe, und, so gut ich kann, erklären, warum er sich unter uns so breit gemacht hat. Ich fürchte, daß ich auch in diesem Fall nicht zu sagen vermag, was wir gegen ihn ausrichten können. Ich jedenfalls kann nichts weiter tun, als auf ein Problem unserer Kultur aufmerksam zu machen, und wenn ich hoffe, daß der Leser dies alles über sich ergehen lassen wird, dann baue ich auf seinen guten Willen, seine Geduld und sein staats­bürgerliches Verantwortungs­bewußtsein.

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So möchte ich denn mit der Feststellung beginnen, daß die menschliche Vernunft eines der zerbrechlichsten Dinge in der Natur ist. Viel braucht es nicht, um sie abzulenken, zu unterdrücken oder gar zu vernichten. In diesem Jahrhundert haben wir einige niederschmetternde Beispiele dafür erlebt, wie leicht und rasch die Vernunft von einem ihrer Todfeinde — Unwissen, Aberglauben, moralischer Übereifer, Brutalität, Feigheit, Unachtsamkeit besiegt werden kann.

Deutschland zum Beispiel war in den späten zwanziger Jahren in jeder Hinsicht das am meisten gebildete und kultivierte Land der Erde. Seine legendären Horte der Bildung zogen Gelehrte aus allen Weltgegenden an. Deutsche Philosophen, Gesellschafts­kritiker und Naturwissenschaftler standen an der Spitze ihrer Fächer; für weniger begünstigte Nationen waren die humanen Traditionen Deutschlands eine Quelle der Inspiration.

Aber um die Mitte der dreißiger Jahre — also in weniger als zehn Jahren — hatte sich diese Kathedrale menschlicher Vernunft in eine Jauchegrube barbarischer Irrationalität verwandelt. Viele der bedeutendsten Reprä­sent­anten der deutschen Kultur wurden zur Flucht gezwungen — zum Beispiel Einstein, Freud, Karl Jaspers, Thomas Mann und Stefan Zweig.

Diejenigen, die blieben, mußten ihre Vernunft unter das Joch eines primitiven Aberglaubens beugen: Konrad Lorenz, Werner Heisenberg, Martin Heidegger, Gerhart Hauptmann — und manche taten es sogar freiwillig. 

Am 10. Mai 1933 wurde in Berlin ein gewaltiger Scheiterhaufen entzündet, und unter Ausrufen idiotischer Verzückung wurden die Bücher von Marcel Proust, Andre Gide, Emile Zola, Jack London, Upton Sinclair und hundert anderen den Flammen übergeben. 

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1936 gab Joseph Goebbels, der deutsche Propagandaminister, einen Erlaß heraus, der mit folgenden Worten begann: »Weil dieses Jahr keine Verbesserung der Kunstkritik gebracht hat, verbiete ich mit Wirkung vom heutigen Tage ein für allemal die Fortführung der Kunstkritik in ihrer bisherigen Form.« Niemand in Deutschland hatte 1936 noch den Verstand oder den Mut, dagegen etwas zu sagen.

Aus welchen genauen Gründen die Deutschen die Vernunft mit einem Bann belegten, ist eine schwierige, weitgehend unbe­antwortete Frage. Der Hinweis auf die ökonomische Depression, die Deutschland in den zwanziger Jahren heimsuchte, hat mich als Erklärung für das Geschehene nie überzeugt.

Um Aristoteles zu zitieren: Menschen werden nicht zu Tyrannen, um es warm zu haben. Und sie werden deshalb auch nicht dumm — jedenfalls nicht so dumm. Aber dieses Problem soll uns hier nicht weiter beschäftigen. 

 

Ich erwähne den Fall Deutschland nur als das herausragende Beispiel für die Zerbrechlichkeit der menschlichen Vernunft. Ich schreibe über das Amerika von heute und möchte Sie wegen der raschen Erosion unserer eigenen Vernunft in Unruhe versetzen. Wenn Sie voller Zuversicht darauf vertrauen, daß etwas Derartiges bei uns nicht geschehen kann, dann ist Ihre Zuversicht, wie ich meine, fehl am Platze, aber sie ist verständlich.

Schließlich ist Amerika eines der wenigen Länder auf dieser Welt, das von Intellektuellen gegründet wurde — Männern mit einer umfassenden Bildung, mit außerordentlichen rhetorischen Fähigkeiten und einem tiefen Glauben an die Vernunft. Und obwohl auch wir unsere Anfälle von Anti-Intellektualismus hatten, hat sich doch bei der Förderung von Vernunft und Bildung kaum ein Volk großzügiger gezeigt als die Amerikaner. Amerika hat jenes große Experiment einer Bildung für die Massen begonnen, um das uns die Welt bis auf den heutigen Tag beneidet. Amerikas Kirchen haben den Grundstein zu unserem bewunderns­werten System der höheren Bildung gelegt.

Der Land-Grant-Act, das Landzuteilungsgesetz von 1862, hat die Errichtung unserer großen State Universities ermöglicht, und nach Amerika sind die Gelehrten und Schriftsteller geflohen, als die Gedanken­freiheit in ihren eigenen Ländern abgeschafft wurde. Deshalb hat Henry Commager, der große Geschichtsschreiber der amerikanischen Zivilisation, Amerika das »Reich der Vernunft« genannt, er meinte allerdings das Amerika des 18. und 19. Jahr­hunderts. Welchen Namen er dem Amerika von heute geben würde, kann ich nicht sagen.     wikipedia  Henry_Steele_Commager 1902-1998

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Aber er hat, wie andere auch, eine Veränderung festgestellt, einen rasenden Verfall in unserer Wertschätzung der Vernunft, in unserem Umgang mit der Sprache, in den Disziplinen von Logik und Argument, in unserer Fähigkeit, mit Komplexität zurechtzukommen. Vielleicht würde er mir darin zustimmen, daß das Reich der Vernunft tatsächlich verschwunden ist, daß die Vernunft im heutigen Amerika verschrottet wird.

Ich jedenfalls möchte Sie hierauf aufmerksam machen: auf die beängstigende Verdrängung eines vernunft­geprägten öffentlichen Diskurses in der amerikanischen Kultur durch etwas, das man in seiner Fixiertheit aufs Bild und in seiner Trivialität als Showbusiness bezeichnen kann. Wenn ich fertig bin, werden Sie hierüber hoffentlich genauso beunruhigt sein, wie ich es bin.

Natürlich, dies möchte ich hier sofort betonen, glaube ich nicht, daß der Niedergang des vernunftgeprägten Diskurses in Amerika in eine Barbarei mündet, wie sie in Deutschland ihre Blüten trieb. Gelehrte, so glaube ich, werden aus Amerika niemals flüchten müssen. Es wird auch keine Scheiterhaufen für Bücher geben. Und einen Erlaß, der ein für allemal die Kunstkritik oder irgendeine andere Art von Kritik verbietet, kann ich mir nicht vorstellen.

Aber dies ist kein Anlaß zur Selbstzufriedenheit und erst recht kein Anlaß zum Feiern. Eine Kultur braucht die Gelehrten nicht zur Flucht zu zwingen, um sie ohnmächtig zu machen. Eine Kultur braucht Bücher nicht zu verbrennen, um dafür zu sorgen, daß sie nicht gelesen werden. Und eine Kultur braucht auch nicht die Erlasse eines Propaganda­ministers, um die Kritik zum Schweigen zu bringen. Es gibt ganz andere Bahnen in den Stumpfsinn, und es scheint, daß Amerika hier, wie in so vielen anderen Dingen, seinen eigenen Weg geht.

Um zu erläutern, worauf ich hinauswill, möchte ich kurz auf zwei Filme eingehen, die, wenn man sie zusammen­nimmt, die Grundlinien meiner These veranschaulichen.

Der erste Film ist neueren Datums; sein Titel lautet The Gods Must be Crazy (Die Götter müssen verrückt sein). Er handelt von einem Eingeborenen­stamm in der Kalahari-Wüste im südlichen Afrika und davon, was mit der Kultur dieses Stammes geschieht, als eine leere Coca-Cola-Flasche in sie eindringt. Die Cola-Flasche taucht eines Tages auf, als ein Pilot mit seinem kleinen Flugzeug das Dorf überfliegt und die Flasche gerade in diesem Augenblick aus dem Fenster wirft.    wikipedia  Die_Götter_müssen_verrückt_sein

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Sie landet mitten im Dorf, und die freundlichen Leute dort sehen in ihr ein Geschenk der Götter, denn sie haben zuvor nie eine Flasche und auch noch nie Glas zu Gesicht bekommen. Sofort sind sie von diesem Geschenk völlig verzaubert — nicht nur, weil es etwas Neues ist. Wie sich herausstellt, kann man mit der Flasche mancherlei anfangen, am wichtigsten aber ist die Musik, die sie von sich gibt, wenn man in sie hineinbläst.

Doch allmählich kommt es innerhalb des Stammes zu einer Veränderung. Alles Denken und Tun dreht sich nur noch um die Flasche. Sie betrachten, sie in Händen halten, sich ausdenken, was man mit ihr anfangen kann — dergleichen verdrängt alle anderen Betätigungen, die man früher für wichtig hielt. Es kommt noch etwas hinzu: Die Cola-Flasche ist in der Welt dieser Leute das einzige Ding, von dem es nur ein Exemplar gibt. Und deshalb wollen es die, die es nicht haben, dem wegnehmen, der es hat. Der aber will es nicht hergeben. Eifersucht, Habgier und sogar Gewalt betreten den Schauplatz, und fast kommt es so weit, daß sie die Harmonie zerstören, die diese Kultur seit tausend Jahren kennzeichnete. Die Menschen beginnen, ihre Flasche mehr zu lieben als sich selbst, und sie werden nur gerettet, weil der Stammeshäuptling, überzeugt davon, daß die Götter verrückt sein müssen, den Göttern ihre Flasche zurückgibt, indem er sie von einer Bergspitze in die Tiefe schleudert.

Der Film ist sehr witzig, aber auch sehr weise, vor allem weil er ein Thema behandelt, das die Menschen in Chicago oder Los Angeles oder New York ebenso angeht wie die in der Kalahari-Wüste. Der Film stellt zwei für unsere gegenwärtige Situation äußerst wichtige Fragen. Erstens: Wie verändert sich eine Kultur, wenn neue Technologien Eingang in sie finden? Zweitens: Ist es immer wünschenswert, daß sich eine Kultur den Anforderungen neuer Technologien anpaßt? 

Der Häuptling des Kalahari-Stammes war gezwungen, sich diese Fragen in einer Weise zu stellen, wie die Amerikaner es niemals getan haben und nie tun wollten. Und weil sein Blick nicht durch den Glauben an das, was die Amerikaner »technischen Fortschritt« nennen, verstellt wird, kann er, auch wenn er sich ein wenig unbehaglich in seiner Haut fühlt, zu dem Schluß gelangen, daß die Melodien der Cola-Flasche nicht so verlockend sind, daß man ihretwegen dem Neid, dem Egoismus und der Habgier Einlaß in eine friedliche Kultur gewähren sollte.

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Der zweite für meine These relevante Film ist erheblich älter, er stammt aus dem Jahre 1967. Es ist der erste Film von Mel Brooks, The Producers (Frühling für Hitler), eine ziemlich grobgestrickte Komödie um ein bitteres Schelmenstück: Ein skrupelloser Theaterproduzent hat herausgefunden, daß man relativ leicht einen Haufen Geld verdienen kann, wenn man ein Stück produziert, das durchfällt. Man muß nur ein paar Dutzend Geldgeber dazu bringen, in das Stück zu investieren, indem man ihnen exorbitante Prozentanteile an den Gewinnen in Aussicht stellt. Wenn das Stück durchfällt, gibt es keine Gewinne zu verteilen, und der Produzent macht sich mit Tausenden von Dollars davon, die niemals zurückgefordert werden können.    wikipedia  Frühling_für_Hitler

Das eigentliche Problem, das er lösen muß, besteht nun darin, sicherzustellen, daß sein Stück wirklich ein katastrophaler Reinfall wird. Da kommt ihm ein glänzender Gedanke. Er wird sich die tragischste und bizarrste Geschichte unseres Jahrhunderts vornehmen — den Aufstieg Adolf Hitlers — und daraus ein Musical machen. 

Um zu ermessen, wie glänzend dieser Gedanke ist, muß man sich in Erinnerung rufen, daß Hitlers Karriere nicht nur unmittelbar zur Ermordung von sechs Millionen Juden, darunter eineinhalb Millionen Kindern, führte, sondern auch zum Tod von vielleicht 50 Millionen Menschen in Rußland, Polen, Dänemark, Holland, Frankreich, Norwegen, Griechenland, der Tschechoslowakei, Belgien, Jugoslawien, England und Amerika. 

Mit anderen Worten, Hitler löste einen weltweiten Holocaust aus. 

Weil der Produzent nur ein Betrüger, aber kein Flachkopf ist, nimmt er an, daß die Zuschauer sofort erkennen werden, was für ein Irrsinn es ist, aus diesem Stoff ein Musical zu machen, und daß sie sogleich in sprachloser Wut den Saal verlassen werden. So nennt er denn sein Stück Frühling für Hitler, und dies ist auch der Titel des wichtigsten Songs. Dieser Song beginnt so:

»Frühling für Hitler und Deutschland
Winter für Polen und Frankreich.«

Die Melodie ist eingängig, und während der Song erklingt, tanzt eine Truppe fröhlicher Chorus-Girls dazu. Wohlgemerkt, Frühling für Hitler ist keine Parodie auf Hitler, wie Charlie Chaplins Film Der große Diktator. Das Stück ist vielmehr eine Art Verleugnung Hitlers durch Schlager und Tanz, so als wollte man sagen: Es war doch alles bloß Spaß.

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Das Ende ist unschwer zu erraten. Den Zuschauern gefällt das Stück, und beim Verlassen des Theaters summen sie <Frühling für Hitler>. Das Stück wird ein Riesenerfolg. Der Produzent wandert ins Gefängnis. Er wollte die anderen für dumm verkaufen, aber am Ende ist er selbst der Dumme. In Wirklichkeit allerdings, so will uns Brooks zeigen, sind wir die Dummen. 

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Obwohl der Film gedreht worden ist, bevor ein Filmschauspieler Präsident der Vereinigten Staaten wurde, hat Brooks in diesem Zusammenhang eine Prophezeiung gemacht — daß nämlich die Produzenten der amerikanischen Kultur unsere Geschichte, unsere Politik, unsere Religion, unsere Wirtschaft, unser Bildungswesen zusehends in ebenso viele Sparten von Entertainment verwandeln werden und daß wir dabei zu einem oberflächlichen Volk werden, unfähig, mit Komplexität, Mehrdeutigkeit, Ungewißheit und vielleicht gar mit der Realität selbst zurechtzukommen. 

Kurz, wir werden zu einem Volk, das sich in die Dummheit hineinamüsiert.

Diejenigen Leser, die nicht bereit sind, Mel Brooks so ernst zu nehmen, wie ich es tue, möchte ich daran erinnern, daß dieselbe Prophezeiung, die ich ihm hier zuschreibe, schon vor vielen Jahren von einem Beobachter der Gesellschaft gemacht wurde, dessen Wort vielleicht mehr Gewicht hat als das von Mel Brooks. Ich meine Aldous Huxley, dessen Roman <Schöne neue Welt> im Jahre 1932 veröffentlicht wurde. Dieses Datum ist wichtig, weil Huxley sein Buch in der gleichen Zeit schrieb, in der auch die Monumente der modernen Dummheit und des modernen Anti-Intellektualismus errichtet wurden: der Nazismus in Deutschland, der Faschismus in Italien, der Kommunismus in der Sowjetunion. 

Aber Huxley beschäftigte sich in seinem Buch nicht mit solchen kruden, grobschlächtigen Formen von intellektuellem Selbstmord. Er blickte weit über sie hinaus, und zwar, wie ich hinzufügen möchte, vor allem nach Amerika. Genauer gesagt, für ihn ging die schwerste Bedrohung für die Vernunft und die menschliche Kreativität unserer Kultur nicht von einem Großen Bruder und einem Propagandaminister, nicht von einem Gulag und nicht von den Konzentrationslagern aus.

Er prophezeite, wenn man so will, daß auch in der Coca-Cola-Flasche eine Tyrannei lauert; er glaubte, nicht nur das, wovor wir Angst haben und was wir hassen, könne uns zugrunde richten, sondern auch das, was wir begrüßen und lieben — das, was wir als ein Geschenk der Götter ansehen.

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Und für den Fall, daß jemand ihn im Jahre 1932 nicht verstanden haben sollte, schrieb Huxley 1960 sein Buch <Dreißig Jahre später oder Wiedersehen mit der Schönen Neuen Welt>.

Zu dieser Zeit war auch Orwells Roman <1984> längst erschienen, und Huxley kam gar nicht umhin, sein Buch mit dem von Orwell zu vergleichen. Der Unterschied, so sagte er, besteht darin, daß die Menschen in Orwells Buch kontrolliert werden, indem man ihnen Schmerz zufügt. In <Schöne neue Welt> werden sie dadurch kontrolliert, daß man ihnen Vergnügen zufügt. 

Und nun möchte ich meine These formulieren. 

Die Cola-Flasche, die mitten zwischen uns zu Boden ging, ist ein Komplex schwindelerregender Technologien, deren Formen alle ernsthaften öffentlichen Angelegenheiten in eine Art Musical vom Typ Frühling für Hitler verwandeln. 

Das Fernsehen ist natürlich das wichtigste Instrument dieser Katastrophe, teils, weil es das Medium ist, welches die Amerikaner am innigsten lieben; teils, weil es zur Kommandozentrale unserer Kultur geworden ist.  

Nicht nur ihre leichte Unterhaltung beziehen die Amerikaner aus dem Fernsehen, sondern auch ihre Nachrichten, ihr Wetter, ihre Politik, ihre Religion, ihre Geschichte — also auch alles das, was man ihre ernste Unterhaltung nennen könnte. Die leichte Unterhaltung ist nicht das Problem. Das Ungefährlichste am Fernsehen ist der Quatsch, den es produziert.

Ich spreche hier darüber, wie das Fernsehen die ernsthaftesten Angelegenheiten unserer Kultur vereinnahmt. Zu sagen, das Fernsehen präsentiere unterhaltsame Themen, ist bloß banal. Etwas ganz anderes ist es hingegen, wenn man sagt, daß im Fernsehen jedes Thema als unterhaltsam präsentiert wird. Und in eben diesem Sinne richtet das Fernsehen jedes vernünftige Verständnis für öffentliche Angelegenheiten zugrunde.

Wahlkämpfe beispielsweise werden heute weitgehend in Form von Werbespots im Fernsehen ausgetragen. Die Kandidaten verzichten auf Präzision, Komplexität, Inhalt — in manchen Fällen auf Sprache überhaupt — und halten sich statt dessen an die Künste des Showbusiness: Musik, Bild, Prominenz, Theater. Manche Politiker haben es hierin so weit gebracht, und sie haben sich so sehr daran gewöhnt, daß sie auch dann in Werbespots auftreten, wenn sie gar nicht im Wahlkampf stehen — Geraldine Ferraro zum Beispiel für »Diät-Pepsi« oder der frühere Bewerber für das Amt des Vizepräsidenten William Miller und der verstorbene Senator Sam Ervin für American Express.

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Noch schlimmer, Politiker treten auch in Variete-Sendungen, Seifenopern und Unterhaltungsserien auf. George McGovern, Ralph Nader, Ed Koch und Jesse Jackson haben sich als Moderatoren in Saturday Night Live betätigt. Henry Kissinger und der frühere Präsident Gerald Ford hatten Nebenrollen in Denver. Tip O'Neill and Gouverneur Michael Dukakis haben in Cheers agiert. Richard Nixon hatte einen kurzen Auftritt in Laugh-In. Der inzwischen verstorbene Senator von Illinois, Everett Dirksen, war in What's My Line? zu sehen — eine tiefsinnige Frage übrigens, denn was für eine Linie verfolgen diese Leute eigentlich? 

Oder anders gefragt: Was ist aus der Trennungslinie geworden, die man zwischen Politik und Entertainment doch wohl ziehen können sollte?

Ich glaube, das Fernsehen hat sie abgeschafft.

Ich habe schon erwähnt, daß unser jetziger Präsident ein ehemaliger Hollywood-Schauspieler ist. Es ist bezeichnend, daß man ihn, obwohl er selten korrekt und nie präzise spricht, den Großen Kommunikator nennt; das heißt, sein telegener Charme ist offenbar sein wichtigster Aktivposten, und anscheinend reicht das für eine auf Entertainment zugeschnittene Politik aus. 

Aber damit niemand glaubt, seine Wahl für zwei Amtsperioden sei bloß eine zeitweilige Verirrung gewesen, muß ich darauf aufmerksam machen, daß, während ich dies schreibe, Charlton Heston bereits als möglicher Kandidat der Republikaner für 1988 im Gespräch ist. Was bliebe, falls es dazu käme, den Demokraten anderes übrig, als Gregory Peck zu nominieren? Zwei Leinwandidole treten gegeneinander an.

Selbst die Phantasie von Mel Brooks hätte sich das wohl nicht ausmalen können. Mit dem Gehabe eines Moses nimmt Heston seine Nominierung an. Peck sammelt noch einmal allen Mut seines biblischen David, nimmt die Herausforderung auf sich und tritt dem modernen Goliath entgegen. Seine Wahlreden hält Heston als Michelangelo. Peck kontert mit Douglas MacArthur. Heston beschuldigt Peck wegen <The Boys from Brazil>, er sei verrückt. Peck antwortet mit dem Vorwurf, in <Planet der Affen> habe Heston die Erde in die Luft gesprengt. 

<Frühling für Hitler> ist uns vielleicht näher, als manche glauben.

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Aber die Politik ist nicht die einzige Arena, in der eine ernsthafte Sprache durch die Künste des Show­business verdrängt wurde. Wir alle haben gesehen, wie die Religion für das Fernsehen zurechtgestutzt wird, als eine Art von Las-Vegas-Show, ohne Ritual, ohne Würde, ohne Tradition. Unsere elektronischen Prediger haben mit den großen Predigern der amerikanischen Vergangenheit nichts gemein. Männer wie Jonathan Edwards, Charles Finney und George Whitefield besaßen theologische Tiefe, echte Bildung und die Kraft zum Argument. Die elektronischen Prediger, Jimmy Swaggart, Billy Graham, Jerry Falwell und ihresgleichen, sind lediglich Schausteller, die die optische Eindringlichkeit des Fernsehens und ihr eigenes Charisma ausbeuten — zum höheren Ruhme ihrer selbst.

Wir haben auch gesehen, wie in Sesamstraße und anderen pädagogisch inspirierten Sendungen die Ansprüche der Unterhaltung die Oberhand gewinnen über die Strenge, die Bildungsprozessen nun einmal eigen ist. Und wir wissen genau, wie amerikanische Geschäftsleute in der Annahme, potentielle Käufer verlangten nach Amüsement und nicht nach Fakten, Musik, Tanz, Komik, Cartoons und Prominenz aufbieten, um ihre Produkte zu verkaufen.

Sogar unsere täglichen Nachrichten — und das sind für die meisten Amerikaner die Fernsehnachrichten — werden uns in einer Art von Show verabreicht, wo hinreißend aussehende Nachrichtensprecherinnen, aufregende Musik und dynamische Filmbilder die Szene beherrschen, vor allem die Filmbilder. Wo es keine Bilder gibt, da gibt es auch keine Meldung. Denn was sich nicht in Fernsehbildern sichtbar machen läßt, das existiert für die Amerikaner anscheinend nicht.

Noch seltsamer ist, daß an jeder Stelle einer Fernseh­meldung — davor, dahinter oder in der Mitte — ein Werbespot eingeblendet werden kann, wodurch alle Ereignisse trivialisiert und so zugerichtet werden, als dienten sie hauptsächlich dem Entertainment der Zuschauer. Wie ernst kann ein Bombenangriff im Libanon denn sein, wenn ein fröhlicher Werbespot von United Airlines die Einleitung besorgt und eine Reklame für Calvin-Klein-Jeans die Zusammenfassung liefert?

Die Fernsehnachrichtensprecher haben unsere Grammatik sogar um eine neue Wortklasse erweitert — um die »Und jetzt ...«-Konjunktion. Es handelt sich dabei um ein Bindewort, das nichts verbindet, sondern das genaue Gegenteil bewirkt. Es löst Zusammenhänge auf.

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Wenn die Nachrichtensprecher »Und jetzt...« sagen, dann wollen sie damit anzeigen, daß das, was man soeben gehört oder gesehen hat, keinerlei Bedeutung für das besitzt, was man als nächstes hören oder sehen wird. Kein Mord ist so brutal, kein politischer Fehler so kostspielig, kein Bombenangriff so verheerend, daß er vom Nachrichtensprecher mit seinem »Und jetzt...« nicht aus unserem Bewußtsein gelöscht werden könnte.

Der Nachrichtensprecher meint, daß wir jetzt lange genug über ein Thema nachgedacht haben (sagen wir, vierzig Sekunden) und daß wir unsere Aufmerksamkeit nun einem Werbespot zuwenden sollten. Von Nachrichten kann man hier eigentlich gar nicht sprechen. Es ist eine tägliche Version von Frühling für Hitler, und dies erklärt meiner Meinung nach, warum die Amerikaner zu den am schlechtesten informierten Leuten auf der Welt zählen. Gewiß, wir haben von vielen Dingen gehört, aber wir wissen sehr wenig über sie.

Um dies zu überprüfen, habe ich vor einigen Jahren eine Untersuchung durchgeführt, die sich an die Krise um die amerikanischen Geiseln im Iran anschloß. Ich wählte dieses Thema, weil es mehr als ein Jahr lang jeden Tag im Fernsehen vorgebracht worden war. Ich wollte von den Befragten nicht ihre Meinung über die Lage der Geiseln hören. An Meinungsumfragen bin ich nicht interessiert. Eine Meinung über alles und jedes hat in Amerika offenbar jeder. Mich hingegen interessieren Wissensumfragen.

Ich stellte fest, daß fast niemand irgend etwas über den Iran wußte. Und diejenigen, die etwas wußten, erklärten, sie hätten ihr Wissen aus Newsweek oder aus Time oder aus der New York Times. Mit anderen Worten, das Fernsehen ist nicht die große Informationsmaschine; es ist die große Desinformations­maschine.

Eine höchst entnervende Bestätigung hierfür lieferte vor einiger Zeit ein Interview mit dem Produzenten und dem Drehbuchautor der TV-Serie Peter the Great (Peter der Große). Angesprochen auf historische Ungenauigkeiten in der Handlung — darunter eine frei erfundene Begegnung zwischen Peter dem Großen und Sir Isaac Newton —, verteidigte sich der Produzent mit der Bemerkung, eine trockene, historisch getreue Lebensschilderung würde sich niemand anschauen.

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Der Drehbuchautor fügte hinzu, es sei besser für die Zuschauer, wenn sie etwas Unrichtiges lernten, das unterhaltsam sei, als wenn sie überhaupt nichts lernten. Und der Schauspieler Maximilian Schell, der den Peter spielte, setzte dem Ganzen die Zarenkrone auf mit dem Satz, er glaube nicht an historische Wahrheit und sehe deshalb keinen Grund, ihr nachzuspüren.

wikipedia  Maximilian_Schell *1930 in Wien bis 2014

Aber ich behaupte nicht, daß sich die Trivialisierung des öffentlichen Diskurses in Amerika allein auf dem Bildschirm vollzieht. Das Fernsehen liefert vielmehr ein Paradigma für die Formen unserer öffentlichen Kommunikation. Es konditioniert unser Bewußtsein dazu, die Welt in Gestalt bruchstückhafter Bilder wahrzunehmen, und zwingt andere Medien, sich ebenfalls in dieser Richtung zu orientieren.

Der Leser erinnert sich hier vielleicht an die Frage, die wir üblicherweise Leuten stellen, denen es Schwierigkeiten bereitet, auch einfache Sätze zu begreifen. Ungeduldig fragen wir dann: »Soll ich Ihnen einen Bild malen?« Nun, ob es uns gefällt oder nicht, es sieht so aus, als würde unsere Kultur auch uns demnächst Bilder malen, auch uns die Welt in Bildern erklären. Als Medium für den Umgang mit öffentlichen Angelegenheiten hat die Sprache an Bedeutung eingebüßt; sie ist an die Peripherie der Kultur gedrängt worden, und den Platz im Zentrum hat das unterhaltsame, visuell stimulierende Bild eingenommen.

Eine Folge davon ist, daß es heute schätzungsweise 60 Millionen Analphabeten in Amerika gibt, etwa ein Viertel der gesamten Bevölkerung. So steht es in dem Buch Illiterate America von Jonathan Kozol. Und einem Bericht von Daniel Boorstin zufolge, dem ehemaligen Leiter der Kongreßbibliothek, gibt es weitere 60 Millionen Amerikaner, die zwar lesen können, es aber nicht tun.

Unser Göttergeschenk hat aus Amerika ein Bilderfestival gemacht.

Verstehen Sie mich nicht falsch:

Ich kritisiere nicht die »bildenden« Künste im allgemeinen. Diese Kritik übt Gott, nicht ich. Sie erinnern sich gewiß an sein Zweites Gebot, wo er ausdrücklich sagt: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.« Ich war immer der Meinung, daß Gott hier eine sehr extreme Position bezieht, wie es so seine Art ist. Was mich betrifft, so argumentiere ich vom Standpunkt eines symbolischen Relativisten. Die verschiedenen Kommunikationsformen sind aus sich heraus weder gut noch schlecht.

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Gut oder schlecht werden sie, je nachdem, in welche Beziehung sie zu anderen Symbolen treten und welche Funktionen ihnen in einer Gesellschaftsordnung zugewiesen werden. Wenn eine Kultur von Bildern überschwemmt wird; wenn Logik und Rhetorik ihre verbindliche Autorität verlieren; wenn die historische Wahrheit irrelevant wird; wenn das geschriebene oder gesprochene Wort Mißtrauen erregt oder Anforderungen an unsere Aufmerksamkeit stellt, die wir nicht erfüllen können; wenn unsere Politik, unsere Geschichte, unser Erziehungswesen, unsere Religion, unser Nachrichtenwesen und unser Wirtschafts­leben vor allem in visuell stimulierenden Bildern statt in Worten zum Ausdruck kommen, dann ist eine solche Kultur allerdings ernstlich bedroht.

Ich führe hier nicht Klage gegen Unterhaltung oder Entertainment. In einem alten Lied heißt es, uns sei der Weg des Lebens nicht mit Blumen bestreut. Der Anblick einiger farbiger Blüten hier und da kann unsere Reise durchaus ein wenig erfreulicher machen. Aber die unerfreulichsten Leute in Amerika sind die professionellen Entertainer. 

In unserer heutigen Situation haben unsere Prediger und Unternehmer, die Politiker, Lehrer und Journalisten nichts Wichtigeres zu tun, als uns mit Hilfe von Medien zu unterhalten, die für einen ernsthaften, komplexen Diskurs untauglich sind. Aber diesen Produzenten unserer Kultur kann man keinen Vorwurf machen. Sie glauben, wie wir anderen auch, an die Allmacht des technischen Fortschritts. Uns ist der Gedanke nie gekommen, daß die Götter verrückt sein könnten. Und selbst wenn — so fehlt uns doch die Bergspitze, von der wir zurück­geben könnten, was uns gefährlich wird.

Trotzdem, wir wären gut beraten, nicht zu vergessen, daß der Geist einer Kultur auf zweierlei Weise zugrunde gerichtet werden kann. Im ersten Fall — ihn hat Orwell beschrieben — wird die Kultur zum Gefängnis. So haben es die Nazis gemacht und die Russen anscheinend auch. Im zweiten Fall — ihn hat Huxley beschrieben — wird die Kultur zum Variete. So haben es offenbar die Amerikaner gemacht. Huxley lehrt uns, daß im Zeitalter der fortgeschrittenen Technologien geistige Verwüstungen mit höherer Wahrscheinlichkeit von einem Feind mit lächelndem Gesicht angerichtet werden, und nicht von einem, aus dessen Antlitz Argwohn und Haß sprechen.

In Huxleys Prophezeiung sieht nicht der Große Bruder uns zu, sondern wir sehen ihm zu, und zwar freiwillig. Wenn sich eine Kultur in Trivialitäten zerstreut; wenn das politische und gesellschaftliche Leben in eine permanente Unterhaltungssendung verwandelt wird; wenn öffentliche Rede zu einer Art von Baby-Gestammel verkommt; kurzum, wenn sich ein Volk in ein Publikum von Zuschauern verwandelt und seine öffentlichen Angelegenheiten in eine Variete-Nummer, dann, so behauptete Huxley, ist ein solches Land aufs höchste gefährdet und das Absterben der Kultur zeichnet sich als Möglichkeit deutlich ab. 

Ich stimme ihm zu.

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Ende 

 

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18 Zukunftsschrott! Eine Nachbemerkung (1988) zu Wir amüsieren uns zu Tode (1985) Von Neil Postman