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9.  Arbeitsplatz Haushalt

 

 

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Nach Marx ist die Hausarbeit eigentlich gar nicht Arbeit zu nennen, da sie keinen ökonomischen Wert hat und keinen Mehrwert erzeugt. Rein rechnerisch aber lebt jede auch noch so hoch industrialisierte Gesellschaft zum über­großen Teil von der Hausarbeit. André Gorz gibt hierfür folgende Werte an: Die Männer in Frankreich erbringen als Arbeitsleistung 24,5 Milliarden Stunden und die Frauen 12,7 Milliarden Stunden, d.h. die gesamte Arbeits­leistung in abhängigen, mehrwerterzeugenden Bereichen beträgt 37,2 Milliarden Stunden. 

Frauen leisten aber 40 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit im Haushalt, Männer leisten 9 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit. Den 37,2 Milliarden Stunden entlohnter Arbeit stehen damit 49 Milliarden unbezahlte Arbeits­stunden gegenüber. Geht man weiterhin davon aus, daß von den 37 Milliarden Jahres­arbeits­stunden ein größerer Teil aus ausgelagerten Arbeitsleistungen des Haushalts besteht, so ist auch in hoch­industrialisierten Gesell­schaften der Haushalt immer noch der größte Arbeitsplatz mit den meisten Umsätzen.

Sieht man das Problem aber komplexer, so ist die zentrale Funktionsstelle des gesamten Arbeitsstaates der Haushalt. In ihm werden die Entscheidungen gefällt über die Anschaffungen, über den Konsum und letztlich auch über die Produktion. Es werden die Entscheidungen gefällt über Verkehr, über Warenbezug, über Freizeit, über Kultur, über Bildung und über politisches Verhalten. Obwohl der private Haushalt der größte Betrieb des Staates ist, hat er im heutigen Staatssystem dennoch den geringsten Einfluß. Obwohl seine Arbeitsvorgänge ziemlich gleichartig sind, unterliegen sie immer noch sehr wenig Normierungen. Obwohl die Umsätze des privaten Haushalts den jeder anderen Institution um das Zehn- und Hundertfache übersteigen, hat er auf die Gestaltung des Preises keinerlei Einfluß.

Der Haushalt wird in den sozialistischen wie in den kapitalistischen Ländern noch immer als Relikt der alten Gesellschaft betrachtet. Er ist das Hindernis für die völlige Industrialisierung der Gesellschaft. Entsprechend hat es an allen möglichen Stellen auch Versuche gegeben, den privaten Haushalt zugunsten von größeren Einrichtungen aufzulösen. Hierzu sollen nicht die mehr exotischen Versuche der Kommune-Bewegung in den sechziger und siebziger Jahren gerechnet werden, sondern hierzu gehören realere, sozialistischere Versuche in der Sowjetunion in Form von Mehrfamilien­häusern, Einküchenhäusern usw., hierzu zählen aber auch die Kantinen­versorgungen vor allem in den kapitalistischen Ländern.

Die Kantinenversorgung reißt den einzelnen aus seinem Haushaltsgefüge heraus und ist ein unmittelbares Produkt der Arbeitszeit­gestaltung, aber kein immanentes Produkt der Industriegesellschaft. Mit der Kantinen­versorgung hat die Industrie, geschützt durch den Staat, entscheidend in das Familienleben eingegriffen. Sie versucht dies heute noch mehr durch Wochen­endarbeits­zeitregelungen, Sonntagsarbeit und vieles andere. Der Staat, vorgeblich um das Wohl der Bürger bemüht, greift immer stärker in das Leben der privaten Haushalte ein. Er versteht im Gegensatz zu seinen Beteuerungen sich selbst nicht als Beschützer der Familie, sondern nur als Schützer des Individuums.

Umgekehrt ist der Haushalt nach wie vor der Arbeitsbereich, der am wenigstens den regulierenden Mechanismen einer allumfassenden Bürokratie unterliegt. Im heutigen Sinne von Arbeit ist alle Arbeit, die im Haushalt getan wird, Nichtarbeit. Dies betrifft sowohl die Hausarbeit, die überwiegend von der Hausfrau gemacht wird, als auch die immer mehr zunehmende Heimarbeit, die als Schwarzarbeit vor allem dem Unterhalt der Wohnung und der Aufrechterhaltung des äußeren Ablaufs des Haushalts dient.

Dabei darf nicht übersehen werden, daß viele Funktionen, die ursprünglich dem Haushalt immanent waren, in Dienst­leistungs­bereiche ausgelagert worden sind. Hierzu gehört der größte Teil der Entsorgung, der größte Teil der Sicherstellung der Wasser- und Abwasserversorgung und immer größere Teile auch der Primärversorgung des Essens und der Kleidung. Hatte noch der alte Haushalt die gesamte Essensversorgung fast von der Ernte bis zum Kochen sicherzustellen, so drangen im 20. Jahrhunden immer mehr Fertiggerichte, Tiefkühlkost und Halbfertigwaren in den Haushalt ein.

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Diese Teile konnten als Steigerung des Bruttosozialprodukts in die volkswirtschaftliche Gesamt­rechnung integriert werden und wurden damit fortschritts­relevant. Mit ihrer Ausgliederung aus dem Haushalt unterlagen sie aber auch wie alle Funktionen, die ausgelagert und arbeitsteilig erledigt werden, immer stärker dem Effizienzverlust, denn je weiter eine Arbeit vom unmittelbaren Verbrauch weg erledigt wird, um so größer sind die Verlustraten, die entstehen durch Transport, Abfall, Anonymisierung und Verwaltung. Je weiter und je höher die Auslagerungsrate einer Tätigkeit aus dem Haushalt ist, um so mehr muß die Tätigkeit einer Verwaltung unterzogen werden. Verwaltung kostet aber Zeit, Geld und Energie und bedeutet damit unmittel­bare Umweltzerstörung.

Bei diesen volks- und betriebswirtschaftlichen Gesamtrechnungen entsteht der schöne Schein, daß alle glauben, sie würden die Aufwendungen, die sie nun tätigen könnten, durch ihrer Hände Arbeit verdienen. 

Übersehen wird dabei, daß der Verdienst­zuwachs, den der Einzelhaushalt im Laufe der letzten 200 Jahre im Rahmen der Industrialisierung erreicht hat, nur aus dem immer mehr steigenden Energie- und Umwelt­verbrauch resultiert. 

Je mehr im Gegenteil der Wohlstand des Haushalts wächst, um so geringer wird der Anteil der Handarbeit oder auch der Arbeitszeit selbst. Niemanden wundert dies bisher, weil alle glauben, daß der Zuwachs aus der Intensivierung der Arbeit selbst herrührt. Kaum einer bemerkt, daß er nur aus dem Mehr an Energie und an Umweltressourcen besteht.

Ein weiterer Teil der Täuschung besteht darin, daß viele glauben, der Haushalt heute würde nur unwesentlich mehr an Materiellem umschlagen wie der Haushalt z.B. in den zwanziger Jahren, weil die Kaufkraft des Geldes selbst inflationären Tendenzen unterliegt. Dies ist nicht der Fall. Die Kaufkraft des Geldes wird in der Regel an den Warenkörben, also an den Waren gemessen, die man für das Geld kaufen kann. Diese Kaufkraft wird wiederum bezogen auf die Arbeitsleistung, die der einzelne erbringen muß, und zwar in abhängiger Arbeit, um die Kaufkraft zu erwirtschaften.

Niemand hat bisher aber den Versuch gemacht, diese Kaufkraft auf Öl, Kohle, Erdgas und die Umweltressourcen Luft, Wasser und Boden umzurechnen, also eigentlich die materiellen Grundlagen für die Arbeit.

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Die Umrechnung der Waren in Arbeitszeit ist eine Fiktion. 

Real ist die Umrechnung der Waren in Steinkohleeinheiten, in Lufteinheiten, in Wassereinheiten und in Bodeneinheiten, wobei selbst die Umrechnung auf Steinkohleeinheiten für Öl, Kohle oder Erdgas noch eine Fiktion ist, denn der Energieverbrauch setzt sich einerseits um in Waren, in Wärme in Form von Abwärme, in Schadstoffe, die in Luft, Wasser und Boden geleitet werden. Darüber hinaus erfolgt durch den Energieverbrauch von nichtregenerierbaren Energiequellen eine immer größere Verteilung der Energie, die dann, wenn sie verteilt ist, nicht mehr eingesammelt werden kann. Verteilt wird sie aber in der Regel nur in Form von Wärme. Diese Wärme heizt einerseits die Atmosphäre auf, und andererseits zerstört sie die Reaktivierbarkeit der Natur.

Mißt man den gesamten Verbrauchskreislauf, so verbraucht der einzelne als Arbeitender für seinen Haushalt nicht in erster Linie seine Arbeitszeit, sondern vielmehr Luft. Wasser und Boden, indem er sie zerstört. Im Sinne der Erhaltung der Lebensgrundlagen der Menschen ist also die sinnloseste Tätigkeit, nämlich die immer wiederkehrende mechanische Tätigkeit im Haushalt, die ohne zusätzliche Energie, ohne Chemie vorgenommen wird, die nützlichste für die Erhaltung der Lebensgrundlagen.

Im Sinne einer neuen ökologischen Ökonomie kann also die Arbeit außerhalb des Haushalts nicht als ökologisch wertvoll, sondern nur als ökologisch zerstörend angesehen werden. Aber auch die Arbeit im Haus­halt ist nur dann ökologisch aufbauend, wenn sie ohne die zerstörenden Elemente getan wird. So konnte es geschehen, daß im Rahmen der Industrialisierung auch der Haushalt — bewußt oder unbewußt — in das Gesamt­zerstörungspotential der Arbeitswelt immer weiter eingegliedert wurde. Und so konnte es geschehen, daß die Hausfrau zum selben Zerstörungsteufel für die Umwelt werden konnte wie der Industrie­arbeiter.

Der Ausgangspunkt für diese Tätigkeit der Hausfrau war die frühe Organisation der Familie vor der Erfindung des Ackerbaus. Es war die Sammler- und Jägergemeinschaft, die durch Nutzung der natürlichen Ressourcen ihre Lebensgrundlagen schuf, ohne ackerbauliche Herrschaftsstrukturen zu entwickeln. Wir können und konnten diese Formen der Lebensgemeinschaften noch beobachten bei den Eskimos, bei einigen Indianer­völkern in Südamerika und bei den Ureinwohnern der Fidschi-Inseln und anderer Südsee­staaten.

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Diese Gemeinschaften unterscheiden sich von unseren in mehreren entscheidenden Punkten. Für sie gibt es nicht das Drinnen und Draußen, es gibt kaum arbeitsteilige Prozesse, es gibt keinen Ackerbau, und es gibt bei ihnen nur dort einen unterschiedliche Rolle von Mann und Frau, soweit sie nicht auf natürliche Ursachen zurückgehen, wo diese Völker mit der sogenannten Zivilisation in Verbindung gekommen sind.

Auch wenn es von vielen immer wieder behauptet wurde, gibt es doch keine Beweise dafür, daß das Jagen in den Frühzeiten der menschlichen Entwicklung allein dem Manne zugeeignet war. Vielmehr deutet vieles darauf hin, daß auch die Frau gleichberechtigt an der Jagd teilgenommen hat. Damit entfiele auch die letzte Begründung für die unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau im sozialen Bereich.

Diese Aufteilung der Rollen ist ein eindeutiges Ergebnis der Ackerbaustrukturen. Aber auch die Ackerbau­strukturen beließen dem privaten Haushalt noch den größten Teil des menschlichen Lebens. Zwar wurde in diesen Strukturen das Drinnen und Draußen, das Hegen und Kämpfen und das Dienen und Herrschen als ein Wechselspiel zwischen Frau und Mann entwickelt, aber die übergeordnete Organisationsstruktur eines herrschenden Staates, d.h. eine Auslagerung von Primärfunktionen der Versorgung zum Staat hin, war noch nicht entwickelt. Erst die Stadtstaaten in babylonischer, persischer und vor allem griechischer Zeit entwickelten diese Herrschaftsform.

Erst mit der Entstehung der Stadt konnte sich die Trennung von Öffentlichem und Privatem entwickeln. Man kann sogar sagen, daß die Entdeckung des Privaten erst eine Schaffung des Öffentlichen ist, daß sich also auch in diesem Problembereich die trennende, sortierende Art bestimmter menschlicher Strukturen auf die Lebensform auswirkt. Der öffentliche Raum wird erst in der griechischen Polis zu einem Gegensatz zum privaten Haushalt, und er senkt dessen Bedeutung. Zwar hat auch in der gesamten griechischen Mythologie der Herd als das Zentrum des privaten Haushalts eine sehr hohe Bedeutung. Trotzdem überragen der Tempel und der Markt den Herd in seinem öffentlichen Ansehen.

Durch die Schaffung des Öffentlichen bekommt gleichzeitig der Mann eine schizophrene Rolle: Einerseits hegt und pflegt er in der Regel unter Anleitung der Frau seine Familie im privaten Bereich, er sorgt für die Fortpflanzung und für den Fortbestand der Familie und der Menschheit überhaupt.

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Er schafft den privaten Frieden, er schafft sich ein Heim, er schafft sich eine Rückzugsposition. Gleichzeitig verläßt er fast jeden Tag diesen Ort des Friedens, der Geborgenheit und der Intimität und tritt hinaus ins feindliche Leben. Und in diesem Leben setzt er sich dem Konkurrenzkampf aus, so sagt er jedenfalls, während er ihn in Wirklichkeit erst schafft. Er kämpft, er zerstört, er herrscht, er schafft ewige Werte, und er kehrt abends erschöpft und müde vom Lebenskampf zurück.

Dieses schizophrene Verhalten hält er nur dadurch aus, daß er sich immer wieder klarmacht, daß er das bittere Muß, sich und seine Art am Leben zu erhalten, draußen ableistet. Dabei wird ihm aber nicht klar, daß dieses bittere Muß erst dadurch entstanden ist, daß er Zug um Zug die eigentliche, nämlich die natürliche Lebensgrundlage zerstört hat. Noch weniger wird ihm klar, daß er um so mehr seine Lebensgrundlage zerstört, je mehr er um den Lebensunterhalt kämpft. Er glaubt vielmehr nach einiger Zeit an seine Fiktion und geht täglich hinaus und kämpft. Über diesen Kampf wird er natürlich zum Heroen, wie jeder, der kämpft, irgendwann zum Helden wird. Je mehr er aber kämpft und in diesem Kampf materielle Dinge erwirtschaftet, um so mehr steigt sein öffentliches Ansehen.

Damit verselbständigt sich der Kampf um die materielle Lebensgrundlage immer mehr zum Kampf um ein persönliches Prestige. Selbst wenn er längst die Lebensgrundlage des privaten Bereichs gesichert hat, kämpft er weiter. Er kämpft jetzt um den Erhalt der materiellen Lebensgrundlage, er kämpft um die Sicherung des Lebensstandards. Der Lebensstandard ist eben nicht die notwendige und hinreichende Lebensgrundlage, in diesen Begriff gehen vielmehr immer mehr Prestigeanteile ein. Lebensstandard bedeutet Lebensgrundlage plus Luxus.

Gleichzeitig wird der Haushalt quasi zum Rückspiegel der ununterbrochenen Auseinandersetzung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich. Die Hausfrau als weiterhin unbestrittene Herrscherin im Haushalt erhält nunmehr mehrere Funktionen: Sie sichert immer noch weitgehend ohne Entgelt und ohne jede soziale Absicherung die Lebensgrundlage der Familie. Für diese Tätigkeit erringt sie weiterhin kein Prestige, und sie muß gleichzeitig in immer stärkerem Ausmaß die Spannungen zwischen Drinnen und Draußen abbauen und verringern. Sie wird zu einem sozialen Ausgleichsinstrument degradiert und erfüllt auch in diesem Bereich die pflegenden Funktionen.

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Gleichzeitig stabilisiert sie an jedem Feierabend den kämpfenden Heroen und treibt ihn zu immer weiteren und größeren Taten an. Und sie glaubt zum Schluß mit ihm, daß er selbst durch seine Außenfunktion dem Broterwerb nachgeht.

In den einzelnen Auflösungsepochen der ursprünglichen Funktion des Haushalts kann man sehr wohl noch Unterschiede feststellen. Diese liegen aber nicht so sehr im materiellen, als vielmehr im ideologischen Bereich. War in der griechischen Polis der Haushalt ideologisch noch sehr wohl als ein heiliger Ort und als eine sehr wichtige Funktion anerkannt, so kann man in der Teilauflösung im römischen Reich schon eine weitere Verlagerung von Funktionen des Haushalts in den öffentlichen Bereich beobachten. Dies drückt sich deutlich in der Weiterentwicklung von Berufen, in einer Zunahme des Handels, einer Auffächerung des Handels durch Verkehr und in wesentlich erweiterten Verwaltungsfunktionen aus. In diesem Sinne ist Verwaltung eigentlich nichts anderes als das unmittelbare Ergebnis des Auslagerns von Funktionen aus dem privaten in den öffentlichen Bereich, und insoweit ist auch die Vorstellung abzulehnen, daß der Staat — auch der moderne Staat — lediglich ein großer Haushalt sei, der patriarchalisch geführt werden könne.

Staaten waren, und sind es heute mehr denn je, Männerbündnisse, die versuchen, ihre eigentliche Funktion, nämlich den Aufbau von Herrschafts­verhältnissen, zu kaschieren. Es sind Zweckbündnisse von Ackerbauern, die ihre Territorien abgesteckt und in der Form des Zusammenlebens großer Räuberbanden die Beraubung und Zerstörung dieser Welt systematisch organisiert haben. Es ist die wahnhafte Verherrlichung von Macht, die unter dem Deckmantel der Erkämpfung des Lebensunterhalts die Anhäufung des materiellen Besitzes zum Selbstzweck erhoben hat.

In der geschichtlichen Entwicklung der Zivilisation kann man auch die exponentielle Steigerung dieser Idee erblicken. Vergleicht man die Bedeutung und die Funktionen des römischen Staates mit dem Staat der Renaissance, den absolutistischen Staaten und den modernen Staaten der Neuzeit, so wird man zweifelsohne eine Steigerung der Machtansprüche des Staates gegenüber dem Privaten erkennen können. Im Laufe dieser Entwicklung hat der private Haushalt immer mehr seiner Funktionen an den Staat abgegeben.

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In der Anfangsphase wurde der Mann vom Haushalt abgespalten, dann immer weitere Teile der erzeugenden Produkte im Haushalt: Lebensmittel, Kleidung, Unterhaltung und vieles andere. Dann wurde ein Teil der Erziehung der Kinder abgespalten: Schule, Universität usw. Er folgte ein weiterer Teil der Erziehung der Kinder: Kindergarten, Hort, Kindertagesstätten. Dann wurde die eigentliche Funktionsträgerin des Haushalts aufgespalten, nämlich die Hausfrau. Ihre Tätigkeit wurde verglichen mit dem Beruf, und sie wurde herabgemindert. Ihre Arbeit wurde zur sinnlosen Tätigkeit erklärt, die angefüllt war mit Routine, niederer Handarbeit und geistig minderwertigen Funktionen.

Als dies allgemein durchgesetzt war, ersetzten technische Geräte Teile der Handarbeit, so daß die freigewordene Zeit entweder zur geistigen Erbauung oder zum Erlernen eines Berufes genutzt werden konnte. Die minderwertige geistige Tätigkeit, die in der Organisation des Haushalts, in der pflegenden Funktion für die Kinder und den Mann und in der sozialen Kompetenz des Zusammenhalts der Familie bestanden hatte, wurde in Teile zerlegt und von Hilfsfunktionen aufgenommen. Soziale Dienste wurden eingerichtet, Psychologen übernahmen die Beratung der Familienangehörigen, immer mehr Ärzte und Pflegepersonal übernahmen die häusliche Pflege, Altenheime wurden eingerichtet, und auch Teile der vielen privaten Organisationsformen wie Berechnung des Haushaltsbudgets, Bestimmungen über Lebensformen, Freizeit, Unterhaltung, Gespräche wurden von öffentlichen Einrichtungen übernommen.

Die stabilisierende Funktion der Familie, die sich vor allem auch in der Tätigkeit der Frau gezeigt hatte, wurde ausgehöhlt und durch Ersatzfunktionen abgelöst. Der Staat trat in der industriellen Phase den letzten Sturm auf die Barrikaden der Familienfestung an. Er tat dies mit einem ungeheuren Bedauern für die Zerstörung der Familie. Gleichzeitig schickte er über seine staatlich organisierten Rundfunk- und Fernsehprogramme die Agenten der Zerstörung des geistigen Lebens bis in das Zentrum der Orte, die dieses Leben garantieren sollten, nämlich in das private Heim.

 

Mit der Auflösung der Familie geht eine immer stärkere Organisation des Sicherheits­systems einher, denn alle sozialen Anpassungs­strategien, die eine Familie im Sinne einer großen Zusammenlebensform in einem Staat geleistet hat, müssen nun auch von staatlichen Ersatzfunktionen übernommen werden. Große Sicherheits­systeme in Form von Polizei, Staats­sicherheits­diensten, Bundes­grenzschutz und vielen anderen Funktionen wirken dezentralisierend und stärken gleichzeitig das Bewußtsein des Bürgers, er lebe immer sicherer.

Dadurch kann es ihm immer mehr erleichtert werden, aus ursprünglichen kleinen Funktionen auszubrechen und die Zwanghaftigkeit, die unter Umständen in diesen kleinen Funktionen liegt, zu vernachlässigen. Er kann sich dem Luxus hingeben, die spießbürgerliche Enge einer familiären Kleinstruktur zu verachten, um sich der großbürgerlichen Weite einer staatlich organisierten Massengesellschaft im Rahmen einer allumfassenden Anonymität hinzugeben. Der Staat schickt sich an, alle Funktionen, die die Familie bisher hatte, zu übernehmen.

Und selbst vor dem letzten macht er nicht halt oder läßt nicht haltmachen: Auch die Funktion der Fortpflanzung geht immer mehr in staatliche oder halbstaatliche Organisationsmechanismen über. Das Gebären wird zu einer öffentlich kontrollierten Aufgabe und verliert die Funktion einer privaten familiären Entscheidung. Der lange Weg vom privaten Haushalt, der eine natürliche Beziehung zu seiner unmittelbaren Umgebung hat, zum allumfassenden, staatlich organisierten Massenwesen Mensch ist vollendet. Der Haushalt oder das Private hat heute wirtschaftlich, sozial und kulturell keine Funktion mehr, so sehr auch von allen, die Verantwortung tragen, das Gegenteil betont wird.

Am Ende des 20. Jahrhunderts hat der Ackerbauer sich selbst besiegt, er hat einen ungeheuren materiellen Reichtum aus der Erde herausgeholt und zu einer ungeheuren Masse von Produkten veredelt, die er bei weitem nicht mehr verbrauchen kann. Er hat sich seiner Arbeit beraubt und seine Funktion, Nachkommen zu schaffen, aufgehoben. Den Ort seiner Herkunft, die Natur, hat er fast zerstört und seine kulturelle Schaffenskraft an anonyme Organisationen übertragen. Damit hat er sich endgültig zum Konsumenten degradiert, der nichts mehr schafft, sondern nur noch verbraucht. 

Er braucht auch nicht mehr zu arbeiten, die Maschinen arbeiten für ihn, er hat vorläufig nur noch die Funktion als Verbraucher, und daraus bezieht er sein neues Klassendenken. Die neue Klasse heißt nicht mehr Arbeiter oder Bauer, sie heißt noch nicht einmal mehr Angestellter, wie sie Kracauer noch in den zwanziger Jahren postulierte, sie heißt Konsument. Der Arbeiter kannte kein Vaterland mehr, und der Konsument kennt keine Familie mehr. Konsumenten aller Länder vereinigt euch, doch wozu?

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Rieseberg  -  Die Geschichte der Naturzerstörung durch Arbeit  - 1992