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4  Inzest — und wie die Familie damit umgeht

 

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Aufgrund der gefühlsmäßigen Verstrickungen in der Familie stellt Inzest die schlimmste Form sexuellen Miß­brauchs dar, vor allem wenn der Vater der Täter ist. Ich möchte nun die Leserinnen zu verschiedenen Gedanken­experimenten einladen. Diese sollen Ihnen helfen, sich in die Situation der betroffenen Personen hineinzuversetzen und ihre Gedanken und Gefühle mitzuerleben, die sonst oft verborgen bleiben. 

Wenn Sie selbst von Ihrem Vater sexuell mißbraucht wurden, sollten Sie vorsichtig mit diesen Übungen umgehen und sie vielleicht auslassen, da sie sehr gefühlsintensive Erinnerungen in Ihnen wachrufen können, die schnell auch zuviel werden können.

Gedanken-Experiment Nr. 1

Gehen Sie in Gedanken zurück in Ihre Kindheit. Stellen Sie sich vor, Sie sind sieben Jahre alt und werden seit einem Jahr von Ihrem Vater sexuell bedrängt. Ihr Vater hat gesagt, daß dies alle Papis mit ihren Kindern tun, daß es aber ein Geheimnis bleiben muß. Sie fühlen sich inzwischen so unbehaglich, daß Sie Ihrer Mutter davon erzählen wollen. Stellen Sie sich vor, mit welchen Worten Sie das als siebenjähriges Kind tun. Vielleicht schreiben Sie es auf.

Haben Sie gemerkt, wie schwer das ist? Weil Ihnen die Worte fehlen für das, was Ihr Vater mit Ihnen macht und weil Sie nicht wissen, wie Ihre Mutter reagiert, wenn sie von dem sexuellen Mißbrauch erfährt, machen Sie vermutlich nur vage Andeutungen. Sie haben Angst, daß Ihre Mutter Ihnen nicht glaubt, daß Sie Ihnen Vorwürfe macht, Ihnen die Schuld an dem sexuellen Mißbrauch gibt und Sie nicht mehr lieb hat.

Möglicherweise haben Sie aber auch Angst um Ihre Mutter, daß sie die Wahrheit nicht ertragen kann und unter der Belastung zusammenbricht. Sobald sich Ihre Befürchtungen zu bestätigen scheinen, werden Sie sich als Kind nicht mehr trauen, in aller Klarheit den sexuellen Mißbrauch offenzulegen. Aber selbst wenn Ihre Mutter in dieser schwierigen Situation ideal auf Sie eingeht (z.B. indem Sie Ihnen zuhört, Sie vorsichtig nach den Einzelheiten fragt und Sie dafür lobt, daß Sie sich ihr anvertraut haben), ist dieses Gespräch für ein Kind sehr anstrengend und erfordert viel Mut. Auch nach dem Gespräch werden Sie sich wahrscheinlich noch Sorgen darüber machen, was die Mutter wohl unternehmen und wie der Vater reagieren wird, wenn er erfährt, daß Sie das Geheimnis preisgegeben haben. Vielleicht haben Sie aber auch Angst um Ihren Vater, daß er nun Schwierigkeiten in der Familie bekommt oder gar ins Gefängnis muß.

Gedanken-Experiment Nr. 2

Stellen Sie sich jetzt einmal vor, Sie sind berufstätig und haben eine siebenjährige Tochter. Eines Tages erzählt Ihnen Ihre Tochter, daß sich der Vater, wenn Sie bei der Arbeit sind, sexuell an ihr vergehe. Welche Gefühle ruft dies in Ihnen hervor? Was denken Sie und was sagen Sie? Wenn Sie wollen, schreiben Sie es wieder auf.

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Vermutlich sind Sie schockiert und verwirrt. Sie wollen und können das nicht glauben. Automatisch suchen Sie innerlich nach einer Möglichkeit, dieser bitteren Wahrheit zu entfliehen. Sie sagen vielleicht zu Ihrer Tochter, daß sie phantasiere und machen ihr Vorwürfe, weil sie solche Lügen erzählt. Wenn sich Ihre Tochter trotzdem nicht zum Schweigen bringen läßt und der sexuelle Mißbrauch nicht mehr zu verleugnen ist, werden Sie vielleicht zornig auf Ihre Tochter, weil die Sie in so eine schwierige Situation gebracht hat. Sie werden aber auch wütend auf Ihren Mann und fragen sich, wie er so etwas nur tun konnte. Nicht nur Ihre Ehe, sondern Ihre ganze Familie steht jetzt auf dem Spiel. Sie suchen nach Erklärungen für den sexuellen Mißbrauch und möglicherweise machen Sie sich selbst auch Vorwürfe, weil Sie berufstätig sind oder glauben, daß Sie sich zu wenig um Ihre Tochter oder um Ihren Mann gekümmert haben. Was werden Sie tun? Werden Sie Ihren Mann zur Rede stellen? Werden Sie sich, falls Sie ihm nicht mehr vertrauen können, von ihm trennen?

Gedanken-Experiment Nr. 3

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Vater und eines Tages kommt Ihre Frau auf Sie zu und sagt Ihnen, Ihre Tochter habe ihr erzählt, daß Sie sich sexuell an ihr vergehen. Sie hätten Ihre Tochter zum Beispiel aufgefordert, Ihren Penis anzufassen und zu stimulieren, bis es zum Samenerguß kam. Sie finden daran nichts Schlimmes, ahnten aber schon damals, daß Ihrer Frau dies nicht gefallen würde und versuchten es daher immer geheimzuhalten. Wie fühlen Sie sich jetzt, wo die ganze Sache doch herausgekommen ist? Wenn Sie wollen, schreiben Sie auf, was Sie als Vater denken und was Sie Ihrer Frau sagen.

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Wahrscheinlich ist es Ihnen peinlich, jetzt Rechenschaft abgeben zu müssen. Vielleicht sind Sie wütend auf Ihre Tochter, weil sie Sie verraten hat oder wütend auf Ihre Frau, weil sie so ein Theater um diese Dinge macht. Möglicherweise bekommen Sie auch Angst, daß sich Ihre Frau vor Enttäuschung und Ärger von Ihnen zurückziehen oder gar trennen wird. Um dies zu verhindern, machen Sie Ihre eigene Schuld möglichst klein: Sie leugnen alles ab und machen Ihrer Frau Vorwürfe, daß Sie Ihnen so etwas Schlimmes zutraut. Oder Sie schieben die Schuld auf Ihre Tochter und behaupten, diese habe Sie verführt. Ihre Frau weiß dann nicht mehr, wem Sie glauben soll. Der Wunsch, die eigene Ehe zu retten, kann leicht dazu führen, daß Ihre Frau Ihnen glaubt und dafür Ihre Tochter im Stich läßt.

 

    Mütter — Mittäter oder Opfer?  

Wenn man sich in die Situation der einzelnen Familienangehörigen bei der Aufdeckung des sexuellen Mißbrauchs hineindenkt, merkt man erst, wie extrem belastend die Situation für alle Betroffenen ist. Wie es jetzt weitergeht, hängt von der Mutter ab. Auf welche Seite wird sie sich stellen, auf die ihrer Tochter oder die ihres Mannes? Ihre Entscheidung wird einen großen Einfluß darauf haben, wie ihre Tochter ihren sexuellen Mißbrauch verarbeiten wird. Einige Frauen, die von ihrem Vater sexuell mißbraucht wurden, sind viel wütender auf ihre Mutter als auf ihren Vater, weil sie ihr vorwerfen: »Sie hat es gewußt und nichts dagegen unternommen. Sie hat mich im Stich gelassen, als ich sie am nötigsten brauchte.«

Erfährt die Mutter von dem sexuellen Mißbrauch innerhalb ihrer Familie, ist sie in doppelter Weise belastet: neben dem Mißbrauch an ihrer Tochter muß sie auch mit der Untreue und dem Vertrauensbruch ihres Mannes fertigwerden. Zwangsläufig entstehen so zwiespältige Gefühle ihrer Tochter gegenüber; in ihr sieht sie ihr hilfloses und schutzbedürftiges Kind und gleichzeitig die Hure, die ihr den Mann weggenommen hat. Sie empfindet Zorn, Scham, Mißtrauen, Schuldgefühle und fühlt sich von ihrem Mann und ihrer Tochter gleichermaßen hintergangen und betrogen.

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Sie versteht nicht, wie ihr Mann, den sie liebt und dem sie vertraute, sie in dieser doppelten Weise hintergehen konnte. Zweifel hat sie auch an der Redlichkeit ihrer Tochter, weil sie nicht nachvollziehen kann, warum diese sich ihr so lange nicht anvertraut hat. Sobald sie von dem sexuellen Mißbrauch erfährt, muß sie für sich entscheiden, wen von beiden sie für diese Geschehnisse verantwortlich machen, wem sie ins Gewissen reden oder wen sie vielleicht aus der Familie entfernen muß, um weitere Wiederholungen zu verhindern. Wenn sie zu dem Schluß kommt, daß ihre Tochter das Opfer und ihr Mann der Täter ist, kann sie ihren Mann verlassen oder ihm zumindest die Trennung androhen für den Fall, daß der sexuelle Mißbrauch weitergeht. Dieses Vorgehen setzt aber eine sehr gute Vertrauensbeziehung zu ihrer Tochter voraus und die Gewißheit, daß diese sie über weitere sexuelle Übergriffe informieren wird. Wenn es zwischen Mutter und Tochter Spannungen und Konflikte gibt, kann die Mutter ihre schützende Funktion nicht wahrnehmen. Manche Väter manipulieren die Familie von vornherein so, daß sich die Beziehung zwischen Mutter und Tochter verschlechtert.

Je ausgeprägter die Selbstunsicherheit und psychische Unreife einer Mutter ist und je weniger sie sich daher zutraut, ihr Leben auch ohne einen Partner bewältigen zu können, desto weniger wird sie dieser schwierigen Situation der Aufdeckung gewachsen sein. Sie wird bei ihrem Mann bleiben, ihn möglicher­weise nicht einmal auf den sexuellen Mißbrauch ansprechen aus Angst vor seiner aggressiven und gewalttätigen Reaktion. Statt dessen wird sie ihre Tochter vielleicht ermuntern, das Ganze nicht so schlimm zu nehmen oder sie gar dazu überreden, weitere sexuelle Übergriffe ihres Vaters zu dulden.

Solche Reaktionen von Müttern werden dann etwas verständlicher, wenn man sich bewußt macht, daß viele dieser Frauen selbst als Kind emotional oder sexuell mißbraucht oder körperlich mißhandelt wurden. Ihre Partnerwahl fiel meistens auf einen Mann, der ihrem tyrannischen, mißbrauchenden oder gewalttätigen Vater ähnelt. Diese Frauen verhalten sich in ihrer Ehe so, wie sie es bei ihrer Mutter beobachtet haben: Sie erdulden die Mißhandlung statt sich von ihrem Mann zu trennen.

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Da sie aufgrund der mangelnden Nestwärme ihres Elternhauses in ihrem Beziehungsverhalten beeinträchtigt sind, fällt es ihnen schwer, eine fürsorgende Gefühlsbindung zu ihren Kindern aufzubauen. Zudem haben sie oft wenig Freunde und leben von anderen Menschen stark zurückgezogen, was sie gefühlsmäßig von ihren Partnern besonders abhängig macht. So haben sie meist niemanden, der sie nach der Aufdeckung des sexuellen Mißbrauchs in ihrer Krise unterstützen und ihnen bei der Trennung von ihrem Mann helfen könnte. All dies hilft verstehen, warum manche Mütter nicht in der Lage sind, ihre Töchter vor dem sexuellen Mißbrauch durch den eigenen Mann zu schützen. Die Vorstellung, daß sie an dieser schlimmen Familiensituation im wesentlichen nichts verändern können, treibt viele Mütter noch tiefer in die Depression und den Selbsthaß. Manchmal aber richtet sich die Wut und Enttäuschung über die eigenen Lebensumstände in Form von Feindseligkeit oder Gewalttätigkeit auch gegen die Kinder.

Fachleute gehen davon aus, daß die Anwesenheit einer starken und selbstbewußten Mutter den sexuellen Mißbrauch in der Familie oft verhindern kann. Daß dies nicht immer der Fall ist, zeigt das bereits genannte Beispiel von Sabine. Eine starke und selbstbewußte Mutter wird zwar viel eher etwas unternehmen können, um ihre Tochter vor weiteren Übergriffen zu schützen. Daß diese Schutzreaktion aber nicht unbedingt zu guten Folgen für die Tochter führen muß, zeigt das folgende Beispiel:

 

ANNA hatte viele Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes einen neuen Partner gefunden und geheiratet. Endlich war das Alleinsein vorbei. Sie war froh, daß sich auch ihre Tochter gut mit ihrem Stiefvater vertrug. Aber dann erfuhr sie von ihrer Tochter, daß er sich sexuell an ihr vergriffen hatte. Sie war schockiert. Da sie selbst als Kind sexuell mißbraucht worden war, wußte sie, daß die Schuld allein bei ihrem Mann lag. Trotzdem wollte sie sich nicht von ihm trennen, denn sie wollte nicht schon wieder allein sein. Da sie aber wußte, wie schlimm die sexuellen Übergriffe für ein Kind sein können, wollte sie diese ihrer Tochter in Zukunft ersparen. Sie entschloß sich daher, ihre Tochter zu Verwandten zu geben, wo sie dann aufwuchs. Diese Entscheidung aber hatte Folgen für die psychische Gesundheit ihrer Tochter, die gleich drei schwerwiegende Kränkungen verkraften mußte: sie war vom Stiefvater sexuell mißbraucht worden; erlebte dann, daß sie ihrer Mutter weniger bedeutete als der Mißbraucher und verlor zudem noch ihr vertrautes Zuhause.

Dies konnte sie ihrer Mutter lebenslang nicht mehr verzeihen. Auch als Erwachsene lehnt sie jeglichen Kontakt mit Ihrer Mutter ab.

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Wenn sich Anna von ihrem Mann statt von ihrer Tochter getrennt hätte, wären die Folgen des sexuellen Mißbrauchs für ihr Kind sicher weniger schlimm gewesen. Auf der anderen Seite muß man sich fragen, wie groß das Opfer sein darf, das man einer Mutter abverlangen kann. Die wenigsten Männer, die ihre Töchter sexuell mißbrauchen, sind sich darüber im klaren, was sie über die sexuellen Übergriffe hinaus ihren Töchtern und ihren Partnerinnen antun.

 

 Die schlimmsten Mißbraucher sind die eigenen Väter 

Sieht man von den relativ seltenen Fällen ab, in denen ein Kind durch einen Fremden vergewaltigt und dann wieder freigelassen wird, verüben Täter aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis des Kindes intensivere sexuelle Übergriffe und wenden eher Drohungen und Gewalt an, als dies fremde Täter tun. Das fand Michael BAURMANN vom Bundeskriminalamt, der die in der BRD gemachten Anzeigen zum sexuellen Kindesmißbrauch unter die Lupe nahm.

Aus Angst vor Entdeckung nähern sich fremde Täter dem Kind meist viel vorsichtiger und behutsamer, als dies Mißbraucher aus dem Familien- und Freundeskreis tun. Der sexuelle Mißbrauch durch einen fremden Mann wird oft bereits in einem Frühstadium entdeckt und gestoppt, so daß sich die Übergriffe darauf beschränken, daß der Mißbraucher den Kindern z.B. Gespräche über Sex oder Pornos aufdrängt oder ihnen seine Geschlechtsteile zeigt und vor ihren Augen Selbstbefriedigung macht. Dagegen bleibt der sexuelle Mißbrauch durch eine Vertrauensperson oft lange Zeit verborgen, so daß es dort häufig zu immer intensiveren sexuellen Übergriffen wie z.B. zum Geschlechts-, Mund- oder Afterverkehr kommt.

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Wenn Kinder versuchen, den sexuellen Mißbrauch aufzudecken, finden sie eher Gehör und Hilfe bei Erwachsenen, wenn es sich bei dem Mißbraucher um einen Fremden handelt. Da lange Zeit die falsche Vorstellung herrschte, daß sich nur fremde Triebtäter an Kinder sexuell vergehen, wurden die Berichte der Kinder über sexuelle Annäherungen durch Familienangehörige als kindliche Phantasien und Hirngespinste abgetan. Wenn der Mißbraucher ein Fremder ist, hat das Kind zwei Elternteile zur Verfügung, an die es sich hilfesuchend wenden kann. 

Die Situation sieht dagegen ganz anders aus, wenn die sexuellen Übergriffe vom Vater des Kindes ausgehen. Das Kind verliert dann den Vater als beschützende Vertrauens- und Bindungsperson. Durch die Gefühlsbindung der Mutter zum Mißbraucher fällt auch sie oft als schutz- und zufluchtgewährender Elternteil aus. Von beiden Eltern im Leid alleingelassen zu werden stellt für Kinder, neben dem sexuellen Mißbrauch, eine zusätzliche und besonders traumatische Erfahrung dar, die die psychische Entwicklung entscheidend beeinträchtigt.

Kinder sind von Natur aus mit einem »Verhaltensprogramm« ausgestattet, das sie veranlaßt, in Angst- und Notsituationen instinktiv zu ihren Eltern zu flüchten, wo sie in der Regel Schutz und Hilfe bekommen. Nun suchen Kinder auch dann noch Zuflucht bei den Eltern, wenn diese selbst die Ursache für das Leiden und den Kummer des Kindes sind. Auf den sexuellen Mißbrauch übertragen bedeutet das, daß Kinder vor den beängstigenden sexuellen Übergriffen eines Fremden erfolgreich fliehen und bei den Eltern Schutz finden können. Ist der Vater der Mißbraucher, dann wird das Kind, besonders wenn es noch jünger ist, ebenfalls vermehrt die Nähe seiner Eltern, d.h. von Mutter und Vater suchen. Damit aber ist keine Flucht vor dem mißbrauchenden Vater möglich. Diese angeborene Verhaltenstendenz der Kinder führt dazu, daß sie sich gegen die sexuellen Übergriffe ihres Vaters nicht im gleichen Ausmaß zur Wehr setzen können wie gegen die eines Fremden.

Wenn sowohl der Vater als auch die Mutter als schützende Elternteile ausfallen, müssen sich Kinder an andere Vertrauenspersonen, wie z.B. an eine Tante, eine Nachbarin oder Lehrerin wenden. Ist der Mißbraucher ein Fremder, ist dies dem Kind wesentlich leichter möglich als beim eigenen Vater oder einem anderen nahen Familienangehörigen.

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Ein Kind kann seinen Vater, den es wegen der sexuellen Übergriffe haßt und gleichzeitig als wichtige Bezugs­person braucht und liebt, nicht so leicht in Schwierigkeiten bringen. Kinder, die noch Nestwärme brauchen, wünschen sich eine Trennung vom Vater und haben gleichzeitig Angst davor, ihn zu verlieren. Dieses zwiespältige Gefühls­muster erleben die Betroffenen dann häufig auch als Erwachsene mit wichtigen Bezugspersonen und Partnern wieder.

Weil Kinder ihre Eltern zum Überleben brauchen und emotional stark an sie gebunden sind, müssen sie oft verdrängen, daß sie von ihrem Vater sexuell mißbraucht und von ihrer Mutter im Stich gelassen werden.

Trotzdem hinterlassen diese schmerzlichen Erlebnisse ihre Spuren in der Seele eines Menschen. Die Erfahrung, daß man selbst Menschen, die einem so nahestehen, nicht vertrauen darf, schlägt sich in späteren Beziehungen zu Menschen nieder. Diese sind meist geprägt von Unsicherheit, Angst, Mißtrauen oder Feindseligkeit, aber auch von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen. Die Kinder suchen die Schuld für die schlechte Behandlung, die sie von ihren Eltern erfahren haben, oft bei sich selbst: »Ich wurde schlecht behandelt, weil ich schlecht bin.« 

Sehr häufig sind sie auch als Erwachsene blind für die Tatsache, daß ihre Eltern keine guten Eltern sind und daß es besser wäre, den Kontakt zu ihnen abzubrechen, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. Oft können sie sich nicht gefühlsmäßig von ihren Eltern lösen, weil sie bei ihnen immer noch vergeblich die Sicherheit und Unterstützung suchen, die sie als Kind gebraucht hätten.

 

Das Verleugnungsspiel in der Familie

Wird der sexuelle Mißbrauch innerhalb der Familie einmal aufgedeckt, angezeigt und vor Gericht verhandelt, können die verschiedensten Familienmitglieder versuchen, die Geschehnisse zu verleugnen oder zu verharmlosen. Dafür hat jeder seine eigenen Gründe: Die Mißbraucher wollen natürlich nicht bestraft werden und leugnen daher die Tat. Einige mißbrauchende Väter halten sich aber für völlig unschuldig und betrachten sich selbst eher als Opfer statt als Täter.

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Für sie besteht das einzige Problem darin, daß sich die Behörden in ihr Leben einmischen. Ansonsten glauben sie als Väter das Recht zu haben, über ihre Kinder nach Belieben zu verfügen. Andere fühlen sich als große Wohltäter und sind überzeugt, sie hätten ihrer Tochter einen Gefallen getan, indem sie ihr frühzeitig beibrachten, für einen Mann sexuell attraktiv zu sein.

Manche Mütter verleugnen die sexuellen Übergriffe ihres Mannes auf ihre Tochter, weil sie sich gefühlsmäßig an den Mann gebunden fühlen oder weil sie seine Racheakte, das Gerede der Leute oder die persönliche Bloßstellung fürchten, wenn herauskommt, daß ihr Mann sie mit ihrer eigenen Tochter betrogen hat. Viele Frauen haben aber auch Angst, daß der Mann inhaftiert wird und sie dadurch finanziell in Not geraten. Oder sie fürchten die Vorwürfe, daß sie nichts gemerkt oder nichts unternommen haben, als sie davon erfuhren. Die betroffenen Kinder verleugnen die sexuellen Übergriffe des Vaters, weil sie sich für den Zusammenhalt der Familie verantwortlich fühlen, die Mutter schonen wollen oder fälschlicherweise glauben, an dem sexuellen Mißbrauch mitschuldig zu sein, wie ihnen dies oft auch eingeredet wurde.

Die beiden amerikanischen Familientherapeuten Terry TREPPER und Mary Jo BARRETT beschreiben vier Formen, mit denen sexueller Mißbrauch in der Familie verleugnet oder verharmlost wird.

»Das Ganze ist doch nie passiert«

Hier verleugnen die verschiedenen Familienmitglieder die Tatsache, daß ein sexueller Mißbrauch geschehen ist.

Vater: Die kleine Hure lügt, um mich fertig zu machen. Was sie erzählt, ist nie geschehen.

Mutter: Sie sagt das nur, um sich wichtig zu machen. Wenn mein Mann sagt, er hat das nicht getan, dann hat er es nicht getan. Mein Mann und meine Tochter haben sich das nur ausgedacht, um mich zu ärgern.

Mädchen: Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe, vielleicht weil ich mich über ihn geärgert habe.

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»Ich weiß nicht mehr, was passiert ist«

Die Familienmitglieder bestreiten, daß sie von dem sexuellen Mißbrauch wußten.

Vater: Ich kann mich nicht mehr erinnern, Filmriß, ich war zu betrunken.
Mutter: Ich hätte doch merken müssen, wenn zwischen meinem Mann und meiner Tochter was gewesen wäre. Vielleicht hat sie mal was darüber gesagt, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.
Mädchen: Ich habe doch geschlafen und gar nichts mitgekriegt von dem. Ich habe das doch nur geträumt. Es ist nie in Wirklichkeit passiert.

»Er kann nichts dafür!«

Die Verantwortung und Schuld des Täters wird verleugnet.

Vater: Sie hat sich so verführerisch bewegt und mich so angesehen, ich sage Ihnen, die wußte genau, was sie wollte. Meine Frau hat ja so oft keine Lust gehabt, mit mir zu schlafen. Welcher Mann kann das auf die Dauer schon aushalten?

Mutter: Er wußte in seinem Suff nicht mehr, was er tat. Meine Tochter muß es gewollt haben, sonst hätte sie sich gewehrt oder wäre zu mir gekommen.

Mädchen: Es ist alles meine Schuld, weil ich ihn gefragt habe, was »blasen« ist und da hat er es mir eben gezeigt. Ich hätte mich mehr gegen ihn wehren sollen.

»Was ist denn so schlimm dran?«

Hier werden die psychischen Folgen sexuellen Mißbrauchs verharmlost.

Vater: Ich habe nie mit Gewalt etwas mit ihr getan und habe sie immer gefragt, ob es ihr gefällt.
Mutter: Sie ist doch ein Kind und versteht nicht, was da passiert ist. Sie wird es bald vergessen haben.
Mädchen: Es hat mir gar nichts ausgemacht.

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Alle diese Formen des Verleugnens entschuldigen die Übergriffe des Täters, der für sein Verhalten keine Rechenschaft abgeben muß und sich so vor der Verantwortung drücken kann. Die Schuld des Vaters wird auf die Tochter und die Mutter umverteilt. Dadurch werden der in ihrem Selbstbewußtsein sowieso benachteiligten Mutter und Tochter noch weitere Minderwertigkeitsgefühle eingeimpft. Innerhalb der Familie können ganz unterschiedliche Spannungen entstehen, je nachdem, wer den sexuellen Mißbrauch leugnet und wer ihn offenlegt. So kann z.B. die Mutter ihren Verdacht auf sexuellen Mißbrauch äußern, während der Vater und die Tochter diesen leugnen. 

Die bevorzugte Stellung, die die Tochter beim Vater einnimmt, kann dazu führen, daß ihre Mutter und ihre Geschwister eifersüchtig werden und sie ablehnen, so daß die Tochter noch mehr von der Zuwendung ihres Vaters abhängig wird. Oder der Vater und die Tochter gestehen die sexuellen Übergriffe ein, aber die Mutter streitet sie ab, weil sie diese Tatsache gefühlsmäßig nicht ertragen kann. Sie kann sich dann z. B. einreden, die beiden hätten sich das nur ausgedacht, um ihr eins auszuwischen. Möglicherweise verleugnen alle geschlossen den sexuellen Mißbrauch, weil sie die Familie vor einem Auseinanderbrechen bewahren wollen. 

Häufig aber wird der Vater seine Übergriffe abstreiten, weil er die meisten Konsequenzen zu befürchten hat, während seine Tochter den sexuellen Mißbrauch aufzudecken und damit zu stoppen versucht. In solch einem Fall ist es für die Tochter eine große Hilfe, wenn sich wenigstens die Mutter auf ihre Seite stellt und beide den sexuellen Mißbrauch offenlegen. Leider passiert es allzu oft, daß die Mutter gemeinsam mit dem Vater die sexuellen Geschehnisse abstreitet, so daß die Tochter mit ihrer Behauptung allein dasteht.

Wenn sie noch ein kleines Kind ist und darum ihren Eltern viel Glauben schenkt, wird sie vielleicht anfangen, an ihren eigenen Wahrnehmungen zu zweifeln. Diese Erfahrungen können wie eine Gehirnwäsche ihren Sinn für die Wirklichkeit verwirren, so daß sie auch als Erwachsene Probleme haben kann, zwischen den Beschreibungen anderer und dem, was wirklich vorgefallen ist, zu unterscheiden. Möglicherweise fällt es ihr aufgrund dieser Gehirnwäsche später manchmal schwer, Phantasien und Wirklichkeit auseinanderzuhalten, so daß sie unter psychotischen Störungen leidet. 

Wenn das Mädchen schon älter ist und erlebt, wie ihre Eltern den sexuellen Mißbrauch verleugnen, läßt sie sich von ihren Eltern zwar nicht mehr täuschen, erlebt dafür aber umso deutlicher den Verrat ihrer Eltern und ihre eigene Hilflosigkeit. Diese Erfahrungen führen oft zur Entwicklung depressiver Störungs­formen und zum sozialen Rückzug von Menschen, die sich als unzuverlässig und verletzend erwiesen haben.

Auch die Geschwister wissen oft von den sexuellen Übergriffen des Vaters an einem Mädchen und sind in einen ähnlich verwirrenden Gefühlsstrudel verstrickt wie alle anderen Familienmitglieder. Einerseits empfinden sie Scham und Zorn gegenüber dem Übeltäter, andererseits möchten sie nicht, daß der Vater ins Gefängnis muß oder die Familie ins Gerede kommt. Manchmal sind die Geschwister ebenfalls vom Vater sexuell mißbraucht worden.

In Familien, wo der Vater gereizt oder gewalttätig reagiert, sind die Mutter und die Geschwister manchmal sogar froh, wenn ihn seine Lieblingstochter durch ihre sexuelle Verfügbarkeit friedlich stimmt. Die Angst vor den Gewalttätigkeiten des Vaters und das schlechte Gewissen diesem Mädchen gegenüber sind weitere Gründe für die Geschwister, die sexuellen Übergriffe zu verleugnen. Dies alles kann erklären, warum der sexuelle Mißbrauch innerhalb einer Familie so selten öffentlich bekannt wird.

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 Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden