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2.   Der Moskauer Prozeß  

 

 

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Nach einer halbstündigen Pause will der Advokat W. dem Zeugen eine Frage stellen, die sich auf den Moskauer <Prozeß der 16> bezieht, und legt dem Gericht den offiziellen Prozeßbericht in deutscher Sprache vor. Der Staatsanwalt protestiert mit der Begründung, diese Frage gehöre nicht zur Sache, um so weniger, als der Überfall der Faschisten auf die Wohnung Trotzkis noch vor den ersten Nachrichten über den bevorstehenden Prozeß verübt worden sei. Der Vorsitzende ist geneigt, die Meinung des Staatsanwalts zu teilen.

»Ich ersuche das Gericht dringend, dem Herrn Advokaten restlos die Möglichkeit zu geben, mir alle Fragen zu stellen, die er als notwendig erachtet, besonders hinsichtlich des Moskauer Prozesses. Es stimmt, daß er sich nach dem Überfall auf meine Wohnung abgespielt hat; doch ist es möglich, daß der Überfall eine Episode darstellte in der Vorbereitung des Prozesses der 16, wie der Raub meiner Papiere in Paris zweifellos zur Vorbereitung neuer Prozesse (Radeks, Pjatakows, der Deutschen und anderer) gehört. Darüber hinaus ist die politische und moralische Persönlichkeit des Zeugen für das Gericht nicht ohne Belang.«

Der Vorsitzende: »Wenn der Zeuge selbst bereit ist, auf die Frage zu antworten, hat das Gericht nichts dagegen.« 
Der Advokat W.: »Was kann der Zeuge über die Quellen dieses Prozesses sagen?«

»Die Frage ist zu nebelhaft gestellt. Wir befinden uns vor Gericht. Der Advokat ist Jurist. Es handelt sich nicht um <Quellen>. Die Frage muß präzis formuliert werden: Sind die Beschuldigungen richtig, die gegen mich im Moskauer Prozeß erhoben wurden? Auf diese Frage antwortete ich: Nein, sie sind falsch. Es ist an ihnen kein Wort wahr! Es handelt sich dabei nicht um einen gerichtlichen Irrtum, sondern um eine böswillige Fälschung. 

* Quisling ist ein »Führer« der norwegischen Faschisten.

Die GPU hat diesen Prozeß mindestens seit zehn Jahren vorbereitet und ihre Arbeit lange vor der Ermordung Kirows (1. Dezember 1934) begonnen, die nur eine einfache <Havarie> bei der Vorbereitung des Prozesses war. Zu der Ermordung Kirows habe ich ebensoviel Beziehung wie jeder in diesem Saale. Nicht mehr, meine Herren Richter und Geschworenen! Der verantwortliche Organisator der Moskauer Prozeß-Fälschung, dieses größten politischen Verbrechens unserer Zeit und vielleicht aller Zeiten, ist Stalin. (Im Saale herrscht konzentrierte Aufmerksamkeit.) 

Ich bin mir wohl bewußt des Gewichtes meiner Erklärung und der Verantwortung, die ich auf mich nehme. Ich wäge jedes Wort ab, meine Herren Richter! ... In der Presse kann man auf Schritt und Tritt Versuche finden, das gesamte Problem auf die persönliche Feindschaft zwischen Stalin und Trotzki zurückzuführen: >Kampf um die Macht<, >Rivalität< usw. Eine solche Erklärung ist als oberflächlich, dumm und geradezu absurd zurückzuweisen. Viele Zehntausende sogenannter >Trotzkisten< wurden in den letzten dreizehn Jahren in der USSR grausam verfolgt, den Familien, den Freunden, der Arbeit entrissen, des Feuers und des Wassers und — nicht selten — des Lebens beraubt, und das alles wirklich wegen des persönlichen Kampfes zwischen Trotzki und Stalin? 

Das den Herrn Advokaten so aufregende Buch <La revolution trahie> ist bis auf die letzte Silbe vor dem Moskauer Prozeß geschrieben worden, enthält jedoch, nach dem Urteil der Presse, die historische und politische Erklärung seiner wirklichen Ursachen. Hier bin ich gezwungen, sehr zusammengedrängt davon zu sprechen. Ich bin mir der Schwierigkeiten vollkommen klar, die der Moskauer Prozeß einem Ausländer, besonders einem Juristen, bereitet. Den offiziellen Beschuldigungen zu glauben, das heißt, daß die alte Garde des Bolschewismus sich in Faschisten verwandelt hat, ist völlig unmöglich. Der gesamte Verlauf des Prozesses ähnelt einem Alpdruck.

Andererseits ist es unverständlich, wozu die Sowjetregierung diese ganze Phantasmagorie notwendig gehabt und mit welchen Mitteln sie von den Angeklagten die falschen Selbstbeschuldigungen erlangt hat.

Erlauben Sie mir zu sagen, daß an den Moskauer Prozeß mit den üblichen Kriterien des >gesunden Menschenverstandes« heranzugehen unmöglich ist. Der gesunde Menschenverstand stützt sich auf eine gewöhnliche, alltägliche Erfahrung unter friedlichen, normalen Verhältnissen. 

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Indes hat Rußland die in der Geschichte größte soziale Umwälzung durchgemacht. Ein neues inneres Gleichgewicht ist bei weitem noch nicht erreicht. Die gesellschaftlichen Beziehungen wie die Ideen befinden sich noch im Zustande scharfer Gärung. Vor allem muß man den grundlegenden Gegensatz begreifen, der jetzt das gesellschaftliche Leben der Sowjetunion zerreißt. 

Das Ziel der Revolution bestand darin, eine Gesellschaft ohne Klassen zu errichten, das heißt ohne Privilegierte und ohne Übervorteilte. Eine solche Gesellschaft bedarf keiner staatlichen Gewalt. Die Gründer des Regimes hatten vorausgesetzt, daß alle gesellschaftlichen Funktionen vermittels der Selbstverwaltung der Bürger ausgeführt werden sollen, ohne professionelle Bürokratie, die sich über die Gesellschaft erhebt. 

Kraft besonderer historischer Ursachen, von denen ich hier nicht sprechen kann, steht der heutige reale Aufbau der Sowjet-Gesellschaft in schreiendem Widerspruch zu diesem Ideal. Über das Volk hat sich eine selbstherrliche Bürokratie erhoben. In ihren Händen liegen die Macht und die Verfügung über den Reichtum des Landes. Sie bedient sich unvorstellbarer Privilegien, die von Jahr zu Jahr wachsen. Die Lage der regierenden Kaste ist falsch von Grund auf: sie ist gezwungen, ihre Privilegien zu verheimlichen, vor dem Volke zu lügen, mit kommunistischen Formeln Beziehungen und Handlungen zu verschleiern, die mit Kommunismus nichts gemein haben. 

Der bürokratische Apparat erlaubt niemand, die Dinge beim Namen zu nennen. Im Gegenteil, er verlangt von allen und von jedem einzelnen den Gebrauch der vereinbarten kommunistischem Sprache, die dazu dient, die Wahrheit zu verhüllen. Die Traditionen der Partei, ihre grundlegenden Dokumente stehen in schreiendem Widerspruch zu der Wirklichkeit. Die regierende Oligarchie verpflichtet deshalb Historiker, Ökonomen, Soziologen, Professoren, Lehrer, Agitatoren, Richter usw., Dokumente und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart so zu deuten, daß sie sich mindestens in äußerlicher Übereinstimmung miteinander befinden. Die Zwangslüge durchdringt die gesamte offizielle Ideologie. Menschen denken das eine und sprechen und schreiben ein anderes. Da die Kluft zwischen Wort und Tat immer mehr wächst, müssen die heiligsten Formeln fast jedes Jahr revidiert werden. 

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Wenn Sie verschiedene Ausgaben ein und desselben Buches in die Hand nehmen, sagen wir die Enzyklopädie, so werden Sie finden, daß über die gleichen Personen und Ereignisse in jeder neuen Ausgabe ganz verschiedene Urteile stehen, entweder immer lobendere oder umgekehrt, immer mehr diffamierende. Unter der Knute der Bürokratie verrichten Tausende von Menschen eine systematische Arbeit >wissenschaftlicher< Fälschung. 

Jeder Versuch einer Kritik oder eines Widerspruches, ja der geringste Ton des Widerspruches, wird als das schwerste Verbrechen betrachtet. Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß die Bürokratie die politische Atmosphäre der USSR durch und durch mit dem Geiste der Inquisition erfüllt hat. Lüge, Verleumdung und Fälschung sind somit kein zufälliges Kampfmittel gegen politische Gegner, sondern sie ergeben sich organisch aus der falschen Lage der Bürokratie in der Sowjetgesellschaft. Die Presse der Komintern, die Sie kennen, stellt in dieser Beziehung nur den Schatten der Sowjetpresse dar. Die reale Wirklichkeit jedoch läßt sich bei jedem Schritt fühlen, sie kompromittiert die offizielle Lüge und rehabilitiert im Gegensatz dazu die Kritik der Opposition. 

Daher die Notwendigkeit, zu immer schärferen Mitteln zu greifen, um die Unfehlbarkeit der Bürokratie zu beweisen. Anfangs hat man die Oppositionellen aus der Partei ausgeschlossen und aus den verantwortlichen Ämtern entfernt, später verbannte man sie und nahm ihnen das Recht auf jegliche Arbeit. Man verbreitete über sie immer giftigere Verleumdungen. Jedoch wurde die Welt der Verleumdungen überdrüssig, man glaubte ihnen längst nicht mehr. Es wurden sensationelle Prozesse notwendig. Die Oppositionellen zu beschuldigen, sie übten Kritik an der Selbstherrlichkeit der Bürokratie, hätte bedeutet, den Oppositionellen Hilfe zu leisten. Es blieb nichts anderes übrig, als ihnen Verbrechen anzuhängen, die sich nicht gegen die Privilegien der neuen Aristokratie, sondern gegen die Interessen des Volkes richten. An jeder neuen Etappe nahmen diese Beschuldigungen immer ungeheuerlicheren Charakter an. So sieht die gesamtpolitische Situation und die gesellschaftliche Psychologie aus, die die Moskauer Gerichts-Phantasmagorie möglich gemacht hat. Im Sinowjew-Prozeß erreichte die Bürokratie den höchsten, nein, entschuldigen Sie, den tiefsten Punkt...

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Wenn der Prozeß, allgemein gesagt, seit langem vorbereitet war, so läßt vieles glauben, daß er um Wochen, wenn nicht um Monate vor dem von den Regisseuren geplanten Termin in Szene gesetzt wurde. Der Eindruck, den der Überfall dieser Herren (eine Geste in die Richtung zu den Angeklagten) gemacht hat, widersprach zu sehr den Absichten Moskaus. Die Presse der ganzen Welt sprach nicht ohne Grund von der Verbindung der norwegischen Nazis mit der Gestapo. Nun stand eine Gerichtsverhandlung bevor, in der die Beziehungen zwischen mir und den Faschisten klar aufgedeckt werden sollten. Man mußte um jeden Preis den Eindruck des mißlungenen Unternehmens verwischen. Offenbar verlangte Stalin von der GPU die Beschleunigung des Moskauer Prozesses. 

Wie aus den offiziellen Angaben ersichtlich ist, wurden die wichtigsten >Geständnisse< erst kurz vor dem Prozeß, zwischen dem 7. und dem 14. August, den Angeklagten erpreßt. Bei dieser Eile war es schwer, für die Übereinstimmung der Aussagen mit den Tatsachen zu sorgen. Außerdem verließen sich die Regisseure zu sehr darauf, daß die Reuebekenntnisse der Angeklagten selbst die Lücken der Anklage mehr als notwendig zudecken würden. In der Tat, wenn alle 16 Angeklagten in der einen oder anderen Weise ihre Beteiligung an der Ermordung Kirows oder an der Vorbereitung anderer Morde gestehen werden, einige außerdem ihre Verbindung mit der Gestapo, was hat es der Staatsanwalt dann noch nötig, sich mit Beweisen oder auch nur mit der Beseitigung faktischer Widersprüche, grober Anachronismen und anderer Sinnlosigkeiten zu belasten? 

Die Unkontrollierbarkeit schläfert die Aufmerksamkeit ein, Unverantwortlichkeit erzeugt Sorglosigkeit. Der Staatsanwalt Wyschinski ist nicht nur gewissenlos, sondern auch talentlos. Beweise ersetzt er durch Beschimpfung. Sein Anklageakt wie seine Rede bilden eine Anhäufung von Widersprüchen. Es ist mir selbstverständlich nicht möglich, sie hier zu analysieren oder auch nur aufzuzählen. Mein ältester Sohn, Leo Sedow, den die Moskauer Borgias in die Sache verwickelt hatten, um durch ihn mich zu treffen (sie glaubten offenbar, daß es meinem Sohne in vielen Fällen schwieriger sein würde als mir, sein Alibi nachzuweisen), hat vor kurzem in Paris ein >Rotbuch< herausgegeben, das dem Moskauer Prozeß gewidmet ist. Auf iso Seiten wird die völlige Haltlosigkeit der Anklage von der faktischen, psychologischen und der politischen Seite nachgewiesen. Indes hat mein Sohn nicht den zehnten Teil der Beweise auszunutzen vermocht, die mir zur Verfügung stehen (Briefe, Dokumente, Zeugenaussagen, persönliche Erinnerungen). Vor jedem öffentlichen Gericht würden die Moskauer Ankläger als Fälscher entlarvt werden können, die vor keinem Verbrechen haltmachen, wenn es sich darum handelt, die Interessen der neuen Kaste der Privilegierten zu verteidigen.

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Es haben sich in Westeuropa Juristen gefunden (ich nenne den Engländer Pritt und den Franzosen Rosenmark), die, gestützt auf das >volle< Geständnis der Angeklagten, der Justiz der GPU ein Zeugnis ihrer Untadeligkeit ausstellten. Diese Advokaten Stalins werden noch Gelegenheit haben, ihren übereilten Eifer zu bedauern, denn die Wahrheit wird sich trotz allen Hindernissen nicht nur den Weg bahnen, sondern auf diesem Wege nicht wenige Reputationen zertrümmern ... Die Herren Pritt täuschen die öffentliche Meinung, indem sie die Sache so darstellen, als hätten die 16, als verbrecherische Komplizen angeklagt, schließlich und endlich die begangenen Verbrechen eingestanden, und ihre Geständnisse hätten, trotz fehlenden Beweisen, in ihrer Gesamtheit ein überzeugendes Bild von der Vorbereitung der Ermordung Kirows und anderer Attentate ergeben. 

In Wirklichkeit waren die einzelnen Angeklagten und die Angeklagten-Gruppen aus der Zahl der 16 in der Vergangenheit weder durch die Sache Kirow noch durch irgendeine andere >Sache< miteinander verbunden. Aus den offiziellen Dokumenten ist bekannt, daß unter der Anklage, Kirow ermordet zu haben, ursprünglich 104 namenlose >Weißgardisten< (unter ihnen nicht wenige Oppositionelle) und später 14 tatsächliche oder angebliche Mitglieder der Gruppe Nikolajew, des faktischen Mörders Kirows, erschossen wurden. Trotz den <aufrichtigen> Geständnissen der 14 hatte keiner von ihnen die Namen der späteren Angeklagten im Prozeß der 16 genannt. 

Der Prozeß Sinowjew-Kamenjew ist ein selbständiges Unternehmen Stalins, das ohne jegliche Verbindung mit den vorangegangenen >Kirow<-Prozessen aufgebaut war. Die in einigen Etappen erreichten >Geständnisse< der 16 geben absolut kein Bild von irgendeiner terroristischen Tätigkeit. Im Gegenteil, unter Leitung des Anklägers umgehen die Angeklagten sorgfältigst alle konkreten Zeit- und Ortumstände ... Mir wurde hier der offizielle Prozeßbericht vorgehalten. Dies Buch aber ist der schrecklichste Beweis gegen die Organisatoren der Prozeß-Fälschung! Die Angeklagten schreien auf jeder Seite hysterisch von ihren Verbrechen, sind aber absolut unfähig, irgend etwas über sie auszusagen. Sie haben nichts auszusagen! Sie haben keine Verbrechen begangen. Ihre >Reuebekenntnisse< sollen der regierenden Spitze nur helfen, mit allen ihren Feinden abzurechnen, darunter auch mit mir, dem >Feind Nr. i<...

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Welchen Sinn aber hat es für die Angeklagten, nicht begangene Verbrechen auf sich zu nehmen und dadurch dem eigenen Untergang entgegenzugehen? erwidern die Anwälte der GPU. 

Eine ihrem Wesen nach unehrliche Erwiderung! Haben die Angeklagten aus freien Stücken, aus eigenem Willen ihre Geständnisse abgelegt? Nein, sie wurden allmählich, während einer Reihe von Jahren, unter Druck gesetzt, der Druck immer verstärkt, bis man den unglücklichen, zerdrückten Menschen keine andere Hoffnung auf Rettung gelassen hatte als den völligen bedingungslosen Gehorsam, die endgültige Preisgabe vor den Quälern, die hysterische Bereitschaft, alle Worte nachzusagen, alle Gesten nachzumachen, die ihnen vom Henker diktiert wurden. Die Standhaftigkeit des menschlichen Nervensystems ist beschränkt!

Um die Angeklagten in den Zustand zu versetzen, wo sie nur durch besessene Verleumdungen gegen sich selbst hoffen konnten, der unerträglichen Schraube zu entkommen, brauchte die GPU nicht einmal physische Folter oder spezifische Medikamente anzuwenden: es genügten jene moralischen Schläge, Qualen und Erniedrigungen, denen "die wesentlichsten Angeklagten und deren Familien im Laufe von zehn und einige sogar von dreizehn Jahren unterworfen gewesen waren. Die ihrem Inhalt und ihrer Form nach schauerlichen >Geständnisse< können nur dann eine Erklärung finden, wenn man keinen Moment vergißt, daß diese selben Angeklagten bereits mehrfach Reueerklärungen abgegeben und während der vorangegangenen Jahre offenherzige Geständnisse abgelegt hatten: vor den Kontrollkommissionen der Partei, in öffentlichen Versammlungen, in der Presse, wieder vor den Kontrollkommissionen und endlich auf der Anklagebank. 

Während der früheren Reueerklärungen hatten diese Personen immer das zugegeben, was man von ihnen verlangte. Anfänglich ging es um Programm-Fragen. Die Opposition hatte lange für die Industrialisierung und Kollektivisierung gekämpft. Nach langem Widerstand gezwungen, den von der Opposition bezeichneten Weg zu beschreiten, beschuldigte die Bürokratie die Opposition, sie habe sich der Industrialisierung und Kollektivisierung widersetzt. In dieser Mechanik liegt das Wesen des Stalinismus! 

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Von den Oppositionellen, die in die Partei zurückkehren wollten, verlangte man seitdem das Eingeständnis des >Irrtums<, der in Wahrheit ein Irrtum der Bürokratie war. Daß ein solcher Jesuitismus möglich ist, läßt sich damit erklären, daß die Ansichten der Opposition nur einigen Zehn- oder Hunderttausenden Menschen bekannt waren, hauptsächlich der Oberschicht, aber nicht den Volksmassen, da die Bürokratie mit eiserner Hand die Verbreitung der oppositionellen Literatur verhinderte. 

Zwischen den reumütigen Oppositionellen und den Beamten der Kontrollkommissionen, die im wesentlichen Organe der GPU sind, ging hinter den Kulissen jedesmal ein langer und aufreibender Handel: welcher >Irrtum< zu gestehen sei und in welcher Form. Den Sieg trugen selbstverständlich die Jesuiten der Kontrollkommissionen davon. Auf den Höhen der Partei wußte man sehr gut, daß die Reueerklärungen nicht den geringsten moralischen Wert besaßen und daß deren einzige Aufgabe darin bestand, das Dogma von der Unfehlbarkeit der Führer in den Massen zu festigen. Auf jeder neuen Etappe des Kampfes um die Selbstherrlichkeit verlangte die Bürokratie von der gleichen Person, die längst kapituliert, das heißt auf jede Kritik verzichtet hatte, immer neue, immer schärfere und erniedrigendere Geständnisse. 

Beim ersten Widerstand des Opfers antwortete der Inquisitor: >Also sind Ihre vorangegangenen Reuebekenntnisse unaufrichtig gewesen? Also wollen Sie der Partei in ihrem Kampfe gegen die Feinde nicht helfen? Also Sie stellen sich wieder auf die andere Seite der Barrikade!< 

Was blieb den Kapitulanten, das heißt den Oppositionellen, die sich selbst verleumdet hatten, noch zu tun übrig? Standhaft bleiben? Zu spät! Sie saßen schon fest in den Netzen des Feindes. Auf den Weg der Opposition gab es keine Rückkehr. Die Opposition hätte ihnen nicht getraut. Sie hatten auch keinen politischen Willen mehr. Durch die vorangegangenen Reuebekenntnisse zur Erde niedergedrückt, unter ständiger Angst vor neuen Schlägen, nicht nur gegen sie, sondern auch gegen ihre Familienmitglieder, gingen sie auf jeder neuen Etappe in die Knie vor jedem neuen Akt der Polizeierpressung und stürzten so immer tiefer. Im ersten Sinowjew-Kamenjew-Prozeß, im Januar 1935, erklärten sich die Angeklagten nach schweren moralischen Mißhandlungen bereit, zuzugeben, daß auf sie, als die früheren Oppositionellen, die moralische Verantwortung für die terroristischen Handlungen falle. Dieses Zugeständnis büdete für die GPU sofort den Ausgangspunkt für weitere Erpressungen.

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Die offizielle Presse hatte schon damals — auf das Signal von Stalin — Todesurteile gefordert. Vor dem Gerichtsgebäude veranstaltete die GPU Demonstrationen mit Gebrüll: >Tod den MördernU So wurden die Verurteilten für neue Geständnisse vorbereitet. Kamenjew hatte länger Widerstand geleistet als Sinowjew. Für ihn wurde am 37. Juli 1935 ein neuer Prozeß hinter geschlossenen Türen arrangiert, um ihm zu zeigen, daß für ihn die einzige Hoffnung oder auch nur der Schatten einer Hoffnung auf Rettung in der völligen Bereitschaft bestehe, alles zuzugeben, was die GPU brauchte. Ohne Verbindung mit der Außenwelt, ohne innere Sicherheit, ohne Schutz, ohne Perspektiven, ohne Lichtblick, ließ sich Kamenjew endgültig brechen. 

Jene Angeklagten, die noch unter den unmenschlichen Folterungen Widerstand leisteten, erschoß die GPU einen nach dem anderen, ohne Gericht, ganz im stillen. Auf diese Weise vollzog Stalin die >Auslese< unter den Angeklagten, auf diese Weise >erzog< er sie für den letzten Moskauer Prozeß. So sieht die Realität aus, meine Herren Richter und Geschworenen! Alles andere ist Mystifikation und Lüge ... Wozu das alles, werden Sie fragen? Um jede Opposition, jede Kritik zu erdrosseln, um alle, die sich der Bürokratie widersetzen oder sich auch nur weigern, >Hosianna< zu rufen, zu demoralisieren und zu bespeien. Aber letzten Endes ist diese teuflische Arbeit gegen mich persönlich gerichtet. 

Ich muß hier eine kleine Abschweifung machen. 

Im Jahre 1928, nach den ersten größeren Verhaftungen in der Partei, durfte die Bürokratie an die physische Erledigung von Führern der Opposition noch nicht denken. Andererseits konnte sie auf eine Kapitulation meinerseits nicht hoffen. Ich fuhr fort, von der Verbannung aus den Kampf zu leiten. Die regierende Clique kam schließlich zu keinem anderen Beschluß, als mich ins Ausland auszuweisen. In der Sitzung des Politbüros (der Bericht über diese Sitzung wurde mir damals von Freunden zugestellt und damals gleich veröffentlicht) sagte Stalin: >Im Auslande wird Trotzki isoliert sein; er wird gezwungen sein, an der bürgerlichen Presse mitzuarbeiten, wir werden ihn kompromittieren; die Sozialdemokratie wird für ihn eintreten — wir werden ihn in den Augen des Weltproletariats entthronen; Trotzki wird mit Enthüllungen hervortreten — wir werden ihn als Verräter darstellen^ 

Diese schlaue Kalkulation hatte sich jedoch als kurzsichtig erwiesen. Stalin hat die Macht und die Bedeutung der Idee nicht berechnet.

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Ich habe im Auslande eine Reihe Bücher geschrieben, an denen die Jugend erzogen wird. In allen Ländern haben sich meine Gesinnungsgenossen zu Gruppen zusammengeschlossen, es ist eine periodische Presse auf der Grundlage des von mir verteidigten Programms entstanden. Kürzlich fand eine internationale Konferenz der unter dem Banner der IV. Internationale stehenden Organisationen statt. Trotz den Schlägen des Feindes wächst die Bewegung ununterbrochen. Dagegen herrscht im Inneren der Komintern Unsicherheit und Zerfall. Indes ohne internationale Autorität könnte Stalin das Kommando über die Bürokratie und durch sie über das Volk nicht in seinen Händen festhalten. 

Das Wachsen der IV. Internationale bildet für ihn eine schreckliche Gefahr, um so mehr als ihr Widerhall immer stärker in die Sowjetunion eindringt. Schließlich fürchtet die regierende Clique tödlich die nicht erloschenen Traditionen der Oktober-Revolution, die sich unvermeidlich gegen die neue privilegierte Kaste richten. All das erklärt zur Genüge, weshalb Stalin und seine Gruppe nicht für einen Moment den Kampf gegen mich persönlich aufgeben. Von jedem, der in diesen dreizehn Jahren >Reuebekenntnisse< abgelegt hatte, wurde unbedingt irgendeine Erklärung gegen Trotzki gefordert. Solcher Erklärungen, individueller und kollektiver Art, kann man nach vielen Zehntausenden zählen. 

Ohne Trotzki zu verurteilen, ohne eine direkte Verleumdung gegen Trotzki konnte ein früherer Oppositioneller nicht nur nicht an die Wiederaufnahme in die Partei denken, sondern auch nicht an ein Stück Brot. Wobei die Reuebekenntnisse von Jahr zu Jahr immer demütiger wurden und die Verleumdung gegen Trotzki immer verlogener und plumper. An dieser Arbeit wurden sowohl die späteren Angeklagten wie auch Untersuchungsrichter und Richter erzogen. Denn auch sie erreichten das heutige Stadium der Demoralisation erst nach einer Reihe von Übergangsstufen. Der verantwortliche Organisator dieser Demoralisation — ich bedauere wiederum, dies bei geschlossenen Türen sagen zu müssen — ist Stalin! Der letzte Prozeß ist nicht vom Himmel gefallen, nein! Er stellte das Resume einer langen Reihe von falschen Reuebekenntnissen dar, deren Spitze gegen mich gerichtet war. Als Stalin erkannte, daß er sich mit meiner Ausweisung verrechnet hatte, versuchte er seinen Irrtum nach der ihm eigenen Methode zu >korrigieren<. 

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Der Prozeßbetrug, der die Öffentlichkeit so überrascht hat, war in Wirklichkeit ein unvermeidliches Glied einer langen Kette. Er war vorausgesehen und öffentlich vorausgesagt. Zum Ausgangspunkt des letzten Prozesses wurde die Beschuldigung der Organisierung terroristischer Akte gemacht. Was mich betrifft, so würde ich vor der Propagierung des individuellen Terrors und seiner Anwendung nicht zurückschrecken, wenn ich glauben könnte, daß diese Methode fähig ist, die Sache der Befreiung der Menschheit vorwärtszubringen. Ich wurde von meinen Feinden mehr als einmal wegen Gedanken angeklagt und verfolgt, die ich ausgesprochen hatte: der letzte Ankläger in dieser Reihe ist die norwegische Regierung. Doch hat mich noch niemand der Verheimlichung meiner Gedanken beschuldigt. 

Wenn ich den individuellen Terror stets ablehnte, nicht erst seit gestern, sondern seit den ersten Tagen meiner revolutionären Tätigkeit, so deshalb, weil ich diese Kampfmethode nicht nur nicht für wirksam, sondern für verderblich für die Arbeiterbewegung halte. 

In Rußland hat es zwei weltberühmte terroristische Parteien gegeben: Die Narodnaja Wolja (>Volkswille<) und die Sozialrevolutionäre. 

Wir russischen Marxisten haben uns als eine Partei der Massen in unversöhnlichem Kampfe gegen den individuellen Terrorismus herausgebildet. Unser Hauptargument war, daß diese Methode eine revolutionäre Partei viel mehr desorganisiert als den Staatsapparat. Nicht umsonst befindet sich die heutige bonapartistische Bürokratie der USSR so gierig auf der Suche nach Terrorakten und erfindet sie sogar, um sie dann ihren politischen Gegnern zuzuschieben. Die Ermordung Kirows hat nicht für einen Moment die Selbstherrlichkeit der Bürokratie erschüttert, im Gegenteil, sie hat ihr die gewünschte Möglichkeit geboten, Hunderte unbequemer Menschen auszurotten, die politischen Gegner mit Schmutz zu bewerfen und das Bewußtsein der Werktätigen zu verwirren. Die Resultate des Abenteuers von Nikolajew — konnte es auch anders sein? — haben die alte marxistische Einschätzung des Terrorismus völlig bestätigt, der ich vier Jahrzehnte lang treu geblieben war und die ich am allerwenigsten jetzt zu ändern beabsichtige...

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Wenn terroristische Tendenzen in vereinzelten Gruppen der Sowjetjugend aufflackern, so nicht infolge der politischen Tätigkeit der Opposition, sondern infolge ihrer Zertrümmerung, der Erdrosselung jeglichen Protestes und jeglichen Gedankens, infolge der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung. Die GPU stürzt sich gierig auf jeden Schein terroristischer Stimmungen, kultiviert sie und schafft sofort eine Art illegaler Organisation, in der Agents-Provokateure den unglücklichen Terroristen von allen Seiten einkreisen. 

So war es auch mit Nikolajew. Sogar aus den offiziellen Angaben, wenn man sie aufmerksam gegenüberstellt, ergibt sich mit Sicherheit, daß Jagoda, Stalin und sogar Kirow selbst über den in Leningrad geplanten terroristischen Akt wohl informiert waren. Die Aufgabe der GPU bestand darin, in das Vorhaben Führer der Opposition zu verwickeln, am Vorabend des Attentates die Verschwörung aufzudecken und politische Früchte zu ernten. War Nikolajew selbst ein Agent der GPU? Hatte er gleichzeitig ein Spiel auf zwei Fronten gespielt? Das weiß ich nicht. Jedenfalls gab er den Schuß ab, ohne zu warten, bis Stalin und Jagoda Zeit fanden, ihre politischen Gegner hineinzuziehen. Auf Grund allein nur der offiziellen Publikationen habe ich Anfang 1935 in einer Sonderbroschüre (>Die Ermordung Kirows und die Sowjetbürokratie<) die Provokationsarbeit der GPU bei der Ermordung Kirows aufgedeckt. Ich schrieb damals, daß der Mißerfolg dieses mit dem Leben Kirows bezahlten Versuchs Stalin nicht abhalten, sondern zwingen werde, ein neues, grandioses Amalgam vorzubereiten. Um dies vorauszusehen, war wahrlich keine Prophetengabe nötig: es genügte, die Situation, die Tatsachen und die Menschen zu kennen...

Aus der Ermordung Kirows konnte die GPU, wie ich bereits gesagt habe, unmittelbar nur einen Gewinn buchen: das Geständnis sämtlicher Angeklagten — vor dem Revolverlauf — ihrer >moralischen< Verantwortung für Nikolajews Tat. Auf mehr waren weder die Angeklagten, noch die öffentliche M*einung, noch die Richter selbst vorbereitet. Aber verschoben ist nicht aufgehoben. Stalin war fest entschlossen, Kirows Leiche in ein sicheres Kapital zu verwandeln. Die GPU zieht periodisch diese Leiche für neue Anklagen, neue Geständnisse und neue Erschießungen hervor. Nach weiterer eineinhalbjähriger psychologischer >Vorbereitung<, während der alle wichtigsten Angeklagten im Gefängnis saßen, stellte ihnen die GPU ein Ultimatum: der Regierung zu helfen, Trotzki in eine terroristische Anklage zu verwickeln. So und nur so wurde die Frage während der Untersuchung, die dem Prozeß der 16 voranging, behandelt. >Ihr seid uns nicht mehr gefährliche so ungefähr spra-

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chen Stalins Agenten zu Sinowjew, Kamenjew und den anderen Gefangenen, >das wißt ihr selbst. Trotzki aber hat sich nicht ergeben. Er führt gegen uns einen Kampf in internationalem Maßstabe. Indes, der Krieg kommt immer näher (Bonapartisten spielen immer auf den Saiten des Patriotismus). Wir müssen mit Trotzki um jeden Preis fertig werden, und zwar so schnell wie möglich. Er muß kompromittiert werden. Man muß ihn mit Terror, mit der Gestapo in Beziehung bringen ...<, >Aber das wird ja niemand glauben?< dürften die ewigen Angeklagten geantwortet haben, wir werden uns nur selbst kompromittieren, aber nicht Trotzki.< Auf dieser Linie ging der Handel zwischen der GPU und den Gefangenen. Einige ungehorsame Anklage-Kandidaten hat die GPU ohne Prozeß erschossen, um den anderen vor Augen zu führen, daß ihnen keine Wahl bleibt. >Ob man glauben wird oder nicht<, werden die Untersuchungsrichter erwidert haben, >ist nicht eure Sache. Ihr müßt nur beweisen, daß alle eure früheren Aussagen keine Heuchelei waren, daß ihr tatsächlich der Partei (d. h. der regierenden Kaste) ergeben und für sie zu jedem Opfer bereit seid.< 

Wenn die Untersuchungsrichter offen sein wollten (und sie hatten keinen Grund, sich in ihren Vier Wänden zu genieren), dann konnten sie noch hinzufügen: >Ob die Eingeweihten glauben werden, ist nicht gar so wichtig; es werden nicht viele von ihnen wagen zu protestieren. Das Leugnen der Faschisten kann uns nur von Vorteil sein. Die Demokratie? Sie wird schweigen. Die französische und die tschechische Demokratie wird den Mund voll Wasser nehmen aus patriotischen Erwägungen. Leon Blum hängt von den Kommunisten ab, und diese Gesellschaft wird tun, was wir befehlen werden.< >Die Freunde der USSR?< >Die werden alles schlucken, schon um ihre Blindheit nicht einzugestehen. Die Weltbourgeoisie, die Trotzki als den Prediger der permanenten Revolution kennt, kann kein Interesse daran haben, ihn gegen uns in Schutz zu nehmen. Die Presse der IV. Internationale ist noch schwach. Zu den Massen wird somit nur das durchdringen, was wir sagen werden, und nicht was Trotzki sagen wird.< So hat Stalins Rechnung ausgesehen, und nicht alles an ihr war falsch. Schließlich haben die Angeklagten wiederum kapituliert und die ihnen ibertragenen tragischen und schändlichen Rollen übernommen.

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Nicht alle Angeklagten jedoch waren einverstanden, alles, was man von ihnen forderte, zuzugeben. Gerade die Gradation der Geständnisse zeugt von jenem verzweifelten Kampf, der sich am Vorabend des Prozesses hinter den Kulissen abgespielt hat. Ich lasse hier beiseite jene verdächtigen jungen Leute, die ich angeblich aus dem Auslande leitete, von deren Dasein ich aber in Wirklichkeit bis zum Prozeß nichts gewußt habe. Von den alten Revolutionären hat nicht einer die Verbindung mit der Gestapo eingestanden: sie bis zu dieser abscheulichen Selbstverleugnung zu bringen, ging über die Kraft der GPU. Smirnow und Golzmann haben außerdem ihre Beteiligung an einer terroristischen Tätigkeit entschieden bestritten. Aber alle 16 Angeklagten, alle, ohne Ausnahme, gestanden, daß Trotzki vom Auslande her geheim zu Morden aufgefordert, terroristische Instruktionen erteilt und sogar Exekutoren entsandt hat. Meine >Teilnahme< am Terror bildet somit den Gesamtkoeffizient aller Geständnisse. Von diesem Minimum ging die GPU nicht ab. Nur im Austausch gegen dieses Minimum ließ sie Hoffnung auf Erhaltung des Lebens. 

So öffnet sich vor uns das wahre Ziel der Gesamtfälschung. 

Der Sekretär der II. Internationale, Friedrich Adler, mein alter und unversöhnlicher politischer Gegner, schreibt über den Moskauer Prozeß: >Der praktische Zweck dieser Aktion bildet das schändlichste Kapitel des ganzen Prozesses. Es geht um cfen Versuch, Trotzki des Asylrechts in Norwegen zu berauben und gegen ihn eine Hetze zu veranstalten, die ihm die Möglichkeit nehmen soll, irgendwo auf dem Erdball zu existieren ...< Betrachten wir, meine Herren Richter und Geschworenen, den Gesamtkoeffizient der Geständnisse, wie er sich in den Aussagen des Angeklagten Golzmann, des wichtigsten Zeugen gegen mich und meinen Sohn, darstellt. Im November 1932 sei Golzmann, wie er erzählt, zu einer Zusammenkunft mit mir nach Kopenhagen gekommen. Im Vestibül des Hotels Bristol hätte er sich mit meinem Sohn getroffen, der ihn zu mir führte. Während eines längeren Gesprächs hätte ich Golzmann das terroristische Programm entwickelt. Das ist vielleicht die einzige Aussage, die einen konkreten Hinweis auf die Begleitumstände, auf Zeit und Raum enthält. Und da sich Golzmann gleichzeitig hartnäckig weigerte, seine Verbindung mit der Gestapo und seine Teilnahme an terroristischer Tätigkeit zuzugeben, so muß die Erzählung von seiner Zusammenkunft in Kopenhagen auf den Leser als das verläßlichste und sicherste Element aller Geständnisse in diesem Prozeß wirken. 

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Was aber erweist sich tatsächlich? Golzmann hat mich niemals besucht, weder in Kopenhagen, noch an einem anderen Ort. Mein Sohn war während meines dortigen Aufenthalts nicht nach Kopenhagen gekommen und ist überhaupt niemals in Dänemark gewesen. Und schließlich ist das Hotel Bristol, wo Golzmann angeblich mit meinem Sohn sich 1932 traf, bereits im Jahre 1917 abgerissen worden! Dank einem besonders glücklichen Zusammentreffen der Umstände (Visen, Telegramme, Zeugen usw.) zerfallen alle materiellen Elemente der Golzmannschen Erzählung, dieses an Geständnissen kärgsten Angeklagten, in Staub. Golzmann aber bildet keine Ausnahme. Alle übrigen >Geständnisse< sind nach dem gleichen Schema aufgebaut. Sie sind im >Rotbuch< meines Sohnes enthüllt. Neue Enthüllungen stehen noch bevor. Ich meinerseits hätte schon längst der Presse, der Öffentlichkeit, einer unparteiischen Untersuchungskommission oder einem unabhängigen Gericht eine Reihe von Tatsachen, Dokumenten, Zeugenaussagen, politischen und psychologischen Erwägungen vorzulegen vermocht, die das Fundament des Moskauer Amalgams sprengen. Aber ich bin an Händen und Füßen gebimden. Die norwegische Regierung hat das Asylrecht in eine Falle verwandelt. In dem Augenblick, wo die GPU gegen mich in ihrer Niedertracht nie dagewesene Beschuldigungen erhebt, setzt mich die Regierung dieses Landes hinter Schloß und Riegel, isoliert mich von der Außenwelt.

Hier muß ich eine kleine Episode erzählen, die kein schlechter Schlüssel zu meiner heutigen Lage ist. im Sommer dieses Jahres, einige Wochen vor der Ankündigung des Moskauer Prozesses, weilte der norwegische Außenminister Koht als Gast in Moskau und wurde dort mit betonter Feierlichkeit geehrt. Ich unterhielt mich über dieses Thema mit meinem Wohnungswirt, dem Redakteur Konrad Knudsen, den sie hier bereits als Zeugen gehört haben. Sie wissen, daß mich mit Knudsen, trotz den tiefgehenden politischen Meinungsverschiedenheiten, freundschaftliche persönliche Beziehungen verbinden. Die Politik berührten wir nur zum Zwecke der gegenseitigen Information, entschieden alle prinzipiellen Streitigkeiten meidend. >Wissen Sie<, fragte ich ihn in halb scherzendem Tone, >weshalb man Koht in Moskau so freundschaftlich empfängt?« >Weshalb?< >Es geht um meinen Kopf.< Wieso denn?< >Moskau sagt Koht offen oder in Anspielungen: wir werden

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Eure Schiffe mieten und Eure Heringe kaufen, aber unter einer Bedingung: Ihr verkauft uns Trotzki ...< Knudsen, ein leidenschaftlicher Patriot seiner Partei, war offensichtlich durch meinen Ton verletzt. >Glauben Sie wirkliche sagte er mir mit Bitterkeit, >daß man hier mit Prinzipien handeln wird?< >Lieber Knudsen<, erwiderte ich, >ich sage ja nicht, daß mich die norwegische Regierung zu verkaufen beabsichtigt, ich behaupte nur, daß mich der Kreml kaufen will ...< Wenn ich hier dieses kurze Gespräch wiedergebe, so will ich damit nicht sagen, daß zwischen Litwinow und Koht Besprechungen im Geiste eines offenen Handels geführt wurden. Ich muß sogar zugeben, daß in der mich betreffenden Frage der Minister Koht sich während der Wahlkampagne besser als manch anderer Minister benommen hat. Doch war es mir aus einer Reihe von Umständen vollkommen klar, daß der Kreml in Norwegen eine benebelnde diplomatische und ökonomische Aktion von großem Maßstabe durchführt. Der Sinn dieser vorbereitenden Aktion wurde für alle augenscheinlich, als der Moskauer Prozeß ausbrach. Es kann insbesondere kein Zweifel daran bestehen, daß die Kampagne der norwegischen reaktionären Presse gegen mich hinter den Kulissen aus Moskauer Quellen gespeist wurde. Die GPU versorgte durch Mittelsmänner die reaktionären Zeitungen mit meinen >gefährlichen< Artikeln. Durch ihre Agenten aus der norwegischen Sektion der Komintern verbreitete sie alarmierende Gerüchte und Klatsch. Die Aufgabe bestand darin, am Vorabend der Wahlen eine gespannte Atmosphäre im Lande zu schaffen, die Regierung einzuschüchtern und sie dadurch für die Kapitulation vor dem Moskauer Ultimatum reif zu machen. Inspiriert von der Sowjetgesandtschaft, forderten die norwegischen Reeder und andere interessierte Kapitalisten von der Regierung, die Frage mit Trotzki sofort zu regulieren, und drohten andernfalls mit wachsender Arbeitslosigkeit im Lande. Die Regierung ihrerseits wünschte nichts so sehr, als sich Moskau auf Gnade zu ergeben. Sie brauchte nur einen Anlaß. Um ihre Kapitulation zu verdecken, hat die Regierung ohne jegliches Recht und ohne jeglichen Grund mich der Verletzung der von mir unterschriebenen Bedingungen beschuldigt. In Wahrheit wollte sie durch meine Internierung Norwegens Handelsbilanz verbessern!

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Als besonders illoyal muß das Benehmen des Justizministers bezeichnet werden. Am Vorabend der Internierung rief er mich plötzlich telephonisch an. Unser Hof war bereits von Polizisten umstellt. Die Stimme des Ministers war süßer als Honig: <Ich habe Ihren Brief erhalten>, sagte er, <und finde, daß er viel Wahres enthält. Ich bitte Sie nur um eines: geben Sie Ihren Brief nicht der Presse, und antworten Sie überhaupt nicht auf die heutige Regierungsmitteilung. Wir haben abends einen Ministerrat und ich hoffe, daß wir den Beschluß revidieren werden ...>, <Selbstverständlich>, war meine Antwort, werde ich den endgültigen Beschluß abwarten.> Am nächsten Tage wurde ich verhaftet, meine Sekretäre wurden durchsucht und man nahm ihnen vor allem die fünf Kopien des Briefes weg, in dem ich den Justizminister an seine Teilnahme bei meinem politischen Interview erinnerte. Der Herr Minister war sehr besorgt, die Enthüllung dieser Tatsache könnte seine Wahlchancen verschlechtern. So ist dieser Wächter der Justiz!...

Die Sowjetregierung hat, wie Sie wissen, weder am Vorabend des Prozesses noch nach seiner Beendigung gewagt, die Frage meiner Auslieferung anzuschneiden. Konnte das denn auch anders sein? Die Forderung der Auslieferung hätte man vor einem norwegischen Gericht begründen müssen, mit andern Worten, sich vor der ganzen Welt der Schande aussetzen. Mir blieb nichts weiter übrig, als die norwegischen >Kommunisten< und Faschisten, die die Moskauer Verleumdung wiederholten, zu verklagen. Noch am Tage der Internierung sagte mir der Justizminister: Selbstverständlich werden Sie die Möglichkeit haben, sich gegen die Beschuldigungen, denen Sie ausgesetzt sind, zu verteidigen/ Doch die Taten des Justizministers und seine Worte gehen weit auseinander. Mit ihren Ausnahmegesetzen gegen mich hat die norwegische Regierung allen gedungenen Verleumdern erklärt: >Ihr könnt von nun an unbehindert und ungestraft Trotzki in allen fünf Teilen der Erde verleumden: wir halten ihn gefesselt und werden ihm nicht erlauben, sich zu verteidigen !<

Meine Herren Richter und Geschwornen! Sie haben mich hierher geladen als Zeugen in Sachen des Überfalls auf meine Wohnung. Die Regierung hat mich liebenswürdigerweise unter solider Polizeieskorte hergebracht. Indes hat dieselbe Regierung meine für den französischen Untersuchungsrichter bestimmten Aussagen in Sachen des Raubes meiner Archive in Paris konfisziert. Weshalb dieser Unterschied? 

Vielleicht deshalb, weil es sich in dem einen Falle um die norwegischen Faschisten handelt, die die norwegische Regierung als ihre Feinde betrachtet, und in dem anderen Falle um die Gangster der GPU, die die Regierung im Augenblick zu ihren Freunden zählt? ... Ich beschuldige die norwegische Regierung der Verletzung der elementarsten Rechtsgrundsätze. Der Prozeß der 16 eröffnet eine ganze Serie ähnlicher Prozesse, bei denen nicht nur meine und meiner Familienmitglieder, sondern auch Hunderter anderer Menschen Ehre und Schicksal auf dem Spiel stehen wird. Wie kann man denn mir, dem Hauptangeklagten und dem informiertesten Zeugen, verbieten, zu sagen was ich weiß? Das heißt doch, böswillig die Aufklärung der Wahrheit verhindern! Wer durch Drohung oder Gewalt einen Zeugen verhindert, die Wahrheit zu sagen, macht sich eines schweren Verbrechens schuldig, was, wie ich bestimmt annehme, nach den norwegischen Gesetzen streng bestraft wird. Es ist gut möglich, daß der Justizminister wegen meiner Aussagen in diesem Saal gegen mich neue Repressalien anwenden wird: Die Hilfsmittel der Willkür sind unbeschränkt. Aber ich habe Ihnen versprochen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Ich habe mein Versprechen erfüllt!«

Der Vorsitzende fragt, ob die Parteien noch weitere Fragen an den Zeugen haben. Es sind keine Fragen mehr. Der Vorsitzende (zum Zeugen): »Sind Sie bereit, alles, was Sie ausgesagt haben, zu beeidigen?«

»Ich kann keinen religiösen Eid ablegen, da ich zu keiner Religion gehöre; doch begreife ich gut die Bedeutung von all dem, was ich vor Ihnen ausgesagt habe, und ich bin bereit, einen bürgerlichen Eid zu leisten, das heißt, die juristische Verantwortung für jedes hier gesagte Wort zu übernehmen.«

Alle erheben sich. Der Zeuge wiederholt mit erhobener Hand die Formel des Eides, wonach er unter Begleitung von Polizeibeamten den Saal verläßt und nach Sundby, dem Ort seiner Internierung, zurückkehrt.

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