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Interview 2012 bei Telepolis

mit Werner Rügemer und Reinhard Jellen

Teil 1   heise.de/tp/features/Die-Macht-der-Rating-Agenturen-3503485.html

Teil 2   heise.de/tp/features/Fuer-die-Rueckzahlung-der-Schulden-wird-die-Demokratie-ausgehoehlt-3394045.html

(Auf detopia ohne Fußnoten)

 

1) Herr Rügemer, bei der Finanzkrise 2007 haben die drei wichtigsten Rating-Agenturen (S&P, Moody, Fitch) nicht unbedingt ein glückliches Händchen bewiesen. Warum haben sie heute noch das Sagen?

WR:  Herr Jellen, wenn man von den Interessen der Agenturen und ihrer Eigentümer ausgeht, hatten sie durchaus ein glückliches Händchen. Sie haben im Vorfeld als Mitverursacher der Finanzkrise sehr viel verdient und Krisen selbst sind für sie auch sehr lukrativ. Sie haben auch heute noch das Sagen, weil sie wie die Banken, Hedgefonds, Wirtschaftsprüfer und Versicherungen zum Kern der Finanzindustrie gehören, die ja ebenfalls nach der Krise immer noch das Sagen haben, ja sogar noch mächtiger geworden sind.

2) Können Sie eine Einschätzung abgeben, wie viele der weltweiten Kapitalströme die Rating-Agenturen mit ihren Bewertungen auch heute noch kontrollieren?

WR:  Das kann ich nicht abschätzen, denn ein großer und wachsender Teil der Kapitalströme findet heute in dark pools des Schattenbanksystems (shadow banking) statt. Hier wird nicht reguliert. Da erfassen weder nationale noch internationale Finanzinstitutionen die Zahlen.

3) Haften Rating-Agenturen im Falle eine Falschprognose?

WR:  Nein, sie haften grundsätzlich nicht. Jedem einzelnen Rating einer Agentur ist eine Klausel beigegeben, dass die Agentur nicht für Folgen haftet, die aufgrund der Verwendung von Ratings zustande kommen, sei es direkt oder indirekt. Alle Agenturen bezeichnen jedes ihrer Ratings als "freie Meinungsäußerung". Ich zitiere als Beispiel Fitch:

"Ratings sind keine Fakten und können deshalb nicht als richtig oder unrichtig bezeichnet werden. Ratings stellen keinen finanziellen oder rechtlichen Rat dar, keine Wirtschafts­prüfung, keine Bewertung, keine Schätzung und keine Versicherungsempfehlung. Ein Rating stellt keine Zustimmung der Agentur dar, ihren Namen als den eines Experten zu verwenden."

Das Üble ist zudem, dass bisher auch Regierungen und Justiz mitspielen und bisher niemals die Agenturen bei den zahl- und folgenreichen Falschbewertungen zur Verantwortung gezogen haben. Vor US-Gerichten haben schon hunderte von geschädigten Anlegern, auch Pensionsfonds wie Calpers (Pensionsfonds der kalifornischen Staats- und Gemeindeangestellten) gegen die Agenturen wegen falscher Ratings und auf Schadenersatz geklagt - aber die Gerichte haben alle Klagen abgewiesen; die Agenturen berufen sich bisher erfolgreich auf den ersten Zusatz zur US-Verfassung (First Amendment von 1791), wonach ihnen das Grundrecht auf freie Meinungs­äußerung zustehe; der Verfassungszusatz regelt bekanntlich die Freiheit der Meinung, der Religion und der Presse.

 

4) Welche Funktion hatten ursprünglich die Rating-Agenturen und wie hat sich diese im Lauf der Zeit geändert?

WR:  Im 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren die Agenturen kleine Verlage, Familienbetriebe, die Informationen über Aktien­gesellschaften gesammelt haben. Da wurden in den USA zahlreiche Aktiengesellschaften gegründet, um Eisenbahnen, dann Textil- und Stahlfirmen zu errichten. Und es wollten viele US-Bürger ihr Geld anlegen, mitverdienen, mitspekulieren. Die Agenturen verkauften ihnen für ein paar Cent Informationen über die Gesellschaften, in Form von Handbüchern, Zeitschriften, Informationsblättern. Damit konnten die Anleger abschätzen, welche Aktiengesellschaft seriös ist, denn damals gab es auch so manche Betrüger auf diesem Gebiet. Die Anleger und Spekulanten zahlten also für die Information.

Mitte der Siebziger Jahre, also etwa mit dem Beginn der "Globalisierung", änderten die Agenturen den Bezahlmodus: Jetzt zahlten die Aktiengesellschaften, zum Beispiel wenn sie neue Aktien an die Börse bringen wollten, selbst für das Rating der Aktien. Ebenso zahlten die Banken, wenn sie ein neues Wertpapier auf den Markt bringen wollten, für dessen Rating. Das war eine Wendung des Bezahlmodus um 180 Grad. Das ist wie wenn bei einem Fußballspiel die eine Mannschaft ihren eigenen Schiedsrichter mitbringt, den sie selbst bezahlt. Das wurde von der US-Finanzaufsicht Security Exchange Commission (SEC) genehmigt. Anschließend wurde dieses System global verbindlich gemacht, zuerst über den Internationalen Währungsfonds (IWF) für die Entwicklungsländer, dann über die Bank for International Settlements (BIS, Basel, die Zentralbank der Zentralbanken) für die "entwickelten" Staaten wie die der Europäischen Union.

Die Rating-Agenturen werden von Banken, Versicherungen und Unternehmen finanziert, die für sich und ihre Wertpapiere Ratings bei den Agenturen bestellen. Auch öffentliche Unternehmen und Städte müssen sich heute vielfach ein Rating kaufen, wenn sie einen Kredit bekommen wollen. Ein Rating kostet je nach Umfang und Komplexität zwischen 50.000 und einer Million Euro. Sie sind also weder neutral noch unabhängig. Sie sind der verlängerte Arm der heute mächtigsten Akteure der Finanzindustrie. Und sie sind nicht nur deshalb mächtig, sondern weil sie gleichzeitig hoheitliche Aufgaben im Namen des Staates wahrnehmen. Die Agenturen sind Teil der gegenwärtigen Kapitalmacht.

5) Wie weit wurde der Werdegang der Agenturen von Gesetzen und anderen staatlichen Maßnahmen unterstützt?

WR: Die Regierungen und Parlamente der Kapitaldemokratien haben schrittweise die Ratings in vielen Bereichen des Finanz- und Wirtschaftssystems gesetzlich verbindlich gemacht. Bei Krediten, die die Banken vergeben, richtet sich die Höhe des Eigenkapitals nach den Ratings der Kreditnehmer. Nach den Ratings richten sich die Kreditkonditionen: Je besser die Note, desto niedriger der Zins. Pensions- und Investmentfonds erhielten gesetzliche Auflagen, welche Wertpapiere sie je nach der Höhe des Ratings kaufen oder nicht kaufen dürfen.

Die Ratings in Verbindung mit dem Oligopol der drei großen Agenturen gingen in die Regelwerke zum Beispiel der Europäischen Zentralbank und der deutschen Finanzaufsicht Bafin ein, in Deutschland etwa noch in das Versicherungsaufsichts- und Kreditwesengesetz (VAG und KWG), in den Mindestanforderungen für das Risikomanagement und in der Solvabilitätsverordnung (SolvV).

 

"Rating-Agenturen gehören zum Kern der heutigen Kapitalmacht"

6) Wem gehören die Agenturen?

WR: Mit dieser Frage kommen wir zum Kern der Sache. Deshalb wird diese Frage in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten nie gestellt, hier wird verbissen geschwiegen. Das ist ein untrügliches Zeichen, dass es hier um einen zentralen Sachverhalt geht. Die beiden größten Agenturen Standard & Poor’s und Moody’s gehören einer Reihe von Hedgefonds: Capital Group, Blackrock, Vanguard, State Street, T. Rowe Price. Sie sind die Haupteigentümer der Agenturen, übrigens in dieser selben Reihenfolge bei beiden Agenturen. Dann folgen noch Banken wie die Bank of New York, Versicherungen wie die Allianz sowie weitere Hedgefonds und Investmentgesellschaften.

Eine Ausnahme macht Moody’s: hier hat der bekannteste US-Spekulant, Warren Buffett, über seine Berkshire Hathaway Holding traditionell einen ständig wechselnden Anteil. Die kleinste Agentur, Fitch, gehört zu 60 Prozent dem US-Medienkonzern Hearst und zu 40 Prozent der französischen Finanzholding Fimalac, in der sich einige US-freundliche französische Unternehmen versammeln wie die Supermarktkette Casino, Renault, L‘Oréal und die Bank Rothschild. Hearst wie Fimalac sind Familienkonzerne, die kaum Informationen herausgeben; wir dürfen aber annehmen, dass sie ebenfalls enge Beziehungen zu Hedgefonds haben, das ist heute in diesen Kreisen Standard.

Hedgefonds, die nicht staatlich beaufsichtigt werden, sind heute die eigentlich Mächtigen in der Finanzindustrie. Um beim Miteigentümer von Standard & Poor’s und Moody’s, Blackrock zu bleiben: Dieser Hedgefond ist gleichzeitig der größte Aktionär der Deutschen Bank, er ist Miteigentümer aller 30 deutschen DAX-Konzerne und natürlich Miteigentümer der wichtigsten US-Unternehmen undsoweiter.

Große Banken wie die Deutsche Bank, United Bank of Switzerland (UBS) und Goldman Sachs, den heute die kritische Aufmerksamkeit gilt, sind in Wirklichkeit nur noch zweite Liga; oder man könnte sie auch als Vorfeldunternehmen der Hedgefonds bezeichnen. So gehören die Rating-Agenturen zum Kern der heutigen Kapitalmacht.

 

"Staaten sollen sich möglichst umfangreich und langfristig verschulden"

7) Wie treffsicher sind überhaupt die Ratings der Agenturen?

WR: Sie sind in der Regel sehr treffsicher, wenn man von den Interessen der Eigentümer der Agenturen und der Finanzindustrie ausgeht. Diese Interessen bestehen darin, dass die Kreditnehmer, beispielsweise Staaten, sich möglichst umfangreich und langfristig verschulden. Denn für die Kreditgeber gibt es kein besseres Geschäft. Das ist besonders in den sogenannten Krisen der Fall, wenn die Zinsen, von den Ratings "beflügelt", immer höher steigen. Ähnliches gilt für die Wertpapiere, die von den Finanzakteuren ans Publikum oder an andere Finanzakteure verkauft werden: je höher das Rating, desto teurer lassen sich die Wertpapiere verkaufen.

Das war bekanntlich der Fall bei den Millionen Hypothekenkrediten in den USA: Die Banken haben diese Kredite gebündelt, zu einem handelbaren Wertpapier gemacht, haben sich von den Rating-Agenturen für hohes Honorar ein Gefälligkeitsrating gekauft und haben dann damit große Gewinne eingefahren. Und die Agenturen haben damit ebenfalls viel Geld verdient. In dieser Hinsicht sind die Ratings ziemlich treffsicher.

 

"Interessen des Kreditgebers sind das einzige Kriterium"

8) Wie arbeiten Rating-Agenturen und welche Maßstäbe legen sie zugrunde?

WR: Die Agenturen haben einen einzigen wesentlichen Maßstab: Wie kann der Kreditgeber die größte Sicherheit haben, um den Kredit vollständig und pünktlich zurückgezahlt zu bekommen, wie riskant der Kredit auch sei. Die Interessen des Kreditgebers sind das einzige Kriterium. Das unabhängig davon, ob es bei der Kreditvergabe seriös zuging oder nicht; ob beispielsweise der Kreditgeber die Bonität, also die Rückzahlungsfähigkeit des Kreditnehmers gründlich geprüft hat oder nicht. Ob beispielsweise Korruption im Spiel war oder nicht: Denken Sie beispielsweise an die Kredite, die deutsche und französische Banken der griechischen Regierungen für den Kauf von U-Booten, Panzern und Kampfjets gegeben haben.

Die Interessen des Kreditgebers werden bekanntlich durchgesetzt, koste es was es wolle, ob also beispielsweise ein Unternehmen, ein Staat, ein Konsument in den ökonomischen Ruin getrieben wird, ob eine Volkswirtschaft ruiniert wird, ob Arbeitslosigkeit und Armut entstehen. Die Agenturen, ihre Eigentümer und Auftraggeber halten sich, wenn es darauf ankommt, weder an nationale Verfassungen, an demokratische Prozeduren, an soziale und Arbeits- und Menschenrechte. Ich verwende wie andere Autoren dafür den Begriff "Debtocracy":

Nach den Kriterien der Agenturen wird die Kreditrückzahlung notfalls auch mit Enteignung (Enteignung von sozialen Ansprüchen, z.B. von Renten und Einkommen; Privatisierung…) und autoritären, antidemokratischen Mitteln durchgesetzt. Zu den Vorschlägen der Agenturen etwa bei der Rückzahlung von Staatskrediten gehört beispielsweise nie die Reduzierung von Waffenkäufen, nie die höhere Besteuerung von Unternehmensgewinnen und von hohen Einkommen und Vermögen. Die Agenturen schlagen auch nie vor, das Zustandekommen von Krediten zu untersuchen, ob also auch dem Kreditgeber eine Schuld zukommt; bekanntlich gibt es viele Formen illegitimer Schulden.

"EU hat das US-Vorgehen millimetergenau nachgemacht"

9) Werden die Rating-Agenturen ihrerseits überprüft?

WR:  Nein. Die großen Agenturen erhalten zwar ihre Lizenz von der US-Börsenaufsicht SEC; aber es ist der SEC ausdrücklich verboten, den Agenturen inhaltliche Vorschriften für die Erstellung von Ratings zu machen. Das ist übrigens dasselbe Verfahren wie bei den Wirtschaftsprüfern: Auch die den Weltmarkt der Wirtschaftsprüfung beherrschenden vier US-Unternehmen Price Waterhouse Coopers, Ernst & Young, KPMG und Deloitte erhalten ihre Lizenz von der SEC. Aber auch die Wirtschaftsprüfer wie die Rating-Agenturen dürfen ihre Verfahren in Selbstverwaltung entwickeln. Auch die Europäische Union hat diesen Umgang übernommen.

Eine "Überprüfung" der Agenturen findet nur in Nebenaspekten statt: haben sie ausreichend Kapital, haben sie Personal mit guten Universitätsabschlüssen. Eigentlich soll auch die "finanzielle Unabhängigkeit" überprüft werden. Aber die SEC hat weder den Bezahlmodus infrage gestellt, der eine ständige Interessenkollision bedeutet, noch hat sie jemals danach gefragt, wem die Agenturen eigentlich gehören. Und die Europäische Union und auch die neugebildeten Instanzen der Finanzaufsicht in der EU haben das US-Vorgehen millimetergenau nachgemacht.

10) Werden die Bewertungen als politisches Druckmittel eingesetzt?

WR:  Sie sind ein Druckmittel der Kreditgeber und Wertpapierverkäufer, die gegenwärtigen Regierungen und Parlamentsmehrheiten der "westlichen Wertegemeinschaft" geben diesen Druck ungebremst und unreflektiert weiter.

11) Welche Folgen hat die Tätigkeit der Agenturen für Gesellschaft und Politik?

WR:  Sie führt zu einer ständigen Aushöhlung des Rechtsempfindens und der Demokratie. Sie verstärkt die Abhängigkeit der betreffenden Politiker und politischen Parteien von der Finanzindustrie. Wie ich schon sagte und wie wir schon bei früheren Krisen wie der "Asienkrise" erfahren mussten und wie es jetzt sich in der EU abspielt: Die Tätigkeit der Agenturen führt zur Entdemokratisierung und zu vielfältigen Formen der Enteignung.

 

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1) Welche Rolle spielen die Agenturen bei der Euro-Krise?

Werner Rügemer:  Diese Krise haben sie mitverursacht wie andere Finanz- und Wirtschaftskrisen auch. Ein Beispiel: In den Jahren 1999 bis 2001 half die US-Investmentbank durch diverse Tricks der griechischen Zentralbank, die hohen griechischen Staatsschulden auf das Maß herunterzudrücken, das den Maastricht-Kriterien entsprach und deshalb Griechenland in die Eurozone aufgenommen werden konnte. Dabei wurden beispielsweise die Gebühren des Flughafens Athen der nächsten 30 Jahre verkauft - so kam kurzfristig Geld in die Staatskasse. Dass damit aber langfristig eine Einnahmequelle trockengelegt wurde, interessierte damals weder die EU noch die griechische Regierung noch die Kreditgeber.

Denn auf dieser getricksten Grundlage gaben die Agenturen Griechenland in den Folgejahren gute Noten und die Kredite von Deutscher Bank, Société Générale und Goldman Sachs flossen nach Griechenland. Auch die traditionelle Steuerflucht der griechischen Eliten ließ man weiterlaufen. Gleichzeitig ließ man die weit über dem EU-Durchschnitt liegenden Rüstungskäufe der korrupten griechischen Regierungen nicht nur zu, sondern förderte sie. Dass das nach wenigen Jahren zu einer erneuten hohen Verschuldung führen musste, war jedem klar.

Erst im letzten Moment schalteten die Agenturen um und vergaben ab 2010 plötzlich schlechte Noten. Die Zinsen stiegen, die Kreditgeber freuten sich. Die von den Agenturen routinemäßig auch vorgeschlagenen "Spar"maßnahmen eröffnen den Finanzakteuren und Konzernen neue Geschäftsfelder: Aufkauf öffentlicher Unternehmen zum Schnäppchenpreis und ähnliches.

2) Warum wurde überhaupt das US-Ratingsystem auch für die EU und Deutschland eingeführt?

WR:  Das ist eben die vielberedete "Globalisierung": US-Interessen und US-Strukturen wurden weltweit etabliert. Auch daran wird auch deutlich, wie die wirklichen Machtverhältnisse heute beschaffen sind. Das gilt eben nicht nur für den militärischen Bereich.

"Insider-Beziehungen und Verfilzung"

3) Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Arbeitsweise der Agenturen auf eine "kriminogene Situation" hindeute. Was bedeutet das?

WR:  "Kriminogene Situation" bedeutet: Die Umstände erleichtern, fördern kriminelles Handeln, laden sogar dazu ein. Der Staat duldet, schützt das sogar. Das heißt, dass man nicht unbedingt kriminell werden muss, dass es aber eines starken Charakters und eines eigenen, gefestigten demokratischen Wertgefüges bedarf, um nicht kriminell zu werden. Die Bezahlung der Agenturen durch die Verkäufer der Kredite und Finanzprodukte habe ich schon genannt.

Die Agenturen verkaufen nicht nur Ratings, sondern gleichzeitig auch viele weitere Dienstleistungen wie Design von strukturierten Finanzprodukten, Kredit- und Risikoanalysen, Marktrecherchen, Finanzsoftware und Training an dieselben Kunden. Das fördert die Insider-Beziehungen und die Verfilzung. Dazu kommt das "Shopping and Hopping": Wenn zum Beispiel Goldman Sachs bei der einen Agentur nicht schnell ein gutes Rating bekommt, geht die Bank eben zur nächsten, die sich darauf einlässt, weil sie im scharfen Konkurrenzkampf mit den anderen Agenturen jeden neuen Auftrag gern übernimmt und ihn im Interesse des Kunden so ausführt, dass der nicht zur übernächsten Agentur weiterläuft.

Des weiteren haben nicht nur die Eigentümer der Agenturen, sondern auch sie selbst, ihre juristischen Sitze in den wichtigsten Finanzoasen wie Delaware und Cayman Islands. Hier können wichtige Transaktionen versteckt werden. Transparenz und Amtshilfe für andere Staaten und für Kunden gibt es nicht. Zu den kriminogenen Bedingungen gehört auch die staatlich geförderte, vollständige Haftungsfreistellung. Schließlich trägt auch die staatliche Beauftragung in Verbindung mit der Nicht-Aufsicht ein kriminogenes Element in sich: Die Agenturen können sich ihre Bewertungskriterien selbst stricken. Ich nenne das wie andere Autoren auch "regulatory capture": staatliche Komplizenschaft; die Aufsicht deckt die Tätigkeit des Beaufsichtigten.

4)  Sie beschreiben in Ihrem Buch die "Debtocracy": Können Sie uns das kurz darlegen?

WR: Die Tätigkeit der Agenturen führt in Abstimmung mit den Finanzakteuren zu einer Situation, in der sich die Vorherrschaft der Finanzakteure über Staat und Wirtschaft am Ende zuspitzt, mit dem Ergebnis: Unter den einseitigen Verpflichtungen für die Rückzahlung der Schulden wird die Demokratie ausgehöhlt, weil die Zustimmung der Bevölkerungen und auch oft der gewählten Volksvertreter nicht zu bekommen ist. Deshalb haben beispielsweise die EU, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds in Griechenland und Italien ohne demokratische Wahlen Ministerpräsidenten eingesetzt und Regierungskoalitionen zusammengeschoben.

5) Ist eine Reform der Rating-Agenturen in Sicht?

WR: Nein. Es wird zwar in den USA seit dem von den Agenturen vor einem Jahrzehnt mitverursachten Bankrott des damaligen Starunternehmens Enron über Reformen nachgedacht. Aber dabei ist nichts herausgekommen außer dass die Börsenaufsicht SEC sechs zusätzlichen Agenturen eine Lizenz gegeben hat; das hat aber nichts verändert, die drei großen Agenturen haben ihren Anteil am Rating-Weltmarkt seit der letzten Finanzkrise 2007 sogar von 95 auf 97 Prozent gesteigert.

Auch in der EU laboriert seit einem Jahrzehnt an Reformen. Das europäische Parlament hat 2011 beschlossen, dass eine Europäische Agentur gegründet werden soll. Es soll aber eine Agentur sein, die von einer privaten Stiftung finanziert wird. Und das Parlament hat keine Vorgaben für andere Kriterien als die bisherigen gemacht.

6) Sind die chinesische Rating-Agentur Dagong und Wikirating Auswege aus dem Dilemma?

Wikirating ist kein Ausweg. Es ermöglicht zwar die Beteiligung von Bürgern, die ihre Bewertungen abgeben können. Aber auch Wikirating geht einseitig von den Interessen der Kreditgeber aus. Da ist die chinesische Agentur Dagong schon ein anderes Kaliber. Sie wurde 1994 auf Initiative der chinesischen Zentralbank gegründet. Der Chef Guan Jiazhong ist Kommunist und überzeugter Marktwirtschaftler. Er weist auf grundsätzliche Fehler der führenden westlichen Agenturen hin: Sie sind, wie auch das Beispiel des wichtigsten kapitalistischen Staates USA zeigt, gar nicht an der Rückzahlung der gegenwärtig 15 Billionen Altschulden interessiert; sie wollen im Interesse ihrer Eigentümer lediglich, dass die USA weitere Kredite aufnehmen und weiter Zinsen für die alten und auch die neuen Schulden zahlen. Deshalb besage ein gutes derartiges Rating gar nichts über die tatsächliche Rückzahlungsfähigkeit. Dagong orientiert sich dagegen, jedenfalls in der Theorie, an der gesamt­wirt­schaftlichen Entwicklung. Er rät den US-Akteuren:

"Sie sollten an die langfristigen Interessen ihres Landes denken. Es ist sehr teuer, Weltpolizist zu sein und gleichzeitig mehrere Kriege zu führen. Wenn diese hegemoniale Strategie verändert wird, werden sich auch die Ausgaben reduzieren. Am Ende wird das einfache Volk in Amerika den Nutzen davon haben. Wenn man ständig Geld borgen muss, um seine Hegemonie zu finanzieren, ist das langfristig nicht tragbar." 

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 Werner Rügemer