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Vorwort 

1937 von Leo Trotzki

 

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In der Periode des Aufstiegs mochte die Revolution rauh und grausam gewesen sein, aber sie war ehrlich; sie sagte offen, was sie dachte. Die Politik Stalins ist durch und durch verlogen. Darin äußert sich ihr reaktionärer Charakter. Die Reaktion ist überhaupt unehrlich, weil sie ihre wirklichen Ziele vor dem Volke verbergen muß. Die Reaktion auf dem Fundament der proletarischen Revolution ist eine doppelte Lüge. Man kann ohne jegliche Übertreibung behaupten, daß das thermidorianische Regime Stalins das verlogenste Regime der Weltgeschichte ist.

Es sind nun vierzehn Jahre, daß der Autor dieser Zeilen die Zielscheibe dieser thermidorianischen Lüge bildet. Bis zum Ende des Jahres 1933 hat mich die Moskauer Presse und folglich auch ihr Schatten, die Presse der Komintern, als englischen und amerikanischen Agenten geschildert und mich sogar nicht anders als »Mister Trotzki« tituliert. In der »Prawda« vom 8. März 1929 ist eine ganze Seite dem Nachweis gewidmet, daß ich ein Verbündeter des britischen Imperialismus sei (damals hieß er in Moskau noch nicht »englische Demokratie«), wobei meine völlige Solidarität mit Winston Churchill festgestellt wurde. Der Artikel schloß mit den Worten: »Es ist klar, wofür ihm die Bourgeoisie Zehntausende von Dollars zahlt!« Damals hat es sich um Dollars, nicht um Mark gehandelt.

Am 2. Juli 1931 erklärte mich die gleiche »Prawda« (mit Hilfe plump gefälschter Faksimile, die zu vergessen sie sich am nächsten Tage selbst beeilte) für einen Verbündeten von Pilsudski und einen Verteidiger des Versailler Gewaltfriedens. In jenen Tagen kämpfte Stalin nicht um die Erhaltung des Status quo, sondern um die »nationale Befreiung« Deutschlands. Im August 1931 enthüllte das »theoretische« Organ der französischen kommunistischen Partei, »Cahiers du Bolchevisme«, die rührende Einheitsfront zwischen Blum, Paul-Boncour und dem französischen Generalstab einerseits und Trotzki andererseits. Ich blieb somit fest an die Entente-Länder gefesselt!

Am 24. Juli 1933, das heißt, nachdem Hitlers Macht in Deutschland bereits gefestigt war, kam ich über Marseille nach Frankreich, dank dem Visum, das mir die Regierung Daladier gegeben hatte. Gemäß den retrospektiven »Enthüllungen« in den Moskauer Prozessen war ich in jenen Tagen bereits ein Agent Deutschlands und beschäftigte mich mit der Vorbereitung des Weltkrieges zu dem Zwecke, die UdSSR und Frankreich zu zerstückeln.

In dem Prozeß Radek-Pjatakow, im Januar 1937, wurde ausdrücklich »festgestellt«, daß ich mich gerade Ende Juli 1933 im Bois de Boulogne mit dem Korrespondenten der TASS, Wladimir Romm, traf, um durch dessen Vermittlung die russischen Trotzkisten in ein Bündnis mit Hitler und dem Mikado hineinzuziehen. Die »Humanite« ahnte dies nicht: Gerade am Tage meiner Ankunft in Frankreich veröffentlichte sie einen Artikel, der meinen geheimen Bund mit der Regierung Daladier bloßstellte. Indem sie die Intrigen der weißen Emigration decke und Trotzki einlade, schrieb das Stalin-Cachin-Thorez-Organ, »enthüllt die französische Bourgeoisie ihre wahre Politik in bezug auf die Sowjetunion: notgedrungene Verhandlungen, erzwungenes Lächeln, aber hinter den Kulissen — Hilfe und Unterstützung allen Saboteuren, Interventionisten, Konspiratoren, Verleumdern und Renegaten der Revolution ... Von Frankreich aus, diesem Herd des Antisowjetkampfes, kann er die USSR attackieren ... Strategischer Punkt! Deshalb trifft Herr Trotzki ein.« 

Alle späteren Formeln des Staatsanwalts Wyschinski sind darin enthalten: Konspiration, Sabotage, Vorbereitung von Interventionen. Aber es gibt einen Unterschied: Die verbrecherische Tätigkeit übte ich im Bunde mit der französischen Bourgeoisie aus, nicht mit dem deutschen Faschismus.

Vielleicht aber war die unglückselige »Humanite« einfach nicht au courant? Nein, das Pariser Organ Stalins hat die Ansichten seines Chefs richtig wiedergegeben. Das schwerfällige Denken der Moskauer Bürokratie wollte die alte Bahn nicht verlassen. Ein Bündnis mit Deutschland, unabhängig von seiner Staatsform, galt als Axiom der Außenpolitik der Sowjets. Im Gespräch mit dem deutschen Schriftsteller Emil Ludwig, am 13. Dezember 1931, hatte Stalin erklärt: »Wenn man schon von unseren Sympathien zu irgendeiner Nation sprechen soll, so muß man selbstverständlich von unseren Sympathien für die Deutschen sprechen ... Unsere freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland bleiben unverändert.« Stalin hatte sogar die Unvorsichtigkeit, hinzuzufügen: »Es gibt Politiker, die heute etwas versprechen oder verkünden und am nächsten Tage das, was sie verkündet haben, vergessen oder ableugnen und dabei nicht einmal erröten. So können wir nicht handeln.« *

* Diese Zitate sind dem offiziellen Werk entnommen: »Lenin und Stalin über die Sowjetkonstitution«, Seite 146 und 147

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Gewiß, das war in der Epoche der Weimarer Republik. Jedoch hat der Sieg des Faschismus den Moskauer Kurs nicht geändert. Stalin tat alles, um sich das Wohlwollen Hitlers zu verdienen. Am 4. März 1933 schrieb das Regierungsblatt »Iswestja«, die USSR sei der einzige Staat, der keine feindlichen Gefühle gegen Deutschland hege und »dies unabhängig von der Form und dem Charakter der deutschen Regierung«. Der Pariser »Temps« stellte seinerseits am 8. April 1933 fest: »Während Hitlers Machtergreifung die europäische öffentliche Meinung lebhaft beschäftigte und überall viel kommentiert wurde, bewahrten die Moskauer Zeitungen Schweigen.« Stalin wollte die Freundschaft des Siegers damit erkaufen, daß er der deutschen Arbeiterklasse den Rücken kehrte.

 

Das Gesamtbild ist somit klar. In jener Periode, als ich, nach der späteren, retrospektiven Version, mit der Organisierung der Zusammenarbeit mit Hitler beschäftigt war, schilderte mich die Moskauer Presse und die der Komintern als Agenten Frankreichs und des angelsächsischen Imperialismus. Dem deutsch-japanischen Lager wurde ich zugewiesen erst nachdem Hitler Stalins ausgestreckte Hand zurückgestoßen und diesen gezwungen hatte, entgegen seinen ursprünglichen Plänen und Kalkulationen Freundschaft bei den »westlichen Demokratien« zu suchen. Die Beschuldigungen gegen mich waren und bleiben nur negative Ergänzungen der diplomatischen Wendungen Moskaus. Änderungen meiner politischen Orientierung vollzogen sich stets ohne die geringste Beteiligung meinerseits. 

Es besteht jedoch zwischen den zwei direkt entgegengesetzten und gleichzeitig symmetrischen Versionen der Verleumdung ein ernster Unterschied. Die erste Version, die mich in einen Agenten der früheren Entente verwandelte, trug vorwiegend literarischen Charakter. Die Verleumder verleumdeten, die Zeitungen verbreiteten das Gift, Wyschinski aber trat nicht aus dem Schatten hervor. Gewiß, die GPU griff auch damals von Zeit zu Zeit zu Erschießungen einzelner Oppositioneller, die sie bald der Sabotage, bald der Spionage beschuldigte (zugunsten Englands oder Frankreichs!). 

Doch ging es damals noch um wenig bekannte Personen, die Abrechnung geschah hinter den Kulissen in Form bescheidener Proben. Stalin dressierte erst seine Untersuchungsrichter, Staatsanwälte und Henker. Es erforderte Zeit, die Bürokratie auf den Grad der Demoralisation und die radikale öffentliche Meinung Europas und Amerikas auf den Grad des Tiefstandes zu bringen, wo die grandiosen Prozeßfälschungen gegen Trotzkisten möglich wurden.

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Alle Etappen dieser Vorbereitungsarbeit lassen sich heute mit Dokumenten in der Hand verfolgen. Stalin war mehr als einmal auf inneren Widerstand gestoßen und hatte mehr als einmal den Rückzug angetreten, aber jedesmal nur, um seiner Arbeit systematischeren Charakter zu verleihen. Das politische Ziel bestand darin, für jeden Gegner der regierenden Clique eine automatische Guillotine zu schaffen: Wer nicht für Stalin ist, ist ein gemieteter Agent des Imperialismus. Diese grobe Schematisierung, gewürzt mit persönlicher Rachsucht, ist ganz im Geiste Stalins. Er hat offenbar keinen Augenblick daran gezweifelt, daß die »freiwilligen Geständnisse« seiner Opfer die gesamte Welt von der Echtheit der Anklagen überzeugen und damit ein für allemal das Problem der Unantastbarkeit des totalitären Regimes lösen würden. Es kam anders. 

Die Prozesse haben sich gegen Stalin gewandt. Die Ursache liegt nicht so sehr in der Plumpheit der Fälschung wie in der Tatsache, daß die Schraube der Bürokratie für die Entwicklung des Landes ganz unerträglich wurde. Unter dem Ansturm der wachsenden Widersprüche war Stalin gezwungen, den Radius der Fälschungen von Tag zu Tag zu erweitern. Der blutigen Säuberung ist kein Ende abzusehen. Die eigenen Reihen fressend, schreit die Bürokratie wie besessen nach Wachsamkeit. In ihrem Schreien kann man mitunter das Todesgeheul eines verwundeten Tieres hören.

Erinnern wir nochmals daran, daß an der Spitze der Liste der Verräter sämtliche Mitglieder des Politischen Büros aus der Epoche Lenins stehen — mit Ausnahme des einen Stalin —, darunter: der frühere Leiter der Landesverteidigung in der Epoche des Bürgerkrieges, zwei frühere Leiter der Kommunistischen Internationale, der frühere Vorsitzende des Sowjets der Volkskommissare, der frühere Vorsitzende des Sowjets für Arbeit und Verteidigung, das frühere Haupt der Gewerkschaften. Es folgt eine Reihe von Mitgliedern des Zentralkomitees und der Regierung. 

Der faktische Leiter der Industrie, Pjatakow, stand, wie sich zeigte, an der Spitze der Sabotage; der stellvertretende Volkskommissar für Transportwesen, Liwschitz, erwies sich als japanischer Agent und Organisator von Eisenbahnkatastrophen; der Hauptwächter der Staatssicherheit, Jagoda — als Gangster und Verräter; der stellvertretende Volkskommissar des Auswärtigen, Sokolnikow — als deutsch-japanischer Agent, desgleichen der Hauptpublizist des Regimes, Radek. 

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Mehr noch:  

Die gesamte Spitze der Roten Armee stand im Dienste des Feindes. Der Marschall Tuchatschewski, den man noch ganz vor kurzem, zum Studium der Kriegstechnik der befreundeten Länder, nach England und Frankreich entsandt hatte, verkaufte die ihm anvertrauten Geheimnisse an Hitler. Der politische Leiter der Armee, Gamarnik, Mitglied des ZK, erwies sich als Verräter. Die militärischen Repräsentanten Frankreichs, Großbritanniens und der Tschechoslowakei zollten noch vor kurzem Anerkennungstribute den ukrainischen Manövern, die General Jakir leitete. Es stellt sich heraus, Jakir bereitete die Eroberung der Ukraine durch Hitler vor. General Uborewitsch, der Wächter der Westgrenze, wollte Weißrußland dem Feinde ausliefern. Zwei frühere Chefs der Kriegsakademie, General Eidemann und General Kork, verdienstvolle Heeresführer im Bürgerkrieg, haben ihre Schüler nicht für den Sieg, sondern für die Niederlage der Sowjetunion erzogen. 

Des Verrats sind beschuldigt Dutzende weniger bekannte, aber sehr bedeutende Heeresführer. Alle diese Zerstörer, Saboteure, Spione, Gangster haben ihr Werk nicht ein, nicht zwei Tage verrichtet, sondern eine Reihe von Jahren. Wenn aber Jagoda, Pjatakow, Sokolnikow, Tuchatschewski und so weiter Spione waren, wozu taugen dann Stalin, Woroschilow und die anderen »Führer«? Welchen Wert besitzen die Aufrufe zur Wachsamkeit, die von einem Politbüro ausgehen, das selbst nur Blindheit und Dummheit offenbart hat?

Aus der letzten »Säuberung« ist das Regime derart schmachbeladen hervorgegangen, daß die Organe der Weltpresse sich ernsthaft mit dem Rätsel beschäftigten, ob Stalin nicht in Irrsinn verfallen ist?  

Eine zu einfache Lösung der Frage! Zuerst galt, daß Stalin Sieger geblieben sei infolge der exzeptionellen Eigenschaften seines Intellekts. Als aber die Reflexe der Bürokratie konvulsiven Charakter annahmen, begannen sich die gestrigen Verehrer des »Führers« zu fragen, ob er nicht verrückt geworden ist. Beide Beurteilungen sind falsch. Stalin ist nicht »genial«. Im wahren Sinne des Wortes ist er nicht einmal klug, wenn man unter Klugheit die Fähigkeit versteht, Ereignisse in ihren Zusammenhängen und in ihrer Entwicklung zu erfassen. Aber er ist auch kein Irrsinniger. 

Die Welle des Thermidors hat ihn nach oben gebracht. Er begann zu glauben, daß die Quelle seiner Macht in ihm selbst liegt. Die Kaste der Parvenüs jedoch, die ihn zum Genie proklamierte, hat sich in kurzer Zeit zersetzt und ist verfault. Das Land der Oktoberrevolution braucht ein anderes politisches Regime. Die Lage der regierenden Clique läßt keinen Raum mehr für eine vernünftige Politik. Der Irrsinn liegt nicht in Stalin, sondern in dem Regime, das sich erschöpft, hat. Diese Erklärung enthält aber nicht den Schatten einer moralischen Entschuldigung für Stalin. Er wird von der Bühne gehen als die befleckteste Gestalt der menschlichen Geschichte.

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Dieses Buch wurde mit mehreren Unterbrechungen und in verschiedenen Situationen geschrieben. Ursprünglich sollte es eine Antwort auf den Prozeß Sinowjew-Kamenjew (August 1936) sein. Aber die Arbeit wurde schon bei Beginn durch die Internierung des Autors in Norwegen unterbrochen. Zur Arbeit zurückzukehren war erst möglich auf dem Tankschiff, das den Atlantischen Ozean durchquerte. Aber bevor ich im gastfreundlichen Mexiko Zeit gefunden hatte, meine Manuskripte zu ordnen, entlud sich der Prozeß Pjatakow-Radek, der eine selbständige Analyse erforderlich machte. Gleichzeitig mit der literarischen Kritik der Moskauer Fälschungen mußte ich mich mit der Vorbereitung von Material für die juristische Untersuchung beschäftigen, die das New-Yorker »Komitee zur Verteidigung Trotzkis« organisiert hat. 

Ein größerer Teil meines Buches verwandelte sich in eine Rede vor der Untersuchungskommission, die im April dieses Jahres aus New York nach Mexiko gekommen war, um meine Erklärungen zu hören. Und endlich, als ich dabei war, den letzten Teil des Manuskriptes abzuliefern, meldeten Telegramme aus Moskau die Verhaftung und Erschießung der acht hervorragendsten Generale der Roten Armee. Der Aufbau des Buches gibt somit die Ereignisse wieder. 

Ich will noch hinzufügen: Während diese Seiten geschrieben wurden, war ich sehr oft gezwungen, mir Rechenschaft darüber abzulegen, wie dürftig die Skala unserer Gefühle und wie arm unser Wortschatz ist im Vergleich zu der Größe jener Verbrechen, die heute in Moskau begangen werden!

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Mexiko, den 5. Juli 1937, Leo Trotzki  

 

 

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