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6.  Daheim: Auf der Suche nach einem praktischen Sakrament

Das Geburtsrecht auf Loyalität  

Roszak-1978

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In jedem Volk, wie es seine Blutslinien auch ziehen und die häuslichen Pflichten verteilen mag, brauchen die Neugeborenen den Schutzraum der Familie und zärtliche Bemutterung. Unser Leben als Zoon politikon beginnt mit der Politik der Familie.

Seit wir gesellige Tiere sind, ist es Aufgabe der Familie, den Nachkommen ein ererbtes Bild aufzuprägen und sie an ein gesellschaft­liches Schicksal zu binden. Die Verletzung der Persönlichkeit beginnt in der Wiege, wenn nicht schon im Mutterleib.

So stehen wir vor dem Dilemma: Die Biologie im Streit mit der Persönlichkeit, das Recht auf Selbst­ent­deckung eingetauscht gegen Muttermilch. In der Kindheit ist jeder von uns ein Engel, der heimwärts schaut, in die einzige Richtung, die wir unsere eigene nennen, auf das einzige Leben, das niemandes anderen Leben sein kann. Aber zuerst müssen wir in einem anderen Heim Aufnahme finden — dem unserer Eltern. 

Und das ist von eifersüchtigen Mächten erfüllt: mit dem Geist der Vorfahren und der Anmaßung sozialer Macht. Wir werden in die Intentionen anderer Leute hineingeboren. An ihrer Hand lernen wir unseren Namen, lernen wir, wer wir sind, und sie können uns nicht mehr Wahrheit lehren als sie selber erfahren haben. Kann es eine Familie geben, deren Liebe kein Verrat an unserer natürlichen Berufung ist?

    Entmystifizierung der Familie  

Ich habe nur in zwei Familien gelebt — in der Familie meiner Geburt und in der Familie meiner Ehe. Hier wie da ein sehr konventionelles, sehr ungebrochenes Zuhause. Ich sage "nur" zwei, weil ich vermute, daß ich damit einer veraltenden kulturellen Struktur angehöre. Es gibt jede Menge Statistiken über den Zusammenbruch des häuslichen Lebens in der westlichen Welt, die diese Vermutung bestätigen, aber keine von ihnen lebhafter als meine tägliche Erfahrung. Jedes Jahr zähle ich weniger Freunde und Nachbarn, die nicht eine oder mehrere Scheidungen hinter sich haben. Andere, vor allem jüngere Freunde oder Studenten, umgehen die Scheidung, indem sie gar nicht erst heiraten.

Sie knüpfen <Beziehungen> — dadurch bleibt juristisch alles unverbindlich, und die Trennung kostet nicht mehr als der Leihwagen, mit dem einer der Partner seine Sachen in eine andere Wohnung transportiert. Obwohl zwischen dreißig und fünfzig Prozent amerikanischer Ehen mit einer Scheidung enden (in einigen Gegenden, zum Beispiel Kalifornien, gibt es mehr Scheidungen als Eheschließungen), sagen die offiziellen Zahlen, daß 99 Prozent aller kohabitierenden Paare verheiratet sind. Experimentelle Beziehungen ('freie Liebe', wie man das nennt) sind der Trend (sie haben sich in den letzten zehn Jahren verfünffacht), und — was noch wichtiger ist — niemand macht sich mehr die Mühe der Geheimhaltung. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, als selbst große Hollywood-Filmstars ihre Karriere durch eine uneheliche Schwangerschaft ruinieren konnten. Jetzt scheint ein uneheliches Liebesleben für Berühmtheiten schon fast obligatorisch zu sein.

Erst vor ein paar Jahren kam meine Tochter einmal von der Schule nach Hause und beklagte sich, sie sei das einzige Kind, das nur eine Mutter und einen Vater habe, keine Halbbrüder und Stiefschwestern irgendwo im Land verstreut, bei denen man Wochenenden und Ferien verbringen konnte. Sie hatte die Großfamilie amerikanischer Art entdeckt, und da sie so etwas nicht hatte, kam sie sich unnormal und übergangen vor. Alle Berichte über dieses Thema sagen mir, daß sie von ebenso vielen zerbrochenen Familien umgeben wäre, wenn sie irgendeiner anderen Rasse oder Klasse angehörte. Wo die Gesetze es zulassen, wo genügend Geld für den Anwalt vorhanden ist, enden immer mehr Ehen in Scheidung — im Getto wie in den Vororten, unter leitenden Angestellten wie unter Arbeitslosen. Selbst das Honorar des Anwalts ist vielleicht keine so große Barriere mehr. Für ein paar Dollar kann man sich in den meisten Buchläden komplette Do-it-yourself-Pakete kaufen, die sogar alle notwendigen Formulare enthalten. Und sehr wahrscheinlich werden die Scheidungsgesetze bald in ganz Amerika das 'Schuldprinzip' zugunsten des 'Zerrüttungsprinzips' aufgeben.

Keine Schuld mehr. Diese Neuerung ist bezeichnend für die mißliche Lage, in der sich die moderne Ehe und die Familie befinden. Eine Ehe zerbricht, ein Zuhause löst sich auf — oft in Wut und Qual. Aber wir beschließen, uns nicht um die Verantwortung zu streiten. Wir sagen, es ist einfach zu kompliziert, richtig und falsch auseinander­zusortieren, die Kosten untragbar. Laß uns die Sache vereinfachen. Wir sparen die ethische Seite aus und fragen nicht nach Schuld und Sühne ... als wäre eine Natur­katastrophe über uns herein­gebrochen. Ein sauberer, glatter Bruch und keine Anklagen.

Vielleicht liegt eine gewisse moralische Reife in dem Eingeständnis, daß die Schuldfrage in einer gescheiterten Ehe zu diffus ist, als daß man irgendwen bestrafen könnte.

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Ich empfinde es jedenfalls als ungewöhnliches Glück, daß ich von dem emotionalen Blutbad einer zerbrechenden Familie verschont geblieben bin. Heute kann man mit Hilfe von Büchern und Gruppentherapie lernen, Scheidung 'kreativ' zu bewältigen, sie als Befreiung anzusehen, als Gelegenheit, ganz von vorn anzufangen — fast wie ein Übergangsritus. Aber ich weiß, daß ich selbst mehr verlieren als wiederfinden würde. In meinen Familien habe ich alle Liebe gefunden, die ich in diesem Leben erwarten kann, eine Loyalität, die mich ahnen läßt, welche sakramentale Bedeutung ein Treueversprechen zwischen Menschen einst gehabt hat. Es gab auch in meinen Familien heftige Zerreißproben, aber mir ist klargeworden, daß die Wunden, die wir einander in der Familie zufügen, eher von Verzweiflung als von Böswilligkeit zeugen. Der schlimmste Zorn ist oft nur ein Hilfeschrei nach der Zärtlichkeit und Bejahung, die wir nirgendwo sonst finden.

Ich erwähne all das, um gleich am Anfang deutlich zu machen, daß mein eigenes Familienleben warm und erfüllend gewesen ist. Aber ich habe auch immer wieder die beängstigende Verwundbarkeit dieser überlasteten Institution erlebt. Und diese Instabilität im Kern der Familie entsteht nicht in erster Linie aus dem gnadenlosen Druck des urban-industriellen Lebens. Der Druck spielt zwar seine Rolle bei der Zerstörung der Familie, aber die Ursachen für die Verwundbarkeit liegen tiefer. Sie beginnen mit der fundamentalen Verantwortung der Familie als Wächter der sexuellen Identitäten und moralischen Dogmen, auf denen Gesellschaften erbaut werden. Die Schwäche ist in der Familie selbst, weil sie in jedem ihrer Mitglieder liegt. 

Ich spüre in mir selbst eine rastlose, überempfindliche Intoleranz gegen jede Art von Zensur durch Menschen, die ich liebe, gegenüber den Manipulationen, die ich im Namen der Liebe und um der Liebe willen erdulden mußte. Mit dieser Empfindlichkeit stehe ich kaum allein; ich teile sie mit einer Generation, die sehr hellhörig für die trügerischen Mystifikationen geworden ist, die schon immer als Fundament der Familie ausgegeben wurden. Diese Wahrnehmung mag ein Zentralthema unserer größten Romanciers und Dramatiker in den letzten hundert Jahren oder noch länger gewesen sein; aber wann sind diese subtilen Einsichten in die Erfahrung so vieler Menschen eingedrungen, um sich so katastrophal auf das Familienleben auszuwirken?

Wir haben bis ins Mark etwas über die Familie erfahren, das keine frühere Generation so deutlich gesehen hat oder zuzugeben bereit war. Wir wissen, daß alle Ideale, von denen die Familie getragen wird, benutzt worden sind, um Lügen zu erzählen. Ihre Liebe als Hebel der Macht, Vertrauen und Treue als Masken sozialer Herrschaft. Die Menschen sehen diese bittere Wahrheit offen vor sich liegen, sehen den Kern ihres Lebens davon berührt — Frauen auf der Suche nach Freiheit, Kinder, die darum kämpfen, autonome Erwachsene zu werden, Männer, die häusliche Rebellion gegen ihre maskuline Autorität erlebt haben —, und sie scheuen sich nicht, es auszusprechen, auch wenn dabei die Familienbande zerreißen.

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Es ist gut, das dies geschieht, daß alle Mystifikationen aufgedeckt werden, selbst wenn wir eine Institution in Frage stellen müssen, die Millionen Jahre tief in unserer Geschichte, in den Fundamenten unserer Biologie verwurzelt ist. Aber es muß jetzt eine Familie jenseits der Familie entstehen, der so viele verzweifelt zu entkommen versuchen. Wenn das nicht geschieht, werden wir aus der Zerstörung der Familie keinerlei Freiheit gewinnen; wir werden am Ende nur haltlos treiben.

 

   Eine verstümmelte Tradition 

Immer wenn ich höre, wie Leute — meist Politiker, Geistliche oder Journalisten — den Zusammenbruch der Familie beklagen, frage ich mich, welchen besseren Zustand, den wir angeblich verlassen haben, sie dabei vor Augen haben. Wissen sie, woher die moderne Familie kommt? Wissen sie, für welche Funktion sie geschaffen wurde?

Die Familie, wie wir sie kennen, ist eines der am schlimmsten verunstalteten Nebenprodukte des industriellen Umbruchs.* Wir müssen weniger als zwei Jahrhunderte in die Sozialgeschichte der modernen Welt zurückblicken, um die Anfänge zu finden. Fabrikstädte und Bergwerke fegten Massen von entwurzelten Landbewohnern und Einwanderern wie globalen Schutt auf einen unersättlichen Arbeitsmarkt. Diese Menschen waren durch ihre ganze Tradition und Erfahrung auf eine häusliche, lokale Ökonomie eingestellt. Jetzt wurden sie in den westlichen Industriegesellschaften innerhalb weniger Generationen rücksichtslos in eine ganz andere Wirtschaftsordnung hineingestoßen — eine Weltwirtschaft, angetrieben von grausamen Städten, die ihr Menschenmaterial systematisch zu bindungslosen Fragmenten zermahlte, von den Ökonomen euphemistisch ,freie und mobile Arbeitskraft' genannt, denn sie reagierte augenblicklich auf die Erfordernisse des Marktes.

Solche 'freie' Arbeitskraft kam in Gestalt entwurzelter, besitzloser, meist junger Männer und Frauen in die Städte, deren Geschlechts- und Liebesleben jetzt promiskuitiv und unstabil wie nie zuvor wurde, und zwar so plötzlich, daß Edward Shorter von der ersten "sexuellen Revolution" der Moderne spricht. Diese neuen, öko­nom­ischen Individuen konnten natürlich nur eine Form der Familie hervorbringen, nämlich diese winzige Menschen­gruppe, die wir jetzt 'Kernfamilie' nennen. Und damit wurden sie genau das, was die neue Ökonomie brauchte: kleinste Einheiten von Arbeitskraft. Ein Mann sollte da sein, dessen Energie man in der Fabrik oder Grube ausbeuten konnte; eine Frau, die ihm den Haushalt führte, seine Kinder gebar und die Hauptverantwortung für ihre Versorgung trug (auch wenn sie selbst vielleicht Hilfsarbeiterin wurde); Kinder, die als nächste Generation von billiger Arbeitskraft herangezogen wurden.

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Als organisatorische Basis des industriellen Systems war die Kernfamilie nicht mehr reduzierbar und äußerst effizient, die kleinste vorstellbare soziale Einheit, die die Fabriken bemannen konnte.

Über dies wurde der industrielle Haushalt durch seine Isolation und Unsicherheit zu einem rücksichtslosen Bündel von Eigeninteresse, das der üblen Aggressivität des kapitalistischen Marktes wunderbar in die Hände arbeitete. Ein solcher Haushalt war gezwungen, unaufhörlich um Arbeit und sozialen Aufstieg zu kämpfen. Aller Gemeinschaftssinn wurde ihm schnell ausgetrieben. Schon der Architektur der Industriestädte war die Isolation und eigennützige Abwehrhaltung der Familien anzusehen: Reihe um Reihe von Bienen­stock­behaus­ungen, vollgestopft mit abgehetzten anonymen Massen — machtlose Haushaltseinheiten, die allenfalls durch Verzweiflung und erotische Grundbedürfnisse zusammengehalten wurden. 

Wer im Konkurrenz­kampf erfolgreich war, konnte vielleicht in die behaglichere Isolation eines Eigenheimes umziehen, das in freundlicherer Umgebung lag, und sich dort mit den verfeinerten Bollwerken des Familien­lebens der Mittelklasse umgeben: mit der Illusion romantischer Liebe, Familiensentiment, hingebungsvoller Mutterschaft. Solche tückischen Mystifikationen, die sich als Ausdruck autonomer Entscheidungen zwischen Mann und Frau darboten, wurden bald zum thematischen Grundbestand der volkstümlichen Kultur: im Roman, im Drama, in Magazinen und schließlich im Film. Sie waren aber auch die Säure, die das Band zwischen den Generationen zerfraß, denn die Kinder aus angeblich erfüllten Ehen hatten es eilig, die gleichen Wonnen in eigenen Kernfamilien zu suchen.

 

In den Industriestädten, die sämtlich auf der Kernfamilie aufgebaut waren, gab es neben der Bindung an den Kleinhaushalt nur noch ein Gefühl von ethnischer Zugehörigkeit oder 'Klassenbewußtsein', abstrakte kollektive Identitäten, die zwar auf der proletarischen Ebene zur Grundlage für kämpferische gesellschaftliche Solidarität werden konnten, aber niemals jemanden davon abhielten, in die Mittelklasse aufzusteigen, wenn sich ihm die Möglichkeit bot. In der bürgerlichen Gesellschaft konnte nur der Aufbau eines erfolgreichen Familiengeschäfts und die rücksichtslose Verteidigung des Besitzes eine tragfähige Basis für ein widerstandsfähiges Großfamilienleben schaffen. Aber auf jeden florierenden Klan von Forsytes und Budden­brooks kamen Millionen wehrloser Arbeiter-Haushalte, die sich nur an Notbehelfe wie Gewerkschaften, sozialistische Parteien, Einwanderer-Vereinigungen und soziale Kirchengruppen halten konnten, um etwas von jener Stabilität zu gewinnen, die ihre vorindustriellen Vorfahren einst in der Familie gefunden hatten.

 

Das ist die verstümmelte Tradition, von der die moderne Familie ausgeht: eineinhalb Jahrhunderte institut­ioneller Schiffbruch, ein langer, zermürbender Kampf von Millionen entwurzelter Männer und Frauen, die aus den sozialen Ruinen im Kielwasser der industriellen Zerrüttung Liebe, Loyalität und verantwortliche Elternschaft zu improvisieren suchen.

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 Noch heute werden die Familien, die allenthalben um uns her zu Bruch gehen, in diesem Umbruchssturm herumgewirbelt. Wo immer der urbane Industrialismus sich breit macht, will er nicht die Familie schützen und die Gemeinschaft stärken, sondern Städte bauen, Arbeitskraft an sich reißen, eine Wirtschaft aufbauen. Und dazu braucht er oben Macht und unten hilflose menschliche Bruchstücke.

 

In den Vereinigten Staaten, wo der Druck des Urbanismus erst nach 1840 fühlbar wurde, bestand die augen­fälligste Reaktion der Mittelklasse in einem illusionären Kult häuslicher Idylle, der die Familie gegen die Kriminalität und den Schmutz der Stadt abschirmen sollte. Es war auch der traurige, halbherzige Versuch, die natürliche Unschuld der Neuen Welt vor der wachsenden Bedrohung durch Mammon und Maschinerie zu beschützen. Der wohlgepflegte Garten sollte amerikanischer Naturzustand werden. Jede bescheidene Hütte sollte ein häusliches Paradies sein, über dem eine engelgleiche Hausfrau wachte, deren Lebensaufgabe darin bestand, das Haus und die Familienseele sauberzuhalten. Kirk Jeffrey nennt diese Zeit den "utopischen Rückzug aus der Stadt" und findet, daß er kaum mehr erreicht hat als die lähmende Übersteigerung von Geschlechts-Stereotypen und elterlichem Machtanspruch.*

Mit dem Aufkommen der öffentlichen Verkehrsmittel wurde der Rückzug zu einer Flucht in die Vorstadt. Aber immer noch gab die Stadt den Ton an — für die wohlhabenden Pendler am Ende der Bahnlinien ebenso wie für die heruntergekommenen Einwanderer­familien in der Innenstadt, vor denen sie flohen. Finanziell, kulturell und soziologisch waren alle an die industrielle Wirtschaft gebunden. Und das sind wir noch heute. Nichts von dem, was in den letzten hundert Jahren geschehen ist — keine der großen sozialen Bewegungen, keine Reform —, hat die Abhängigkeit und Isolation des häuslichen Lebens in der Industrie­gesellschaft gemildert. Die Aufsplitterung jeder Art von natürlicher Gemeinschaft geht weiter — in den Wohnsilos der Innenstadt wie in den Häuserreihen der Vorstadt, wo jedes Haus, abgekehrt von der Straße und den Nachbarn, eine Bastion exklusiven Konsums wird. Wir haben uns lediglich unserer häuslichen Isolation ergeben und nennen sie jetzt 'Privatsphäre'. Jedem Heim sein eigener Motormäher, seine eigene Schuldenlast, sein eigener Nerven­zusamm­en­bruch.

Als ich mit der Arbeit an diesem Kapitel begann, erhielt ich einen Brief von einer Frau aus dem Mittelwesten, die mein Buch Where the Wasteland Ends gelesen hatte — ein Hilferuf, den ich mit wenig mehr als Sympathie beantworten konnte:

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Ich weiß nicht, wo das Ödland endet (Vernichtung oder Wahnsinn?), aber ich weiß, daß es sich genau durch mein Haus hier in der Vorstadt zieht: das Ödland ist mein Leben. Ich bin Hausfrau (oder wie wir sagen, 'nur Hausfrau'). Meine Kinder leben, in einem Ödland aus Kaufhaus­spiel­sachen, Fernsehapparat und Büchern, die ihnen erzählen, wie es ist, einen Sonnenuntergang zu sehen, durch den Wald zu spazieren oder auf einem Bauerhof zu leben. Ich habe keine Mit-Arbeiter, und meine Kinder haben als Spielgefährten nur sich selbst. Unsere Gärten sind eingezäunt, und es gibt keine Gehwege. Man bleibt unter sich. Jedes Haus an der Straße hat seine eigene Schneefräse, seinen eigenen Rasenmäher und einen Wagen für jedes Familienmitglied über sechzehn. Abends wird in jedem Haus ein anderes Essen aufgetragen, und am Ende des Tages stellt eine einsame Hausfrau das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Hier in der Vorstadt teilt man nicht und nimmt man keinen Anteil.

Mounier bemerkte einmal: "Die Behaglichkeit des Privatlebens ist das Opium der Bourgeoisie oder ihr Versteck vor dem Elend der Welt; die Werte des Privaten müssen von dieser Profanation befreit werden." Offenbar wirkt aber das Opium nicht mehr bei jedem.

 

Das Gefängnis der Respektabilität 

 

Wenn von den Familien primitiver Gesellschaften gesprochen wird, fällt oft das Wort 'Großfamilie'. 'Groß' besagt dabei, daß es sich um die veraltete Abart einer Institution handelt, die schlicht <die Familie> heißt. Wir haben Familien, sie haben Großfamilien. Stimmt aber nicht: Sie haben Familien, wir haben Schrumpf-Familien. Noch einen Schritt weiter, und wir kommen bei der Familie mit nur noch einem Elternteil an, der sich dann krampfhaft um öffentliche Unterstützung und Unterbringung der Kinder mühen muß, um überhaupt überleben zu können.

Und doch, wieviel verlangen wir immer noch von dieser dezimierten Institution. Im Idealfall sollte sie der Ort sein, wo Kinder geboren werden, unter der Obhut inspirierender elterlicher Modelle aufwachsen und mit Erfolg darauf vorbereitet werden, ihren produktiven Platz in der Welt einzunehmen. Männer und Frauen sollen da verläßliche Kameradschaft und lebenslang Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse finden. Die Familie ist das Verpflegungsamt und die Schlafstatt der wirtschaftlichen Arbeitskraft, die jeden Abend hierher zurückkehrt, um sich auszuruhen, zu essen und Kraft für die Widerwärtigkeiten des nächsten Tages zu tanken. Sie ist der Hafen, in dem wir Trost für unsere Fehlschläge und unseren Kummer suchen sollen. Sie ist das Asyl, in dem unsere Macken ausgebügelt oder mit Liebe und Zärtlichkeit absorbiert werden sollen. Hier sollen wir Hilfe suchen, wenn wir mal nicht allein zurechtkommen. Hier ruht die letzte Verantwortung für Steueraufkommen und Bürgerpflicht, das Verfügungsrecht über Privateigentum, Einkommen und Ersparnisse. Hier sollen wir eigentlich gesund aufwachsen, den Löwenanteil unserer Liebe und Erfüllung suchen, persönlich akzeptiert werden, in Würde altern und friedlich sterben.

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Wieviele Sozialdienste und helfende Berufe mußten der Kernfamilie im Laufe der Jahre zur Seite springen, um ihr zu helfen, diese viel zu schwere Last zu tragen. Und die Frage ist noch offen, ob sie die Familie wirklich unterstützen oder nur untergraben. Erscheint die Familie angesichts der Professionalität dieser Agenturen nicht fast schon amateurhaft und überflüssig?

 

Wir verlangen unendlich viel mehr von der Familie, als eine so winzige und umkämpfte Institution leisten kann. Dennoch hat es Familien gegeben, die versuchten, das alles zu schaffen: fanatisch respektable, leistungsorientierte, stolze Familien, die nicht davon abließen, ihre gesellschaftliche Pflicht zu erfüllen. Aber sie konnten ihre Aufgabe nur bewältigen, ohne in ihrer nicht mehr reduzierbaren Kleinheit unter den Belastungen zu zerbrechen, indem sie eine rigide innere Disziplin errichteten. Und das ist die Art von Familienleben, die wir als 'stabil' und 'verantwortungsbewußt' betrachten. Im Viktorianischen England (um nur ein Beispiel anzuführen, mit dem ich besonders vertraut bin) gewann die Familie der mittleren und oberen Mittelklasse eine fast sprichwörtliche Solidarität — sofern sie den Konkurrenzkampf überlebte.*

Aber wer waren die Leute, die diese respektablen Häuser bewohnten? Zwanghaft autoritäre Väter, frigide und zu Hysterie neigende Frauen, unterwürfige, schüchterne, frustrierte Töchter, mit einer breiten Kollektion pathologischer Symptome behaftete Söhne: vom Stottern über Bettnässen bis zur Impotenz. Das war das Gesellschaftssystem, nach dem die moderne Psychiatrie sich in ihren frühen Tagen die Schablonen für Standard­neurosen zurechtschnitt.

 

In den meisten Fällen wurde das derangierte viktorianische Innenleben auf irgendeine allgemein akzeptierte Weise sublimiert — durch Wettkampfspiele, Besitzanhäufung, den Aufbau des Empire, Snobismus; entweder das, oder es floß in unterirdische Kanäle verdrehter Sexualität und Pornographie — Aspekte des viktorianischen Mittelklassenlebens, die erst in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit der Gelehrten erregen. Die innere Not war immer da, ganz dicht unter der Oberfläche gespreizter Manieren und starrer gesellschaftlicher Regeln, die für diese Zeit so kennzeichnend sind und ihr einen sonderbaren Charme verleihen. Ich akzeptiere jede Ausnahme von diesen Generalisierungen; man braucht die Dinge nicht aufzubauschen, um ihre Gültigkeit zu beweisen. Die Wahrheit zeigt sich jedem, wenn er das qualvolle Leben untersucht, das so viele herausragende Gestalten der Viktorianischen Zeit in ihren Ingwerbrot-Kerkern führten: Ruskin, Mill, Swinburne, Elizabeth Barrett, Cecil Rhodes, Lewis Carroll. 

Sie ist an den Leben der Frauen abzulesen, die die erste Generation des Feminismus bildeten. Und sie ist in Samuel Butlers The Way of All Flesh enthalten, die grausige Anatomie einer Familie, die alle seine Zeitgenossen wiedererkannten. Über seinen Helden Ernest Pontifex, der sich unter dem häuslichen Terror seines Vaters krümmt, schreibt er:

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Er glaubte an seine eigene Verworfenheit; nie hatte ein kleiner Sterblicher bereitwilliger akzeptiert, was ihm von denen gesagt wurde, die über ihn verfügten: er dachte zumindest, daß er es glaubte, denn bis jetzt wußte er noch nichts von jenem anderen Ernest, der in ihm wohnte und soviel stärker und wirklicher war als der Ernest, den er kannte.

Eine scharfsinnige personalistische Einsicht in die Mystifikationen häuslicher Autorität. Sie beschreibt, welchen entsetzlichen Preis an Leben die Mittel­klassen­familie in ihrer klassischen historischen Form für Stabilität zahlte. Sie wurde zu einer Maschine, die alle persönliche Vitalität zermalmte — aber zugleich die perfekte soziale Basis für Industrie und Imperium war.

Wenn Familien dieser Art zusammenbrechen, so deshalb, weil ihre Mitglieder ausbrechen wollen. Sie wissen, daß sie in einem Gefängnis sind, das alle Originalität und Echtheit in ihnen ersticken wird, wenn sie nicht entkommen. Gewiß, die Familie ist nicht mehr so erdrückend wie zu Butlers Zeit. Viele Kräfte haben dabei eine Rolle gespielt: die Kriegswirren, die Annehmlichkeiten des Wohlstands, die raschen sozialen Veränderungen, das Auto, die Massenmedien. Reformen haben mitgeholfen, das Familienleben weniger restriktiv zu machen (wenn es dabei auch gestalt- und haltlos wurde): die Befreiung der Frau, mehr juristischer Schutz für Kinder, größere sexuelle Aufrichtigkeit, die wir von der modernen Psychiatrie gelernt haben, die vielen Kissen und Puffer des Wohlfahrtsstaats. All das läßt Ernest Pontifex' Scheusal von einem Vater wie eine prähistorische Bestie erscheinen.

Und doch behauptet R.D. Laing heute, die Politik der Familie wurzele nach wie vor in unwissentlicher Gewalt und unwissent­lichem Terror. "Vom Augenblick der Geburt an", behauptet er, ist das Baby "jenen Kräften der Gewalt unterworfen, die man Liebe nennt — wie sein Vater und seine Mutter, wie ihre Eltern und deren Eltern vor ihnen.""Funktion der Familie ist es ... den eindimensionalen Menschen zu schaffen, Respekt, Konformität und Gehorsam zu fordern ... sowie Respekt vor der <Respektabilitiät>.""Wir alle wurden auf Prokrustesbetten behandelt."*

Laings Werk und das vieler ähnlich denkender Autoren läuft auf eine apokalyptische Vision der Familie hinaus: in Massen produzierter Wahnsinn. Seine Bücher sind Bestseller, wenn nicht gar soziale Prophetie, denn sie sprechen eine Wahrheit aus, die die Menschen sich bereitwillig anhören, eine Wahrheit, die sie in ihrer eigenen Erfahrung auffinden. "Wir zerstören uns selbst", sagt Laing, "durch Gewalt, die sich als Liebe maskiert."

Der alte häusliche Despotismus wird mürbe; zugleich bildet sich ein geschärftes Bewußtsein für subtile Einschränk­ung und Vergewaltigung heraus. Die Menschen — vor allem Frauen und Heranwachsende — verlangen mehr Bewegungsfreiheit, mehr Spielraum, um darin zu wachsen.

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Wo man ihnen jeden Zentimeter verweigert, schlagen sie zurück, und mit jedem Schlag ertasten sie die Dimensionen ihres unsichtbaren Käfigs deutlicher: unausgesprochene Anweisungen, unterschwellige Erwartungen, versteckte Regie

Unsere Generation hat erstaunlich schnell eine historisch einmalige Sensibilität für emotionale Manipulation entwickelt, mit der die Familie als wichtigste Sozialisierungsagentur schon immer operiert hat. Es ist, als wären die inneren Mechanismen eines geheiligten Idols plötzlich für alle sichtbar geworden, so daß wir erkennen, wie wir von all denen beschubst wurden, die vorgaben uns zu lieben und zu dienen — obwohl auch sie natürlich dem gleichen Betrug aufgesessen sind. Wohin führt uns diese Entdeckung? Vielleicht in einen Strudel gesellschaftlicher Zerrüttung. Aber wenigstens haben wir das Übel benannt und als .Problem' sichtbar gemacht. Selbst wenn wir unsere persönliche Bestimmung in der Welt noch nicht kennen — in den Rollen, die die Familie für uns entworfen hat liegt sie jedenfalls nicht: Mann/Frau, Ehemann/Ehefrau, Junge/Mädchen, gehorsamer Staatsbürger, notenjagender Schüler, loyaler Angestellter. Bevor wir herausfinden, wer wir sind (falls wir es je tun), müssen wir herausfinden, wer wir nicht sind. Selbstentdeckung beginnt mit dem Verlust falscher Identität.

Vielleicht liegt darin sogar der große Pluspunkt der modernen Familie. Im Verlauf der urban-industriellen Entwicklung ist sie so weit entkräftet worden, daß all ihre Täuschungsmanöver durchsichtig wurden. So wird die Familie zur ersten Zielscheibe personaler Rebellion in unserer Zeit, leicht zu treffen und in unmittelbarer Reichweite. Und sie fällt auseinander. Soviel kann man zu ihren Gunsten sagen: Sie ist dünnwandig genug, um zu zerbrechen, wenn sie die aufgestaute Unzufriedenheit ihrer Mitglieder nicht mehr halten kann. Mag sein, wir haben keine Familien, die wissen, wie man Persönlichkeit nährt; zumindest fällt es aber den Familien, die wir haben, immer schwerer, uns zu unterwerfen.

 

Offene Ehen und Retortenbabies  

Die Statistik zeigt, daß die meisten Leute nach einer Scheidung wieder heiraten. Bei den Frauen 75, bei den Männern 80 Prozent innerhalb der nächsten drei Jahre. Mag die Familie auch nur ein Strohhalm sein, die meisten von uns haben vor dem Schlund der Einsamkeit nichts anderes, an das sie sich klammern können. Sie ist auch die eine kleine Ecke in der Welt, wo wir noch Verantwortung erfahren können — nicht viel vielleicht: kleinere Entscheidungen über Haushaltsausgaben, wohin man die Kinder zur Schule schickt, in welcher Farbe die Küche gestrichen wird ... aber mehr Gelegenheit gibt uns die große geschäftige Welt nicht, uns erwachsen und für mehr als nur unser eigenes Leben verantwortlich zu fühlen.

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Heute geistern viele Ideen über <offene Ehe> und <Nähe ohne Bindung> herum, mit denen die Ehe <gerettet> werden soll, indem man sie vom Familien­zusammenhang ablöst und ihre Loyalität noch weiter verdünnt. Sie versprechen uneingeschränkte Kündbarkeit, promiskuitiven Sex und ein Minimum an Verantwortung und Verpflichtung. Sie machen aus einer einst sakramentalen Beziehung eine oberflächliche Liaison zwischen swingenden Singles. Vielleicht ist das eine brauchbare Übergangslösung für 'jung Verheiratete' mit Geld, die noch einen großen Vorrat jugendlicher Erotik zu verpulvern haben. Doch die Loyalität und persönliche Anerkennung, die die Menschen nach wie vor in Ehe und Familie suchen, wird niemand dort finden. Nach einer Weile werden beiläufige Beziehungen schmerzhafter als enttäuschte Liebe.

Vorschläge dieser Art haben zuwenig moralisches Gewicht, als daß sie ernsthafte Erwägung rechtfertigen. Im Namen der Freiheit tun sie kaum mehr, als sich von der Flut unserer hedonistischen high-life-Ökonomie mitschwemmen zu lassen. Die Wegwerf-Liebe kommt dem Wettbewerbsdenken und der wurzellosen Mobilität der fortgeschrittenen Industriekultur gerade recht. Wir bleiben ungebunden und reisen leicht. Solche Werte gehören in die Welt karrierebewußter Individuen, nicht in die der Person.

 

Ich habe diesen Abschnitt mit der Klage eingeleitet, unsere Welt sei "zu groß" geworden. Es gibt jedoch eine Institution, die zu klein geworden ist, und das ist die Familie. Sie hat sich bis auf den kleinsten Rest verzehrt und muß jetzt dringend wieder erweitert werden. Das ist übrigens keine Ausnahme von unserer These, sondern eine Bestätigung. Die Dinge sind auf Kosten von Grundstrukturen so groß geworden. Einige dieser Strukturen — die Nachbarschaft, das Dorf, die gemeinschaftliche Arbeit — sind als Hindernis für den Massenausstoß großer Systeme einfach niedergewalzt worden. Die fundamentalste aller Strukturen, die Familie, hält noch aus. Sie bleibt eine biologische Notwendigkeit — bis sie vielleicht eines Tages (wie in Schöne neue Welt und manch anderer futuristischen Fantasie) von öffentlichen Brutanstalten mit Samenbank und Plastikschößen ersetzt wird, eine Möglichkeit, die uns bereits als ernsthafter politischer Vorschlag einer militanten Feministin (Shulamith Firestone) vor Augen steht; sie glaubt, die künstliche Fortpflanzung werde ein Mittel sein, "die Frau von ihrer Biologie zu befreien".* Vorläufig wird die Familie geduldet, doch nur in ganz denaturierter Form.

Es könnte ein Axiom unserer These sein: Je größer der industrielle Apparat, desto schwächer die Familie. Das eine bezieht sein menschliches Rohmaterial vom anderen. Jede Reform, die die dezimierte Familie noch weiter abbaut, wird öffentliches Expertentum für Millionen von isolierten, hilflos herumtappenden Menschenfragmenten noch unentbehrlicher machen. Wenn unsere Lösung des Familienproblems so aussieht, daß wir sie durch Scheidung und 'offene Ehe' einfach ganz aus der Welt schaffen, können wir nur mit einer immer stärker werdenden Rolle des Staates in unserem Leben rechnen. Freiheitliche Politik sollte kein Interesse daran haben. Vorwände für solche Eingriffe zu liefern.

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Das erste Gesetz des freiwilligen Zusammenschlusses 

Den industriellen Leviathan zurückzuschneiden, bedeutet, größere Familien aufzubauen — vielmehr größere Haushaltungen. Wir brauchen nicht mehr Kinder in der Familie, sondern mehr Familie im Leben jedes Kindes: mehr Erwachsene, die gemeinsam die Elternschaft übernehmen. Solche Familien werden schon gegründet, experimentelle Modelle in mancherlei Gestalt und unter vielen Namen: Kommunen, Kollektive, Ashrams.* Sie alle weisen in dieselbe Richtung, nämlich auf ein Zuhause, das der erdrückenden Last urban-industrieller Herrschaft standhalten kann.

Auf dem Regal gegenüber meinem Schreibtisch stehen Bücher, Monographien und Artikel über diese neuen Großfamilien zu Dutzenden. Ich habe einige besucht, Briefe und Berichte von anderen gesammelt, und ich wollte nach einigen schauen, aber als ich ankam, hatten sie sich schon verflüchtigt wie eine Fata Morgana — eine Erfahrung, von der Leute, die das Kommunenleben untersuchen, nur allzu häufig berichten.

Ich habe mich lange mit dieser ausufernden Dokumentation zeitgenössischer Erfahrung auseinandergesetzt, um ihre gelegentlichen Triumphe und häufigen Enttäuschungen einschätzen zu können. Der schiere Umfang dieses Materials bezeugt, daß wir in einer Zeit emsigen Experimentierens leben, in einem der großen Abschnitte der utopischen Tradition. Hierhin ist ein großer Teil der gegenkulturellen Energie unserer Tage geflossen — wenn sie sich auch auf dem Weg zu einem ungreifbaren Ziel immer wieder verzettelt. Aber kann ich diesem Denken und dieser Arbeit hier überhaupt gerecht werden? Jeder Bericht über dieses Thema ist innerhalb weniger Jahre veraltet. Die Experimente sind immer im Fluß und von solcher Vielfalt, daß man sie kaum im Auge behalten kann; sie stellen viele unserer Anschauungen in Frage: über Kindererziehung und sexuelle Beziehungen, Arbeit und Eigentum, Autorität und Freiheit, Privatsphäre und Partizipation, Konsum und Verteilung. Selbst die besten Kenner der Szene ziehen nur vorläufige Schlüsse.

Man muß dabei auch vorsichtig sein, und nicht nur, weil die Kommunen (nicht alle) neu und unerprobt sind, sondern auch, weil unsere Gesellschaft und viele Kommunenmitglieder keine festen Normen für Erfolg und Fehlschlag mehr besitzen, an denen man sich orientieren kann. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo der Sinn solcher Begriffe wie Erfolg, Fortschritt, Leistung sich wandelt und ungreifbar wird. Bei Kommunen fragt man schon fast automatisch: Wie lange wird sie halten? Wird sie wachsen und gedeihen? Aber sind das die relevanten Fragen? Sie zeugen von den Wertvorstellungen der kulturellen Hauptströmung — Größe, Macht, Wohlstand; aber der 'Erfolg' der Chase Manhattan Bank oder des Pentagon ist doch gerade das Gift für unser Leben, die Kraft, die Persönlichkeit und Konvivialität einebnet.

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Wenn also die Kommunarden einfaches Leben und menschliche Nähe, persönliche Erfüllung, Kameradschaft, demokratischen Gemeinschaftssinn, Harmonie mit der Umwelt, spirituelles Wachstum suchen, wie soll die Welt außerhalb ihrer Grenzen dann beurteilen, was sie erreicht haben? Weiß irgendwer genug über diese Werte und ihre versteckten Implikationen? Wenn Menschen das Risiko gesellschaftlicher Neuerungen auf sich nehmen, aber ihre Arbeit und ihr Leben den Strapazen nicht standhält, können dann nicht trotzdem für uns alle wichtige Einsichten den Zusammenbruch überleben?

 

In vielen Studien, auch in sympathisierenden, werden der israelische Kibbuz und die chinesische Agrarkommune immer wieder als Experimente dargestellt, die sich durchgesetzt haben und funktionieren; sie werden zum Erfolgskriterium für alle Versuche in dieser Richtung gemacht. Aber der Vergleich ist weder zulässig noch bringt er irgend etwas ein, denn sowohl der Kibbuz als auch die chinesische Kommune waren Unternehmungen für die nationale Konsolidierung, und beide fußten auf dem Erbe einer Kultur, der sie zustimmten und folgten. Ihre Identität war vorgegeben, und in ihrer nationalistischen Grundhaltung befanden sie sich im Einklang mit einer der stärksten Strömungen der modernen Welt. Das sind in der Wildnis gesellschaftlicher Erneuerung große Pluspunkte. Die maoistische Kommune hatte sogar noch größere Kräfte auf ihrer Seite, büßte allerdings im gleichen Maß ihre Freiheit ein. Die ganze Bewegung war von einem abgöttisch verehrten nationalen Führer eingeleitet und nach den Richtlinien nationaler Politik aufgebaut worden — und heute bildet sie unter strikter staatlicher Oberaufsicht einen der wichtigsten Faktoren in Chinas industrieller Entwicklung. Selbst in einer Volksrepublik duldet die Macht keine autonomen Strukturen.

Ganz anders in unserer Gesellschaft, wo die Kommunenbewegung aus dem Dissens hervorgeht und sich in den unsicheren Randzonen etabliert. Sie zielt auf Zersetzung der nationalen Identität und will, in den meisten Fällen, die herrschende Kultur weitgehend abschütteln. Die an diesen Projekten mitarbeiten, sind vielfach von unserer Gesellschaft besonders stark zerstörte Menschen — die von ihr Verworfenen und Unterdrückten, die emotional Verkrüppelten und Ausgeschlossenen, in ihrem Zorn zusammengehalten durch das Band gemeinsamen Leidens. Ein Freund in der Hare-Krishna-Bewegung erzählt mir, fast alle Angehörige des Ordens hätten sich aufgrund höllischer Drogentrips und akuter psychischer Entfremdung um die Mitgliedschaft beworben. So sind auch Gemeinschaften wie Synanon und Delancey Street (beide in Kalifornien)* soziale Experimente, die aus dem Elend und dem emotionalen Terror der Drogensucht entstanden. John Mäher, Gründer von Delancey Street, nennt seine Leute "Abfall der Gesellschaft". Die Qualen, die die Menschen in diese Ersatzfamilien treiben, sind viele: Gefängnisaufenthalte, Verfolgung, der moralische Bankrott in den meisten lukrativen Berufen.

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Und nicht zuletzt die Zerreißprobe der Ehescheidung, ein Schock, der auch den Zufriedenen unter uns klarmachen kann, wie faul und morsch unsere Institutionen sind.

Wir haben es hier mit den Opfern eines überlasteten Systems zu tun; ihre früheren Identitäten sind ausgebrannt. Sie haben sich nicht zum Aussteigen entschlossen; sie sind einfach durch den Boden ihrer Gesellschaft gefallen. Wenige sind nach solchen traumatischen Erfahrungen noch bereit, alte Rollen und Regeln zu bekräftigen. Abgesehen von einigen evangelistischen Bewegungen (wie Reverend Moons Vereinigungskirche, die einen altmodischen antikommunistischen Patriotismus auf ihre Fahnen geschrieben hat), geht von den neuen Gruppierungen ein deutlicher Grundton von Dissens aus. Selbst wenn sie politisch lieber zurückhaltend bleiben, besteht an ihrer Absage an die Kultur kein Zweifel. Sie essen anders, kleiden sich anders, leben nach anderen Gesichtspunkten, arbeiten aufgrund anderer Antriebe. Sie erziehen ihre Kinder nach anderen Normen. Sie geben die Jagd nach Geld für ein maßvolles Leben auf; vielleicht werden sie sogar Bettelmönche. Gehen sie aufs Land, tun sie es unter dem Einfluß einer starken ökologischen Ethik: keine Verschwendung, sondern Bewahrung, einfaches Leben.

Nicht alles wird hier mit genügend Sachverstand getan; manches funktioniert nicht. (Rosabeth Kantor, eine der besten Kennerinnen der Szene, schätzt für die Kommunenexperimente etwa die gleiche — schwache — Überlebenschance wie für Kleinbetriebe.) Dennoch hilft jeder dieser Versuche, und sei er noch so klein und kurzlebig, die Hoffnung am Leben zu halten, daß wir unsere verhärtete Wirtschaftsordnung doch noch lockern und zurückschrauben können.

Den neuen Familien stellt sich jedoch noch ein anderes ernstes Problem, das die personalistische Ethik in ein Dilemma stürzt. Mit wenigen Ausnahmen (von denen ich später sprechen werde) wiederholen die neuen Gemeinschaften ein klassisches Muster; man könnte es das erste Gesetz des freiwilligen Zusammenschlusses nennen. Wo es Autorität und strikte Normen gibt, hält die Gemeinschaft zusammen; wo anarchische Ungebundenheit und freies Wachstum herrschen, fällt sie auseinander. Im einen Fall haben wir Permanenz, aber mit der Zeit immer weniger Selbstentdeckung; im anderen Selbstentdeckung (vielleicht) und raschen Zerfall.

Ich stimme zu, daß Permanenz an sich kein Wert ist, den man zum Fetisch machen sollte; gescheiterte Experimente und antiquierte Institutionen sollte man sterben lassen, damit Platz für neues Wachstum geschaffen wird. Das heißt aber noch nicht, daß Instabilität eine Tugend ist. Viele der Kommunen, die ich kennengelernt habe, waren ein Chaos von widerstreitenden Absichten und pathologischer Inkompetenz. Ihre 'Freiheit' bestand fast nur aus Organisationslosigkeit — als hätte das ganze Unternehmen nie einen anderen Zweck gehabt, als unverbindlichen Sex und

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billige Schlafgelegenheiten zu bieten. Im Spülbecken türmte sich das schmutzige Geschirr, überall unbezahlte Rechnungen und verwahrloste Haustiere, und die Rucksäcke wurden gar nicht erst ausgepackt. Meine Frau und ich übernahmen einmal das Haus einer solchen Kommune. Es waren sanfte und seelenvolle Menschen, die dem Vermieter und wütenden Nachbarn über ein Jahr standgehalten hatten, bevor sie auseinandergingen und zu neuen 'Beziehungen' in der ganzen Welt aufbrachen. Wir brauchten fast ein weiteres Jahr, um den Saustall aufzuräumen und alle Schäden zu reparieren. Abenteuer dieser Art lösen keines unserer Probleme; sie sind nichts weiter als Symptome einer spirituellen Malaise.

Auf der anderen Seite finden wir solide und dauerhafte Sektengemeinschaften. Sie sind ordentlich, diszipliniert, solide finanziert ... und ein ewiges Ärgernis für die libertäre Sozialphilosophie. Was fängt man mit Leuten an, die ihre Freiheit dazu benutzen, unfreie Gemeinschaften zu bilden? Manche Anarchisten gelangen zu einem Kompromiß: Sie siedeln Freiheit zwischen freiwilligen Zusammenschlüssen an, nicht unbedingt in ihnen. Laßt tausend Blumen blühen, und laßt unser uneingeschränktes Recht, zu kommen und zu gehen, das Maß unserer Freiheit sein. Unter Erwachsenen und in zölibatären Gemeinschaften mag das eine angemessene Lösung sein, etwa in Klöstern. Sie sind für ihre Mitglieder auch Familien und gehören zu den dauerhaftesten, die es in der Geschichte je gegeben hat. Sie gehören einer weisen und erprobten Tradition an, die hier keines Kommentars bedarf.

Aber wie ist es bei geschlossenen oder sektiererischen Gemeinschaften, die auch Kinder zulassen wollen? Die erste Generation genießt vielleicht alle Rechte, für sich selbst zu entscheiden; mancher findet selbst in der strengsten Disziplin den Lebensstil, der ihm angemessen ist. Diese Wahl ist ihre Übung in Selbstentdeckung. Aber was sind die Rechte der nächsten Generation? Sie werden in einen Glauben hineingeboren — in eine bestimmte Art, sich zu kleiden und zu ernähren, in Rituale, Überzeugungen und Autoritäten. Diese Kinder werden nicht wählen, sondern erben.

Was sie erben, ist freilich aus den besten und liebevollsten Absichten ihrer Eltern entstanden, und das begründet den Zwiespalt in den Zweifeln, die ich hier äußere: sie sind eine Kritik an Menschen, die zutiefst von der Unantastbarkeit der Familie überzeugt sind. Sie alle, von der Hare-Krishna-Bewegung bis zu den Jesus-People-Gemeinschaften,* erkennen die grauenvolle Entstellung der Familie in der modernen Welt; sie wissen so gut wie ich, daß etwas geschehen muß, um den Schaden wiedergutzumachen. Ein hohes und feierliches Ideal von elterlicher Verantwortung steht im Mittelpunkt ihres spirituellen Lebens, und das läßt sich kaum einfach vom Tisch wischen.

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In einem früheren Buch habe ich die Entscheidung des Hare-Krishna-Ordens angegriffen, seine nächste Generation in strikter weltanschaulicher Trennung von der umgebenden Gesellschaft aufzuziehen. Ein junger Mann aus der Bewegung hat mir dazu einen Brief geschrieben:

Was ist falsch daran, Kinder in einem größtenteils vedischen Milieu aufzuziehen? Sind Donald Duck, Micky Maus und McDonald's besser als die größten Heiligen, Weisen und Könige von Bharata? Die vedische Kultur — Malerei, Musik, Geschichten — ist für die kindliche Psyche nachweislich besser als ihre westlichen Entsprechungen ... Mein vierjähriger Sohn wird auf die Krishna Conscious School gehen — oder soll ich zusehen, wie seine Sinne, sein Bewußtsein, seine Intelligenz von einem dekadenten Lebensstil verdorben werden, der von Mitgliedern der Rechten, der Linken und der Mitte als das Menschenleben ausgegeben wird (und auch mich so viele Jahre lang verdorben hat)?

Sein Brief bedrückte mich und hat mich etwas kleinlaut werden lassen. Er kann nicht wissen, wie sehr ich seine Sorge mitempfinde; er hat meine ganze Sympathie für seine Entscheidung inmitten eines Dilemmas, für das ich keine Lösung weiß. Die Würde unserer Kinder wird von einer korrumpierten Kultur verletzt; sie haben das Recht auf eine gesunde und hilfreiche Erziehung.

 

Aber was tun die Sektenkommunen, um ihrer Verantwortung für die Jugend zu genügen? Sie greifen auf die Tradition, auf überlieferte Lehren zurück und wollen ein legendenhaftes Bild von stabilem und glücklichem Familienleben in die Gegenwart übertragen, in dem die Überlegenheit des Vaters, die Unterordnung der Frau, puritanische Sexualität und elterliche Herrschaft eine große Rolle spielen. Sie richten nur die alten zugeschriebenen Identitäten wieder auf; sie retten die antiken Mystifikationen; sie rekonstruieren das autoritäre Zuhause.

Und das 'funktioniert' selbstverständlich ... für ihre Zwecke ... vorerst, denn bei ihrem Eintritt in die Gemeinschaft lechzen sie nach Struktur und spiritueller Stütze. Die finden sie in der Tradition und in den Identitäten, die sie freiwillig annehmen. Wenn sie sich genügend isolieren, können sie ihr besonderes Ethos zweifellos für lange Zeit gegen die Außenwelt verteidigen, wie die Hutteriten, die Amish und die Mennoniten. Freiheitliche Politik wird immer für das Recht eintreten, kleine und konfessionelle Gemeinschaften zu bilden; wenn es genügend viele sind, können sie vielleicht dazu beitragen, unsere verklumpte Wirtschaftsordnung zu verkleinern und zu durchlüften. Doch das Recht auf Selbstentdeckung wird bei ihnen nie Wurzel schlagen. Sie werden uns immer daran erinnern, daß 'klein' nicht unbedingt 'persönlich' bedeutet.

Weltanschauliche Zensur ist eine der Arten von Selbst-Einengung, unter der experimentelle Gemeinschaften leiden können. Eine andere kann sich auch da entwickeln, wo Sektendenken keine Rolle spielt. Ich meine die psychische Uniformität, die sich einstellt, wenn situative Gruppen sich selbst zu Familien machen.

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 Gemeinsames Leid, gemeinsames Anliegen ist hier die Kraft, die die Leute zusammenbringt; die Mitglieder eines solchen Haushalts sind gleichgesinnt, sie haben ähnliche Lebensgeschichten und identische Narben. Jeder ist jung, alt, männlich, weiblich, geschieden, schwul, behindert, ehemaliger Sträfling oder Drogensüchtiger.

Im ersten Kapitel dieses Buchs habe ich auf die personalistische Bedeutung situativer Gruppierungen hingewiesen. Sie sind eine notwendige Abwehrgebärde und bezeichnen ein wichtiges Stadium der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung. Was aber geschieht, wenn wir uns die situativen Netzwerke als Familien vorstellen? Verlieren wir dann nicht etwas, das für die Person und für die Kinder, die mit diesen Haushalten verbunden sind, sehr wertvoll ist? Einer der wichtigsten Züge der Familie ist es, eine Art mikrokosmische menschliche Gesellschaft zu sein. Sie sollte, wie jede traditionelle Großfamilie, ein Abbild für die Vielfalt des Lebens sein. Wenigstens sollten beide Geschlechter vertreten sein und die wichtigsten Phasen des Lebenszyklus: Kinder, junge Erwachsene, Mittelalter und Alte. Ein vollständiger Haushalt sollte auch Raum für Geburt und Tod haben — Erfahrungen, denen uns die Krankenhäuser entfremdet haben. Eines der schlimmsten Übel unserer Zeit besteht darin, daß die Menschen sich durch ihr Alter gegeneinander abgrenzen — zusätzlich zu all den anderen Abgrenzungen, mit denen wir leben. Wo die situativen Netzwerke Familien werden, mögen sie zwar die Haushalte vergrößern, aber sie reduzieren die Vielfalt noch mehr, indem sie die Kriterien der Abgrenzung weiter einengen.

 

Ausnahmen von der Regel  

Ich sagte bereits, daß unser erstes Gesetz des freiwilligen Zusammenschlusses bemerkenswerte Ausnahmen hat: Gruppen, die sich geweigert haben, weltanschauliche Barrikaden zu errichten, und doch bestehen­blieben und wuchsen — in manchen Fällen seit den vierziger Jahren. Ich will einige dieser Experimente hier nennen, um auf eine Wahrheit hinzuweisen, die sie zu lehren scheinen.

Ich denke an Boimondau, die französische Kommune, die Uhrengehäuse herstellt; Lanza del Vastos Arche, ebenfalls in Frankreich; Charles Dederichs Synanon und John Mähers Delancey Street, beide in Kalifornien; Steven Gaskins Farm in Tennessee; Sri Aurobindos Auroville in Indien. Ich neige auch dazu, zwei ausgereifte und blühende christliche Gemeinschaften hinzuzufügen: die Bruderhöfe in New York, Pennsylvania und Connecticut; und Koinonia in Georgia.* 

Sie haben zwar starke religiöse Bindungen, die ihre Offenheit etwas einschränken, doch konnten sie eine sektiererische Abgrenzung vermeiden. Auf den Bruderhöfen werden die Kinder zum Beispiel mehrere Jahre lang nach draußen zur Schule und zur Arbeit geschickt, um die Welt erfahren zu können; dann müssen sie

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die Mitgliedschaft aus eigenem Antrieb beantragen, wenn sie zurückkehren wollen (die meisten wollen). Koinonia, als christliches Zeugnis für die Bruderschaft der Rassen gegründet, hat viele Verbindungen nach außen geknüpft (Zusammenarbeit bei Land­wirtschaft, Hausbau, Erziehung und Kunsthandwerk), und sich so der umgebenden Gemeinde geöffnet.

All diese Zusammenschlüsse haben eine hervorstechende Gemeinsamkeit: Sie gehen auf einen charismat­ischen Führer zurück. Die Bruderhofbewegung wurde in Deutschland 1920 von Eberhard Arnold ins Leben gerufen, Koinonia in den vierziger Jahren durch Clarence Jordan gegründet — beide inspirierte prophetische Gestalten. Diesen Umstand sollte man nicht außer Acht lassen. Er deutet auf eine gewisse Ausstrahlung der erleuchteten Seele hin, die eine ebenso starke Verbindung zwischen Menschen schaffen kann wie Sektendisziplin oder eine religiöse Lehre; ein Band persönlichen Vertrauens in einer Gruppe, das Barrieren gegen die Außenwelt überflüssig macht. Dieser magische Charakter der Führerschaft läßt sich in keine politische Kategorie einordnen. Wir nennen ihn 'Charisma', aber der Name erklärt seine Macht nicht. Auch die Bezeichnung 'Wohlwollende Diktatur' wird kaum den zutiefst demokratischen Absichten und Überzeugungen gerecht. Wir stehen dem Philosophenkönig Platons gegenüber, dem Führer, der den edelsten Konsens der Polis verkörpert und durch die Macht der Wahrheit regiert.

Wir tun gut daran, dieser Macht Widerstand zu leisten, wo sie ganze Nationen regieren oder Armeen in die Schlacht führen will, denn damit hebt sie ihre eigene Humanität auf; sie wird zu einer aufgeblähten Führungsmacht, neben der wir nur noch Zwerge und Massen sind. Doch in kleinen Gemeinschaften, in Stamm und Familie, ist Platz für Philosophenkönige; hier sind wir ihnen Äug in Auge gegenüber, und sie können das Beste in uns wecken. Sie werden Lehrer, deren Urteil die Menschen gerne folgen. Man vertraut ihnen, und sie enttäuschen das Vertrauen nicht.

Das klingt vielleicht so, als müßten nicht-sektiererische Gemeinschaften warten, bis mal ein charismatischer Blitz auf sie herniederfährt. Man kann die Sache aber auch anders betrachten. Wieviele mag es wohl geben, die diesen Blitz in sich tragen? Vielleicht ist er in den Herzen von Millionen verborgen, ein bisher, ungenutztes Potential, dem wir noch nicht viel Gelegenheit gegeben haben, sich zu zeigen. Nicht nur die Philosophen und Gurus unter den charismatischen Führern haben dauerhafte Experimente in Gang gesetzt, sondern auch ein früherer Alkoholiker wie Charles Dederich, ein ehemaliger Sträfling wie John Mäher und ein Hippie-Dropout wie Steven Gaskin.

Während meiner Besuche bei Synanon habe ich dort kraftvolle Anlagen zur Konvivialität entdeckt, die der 'Bodensatz der Gesellschaft' sich bewahrt hatte und die so wirkten, als könnten sie der Gemeinschaft ewige Dauer geben. Wenn immer mehr Menschen ihr Recht auf Selbstentdeckung wahrnehmen, werden wir, so hoffe ich, mehr gemeinschaftsbildende Kreativität in uns entdecken, als wir für möglich gehalten hätten.

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  Das Geburtsrecht auf Loyalität  

 

Zu einem großen Teil ist die Frage, die sich aus dem ersten Gesetz des freiwilligen Zusammenschlusses ergab, durch diese funktionierenden Gemeinschaften beantwortet: Ja, es gibt Alternativen zu sektiererischer Abgeschlossenheit und zentrifugaler Wurstigkeit. Personalistisches Kommunenleben — offen, stark und frei — ist möglich. Wir brauchen diese Experimente und viele weitere, denn sie repräsentieren die tiefsten Gedanken und Erfahrungen über den Ort der Familie im Leben der Person.

Dieser Richtung möchte ich indes hier nicht weiter folgen. Ich möchte nicht dahin, wo die attraktiven Alter­nativen hinführen, sondern die Diskussion auf die Krisenszene zurücklenken — auf das Zuhause, in das wir hineingeboren werden, in das wir hineinheiraten und an das wir immer noch gebunden sind, wenn das Band auch gespannt und brüchig ist. Wo ich im weiteren von 'Familie' spreche, meine ich nicht Alternativen, die ersonnen werden müssen, oder noch zu testende Experimente, sondern die Blutsfamilie, all die Menschen, die durch Geburt und Heirat zu uns gehören. Ich glaube nämlich, daß wir in unserer Verzweiflung dazu neigen, diese geschundene und mißbrauchte Institution abzuschreiben, ohne uns noch einmal zu fragen, was sie vielleicht für die Bedürfnisse der Person leisten könnte.

 

So uferlos die Literatur über die neuen alternativen Gemeinschaften ist, so wenig wird über die Rettung der Familie geschrieben (abgesehen von der üblichen Eheberatung und frommen Platitüden). Dieser Bereich scheint die Energien der Erneuerung, die in unserer Zeit freigesetzt werden, nicht anzuziehen. Warum nicht? Vielleicht sind die Erfinder von Familien­substituten durch bittere Enttäuschungen in ihrer eigenen Familie dazu getrieben worden. In ihrer Rebellion gegen elterliche Unterdrückung, in ihrer Verzweiflung über schlechte Ehen interessieren sie sich nicht mehr für die Rehabilitation der Familie, nur noch für ihre Ablösung.

Vermutlich ist das eine stürmische Phase, die unumgänglich ist, während die Rechte der Person sich durch die urban-industrielle Gesellschaft hindurch­arbeiten und alle unsere Institutionen in ihren Grundfesten erschüttern. Ich kann aber nicht von der Tatsache abkommen, daß die Familie eine Gemeinschaft ganz besonderer Art ist: eine fundamentale, biologisch gegebene Gemeinschaft. In ihren besseren Tagen war sie ein Ort für die Vielfalt des Lebens; die beiden Geschlechter, die verschiedenen Altersstufen, Geburt und Tod, selbst für Exzentrik war ein gewisser Raum vorhanden — wenige Kommunenexperimente können sich damit messen. Und was für unsere natürlichen Ressourcen gilt, trifft auch auf unsere sozialen Ressourcen zu: Es ist eine himmel­schrei­ende Verschwendung, etwas wegzuwerfen und dafür Neues zu bauen, wenn das Alte, Verbrauchte noch wiederverwertet werden könnte.

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Ich möchte hier einen heiklen Standpunkt einnehmen: Die Blutsfamilie sollte erhalten, sie sollte größer und stärker gemacht und als wirtschaftliche Basis wiederbelebt werden. Natürlich denke ich dabei nicht an die traditionelle autoritäre Familie, denn die würde zu den Rechten der Person nichts beizusteuern haben. Ich meine eine neue Familie, die durch Metamorphose aus der alten hervorgehen könnte, aus der dürren, spröden Hülse der Familie, die unser Erbe ist. Neuer Wein in alten Schläuchen.

Wozu die alten Schläuche? Ich finde es einfach naheliegend, eine Diskussion über Grundstrukturen da anzusetzen, wo die meisten von uns jetzt sind. Bei all ihrer Unsicherheit ist die Familie immer noch der Ort, wo die meisten Menschen ihr Leben leben und mit wechselndem Erfolg die Stücke zusammenzuhalten versuchen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sich jemals viele Menschen zu exotischen Religionen oder zu dem unkonventionellen Lebensstil intentionaler Gemeinschaften bekehren werden. Das ist immer ein Sprung ins Unbekannte, den viele nicht riskieren werden, solange das Familienleben noch nicht völlig unerträglich geworden ist. Und selbst dann wird die Konversion vielleicht nicht tief genug gehen, um dauerhaft zu sein — und dann treiben sie nur in die grauen Legionen bindungsloser und einsamer Menschen, die in jeder modernen Metropole den Hauptanteil der Bevölkerung stellen. Wer die Herausforderung der gesellschaftlichen Erneuerung annehmen will, für den ist in den meisten Fällen die Familie das direkt greifbare Rohmaterial.

Aber nicht nur das: Irgendwo unter allen aufgezwungenen Identitäten und dem traditionell autoritären Charakter der Familie vergraben, finden wir etwas, das kein utopischer Ersatz bieten kann, weil es in die biologische Kontinuität menschlichen Lebens eingeschmolzen ist: spontane und bedingungslose Loyalität.

Das absolute Band des Blutes bildet in jeder Gesellschaft den Kern des Verwandtschaftssystems. Selbst wo dieses Band schwach geworden ist, erfährt jedes Kind es noch als sein Geburtsrecht auf mütterliche Fürsorge, und meist sind auch zumindest die Verwandten der näheren Umgebung mit einbezogen. Kein Säugling könnte überleben, gäbe es nicht diese Loyalität. Manche von uns haben vielleicht nie Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen ... bis sie eines Tages anderswo das gleiche Vertrauen, die gleiche Geborgenheit suchen und feststellen müssen, daß sie nicht da sind und sich auch nicht aus dem Ärmel schütteln lassen. Sie sind weder Belohnung noch verbrieftes Recht, und wir erfahren sie auch nicht aufgrund einer Initiation oder unseres Bekenntnisses zu einem bestimmten Glauben — nicht einmal, weil man uns mag oder akzeptiert. Sie liegt außerhalb all dessen, weil sie mit unserem Sein verbunden ist. Sie gehört uns einfach deshalb, weil wir Blutsverwandte derer sind, die sie zu geben haben.

Wir treten in den Verwandtschaftskreis ein, und allein dadurch ist das Versprechen der Loyalität gegeben. Wir haben Hunger, und er wird gestillt.

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Wir weinen und werden getröstet. Wir sind in Gefahr und werden beschützt. Wir werden mißhandelt — und gerächt. Niemand in diesem Kreis fragt: Weshalb sind wir dir das schuldig? Womit hast du es verdient? Es genügt zu sagen, daß wir 'Familie' sind. Anfangs können wir nicht einmal das sagen; wir sind sprach- und hilflos, aufs äußerste verwundbar und für niemanden von irgendwelchem Nutzen. Doch wir bekommen die Freundlichkeit, nach der wir schreien. Und wenn nicht, so schlägt sich das Versagen im Herzen und Gewissen der ganzen Familie nieder — eine Wunde, die vielleicht nie heilt oder verziehen wird. Die Familie, in die wir hineingeboren werden, ist spontan auf unserer Seite, einfach nur deshalb, weil wir ihre Kinder sind.

Wie tief ist diese seltsame moralische Naturkraft in unserem Bewußtsein verwurzelt? Viele Anthro­po­logen glauben, daß wir die Vorformen unserer Blutsloyalität bei den Tieren finden — vor allem unter den Vögeln und Säugetieren, wo im Einsatz der Mutter für das Neugeborene etwas wie Gewissen am Werk zu sein scheint. Sie essen ihre Jungen nicht, sie geben sie nicht den Raubtieren preis. Vielleicht ist an dieser Spekulation etwas Wahres. Aber was unter einfacheren Lebewesen so bescheiden als Instinktverhalten beginnt, entwickelt sich auf dem Niveau des Menschen zu einem erzieherischen Bündnis — Denken und Streben werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Bei uns geht die elterliche Loyalität weit über Schutz und Ernährung hinaus zur bewußten Entwicklung und Kultivierung von Fähigkeiten — der lange Prozeß der Erfahrungs­vermittlung zwischen den Generationen. In einer gesunden Kultur erhält das Kind Antwort, wenn es fragt; wenn es lernen will, hilft man ihm dabei, einfach weil es unmittelbar Freude macht. Diese einfache, biologische Verbundenheit kommt ohne Schwüre und Verträge aus und trägt doch den Samen höchster spiritueller Entwicklung in sich.

Wenn man dieser besonderen Loyalität schließlich doch in Worten und Ritualen Ausdruck gibt — wie zum Beispiel in Hochzeits­zeremonien —, so kann man nichts besseres tun, als die Riten an einer ursprünglichen Beziehung von Vertrauen und Verantwortung zu orientieren. Die Riten schaffen die Beziehung nicht; sie erklären einfach, daß zwei Menschen geschworen haben, zwischen ihnen werde bestehen, was schon immer das Band der Verwandtschaft gewesen ist: bedingungslose Loyalität ... in Reichtum und Armut, in Krankheit und Gesundheit, auf Gedeih und Verderb. Und dieses Versprechen wird ein Zuhause begründen, in dem solch bedingungslose Loyalität auch der nächsten Generation vermittelt werden kann.

Ich will das Familienleben nicht sentimentalisieren. Wir wissen, wie oft die Loyalität in Verwandtschaft und Ehe mißbraucht wird und wie bitter die Beziehungen im Familienkreis werden können. Die ältesten Tragödien in unserer Literatur sind Familien­tragödien — große unheilvolle Dramen von Haß und Verrat, die ein mörderisches Ende finden.

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Zweifellos ist Verrat eine ebenso alte Erfahrung in der Familie wie Vertrauen. Aber genau deshalb kann das Familienleben ja so trostlos werden: das Vertrauen, das hier verletzt wird, ist so tief in unserem biologischen und spirituellen Wesen verwurzelt, daß wir es nicht anders als heilig empfinden können.

 

Und hier muß die Metamorphose des Familienlebens ansetzen. Überall auf der Welt gelten die Bindungen in der Familie als sakramental; und alle Liebe, alle Bedürftigkeit, alles Vertrauen, die uns mit der Familie verbinden, lassen uns empfinden, daß es tatsächlich so ist. Aber was ist heilig? Wem gilt der Schwur der Blutsverwandtschaft? Noch jede Gesellschaft hat ihren Mitgliedern beigebracht, die sakramentale Loyalität der Familie sei an die Identitäten gebunden, die einem durch Geburt und Heirat zufallen: an diese Frau als Ehefrau und Mutter, an diesen Mann als Ehemann und Vater, an diesen Säugling als ihr Kind und ihren Erben, und darüberhinaus vielleicht an zahllose Verwandte, deren Position durch Überlieferung definiert ist. Erfahren wir unsere Familie nicht immer noch so, als seien all diese ehrwürdigen Erwachsenen Darsteller in einem rituellen Schauspiel? Sie tragen Titel und spielen archetypische Rollen, scheinen dem Leben gewachsen zu sein und so viel zu wissen, erzählen uns, wie die Dinge 'nun mal' sind, sagen uns, was zu tun ist, zeigen uns wie, geben Anweisungen. Wir betreten die Bühne der Familie als ihre 'Zweitbesetzung'; wir stehen in den Kulissen, beobachten, wie sie ihre Rolle spielen, versuchen uns die Stichworte einzuprägen und lernen, wie sie zu sein.

So war es immer — bis jetzt. Ich kenne keine andere Gesellschaft oder Geschichtsepoche, in der so deutlich wurde, daß Erwachsene letztlich nur große Kinder sind. Was für komische Typen sind wir in den Händen solcher Humoristen wie Lenny Bruce, Woody Allen und Jules Feiffer geworden — wir alle in unseren Bastionen aus Rollen und Stellungen. Sie sehen uns als die ratlosen Nieten, die wir sind, vollgestopft mit lähmenden kleinen Ängsten, vermurkster Sexualität und dürftigen Alibis. Wir geben uns alle Mühe, die Oberfläche glatt zu halten, aber diese Spaßvögel kommen uns auf die Schliche. Sie wissen, daß wir wissen, was für Poseure wir sind. Unsere Fernsehkomödien sind voll davon, und man geht mit Recht davon aus, daß wir die Komik erfassen.

Das ist nicht mehr die alte Gesellschaftskomödie, der es darum ging, die Verdorbenheit hinter allen noblen gesellschaftlichen Fassaden aufzudecken. Hier ist die Psychologie viel vertrackter, und der Zynismus dringt bis tief in die Politik der Familie vor. Er zeigt uns als Opfer hirnrissiger Mystifikationen, immer in panischer Angst vor einem Fehltritt ... der dann doch geschieht; eine Welt voller trauriger Clowns: ihre Verdrängungs­mechanismen funktionieren nicht mehr so recht, und so geben sie ihren allzu menschlichen Fixierungen und infantilen Impulsen nach. Es ist die Komödie des radikalen Selbstzweifels — ein sehr sokratischer Zweifel, denn er beruht auf der großen Wahrheit, daß wir nicht wissen, wer wir wirklich sind.

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Für immer mehr Menschen besitzt das alte Familiendrama keine Glaubwürdigkeit und keinen Charme mehr. Regeln und Rollen sind nicht mehr heilig. Wir wollen nicht länger dramatis personae sein, sondern wirkliche Personen in unserem eigenen Stück.

Doch hinter jeder Maske des alten Dramas hat immer eine wirkliche Person gesteckt und sich pflichtschuldig darum bemüht, ihre Einzigartigkeit der zugewiesenen Familienrolle anzupassen. Die Eltern, die wir vielleicht nie gekannt haben, weil sie sich nie als etwas anderes als 'Mutter' und 'Vater' zu erkennen gegeben haben, sind Personen. Geliebte und Lebensgefährten, die wir nur als 'Ehemann' und 'Ehefrau' kennen, sind Personen. Und diese Persönlichkeiten sind heilig. Sie verlangen nach unserer bedingungs­losen Loyalität, und sie steht ihnen zu wie jedem Neugeborenen, denn ohne sie werden sie in ihrem Versteck bleiben und endlich verkümmern, weil sie nie das Tageslicht sahen.

Jeder von uns hat die Fähigkeit zur Loyalität gegenüber denen, unter denen wir aufwachsen und leben, denn dieses menschliche Vermögen erwächst aus der Biologie der Familie. Bis jetzt hat es sich stets an vorgeschriebene gesellschaftliche Rollen geheftet und sie verstärkt. Aber können wir diese Loyalität nicht von der Rolle auf die Person übertragen? Können wir zu unseren Kindern, Eltern, Geliebten sagen, was wir gern auch von ihnen hören möchten:

Wir begegnen uns als Fremde, jeder trägt in sich ein Geheimnis. Ich kann nicht sagen, wer du bist; vielleicht werde ich dich nie ganz kennen. Aber ich vertraue darauf, daß du eine Person bist, erfüllt von jener Schönheit und jenem Wert, der den Reichtum der Welt bildet. Deshalb verspreche ich dir: Ich werde dir keine Identitäten zuschreiben, sondern lade dich ein, du selbst zu werden, ohne Scham oder Furcht. Ich werde dein Recht verteidigen, deine Berufung zu finden. Denn solange deine Suche dauert, besitzt du meine Loyalität.

 

Wohin wenden sich die Menschen heute auf der Suche nach Selbstentdeckung ohne Schuldgefühle? Psychotherapie, situative Gruppen, intentionale Gemeinschaften — Notbehelfe, aber auf mehr können die meisten von uns bis auf weiteres wohl nicht hoffen. Doch wenn wir uns an solchen Improvisationen beteiligen, werden wir nie von der schmerzhaften Tatsache loskommen, daß wir in dieser Gruppe nur deswegen zusammen sind, weil eine andere Gruppe — die Familie — uns im Stich gelassen hat. Immer wird diese verweigerte Loyalität hinter uns stehen, von der wir wissen, daß sie nicht reproduzierbar ist. Die provisorischen oder vertraglichen Regelungen, die wir an ihre Stelle zu setzen versuchen, werden nur selten die dauerhafte Intimität einer guten Ehe erreichen; sie können uns nie jene biographische Kontinuität bieten, die allein die Familie für ihre Mitglieder bewahrt: die verlorene Erinnerung unserer frühesten Jahre, die Erinnerung an Vorfahren, deren Einfluß in den Tiefen unserer Erfahrung spürbar ist.

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Alles, was vor unseren bewußten Jahren geschah, ist auch Teil unserer Selbsterkenntnis, in mancher Hinsicht sogar ihr wichtigster Teil.

Psychiater mögen einiges davon aus unserem Unbewußten hervorgraben; die Urschrei-Therapie (Primal Therapy) versucht sogar, in die Zeit vor der Geburt vorzustoßen. Aber die formativen Elemente unseres Lebens sind in der Familie zu finden, in der Erinnerung von Eltern und Verwandten, deren Erfahrung unlösbar mit unserem Leben verflochten ist. R.D. Laing hat die Familie als ein System von "Knoten"* aus wiederverwerteter Biographie beschrieben. 

Ein Makramee aus Hoffnung und Haß, enttäuschten Träumen und vereitelten Strebungen wird der nächsten Generation aufgebürdet, und sie muß es stellvertretend ausleben. Er hat Recht, wenn er sagt, daß Abstammung eine subtile Tyrannei sein kann, doch übersieht er, daß sie auch die Substanz unserer persönlichen Bestimmung ist. Das unberechenbare Spiel familiengeschichtlicher Einflüsse enthält für jedes Kind das Versprechen seiner Einzigartigkeit. Die gleiche schöpferische Verschmelzung von Kontinuität und Neuerung, wie wir es in der beständigen Durchmischung des genetischen Materials sehen. In beiden Fällen ist das ererbte Alte und das entstehende Neue wir.

Um werden zu können, was wir sind, brauchen wir keine Befreiung von der Familie, sondern eine Familie, in der die Kinder ihre Knoten zu ihrem ganz eigenen Muster knüpfen dürfen. Nicht die psychiatrische Praxis ist der geeignete Ort, unser genealogisches Karma abzuarbeiten, sondern eine offene Kindheit unter den Menschen, deren Leben immer zu den Grundtatsachen unserer Identität gehören werden.

Ist solch eine Familie möglich? Können wir der bedingungslosen Loyalität, die schon immer den Zusammenhalt der Familie gesichert hat, ein neues sakramentales Objekt geben — die freie Persönlichkeit? Seit urdenklicher Zeit ist es Aufgabe der Familie, Personen zu sozialisieren. Setzen wir sie jetzt ein, um die Gesellschaft zu personalisieren.

 

Offene Kindheit 

Ist mit dem Ideal der offenen Kindheit Laissez-faire gemeint? Ja und nein. — Nein, wenn wir damit eine bis zur Formlosigkeit nachsichtige Erziehungsweise meinen, eine vorsichtig tastende frühe Konzession an die persönlichen Rechte der Jugend; häufig ist sie eine Art unfreiwilliger Rückzug der Eltern vor dem Tumult der Zeit gewesen: der Krieg (und dann der andere Krieg... und der andere Krieg)... die Bombe ... das Tempo der technologischen Entwicklung, die sich überschlagende Wirtschaft.

Philip Slater meint, die amerikanische Familie sei immer eigentümlich demokratisch gewesen, weil das Kräftespiel der Gesellschaft immer wieder "Erfahrungsklüfte" zwischen den Generationen habe entstehen lassen. Mag sein.

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Aber das ist nicht die Freiheit, die zur offenen Kindheit gehört; es ist nur die Hilflosigkeit von Eltern, die der wildgewordenen Welt um sie her nicht mehr Herr werden. Eltern können nicht autoritär sein, wenn eine sich Überstürzende Zeit ihnen nichts mehr läßt, worüber sie mit Autorität sprechen könnten.

Auch die Psychiater haben in den Jahren seit Freud ihren Einfluß gehabt und vor allem zu mehr sexueller Offenheit in Mittel­klassen­familien beigetragen. Dadurch ist ein Gutteil jugendlicher Unschuld von "zusätzlicher Unterdrückung" befreit worden, um Herbert Marcuses Ausdruck zu verwenden — wieder um den Preis einer weiteren Generationskluft. Doch all das hat unseren Kindern nur die Freiheit zum freien Fall durch den leeren Raum gegeben. Von dem eigentlichen Ziel der Kindheit und Jugend, nämlich mit Anmut und Würde aufzuwachsen, ist nicht die Rede. Und dafür brauchen die Kinder offensichtlich stabile Familien, die glaubwürdige Vorbilder bieten. Wenn sie sich zu diesem Zweck mit Rock-Stars und Fernsehteenagern begnügen müssen, werden sie für immer in narzißtischer Adoleszenz steckenbleiben — und schließlich selbst zu großen Kindern heran­wachsen.

Eine Freizügigkeit, die nichts weiter ist als elterliches Versagen, kann nur Verrat an der Jugend sein. Wenn aber die Rechte der Person unser oberster kultureller Wert werden sollen, müssen wir unsere Kinder frei erziehen; wir müssen der Selbstentdeckung eine zentrale Rolle in ihrem Leben einräumen und sie die Personen werden lassen, die sie sind. Wir brauchen ein Ideal der Elternschaft, das uns erlaubt Vorbild zu sein, ohne Vorschriften zu machen. Jeder von uns muß wissen, wie man eine freie Persönlichkeit ist, und niemand darf sich als die Persönlichkeit ausgeben, die unsere Kinder werden sollen. Für die Kinder sollte eine Vielfalt von Möglichkeiten, erwachsen zu sein, sichtbar werden — was größere Familien notwendig macht.

Das Ideal der offenen Kindheit ist alt, hat aber noch in keinem gesellschaftlichen System einen tatsächlichen Wert dargestellt. Es ist das Ideal sokratischer Pädagogik, die (so werde ich im nächsten Kapitel argumentieren) ein Leben lang der Leitstern für die Bildung der Person sein muß.

 

Sokrates nannte sich selbst eine Hebamme der Selbsterkenntnis. Ein bildhafter Ausdruck für das scheinbare Paradox konstruktiver Freizügigkeit. Ein Hebamme kommt, um etwas 'auf die Welt zu bringen', doch sie kommt mit leeren Händen, denn was sie zu bringen hat, ist schon da, Schöpfung und Besitz eines anderen Menschen. So sagt auch Sokrates der Jugend nicht, was sie denken und wie sie leben soll. Wer ihn doch danach fragt, stößt ins Leere; er gibt vor, nichts zu wissen. Er sagt nur: "Laß uns darüber reden." Und dann fügt er hinzu: "Fang du an." Sein 'Nichtwissen' erweist sich dann als fruchtbares Vakuum; es wirft den Schüler auf seine eigenen Mittel zurück — unsichere Ideen, gestaltlose Anschauungen, keimhafte Strebungen. Was der Schüler im Dialog zu bieten hat, trifft nicht immer auf wohlwollende Nachsicht (denn das wäre die Freizügigkeit, die ihn letztlich im Stich läßt), sondern auf scharfsinnige, aber liebevolle Kritik.

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 Der Schüler eröffnet den Dialog und wird ermuntert, mal diese mal jene Position zu erproben. Jedes Argument, selbst wenn er es zornig oder entstellt vorbringt, wird ernsthaft geprüft, bis er einsieht, daß es beschränkt oder gar töricht war. Sokrates kritisiert sogar seine eigenen Überzeugungen und lädt den Schüler ein, ihm beizupflichten. Er macht sich ein wenig über sich selbst lustig, vielleicht um sicherzugehen, daß er das neue Wachstum, das er da hegt, nicht überschattet. Nur eines ist heilig in solchen Dialogen: die menschliche Persönlichkeit als der potentielle Ort der Erleuchtung.

Während also die Jugend den Lauf des Gesprächs bestimmt, steht Sokrates immer im Zentrum dieses Abenteuers; er verkörpert durch seine bloße Gegenwart die Werte reifer Personalität und macht sie während des Dialogs spürbar. Darin liegt die Kunst der Methode. Nur durch die Grundstimmung, die Sokrates dem Austausch gibt, lehrt er, was er ist, und wenn die Schüler die Lektion annehmen, begreifen sie sein Vorbild. Am Ende kommt vielleicht auf der Ebene der Ideen keine einzige Übereinstimmung zustande, so daß in diesem Sinn nichts gelehrt worden ist. Aber sie haben gelernt, was Würde, Großherzigkeit und Freiheit sind, und sie wissen, was es heißt, eine Sache unvoreingenommen zu ergründen. Sie werden sie selbst und sind doch für alle Zeiten Sokrates' Kinder.

Das Ideal der offenen Kindheit meint solch einen Dialog — zu Hause, zwischen Kindern und Erwachsenen. Sie ist der Beginn des lebenslangen Projekts, die Persönlichkeit zu entfalten. Verbinden wir bedingungslose Loyalität mit dem sokratischen Dialog, so kommen wir zu einem Familienleben, in dem Selbstentdeckung die größte Rolle spielt und gegen alle Übergriffe verteidigt wird.

 

Zurück zur Haus-Wirtschaft 

Was für interessante Zentren subversiver freier Entwicklung könnten solche Familien sein — Familien, die bereit wären, den herrschenden Kräften in Wirtschaft und Gesellschaft zu sagen, daß sie unsere Kinder (oder irgend jemanden von uns) nicht als ihr Rohmaterial bekommen werden. Natürlich kann man sich so etwas nur leisten, wenn man unabhängig ist. Alle besonders ausdauernden experimentellen Gemeinschaften haben sich um weitgehende ökonomische Autonomie bemüht. Sie bilden nicht nur eine Form des Zusammenlebens, sondern auch der Zusammenarbeit. Sie wissen, daß gemeinsame, eigenständige Arbeit notwendig ist, um die Integrität ihres Ideals zu wahren. Wenn auch Familien freie Gemeinschaften werden wollen, brauchen sie eine selbstgeschaffene ökonomische Basis.

Für uns ist das heute eine ungewöhnliche Betrachtungsweise und zwar, seit der Familienhof als Grundeinheit der Landwirtschaft verschwunden ist. 'Unabhängigkeit' bedeutet in den großen Industriestädten heute: regelmäßiges Einkommen und Kreditwürdigkeit.

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Als irgend jemandes Angestellter nehmen wir Geld ein und als jedermanns Kunde geben wir es wieder aus. Solange wir eine gut funktionierende Röhre für den Geldfluß bleiben, kommen wir zurecht. Und jeder Wirtschaftsexperte wird unser Verhalten lobenswert finden, denn wir sind genau das, was seine Indikatoren für den Zustand der Wirtschaft haben wollen: eine Arbeitseinheit in der Beschäftigungsstatistik und viele brauchbare Nachfrage-Einheiten auf dem Markt.

Doch vor der Industrialisierung hatte jede Gesellschaft (außer den Sklavenhaltergesellschaften) eine widerstandsfähige Hauswirtschaft. Unser Fremdwort für Wirtschaft — Ökonomie — bedeutet ursprünglich soviel wie 'Hauswirtschaft' — das Haus und alles, was dazugehört, in Ordnung halten. Das normale, vorindustrielle Lebensmuster der Familie war die Zusammenarbeit, entweder auf dem Acker oder in einem Handwerk. Das schützt die Familie zwar nicht vor Ausbeutung, macht aber wenigstens das Haus zu einem Zentrum praktischer Arbeit und gegenseitiger Hilfe. Die übliche Beurteilung der Folgen der industriellen Revolution enthält eine bemerkenswerte männliche Einseitigkeit; es wird nämlich stets gesagt, der proletarische Arbeiter sei seiner Unabhängigkeit beraubt worden. Tatsächlich verlor aber die ganze proletarische Familie alles an ökonomischer Autonomie, was die arbeitenden Klassen noch besaßen.

 

Von einem Ort der Produktion wurde das Heim mehr und mehr zu einem Ort abhängigen Konsums. Vor allem in der Stadt wurde sie ein Spielball der ökonomischen Verhältnisse, ein Zustand, der uns jetzt schon ganz selbstverständlich erscheint und der das Ideal fortgeschrittener ökonomischer Planung in den Industrieländern darstellt — ausgenommen vielleicht das immer noch sehr ländliche China. Wo die Entwurzelung der häuslichen Wirtschaft noch nicht ganz abgeschlossen ist, wie in Europa in einigen Ländern des gemeinsamen Markts, gehen die Bestrebungen immer noch dahin, die Familien vom Land in die Stadt zu ziehen und den Vater in produktivere (und meist ökologisch ungesündere) Arbeit einzuspannen. 

Offenbar zielt solche Planung darauf ab, die Familie vollständig abhängig zu machen, denn alles, was sie braucht, muß sie außen suchen: Arbeit, Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Energie und Wasser, Dienst­leist­ungen, Unterhaltung, Sozialleistungen. Das führt zu einer Gesellschaft von über­dimensionierten Städten, in denen Millionen von Haushaltungen in immer gefährlichere Abhängigkeit von ökonomischen Kräften und Versorg­ungs­systemen geraten, auf die sie keinen Einfluß haben. Alles, was sie brauchen, müssen sie kaufen; alles, was sie verdienen, sollen sie ausgeben; und endlich laufen sie Gefahr, in ihrem eigenen Konsummüll zu ersticken, sollten die Deponien einmal nicht mehr ausreichen.

Sehen wir uns einmal die völlig selbst­verständliche Annahme der konventionellen Wirtschaft an, man könne den 'Entwicklungs­stand' einer Gesellschaft am Pro-Kopf-Einkommen ablesen. Meist stimmt es zwar, daß man in Ländern mit niedrigem durchschnittlichem Einkommen große Armut antrifft, aber die Armut ist nicht da, weil der Geldfluß niedrig ist.

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 Das sind zwei ökonomische Faktoren, die in keinem Kausalverhältnis, stehen. Wo die Menschen ihre Bedürfnisse durch Primärproduktion und lokalen Tauschhandel selbst befriedigen können — wie es etwa in einer Ökonomie produktiver Familienhöfe sein könnte —, da brauchen sie kaum Bargeld. Tatsächlich bedeutet Armut: kein Geld und keine Selbstversorgung. Noch verlogener ist die Behauptung, höheres Geldein­kommen verbessere die Lebensqualität. Meist verschleiert man damit nur ruinöse gesellschaftliche Prozesse, die die Familien von den Höfen und Dörfern in die Städte treiben, wo sie dann natürlich Bargeld auftreiben müssen, um leben zu können. Und selbst als Fabrikarbeiter, die kaum ihr Auskommen finden, oder als hungernde Bettler in den Straßen von Kalkutta, Caracas oder Hongkong haben sie dann mehr 'Einkommen' als früher, wo sie als Bauern oder Dorfhandwerker immer genug zum Leben hatten.

Eine Ökonomie, die so denkt, sollte konsequenterweise auch den Gesundheitszustand einer Gesellschaft mit der Menge der konsumierten Medikamente gleichsetzen. Es ist ein Taschenspielertrick der Ökonomen, uns mit dem Geklimper von Geld abzulenken und dabei unbemerkt die häusliche Ökonomie von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Die häusliche Wirtschaft, älteste Form der Ökonomie, kann mit Bargeld und anderen Abstraktionen des Markts wenig anfangen. Ihr intuitiver Maßstab für 'Lebensstandard' orientiert sich vielmehr an Glück und Integrität des Familienlebens.

Wenn der urbane Industrialismus im Lauf der nächsten Generationen immer unstabiler wird, könnte es durchaus sein, daß wir gezwungen werden, die häusliche Wirtschaft wiederzubeleben — und auf dem Weg dorthin wird es manche Panik und Not geben. Möglich, daß wir in dieser Sache gar keine Wahl haben. Ich kann hier aber kein soziales Programm vorlegen, das solch einen Wandel vorwegnimmt. Versuchte ich es, so würden all die Menschen, die in unserem industriellen Apparat festsitzen, darin nur ein 'Zurückdrehen der Uhr' erkennen. Allen aber, die Ohren haben zu hören, möchte ich jetzt schon zu bedenken geben, daß jede ernstzunehmende Strategie zur Rettung der Familie sich darum kümmern muß, die Arbeit wieder an das Zuhause zu binden und die Familie wieder zu einem Mindestmaß an ökonomischer Autonomie zurückzuführen.

Dieses Projekt sollte sich zwar auf die Familie konzentrieren, muß sich aber nicht auf sie beschränken. In der Stadt könnte es zur Bildung produktiver und selbstverwalteter Nachbarschafts­gemeinschaften führen; auf dem Land bedeutet es gewiß durch­greifende Reform, Auflösung der industriellen Landwirtschaft zugunsten des Familienhofs und des Dorfs. Zumindest bedeutet es aber die Entwöhnung der Öffentlichkeit von der Massen­verschwendung, die uns immer weiter in die Abhängigkeit von großen Systemen und hoher industrieller Produktivität treibt, ökonomische Autonomie bedeutet nicht einfach Erhöhung der Produktion. Viel mehr hat sie mit einsichtsvoller Mäßigung von Bedürfnissen und Konsum zu tun.

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In den frühen dreißiger Jahren, mitten in der Weltwirtschaftskrise, gaben Ralph Borsodi und seine mutige Familie das Stadtleben auf, um eines der großen Experimente zur Wiederbelebung der häuslichen Ökonomie zu wagen. Nicht viele werden den Mut und die Beharrlichkeit aufbringen, mit der sie den Wiederaufbau eines kleinen Bauernhofes vorantrieben. Borsodi behauptet etwas voreilig, die Hauswirtschaft erfordere eine Rückkehr aufs Land; dies ist aber nur eine unter mehreren Möglichkeiten. Es kommt jedoch vor allem auf den Geist und die Richtung von Borsodis Abenteuer an — und auf das ökonomische Theorem, das es beweist. Er schrieb 1933 darüber:

Ich stellte fest, daß man zwei Drittel der Dinge, die die normale Familie kauft, zu Hause ökonomischer herstellen kann; daß der durchschnittliche Mann und die durchschnittliche Frau durch häusliche Produktion mehr verdienen können, als wenn sie in Büro oder Fabrik für Geld arbeiten ...; und schließlich, daß es immer noch möglich war, das Zuhause zu einer produktiven und schöpferischen Institution zu machen. Wir begannen mit dem Versuch, all das wieder selbst in die Hand zu nehmen, was die Textilfabrik, die Verpackungsindustrie, die Getreidemühle, die Kleiderfabriken in den letzten zwei Jahrhunderten an sich gerissen haben.*

Nein, das ist keine exzentrische Idee 'von damals'. Es ist eine Idee, deren Zeit vielleicht jetzt erst kommt, wo das volle Ausmaß der Umweltzerstörung und die Unsicherheit des Stadtlebens uns allmählich bewußt wird. Halten wir uns doch nur vor Augen: Sämtliche Umweltschutzideen der letzten Jahre (Abfall- und Wasser-Recycling, organische Landwirtschaft, Sonnen- und Windenergie, Abfall­kompostierung, Container-Gärtnerei, Hydrokultur, mittlere Technologie) finden in der Hauswirtschaft ihren natürlichen Platz — wie auch die alten Handwerke, die jetzt als Alternativberufe wiederbelebt werden. 

Große industrielle Systeme werden sich für solche Vorschläge kaum interessieren, denn sie sehen unsere Probleme nur aus der ökonomischen Stratosphäre. Diese Ideen gehören einer anderen Größenordnung an, zu der auch das Dorf, die Nachbarschaft, die Familie zählen. Nur auf dieser Ebene werden sie zu Möglichkeiten, unsere ökonomischen Bedürfnisse auf ökologisch verantwortliche Weise in den Griff zu bekommen.

Eine andere Möglichkeit, die Familie zu einer Arbeitsgemeinschaft zu machen, ist der Familienbetrieb. Die städtischen Umwelt­verhältnisse werden vermutlich nur wenigen besonders findigen Gemeinschaften ein weitgehend autarkes Dasein ermöglichen. Darum geht es aber auch gar nicht in erster Linie; vielmehr ist es eher hinderlich, wenn regionale Selbstversorgung zu sehr im Vordergrund steht. Vor allem geht es bei der Wiederbelebung der Hauswirtschaft darum, der Familie einen Geschmack von der Unabhängigkeit zu geben, die sie braucht, um die persönlichen Rechte ihrer Mitglieder zu schützen. Das ist die Kraft, die das Familienband zu einem praktischen Sakrament machen kann. Und es ist auch ein Weg, mit dem Planeten Frieden zu schließen.

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Roszak-1978