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Rede auf dem Meeting im Hippodrom in New York

 

 

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Am 9. Februar sollte ich mich per Telephon mit einer Rede an das Meeting in New York wenden, das den Moskauer Prozessen gewidmet war. Freunde warnten mich, man müsse mit technischer Sabotage seitens der »Freunde« Moskaus rechnen, die zwar in den Massen nicht verwurzelt, aber bereits in verschiedenen administrativen und technischen Ämtern eingenistet sind. Das traf auch ein. Geheimnisvolle Mächte stellten sich im letzten Moment zwischen mich und meine siebentausend Zuhörer in New York. Wirre Erklärungen, die mir die beteiligten Techniker machten, wurden von ernsten Fachleuten widerlegt. Die wahre Erklärung läßt sich mit drei Buchstaben erschöpfen: GPU.

Zum Glück hatte ich, in Voraussicht der eventuellen Sabotage, rechtzeitig den Veranstaltern des Meetings den Text meiner Rede eingesandt. Die Rede wurde vor einem aufmerksamen Auditorium verlesen und blieb nicht ohne Wirkung, was der weitere Verlauf der Ereignisse zeigte. Das Meeting im Hippodrom-Saal am 9. Februar wurde eine wichtige Etappe auf dem Wege zur Schaffung der Untersuchungskommission.

Verehrte Hörer, Genossen und Freunde!

Mein erstes Wort sei die Entschuldigung für meine unmögliche englische Sprache. Mein zweites Wort ist ein Dank an das Komitee, das mir die Möglichkeit verschafft hat, zu Ihnen zu sprechen. Das Thema meiner Rede sind die Moskauer Prozesse. Ich beabsichtige nicht, auch nur für einen Augenblick über den Rahmen dieses Themas hinauszugehen, der ohnehin zu umfangreich ist. Ich werde weder an die Leidenschaften noch an die Nerven, sondern an die Vernunft appellieren. Ich zweifle nicht, daß die Vernunft sich auf der Seite der Wahrheit zeigen wird.

Der Sinowjew-Kamenjew-Prozeß hat in der öffentlichen Meinung Schrecken, Fassungslosigkeit, Empörung, Mißtrauen oder, mindestens, Staunen erregt. Der Prozeß Radek-Pjatakow hat diese Gefühle verstärkt. Diese Tatsache läßt sich nicht bestreiten. Zweifel an der Gerechtigkeit bedeutet in diesem Falle Verdacht der Fälschung. Kann man sich einen tödlicheren Verdacht gegen eine Regierung ausdenken, die unter dem Banner des Sozialismus auftritt? Woran muß die Sowjetregierung selbst Interesse haben? Daran, diesen Verdacht zu zerstreuen. Worin besteht die Pflicht wahrer Freunde der Sowjetunion? Darin, der Moskauer Regierung mit allem Nachdruck zu sagen: es ist um jeden Preis notwendig, die Zweifel des Westens an der Gerechtigkeit der USSR zu zerstreuen.

Auf diese Forderung zu antworten: »Wir haben unser Gericht, alles andere geht uns nichts an« - heißt, sich nicht mit sozialistischer Aufklärung der Massen zu beschäftigen, sondern eine Politik des aufgeblasenen Prestiges zu treiben, im Stile Hitlers oder Mussolinis.

Sogar jene »Freunde der USSR«, die innerlich von der Richtigkeit des Moskauer Prozeßverfahrens überzeugt sind (wie viele solcher Menschen gibt es? Es ist bedauerlich, daß man keine Zählung der Gewissen vornehmen kann!), sogar diese unerschütterlichen »Freunde« der Bürokratie sind verpflichtet, mit uns zusammen die Schaffung einer autoritären Untersuchungskommission zu fordern. Die Moskauer Regierung wäre verpflichtet, einer solchen Kommission alle notwendigen Beweise zu liefern. Es kann doch wohl keinen Mangel daran geben, wenn auf Grund dieser in den »kirowschen« Prozessen erbrachten Beweise 49 Menschen erschossen wurden, die hundertundfünfzig ohne Gerichtsverfahren Erschossenen nicht gerechnet.

Wir wollen daran erinnern, daß vor der Weltöffentlichkeit als Bürgen für die Richtigkeit der Moskauer Urteile zwei Advokaten auftreten: Pritt aus London und Rosenmark aus Paris, läßt man den amerikanischen Journalisten Duranti unberücksichtigt. Wer aber bürgt für diese Bürgen? Beide Advokaten, Pritt und Rosenmark, verweisen mit Dankbarkeit darauf, daß die Sowjetregierung ihnen alle notwendigen Erklärungen gegeben habe. Fügen wir hinzu, daß der »königliche Rat« Pritt rechtzeitig nach Moskau eingeladen wurde, während der Termin des Prozesses vor aller Welt bis zum letzten Moment geheimgehalten war. Die Sowjetregierung hat es also nicht als entwürdigend für ihre Rechtspflege gehalten, hinter den Kulissen die Hilfe ausländischer Advokaten und Journalisten, die kein besonderes Recht auf Vertrauen besitzen, in Anspruch zu nehmen. Als aber die sozialistische und die gewerkschaftliche Internationale den Vorschlag machten, auch ihre Advokaten nach Moskau zu entsenden, wurden sie - nicht mehr und nicht weniger - als Verteidiger der Mörder und der Gestapo bezeichnet!

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Ihr wißt vielleicht, daß ich kein Parteigänger der II. oder* der Gewerkschaftsinternationale bin. Aber ist es nicht evident, daß deren moralische Autorität unermeßlich höher steht als die der Advokaten mit elastischen Rücken? Haben wir nicht das Recht, zu sagen: Die Moskauer Regierung ist bereit, ihr »Prestige« vor solchen Autoritäten und Experten zu vergessen, deren Zustimmung sie von vornherein sicher ist; sie ist gerne bereit, den »königlichen Rat« Pritt in einen Rat der GPU zu verwandeln. Dagegen hat sie bisher grob jede Nachprüfung abgelehnt, die Objektivität und Unparteilichkeit garantiert. Das ist eine unzweifelhafte und vernichtende Tatsache!

Vielleicht aber ist diese Schlußfolgerung falsch? 

Es ist nichts einfacher, als sie zu widerlegen: soll doch die Moskauer Regierung einer internationalen Untersuchungskommission ernste, präzise, konkrete Erklärungen über all die dunklen Punkte der kirowschen Prozesse geben. Aber außer dunklen Punkten enthalten sie - leider - nichts! Gerade deshalb trifft Moskau alle Maßnahmen, um mich, den Hauptangeklagten, zum Schweigen zu bringen. Unter einem furchtbaren ökonomischen Druck von Moskau hat mich die norwegische Regierung hinter Schloß und Riegel gesetzt, unter Berufung auf meinen Artikel über Frankreich in der amerikanischen »Nation«! Wer wird dem glauben? ... Welches Glück, daß die großmütige Gastfreundschaft Mexikos, auf die Initiative ihres Präsidenten, General Cardenas, mir und meiner Frau erlaubt hat, dem neuen Prozeß nicht in Gefangenschaft, sondern in Freiheit zu begegnen. Doch alle Hebel sind schon in Bewegung gesetzt, um mich wieder zum Schweigen zu zwingen. 

Warum fürchtet man in Moskau derart die Stimme eines einzelnen Menschen? Nur weil ich die Wahrheit weiß, die ganze Wahrheit. Nur weil ich nichts zu verbergen habe. Nur weil ich bereit bin, vor einer öffentlichen, unparteiischen Untersuchungskommission mit Dokumenten, Tatsachen und Beweisen aufzutreten und die ganze Wahrheit aufzudecken. Ich erkläre: sollte diese Kommission zu der Feststellung kommen, daß ich auch nur eines kleines Teiles jener Verbrechen schuldig bin, deren mich Stalin bezichtigt, so verpflichte ich mich im voraus, mich freiwillig den Henkern der GPU auszuliefern. Ich hoffe, das ist deutlich. Sie haben das alle gehört? Ich gebe diese Erklärung offen vor aller Welt.

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Ich bitte die Presse, diese meine Worte bis in die entlegensten Winkel unseres Planeten zu tragen. Wenn aber die Kommission feststellen wird, daß die Moskauer Prozesse eine bewußte und beabsichtigte Fälschung sind, aus menschlichen Nerven und Knochen aufgebaut, so werde ich von meinen Anklägern nicht verlangen, daß sie sich freiwillig vor die Kugel stellen. Nein, für sie genügt die ewige Schande im Gedächtnis des Menschengeschlechts! Ich schleudere den Anklägern im Kreml meine Herausforderung ins Gesicht. Und warte auf ihre Antwort.

Mit dieser meiner Erklärung gebe ich nebenbei eine Antwort auf die häufigen Einwendungen oberflächlicher Skeptiker: »Warum müssen wir Trotzki glauben und nicht Stalin?« 

Es ist sinnlos, sich mit psychologischen Rätseln zu beschäftigen. Es geht nicht um persönliches Vertrauen. Es geht um die Nachprüfung. Ich schlage eine Nachprüfung vor! Ich fordere eine Nachprüfung! Der Prozeß Sinowjew-Kamenjew konzentrierte sich auf »Terrorismus«. Der Prozeß Pjatakow-Radek überließ den ersten Platz nun nicht mehr dem Terror, sondern dem Pakt der Trotzkisten mit Deutschland und Japan zwecks Kriegsvorbereitung, Teilung der Sowjetunion, Industriesabotage und Ausrottung der Arbeiter. Wie läßt sich diese schreiende Ungereimtheit erklären? Nach der Erschießung der 16 hat man uns doch gesagt, die Aussagen Sinowjews, Kamenjews und der anderen wären freiwillig und aufrichtig gewesen und entsprächen den Tatsachen. Sinowjew und Kamenjew haben ja selbst den Tod für sich gefordert! Warum haben sie dann vom Wichtigsten: der Verbindung der Trotzkisten mit Deutschland und Japan, dem Plane der Zerstückelung der USSR nichts gesagt? Hätten sie solche »Details« der Verschwörung vergessen können? Ist es möglich, daß sie, die Führer des sogenannten Zentrums, nicht gewußt haben, was den Angeklagten des letzten Prozesses, weniger wichtigen Menschen, bekannt war? Die Antwort ist klar: das neue Amalgam ist fabriziert worden nach der Erschießung der 16, im Verlauf der letzten fünf Monate, als eine Antwort auf das ungünstige Echo der Weltpresse.

Der schwächste Punkt im Prozeß der 16 ist die gegen alte Bolschewiki erhobene Anschuldigung, mit Hitlers Geheimpolizei, der Gestapo, im Bunde gewesen zu sein. Weder Sinowjew, noch Kamenjew, noch Smirnow, überhaupt keiner von den Angeklagten mit politischem Namen hat diese Verbindung zugegeben: vor dieser Grenze der Erniedrigung machten sie halt! 

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Es stellt sich folglich heraus, daß ich durch dunkle Unbekannte, wie die Olberg, Bermann, Fritz David und andere, mit der Gestapo in Verbindung trat mit dem großen Ziele - einen Honduras-Paß für Olberg zu bekommen ... Das sah zu dumm aus. Dem wollte niemand glauben. Der gesamte Prozeß war kompromittiert. Man mußte um jeden Preis den Fehler des Regisseurs korrigieren. Man mußte die Lücke ausfüllen. Jagoda wurde durch Jeschow ersetzt. Auf die Tagesordnung wurde ein neuer Prozeß gestellt. Stalin beschloß, den Kritikern zu antworten: Ihr glaubt nicht, daß Trotzki fähig ist, wegen Olberg und dem Honduras-Paß mit der Gestapo in Verbindung zu treten? Gut, ich werde euch zeigen, daß der Zweck seiner Verbindung mit Hitler war, einen Krieg hervorzurufen und die Welt neu zu verteilen.

Jedoch fehlten für dieses zweite, grandiosere Schaustück die wichtigsten handelnden Personen: Stalin hatte sie bereits ermordet. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Hauptrollen des neuen Hauptstückes mit Akteuren zweiter Garnitur zu besetzen! Es ist hier angebracht, zu vermerken, daß Stalin Pjatakow und Radek als Mitarbeiter sehr geschätzt hat. Aber es waren keine anderen Menschen mit bekannten Namen geblieben, die man auch nur ihrer fernen Vergangenheit nach für »Trotzkisten« hätte ausgeben können. Das Los fiel deshalb auf Radek und Pjatakow. 

Die Version von meiner Verbindung mit Achtgroschenjungen der Gestapo durch zufällige Unbekannte wurde verworfen. Die Sache wurde gleich auf eine Höhe im Weltmaßstabe gebracht. Jetzt ist die Rede nicht mehr vom Honduras-Paß, sondern von Teilung der USSR und sogar der Zertrümmerung der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Es ist, als habe man mit Hilfe eines gigantischen Lifts die Verschwörung während der fünf Monate aus dem schmutzigen Polizeikeller in jene Höhen gehoben, wo sich Schicksale von Staaten entscheiden. Sinowjew, Kamenjew, Smirnow, Mratschkowski sind ins Grab gesunken, ohne etwas von den grandiosen Plänen, Bündnissen und Perspektiven zu ahnen. Das ist der Kern der Lüge des letzten Amalgams!

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Um den schreienden Widerspruch zwischen den beiden Prozessen auch nur ein wenig zu vertuschen, sagten Pjatakow und Radek, unter Diktat der GPU, aus, sie hätten ein »paralleles« Zentrum gebildet, infolge ... Trotzkis Mißtrauen gegen Sinowjew und Kamenjew. Man kann kaum eine sinnlosere und falschere Erklärung ausdenken! Ich habe Sinowjew und Kamenjew nach ihrer Kapitulation tatsächlich mißtraut und mit ihnen seit Ende 1927 keine Beziehungen unterhalten. Aber ich habe noch weniger Radek und Pjatakow vertraut! 

Bereits im Jahre 1929 hat Radek den Oppositionellen Blumkin an die GPU verraten, der daraufhin ohne Gericht und in aller Stille erschossen wurde. Ich habe damals in dem im Auslande erscheinenden »Bulletin der russischen Opposition« folgendes veröffentlicht: »Nachdem er die letzten Reste des sittlichen Gleichgewichts verloren hat, scheut Radek vor keiner Lumperei zurück.« Nicht viel besser waren meine Urteile über Pjatakow, sowohl in der Presse wie in Privatbriefen. 

Es ist schmerzlich, daß man gezwungen ist, diese scharfen Urteile über Stalins unglückliche Opfer auszusprechen. Doch wäre es ein Verbrechen, aus sentimentalen Gründen die Wahrheit zu vertuschen ... Radek und Pjatakow haben selbst zu Sinowjew und Kamenjew stets emporgeblickt, und in dieser Selbsteinschätzung hatten sie sich nicht geirrt. Aber noch mehr ... Während des Prozesses der 16 nannte der Staatsanwalt den Angeklagten Smirnow »das Haupt der Trotzkisten in der USSR«. Um zu zeigen, wie nahe er mir stand, erklärte der Angeklagte Mratschkowski, daß man mich nur durch ihn hätte erreichen können, und der Staatsanwalt unterstrich diesen Umstand auf jede Weise. Wieso haben dann nicht nur Sinowjew und Kamenjew, sondern auch Smirnow »das Haupt der Trotzkisten in der USSR« und der mir so nahestehende Mratschkowski nichts von jenen Plänen gewußt, in die Radek, den ich öffentlich als Verräter gebrandmarkt hatte, eingeweiht war? Das ist die kapitale Lüge des letzten Prozesses. Sie quillt von selbst nach außen. Wir kennen die Quelle ihrer Entstehung. Wir sehen die geheimen Fäden. Wir sehen die plumpe Hand, die an ihnen zupft.

Radek und Pjatakow beichteten schreckliche Verbrechen. Aber ihre Verbrechen haben vom Standpunkte der Angeklagten, nicht der Ankläger, gar keinen Sinn. Mit Terror, Sabotage und Bündnissen mit den Imperialisten wollten sie in der USSR den Kapitalismus restaurieren. Wozu? Ihr ganzes Leben haben sie gegen den Kapitalismus gekämpft. Haben sie vielleicht persönliche Motive geleitet: Machtgier, Gewinnsucht? Unter keinem anderen Regime hätten Radek und Pjatakow hoffen können, einen höheren Rang einzunehmen als den, den sie bis zum Tage ihrer Verhaftung einnahmen.

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 Vielleicht opferten sie sich so sinnlos aus Freundschaft zu mir? Lächerliche Hypothese! Durch ihre Handlungen, Reden, Artikel während der letzten acht Jahre haben sich Radek und Pjatakow als meine erbitterten Feinde gezeigt. Terror? Aber konnten denn Oppositionelle nach der ganzen revolutionären Erfahrung in Rußland nicht voraussehen, daß Terror nur ein Anlaß gewesen wäre zur Ausrottung der besten Kämpfer? Nein, das haben sie gewußt, vorausgesehen, es hundertmal erklärt. Nein, Terror brauchten wir nicht. Dafür aber war er der regierenden Clique nötig wie das Leben. Am 4. März 1939, das heißt vor acht Jahren, schrieb ich in einem Stalin gewidmeten Artikel: »Stalin bleibt nur eines übrig: zu versuchen, zwischen der offiziellen Partei und der Opposition einen blutigen Strich zu ziehen. Er braucht dringend, die Opposition mit Attentaten, Vorbereitung von bewaffneten Aufständen usw. in Verbindung zu bringen.« Man erinnere sich: Bonapartismus hat noch niemals in der Geschichte ohne polizeiliche Fabrikationen von Verschwörungen existiert!

Die Opposition hätte aus Kretins bestehen müssen, um zu glauben, ein Bündnis mit Hitler oder dem Mikado, die beide dazu noch im nächsten Krieg zu einer Niederlage verurteilt sind, ein solch idiotisches, undenkbares, irrsinniges Bündnis könne revolutionären Marxisten etwas anderes bringen als Schande und Untergang. Dagegen ist ein solches Bündnis -der Trotzkisten mit Hitler - im höchsten Maße für Stalin nötig. Voltaire sagt: wenn es Gott nicht gibt, muß man ihn erfinden. Die GPU sagt: Wenn es ein Bündnis nicht gibt, muß man es fabrizieren.

Die Grundlage, auf der die Moskauer Prozesse aufgebaut sind, ist absurd. Nach der offiziellen Version haben die Trotzkisten seit 1931 die ungeheuerlichste Verschwörung organisiert, wobei sie, wie auf Kommando, das eine geschrieben und gesprochen, und ein anderes getan haben. Trotzdem in'die Verschwörung Hunderte von Personen einbezogen wurden, entstanden im Laufe von fünf Jahren weder Meinungsverschiedenheiten, noch Spaltungen, noch Denunziationen, noch wurde je ein Brief abgefangen - genau so lange, bis die Stunde der allgemeinen Reue schlug. Und dann geschah ein neues Wunder. Menschen, die Morde organisiert, Kriege vorbereitet hatten, die Sowjetunion verraten, zerstückeln gewollt, diese einge-

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fleischten Verbrecher legten im August 1936 jäh Geständnisse ab, und zwar nicht unter der Last von Indizien, nein, denn es gab keine, sondern aus irgendwelchen mystischen Gründen, die heuchlerische Psychologen für eine Eigenschaft der »russischen Seele« erklären. Man bedenke nur: gestern haben sie Eisenbahnkatastrophen verursacht, Arbeiter vergiftet - auf ein unsichtbares Kommando von Trotzki. Heute entbrennen sie in Haß gegen Trotzki und wälzen auf ihn alle ihre angeblichen Verbrechen ab. Gestern haben sie nur daran gedacht, wie sie Stalin ermorden könnten. Heute singen alle ihm Hymnen. Was ist das: ein Irrenhaus? Nein, sagen uns die Herren Duranti, das ist kein Irrenhaus, sondern die »russische Seele«. Nein, meine Herren, das ist eine Verleumdung der menschlichen Seele überhaupt!

Phantastisch ist nicht nur das Generelle und Gleichzeitige der Reuebekenntnisse. Phantastisch vor allem ist der Umstand, daß die Verschwörer nach ihren eigenen Geständnissen gerade das getan hatten, was für ihre eigenen politischen Interessen tödlich, für die regierende Clique aber von höchstem Nutzen war. Vor Gericht sprachen sie wiederum nur das, was die sklavischen Agenten Stalins hätten sägen können. Normale Menschen, die einem eigenen Willen gehorchen, würden sich vor Gericht niemals so benehmen, wie sich Sinowjew, Kamen-jew, Radek, Pjatakow und die anderen benahmen. Ergebenheit den eigenen Ideen, politische Würde, ja einfacher Selbsterhaltungstrieb hätten sie zwingen müssen, um ihre Persönlichkeit, um ihre Interessen, um ihr Leben zu kämpfen. Die einzige richtige und vernünftige Frage kann nur lauten: wer und was hat diese Menschen in einen solchen Zustand gebracht, bei dem alle normalen menschlichen Reflexe zertreten sind? Die Jurisprudenz kennt ein sehr einfaches Prinzip, das den Schlüssel zu vielen Geheimnissen bietet: is fecit cui prodest, wem es nützt, der hat es getan. Das ganze Benehmen der Angeklagten ist von Anfang bis zu Ende nicht von ihren Ideen und Interessen, sondern von den Interessen der regierenden Clique erfüllt. Sowohl die angebliche Verschwörung, wie die Reuebekenntnisse, wie das theatralische Gericht und die ganz realen Erschießungen, - das alles hat die gleiche Hand ausgeführt. Wessen? Cui prodest? Stalins Hand! Weg mit der Lüge, der Verleumdung, dem Geschwätz von der »russischen Seele«! Vor Gericht haben nicht Kämpfer und nicht Verschwörer figuriert,

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sondern Mannequins in den Händen der GPU. Sie haben einstudierte Rollen kreiert. Der Zweck der schändlichen Vorstellung: jegliche Opposition zu zermalmen, selbst den Ursprung jedes kritischen Denkens zu vergiften, das totalitäre Regime Stalins endgültig zu festigen.

Wir wiederholen: der Anklageakt ist eine vorsätzliche Fälschung. Diese Fälschung kommt in jedem Geständnis zum Vorschein, wenn man diese Geständnisse den Tatsachen gegenüberstellt. Der Staatsanwalt Wyschinski versteht das sehr gut, denn er saß in der Küche der Fälschung. Darum hat er den Angeklagten keine einzige konkrete Frage gestellt, die ihnen Schwierigkeiten hätte bereiten können. Namen, Dokumente, Daten, Situationen, Verkehrsmittel, Bedingungen der Zusammenkünfte - alle diese entscheidenden Umstände hat Wyschinski mit einem Schleier der Schamhaftigkeit bedeckt, den man richtiger als einen Schleier der Schamlosigkeit bezeichnen kann. Wyschinski hat mit den Angeklagten nicht in der Sprache des Juristen, sondern in der verabredeten Sprache des Komplizen, des Mitverschwörers, des Meisters der Fälschung, im Gaunerjargon gesprochen. Der Insinuationscharakter der Fragen Wyschinskis - neben dem völligen Mangel materieller Beweise - bildet das zweite tödliche Indiz gegen Stalin.

Doch beabsichtige ich keinesfalls, mich auf die negativen Beweise zu beschränken, o nein! Wyschinski hat nicht bewiesen und konnte nicht beweisen, daß die subjektiven Geständnisse wahr sind, das heißt den objektiven Tatsachen entsprechen. Ich nehme auf mich eine viel schwierigere Aufgabe: zu beweisen, daß jedes dieser Geständnisse falsch ist, d. h. der Wirklichkeit widerspricht. Worin bestehen meine Beweise? Ich werde Ihnen zwei, drei Beispiele anführen. Ich würde mindestens zwei Stunden brauchen, um vor Ihnen nur zwei wichtige Episoden zu analysieren: die angebliche Reise des Angeklagten Golzmann zu mir nach Kopenhagen, um terroristische Instruktionen zu erhalten, und die angebliche Reise des Angeklagten Pjatakow zu mir nach Oslo, um Instruktionen über die Zerstük-kelung der USSR zu erhalten. Ich besitze ein volles Arsenal mit dokumentarischen Beweisen dafür, daß mich weder Golzmann in Kopenhagen, noch Pjatakow in Oslo besucht haben. Ich werde gleich nur die einfachsten Beweise, die am wenigsten Zeit in Anspruch nehmen, anführen. - 

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Zum Unterschiede von den übrigen Angeklagten hat Golzmann ein Datum genannt (23. bis 25. November 1932) - das Geheimnis ist einfach: aus den Zeitungen war bekannt, wann ich nach Kopenhagen gekommen war - und folgende konkrete Details angegeben: ihn, Golzmann, habe in Kopenhagen mit mir mein Sohn, Leo Sedow, zusammengebracht, der sich mit ihm, Golzmann, im Hotel Bristol getroffen hätte. Über das Hotel Bristol hätten sie sich noch in Berlin verständigt. In Kopenhagen angekommen, habe Golzmann Sedow angeblich tatsächlich im Vestibül des genannten Hotels getroffen. Von dort seien sie zusammen zu mir gegangen. Während des Gesprächs Golzmanns mit mir sei Sedow, nach Golzmanns Worten, häufig ins Zimmer gekommen. Welch malerische Einzelheiten! Wir atmen erleichtert auf: endlich besitzen wir nicht nur nebelhafte Reuebekenntnisse, sondern gewissermaßen Fakten. Unglücklicherweise war mein Sohn nicht in Kopenhagen, weder im November 1932 noch überhaupt jemals in seinem Leben. Das bitte ich fest in Erinnerung zu behalten! Im November 1932 befand sich mein Sohn in Berlin, d. h. in Deutschland und nicht in Dänemark, und unternahm dort vergebliche Versuche, sich mit mir und seiner Mutter in Kopenhagen zu treffen: man darf nicht vergessen, daß die Weimarer Demokratie bereits in ihren letzten Zügen lag und die Berliner Polizei immer strenger wurde. Alle Schritte meines Sohnes zur Erlangung einer Aus- und Rückreiseerlaubnis sind dokumentarisch bewiesen. Unsere täglichen telefonischen Gespräche aus Kopenhagen mit meinem Sohn in Berlin können auf dem Telefonamt Kopenhagen festgestellt werden. Dutzende von Zeugen, die mich und meine Frau in Kopenhagen die ganze Zeit umgaben, wußten, daß wir ungeduldig, aber vergeblich auf unseren Sohn warteten, andererseits wußten alle Freunde meines Sohnes in Berlin, daß er sich vergeblich um ein Visum bemühte. Gerade infolge der Beharrlichkeit der Bemühungen und den unüberwindlichen Hindernissen blieb die Tatsache des nicht stattgefundenen Zusammentreffens Dutzenden von Menschen im Gedächtnis haften. Sie leben alle im Auslande und haben es schriftlich bezeugt. Genügt das? Ich hoffe, ja! Pritt und Rosenmark werden,vielleicht sagen: nein? Sie haben ja Nachsicht nur mit der GPU! Gut, ich will ihnen entgegenkommen. Ich habe noch direktere, noch unmittelbarere und ganz unbestreitbare Beweise. Die Sache ist nämlich die, daß das Zusammentreffen mit unserem Sohn stattfand, gleich

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nachdem wir Kopenhagen verlassen hatten, und zwar in Frankreich, unterwegs in die Türkei. Dieses Zusammentreffen wurde möglich dank dem persönlichen Eingreifen des damaligen französischen Ministerpräsidenten Herriot. Im französischen Ministerium des Auswärtigen ist das Telegramm meiner Frau an Herriot vom 1. Dezember aufbewahrt, dem Tage vor unserer Abreise aus Kopenhagen, wie auch die telegrafische Anweisung Herriots vom 3. Dezember an den französischen Konsul in Berlin, meinem Sohn unverzüglich ein Visum zu geben. Ich hatte immer Angst, Agenten der GPU in Paris würden diese Dokumente stehlen. Glücklicherweise hatten sie dazu keine Zeit gehabt. Beide Telegramme sind vor wenigen Wochen im französischen Ministerium des Auswärtigen gefunden worden. Verstehen Sie mich klar? Ich halte in den Händen Kopien beider Telegramme. Ich zitiere ihren Text, Datum und Nummern nicht, um keine Zeit zu verlieren: ich werde sie morgen der Presse übergeben*. Im Paß meines Sohnes befindet sich das vom französischen Konsulat am 3. Dezember ausgestellte Visum. Am 4., morgens, fuhr mein Sohn aus Berlin ab. In seinem Paß steht auch der Grenzstempel vom gleichen Datum. Dieser Paß ist unversehrt erhalten. Hören Sie, Bürger New Yorks, meine Stimme aus Mexiko-City? Ich möchte, daß Sie jedes meiner Worte, trotz meiner entsetzlichen englischen Sprache, verstehen! Die Begegnung mit unserem Sohne fand statt

 

* Hier der Text der Telegramme:

Telegramm

Monsieur E. Herriot, President du Conseil, Paris, Kobenhavn PK iso 38W I 33 50 Northern

Traversant France et desirant rencontrer mon fils Leon Sedoff etudiant Berlin, j'espere votre Intervention bienveillante pour qu'il soit autorise me rencontrer ä passage sentiments distingues Nathalie Sedoff Trotzky

Ministere des Affaires etrangeres

Telegramm „ . , ,, . & Paris, le 3 decembre 193s, Le ministre des Affaires etrangeres, A Consul de France '.., Berlin

Mme Trotzky, qui revient du Danemark, serait heureuse de pouvoir rencontrer, ä son passage sur le territoire francais, son fils Leon Sedoff, qui est actuellement etudiant ä Berlin. Je vous autorise donc ä viser le titre de voyage de M; Leon Sedoff pour cinq jours en France, ce dernier devant, d'autre part, s'assurer la possibilite de rentrer en Allemagne ä l'expiration de ce delai. Diplomatie

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in Paris, auf der Gare du Nord, im Waggon zweiter Klasse, der uns aus Dünkirchen gebracht hatte, in Gegenwart von etwa zehn Freunden, die uns begleiteten. Ich hoffe, dies genügt. Weder die GPU noch Pritt können sich da herauswinden. Sie sitzen fest in der Klemme. Golzmann hat meinen Sohn in Kopenhagen nicht sehen können, weil sich mein Sohn in Berlin befand. Mein Sohn hat während des Gesprächs nicht ins Zimmer kommen und aus dem Zimmer gehen können. Wer wird nun noch an die Zusammenkunft glauben? Wer wird nun dem Geständnis Golzmanns überhaupt Glauben schenkön können?

Aber auch das ist noch nicht alles. Golzmann sagte, seine Begegnung mit meinem Sohne habe im Hotel Bristol, im Vestibül, stattgefunden. Schön! ... Es stellt sich jedoch heraus, daß das Kopenhagener Hotel Bristol im Jahre 1917 bis auf den Grund vernichtet wurde! Im Jahre 1932 existierte von diesem Hotel nur die Erinnerung in alten Reiseführern. Der diensteifrige Pritt stellt die Hypothese von einem möglichen Schreib»fehler« auf, den aber keiner der Journalisten und Redakteure bemerkt und in den Berichten korrigiert hat. Gut! Und die Sache mit meinem Sohn, auch ein Schreibfehler? Darüber schweigt Pritt und schweigt vielsagend Wyschinski. In Wirklichkeit hat wohl die GPU durch ihre Agenten in Berlin von den Bemühungen meines Sohnes, ein Visum nach Kopenhagen zu bekommen, gehört und war überzeugt, er habe sich mit mir in Kopenhagen getroffen. Daher der Schreib»fehler«! Golzmann hatte wahrscheinlich aus der Zeit seiner Emigration das Hotel Bristol gekannt und deshalb dieses Hotel genannt. Daher der zweite Schreib»fehler«! Zwei Schreibfehler haben sich zu einer Katastrophe vereinigt: von den Geständnissen Golzmanns bleibt nur eine Staubwolke, wie vom Hotel Bristol im Augenblick seiner Vernichtung. Indes aber - vergessen Sie das nicht! - ist dies das wichtigste Geständnis im Prozeß der 16: von allen alten Revolutionären hat sich angeblich nur Golzmann mit mir persönlich getroffen und terroristische Instruktionen entgegengenommen!

 

Gehen wir zur zweiten Episode über. Pjatakow sei angeblich Mitte Dezember 1935 mit einem Aeroplan aus Berlin zu mir nach Oslo gekommen. Auf dreizehn präzise Fragen, die ich dem Gericht noch zu Lebzeiten Pjatakows stellte, kam keine einzige Antwort. Jede dieser Fragen erledigt die mysteriöse Reise Pjatakows. 

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Inzwischen haben mein norwegischer Hauswirt, Konrad Knudsen, Mitglied des Stortings, und mein damaliger Sekretär, Erwin Wolff, in der Presse Erklärungen abgegeben, daß ich im Dezember 1935 keinen einzigen russischen Besucher empfangen und keine Reise unternommen habe. Genügen Ihnen diese Angaben nicht? Hier ist noch eine: die Verwaltung des Flugplatzes in Oslo hat offiziell erklärt, daß auf Grund ihrer Protokolle während des Dezembers 1935 auf dem Flugplatz kein einziges ausländisches Flugzeug gelandet ist! Vielleicht ist auch in den Protokollen des Flugplatzes ebenfalls ein - Schreibfehler passiert? Mister Pritt, lassen Sie uns in Ruhe mit Ihren Schreibfehlern, denken Sie etwas Gescheiteres aus! Doch wird Ihnen Ihre Findigkeit nichts helfen: Ich besitze noch viele direkte und indirekte Beweise dafür, daß sie falsch sind, die Aussagen des unglücklichen Pjatakows, den die GPU gezwungen hat, auf einem imaginären Flugzeug zu mir zu fliegen, genau so wie die Heilige Inquisition die Hexen zwang, auf Besen zum Rendezvous mit dem Teufel zu reiten! Die Technik hat sich verändert, der Kern blieb derselbe!

Im Hippodrom-Saal, den ich von hier aus gerne sehen möchte, gibt es sicherlich kompetente Juristen. Ich bitte Sie, zu beachten, daß sowohl Golzmann wie Pjatakow mit keinem Worte meine Adresse, das heißt den Ort des Zusammentreffens erwähnen. Sowohl der eine wie der andere haben verschwiegen, mit welchem Paß und unter welchem Namen sie in ein fremdes Land gereist sind. Der Staatsanwalt hat ihnen keine Frage wegen der Pässe gestellt. Der Grund ist klar: in der Liste der angekommenen Ausländer wären diese Namen nicht enthalten. Pjatakow hätte in Norwegen übernachten müssen, die Dezembertage sind dort sehr kurz. Er hat jedoch kein Hotel genannt. Der Staatsanwalt hat ihn nach dem Hotel nicht gefragt? Warum? Weil das Gespenst des Bristol-Hotels über Wyschinskis Kopf schwebte! Der Staatsanwalt ist kein Staatsanwalt, sondern der Inquisitor und Inspirator von Pjatakow, wie Pjatakow nur ein unglückliches Opfer der GPU ist.

 

Ich hätte hier noch eine riesige Zahl von Zeugenaussagen und Dokumenten anführen können, die die Angaben einer Reihe von Angeklagten bis auf den Rest widerlegen: Smirnows, Mratschkowskis, Dreizers, Radeks, Wladimir Romms, kurz aller jener, die auch nur einen Versuch gemacht haben, auf Tatsachen, Umstände, Zeit und Ort Anspielungen zu machen. Eine solche Arbeit läßt sich jedoch nur vor einer Untersuchungskommission, unter Beteiligung von Juristen, erfolgreich vornehmen, da sie Zeit erfordert zur eingehenden Prüfung der Dokumente und der Zeugenaussagen.

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Aber bereits das Gesagte erlaubt, hoffe ich, den Gesamtverlauf der späteren Untersuchung vorauszusehen. Einerseits ist die Anklage ungeheuerlich in ihrem ganzen Wesen: die gesamte alte Generation der Bolschewiki wird des scheußlichsten Verrats, der weder Sinn noch Zweck hat, beschuldigt. Zur Begründung dieser Anklage besitzt der Staatsanwalt keinen einzigen Sachbeweis, trotz Tausenden von Verhaftungen und Haussuchungen. Das völlige Fehlen von Indizien ist das schwerste Indiz gegen Stalin! Die Erschießungen stützen sich ausschließlich auf erzwungene Geständnisse. Wenn aber in diesen Geständnissen Tatsachen genannt werden, fallen sie bei der ersten Berührung mit der Kritik auseinander. Die GPU ist nicht nur der Fälschung schuldig. Sie ist auch schuldig, die Fälschung schlecht, plump und dumm durchgeführt zu haben. Straflosigkeit demoralisiert. Kontrollosigkeit paralysiert die Kritik. Die Falsifikatoren arbeiten nachlässig. Sie rechnen mit dem summarischen Effekt der Geständnisse und der - Erschießungen. Wenn man das Phantastische der Anklage als Ganzes mit den bewußt erlogenen Tatsachenangaben konfrontiert, was bleibt von all den monotonen Geständnissen übrig? Ein beklemmender Geruch vom Inquisitionstribunal und nicht mehr!

Es gibt noch eine Art von Beweisen, die mir nicht weniger wichtig erscheint. In dem Jahr der Verbannung und den acht Jahren der Emigration habe ich meinen näheren und ferneren Freunden ungefähr zweitausend Briefe geschrieben, den akuten Fragen der Tagespolitik gewidmet. Die Briefe, die ich empfing, und die Kopien meiner Antworten besitze ich. Infolge ihrer Kontinuität decken diese Briefe vor allem die groben Widersprüche, Anachronismen und direkten Sinnlosigkeiten der Anklage auf, und zwar nicht nur in bezug auf mich und meinen Sohn, sondern auch in bezug auf die anderen Angeklagten. Jedoch besteht die Bedeutung der Briefe nicht nur darin. Meine gesamte politische und theoretische Tätigkeit dieser Jahre widerspiegelt sich erschöpfend in diesen Briefen. Sie werden durch meine Artikel und Bücher ergänzt. Die Untersuchung meiner Korrespondenz, scheint mir, hat entscheidende Bedeutung für die Charakteristik nicht nur meiner politischen

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und moralischen Persönlichkeit, sondern auch der meiner Korrespondenten. Wyschinski hat es nicht vermocht, dem Gericht auch nur einen Brief vorzulegen. Ich stelle der Kommission oder einem Gericht Tausende von Briefen zur Verfügung, die meine wirklichen Gedankengänge wiedergeben, und zwar im Verkehr mit den Menschen, die mir am nächsten stehen und vor denen ich nichts zu verbergen habe, insbesondere mit meinem Sohn Leo. Dieser Briefwechsel allein kann durch seine innere Überzeugung das Stalinsche Amalgam im Keime töten. Der Staatsanwalt bleibt mit all seinen Kniffen und die Angeklagten bleiben mit all ihren Monologen der Verzweiflung in der Luft hängen. Solcher Art ist die Bedeutung meiner Korrespondenz. Solcher Art ist der Inhalt meiner Archive. Ich verlange von niemand Vertrauen. Ich appelliere an die Vernunft, an die Logik, an die Kritik. Ich biete Fakten und Dokumente. Ich fordere eine Nachprüfung!

Unter Ihnen, meine lieben Zuhörer, befinden sich sicherlich nicht wenige Menschen, die gerne wiederholen: »Die Geständnisse der Angeklagten sind falsch, das ist klar; aber wie gelingt es Stalin, solche Geständnisse zu erlangen: das ist das Geheimnis!« In Wirklichkeit ist das Geheimnis gar nicht so tief. Die Inquisition hat bei einer unvollkommeneren Technik Angeklagten jedes beliebige Geständnis entrissen. Das demokratische Strafrecht hat darum die mittelalterlichen Methoden abgelehnt, weil sie nicht zur Feststellung der Wahrheit führten, sondern zur Bestätigung jeglicher von der Untersuchung diktierten Beschuldigung. Die Prozesse der GPU sind durch und durch von inquisitorischem Charakter: darin liegt das simple Geheimnis der Geständnisse!

Die gesamte politische Atmosphäre der Sowjetunion ist vom Geiste der Inquisition durchdrungen. Haben Sie das Buch von Andre Gide »Rückkehr aus der USSR« gelesen? Gide ist ein Freund der Sowjets, aber kein Lakai der Bürokratie. Außerdem hat dieser Künstler Augen. Eine kleine Episode in Gides Buch ist zum Verständnis für die Prozesse von unschätzbarem Wert. Am Ende seiner Reise wollte Gide an Stalin ein Telegramm senden; da er aber keine Inquisitions-Erziehung erhalten hatte, sprach er Stalin mit dem einfachen demokratischen Worte »Sie« an. Man weigerte sich, das Telegramm anzunehmen. Sie glauben das nicht? Ja, ja, man weigerte sich, das Telegramm anzunehmen! 

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Die behördlichen Personen setzten Gide auseinander: »Man muß an Stalin schreiben: >Führer der Werktätigem oder >Lehrer der Völker< und nicht einfach >Sie<.« Gide versuchte sich zu widersetzen: »Hat denn Stalin diese Schmeicheleien nötig?« Es half nichts. Man lehnte es strikt ab, das Telegramm ohne die byzantinische Schmeichelei anzunehmen. Endlich erklärte Gide: »Ich füge mich, des Kampfes müde, lehne aber jede Verantwortung ab ...« Auf diese Weise hatte man den weltberühmten Schriftsteller und geachteten Gast in wenigen Minuten zermürbt und gezwungen, nicht das Telegramm zu schreiben, das er gewollt, sondern jenes, das ihm kleine Inquisitoren diktierten. Wer eine Spur Phantasie besitzt, möge sich nicht einen berühmten Reisenden, sondern einen in Ungnade gefallenen Sowjetbürger, einen Oppositionellen, isoliert und zu Tode gehetzt, einen Paria vorstellen, der gezwungen ist, nicht ein Begrüßungstelegramm an Stalin zu schreiben, sondern das zehnte oder zwanzigste Geständnis seiner Schuld. Vielleicht gibt es in der Welt sehr viele Helden, die jegliche Foltern, physische und moralische, an sich selbst, an ihren Frauen, an ihren Kindern ertragen können ... Ich weiß es nicht ... Meine persönlichen Beobachtungen sagen mir, daß das Fassungsvermögen der menschlichen Nerven begrenzt ist. Durch die GPU ist Stalin imstande, sein Opfer in einen solchen ausweglosen Abgrund des Entsetzens, der Erniedrigung, der Ehrlosigkeit zu stürzen, wo das ungeheuerlichste Verbrechen auf sich zu nehmen mit der Aussicht auf den sicheren Tod oder mit einem schwachen Hoffnungsstrahl vor sich, der einzige Ausweg bleibt. Natürlich wenn man nicht den Selbstmord mitzählt, den Tomski vorgezogen hat! Den selben Ausweg wählten früher Joffe, zwei Mitglieder meines Kriegssekretariats: Glasmann und Butow, Sinowjews Sekretär, Bogdan, meine Tochter Sinaida und viele Dutzende andere. Selbstmord oder moralische Selbstvernichtung: ein Drittes gibt es nicht! Nur darf man nicht vergessen, daß im Gefängnis der GPU auch der Selbstmord häufig ein unerreichbarer Luxus ist!

Die Moskauer Prozesse entehren die Revolution nicht, denn sie sind Kinder der Reaktion. Die Moskauer Prozesse entehren die alte Generation der Bolschewiki nicht: sie zeigen nur, daß auch Bolschewiki aus Fleisch und Blut sind und daß sie es nicht endlos ertragen können, wenn über ihren Köpfen jahrelang das Todespendel schwankt. Die Moskauer Prozesse entehren jenes politische Regime, das sie erzeugt hat: das Regime des Bonapartismus ohne Ehre und Gewissen! Sämtliche Erschossenen starben mit Flüchen auf den Lippen gegen dieses Regime.

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Wer Lust hat, mag Tränen darüber vergießen, daß die Ge.-schichte einen solchen verwirrten Gang hat: zwei Schritte vorwärts, einen Schritt rückwärts. Tränen aber helfen nicht. Man muß, wie Spinoza es empfiehlt, nicht lachen, nicht weinen, sondern begreifen. Versuchen wir zu begreifen! Wer sind denn die Hauptangeklagten? Alte Bolschewiki, die die Partei, den Sowjetstaat, die Rote Armee, die Komintern geschaffen haben. Wer ist als Ankläger gegen sie aufgetreten? Wyschinski, ein bürgerlicher Advokat, der sich nach der Februarrevolution als Menschewik umgefärbt und sich den Bolschewiki nach derem völligen Siege-angeschlossen hat. Wer hat gegen die Angeklagten in der »Prawda« scheußliche Pasquille geschrieben? Sas-lawski, die frühere Säule einer Bankzeitung, den Lenin im Jahre 1917 in seinen Artikeln nicht anders nannte als »Schuft«! Der frühere Redakteur der »Prawda«, Bucharin, ein alter Bolschewik, ist verhaftet. Hauptsäule der »Prawda« ist heute Michail Kolzow, ein bürgerlicher Feuilletonist, der den ganzen Bürgerkrieg im Lager der Weißen zugebracht hat. Sokolnikow, der Teilnehmer der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges, ist als Verräter verurteilt. Rakowski wartet auf die Anklage. Sokolnikow und Rakowski waren Gesandte in London. Ihren Platz nimmt jetzt Maiski ein, ein rechter Menschewik, der während des Bürgerkrieges Minister der Weißen Regierung auf Koltschaks Territorium war. Trojanowski, der Sowjetgesandte in Washington, erklärt die Trotzkisten für Konterrevolutionäre. Er selbst war in den ersten Jahren der Oktoberrevolution im Zentralkomitee der Menschewiki und hat sich den Bolschewiki erst angeschlossen, nachdem sie reizvolle Posten zu verteilen begannen. Bevor er Gesandter wurde, war Sokolnikow Volkskommissar für Finanzen. Wer hat diesen Posten jetzt inne? Grinko, der gemeinsam mit den Weißgardisten in den Jahren 1917-1918 im »Komitee der Rettung« gegen die Sowjets gekämpft hat. Einer der besten Sowjetdiplomaten war Joffe, der erste Sowjetgesandte in Deutschland. Man hat ihn in den Selbstmord gehetzt. Wer ersetzte ihn in Berlin? Zuerst der reuige Oppositionelle Krestinski, dann Chintschuk, ein früherer Menschewik, Teilnehmer des konterrevolutionären »Komitees der Rettung«, schließlich Suritz, der das Jahr 1917 ebenfalls jenseits der Barrikaden verbracht hat. Diesen Namensaufruf könnte ich ins Endlose fortsetzen.

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Der grandiose Wechsel des Personenbestandes, besonders verblüffend in der Provinz, hat tiefe soziale Ursachen. Welche? Es ist höchste Zeit, sich endlich Rechenschaft darüber abzulegen, daß in der USSR sich eine neue Aristokratie herausgebildet hat. Die Oktoberrevolution ging unter dem Zeichen der Gleichheit. Die Bürokratie verkörpert eine ungeheuere Ungleichheit. Die Revolution hat den Adel abgeschafft. Die Bürokratie hat neue Vornehme geschaffen. Die Revolution hat Rangstufen und Orden abgeschafft. Die Bürokratie läßt wieder Marschälle, Generale und Obersten aufleben. Die neue Aristokratie verschlingt einen riesigen Teil des Nationaleinkommens. Ihre Lage vor dem Gesicht des Volkes ist falsch und verlogen. Ihre Führer sind gezwungen, die Wirklichkeit zu verbergen, die Massen zu betrügen, sich zu maskieren und Schwarz Weiß zu nennen. Die gesamte Politik der neuen Aristokratie ist eine Fälschung. Eine Fälschung ist auch die neue Konstitution.

Die Angst vor der Kritik ist Angst vor der Masse. Die Bürokratie fürchtet das Volk. Die Lava der Revolution ist noch nicht erkaltet. Mit blutigen Repressalien sich auf die Unzufriedenen und Kritisierenden nur deshalb zu stürzen, weil sie die Einschränkung der Privilegien fordern, kann die Bürokratie nicht. Die gefälschten Beschuldigungen gegen die Opposition sind darum keine zufälligen Akte, sondern ein System, das sich aus der heutigen Lage der regierenden Kaste ergibt. Erinnern wir uns, wie die Thermidorianer der französischen Revolution gegen die Jakobiner vorgingen. Der Historiker Aulard schreibt: »Les ennemis ne se contenterent pas d'avoir tue Robespierre et ses amis: ils les calomnierent en les representant aux yeux de la France comme de royalistes et de gens vendus ä l'etran-ger.« 

Stalin hat nichts ausgedacht. Er hat nur Royalisten durch Faschisten ersetzt.

Wenn die Stalinisten uns »Verräter« nennen, so klingt darin nicht nur Haß, sondern auch eine eigenartige Aufrichtigkeit. Sie meinen, wir hätten die Interessen der heiligen Kaste der Generale und Marschälle verraten, die angeblich allein fähig ist, den »Sozialismus aufzubauen«, die aber in Wirklichkeit die Idee des Sozialismus kompromittiert. Wir unserseits halten die Stalinisten für Verräter an den Interessen der russischen Volksmassen und des Weltproletariats. Es ist sinnlos, diesen erbitterten Kampf mit persönlichen Motiven zu erklären. Es handelt sich nicht nur um verschiedene Programme, sondern um verschiedene soziale Interessen, die immer feindlicher aufeinanderstoßen.

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Und wo ist deine Gesamtdiagnose? werden Sie fragen; wo ist die Prognose? Ich habe im voraus gesagt: meine Rede ist nur den Moskauer Prozessen gewidmet. Der sozialen Diagnose und Prognose gilt mein letztes Buch »Verratene Revolution«. Jedoch will ich in zwei Worten sagen, was ich denke. Die grundlegenden Errungenschaften der Oktoberrevolution, das heißt die neuen Formen des Eigentums, die die Entwicklung der Produktivkräfte gestatten, sind noch nicht vernichtet, aber sie sind bereits in einen unversöhnlichen Gegensatz zu dem politischen Despotismus geraten. Der Sozialismus ist undenkbar ohne Selbsttätigkeit der Massen, ohne Aufblühen der menschlichen Persönlichkeit. Der Stalinismus tritt das eine wie das andere mit Füßen. Ein offener Konflikt zwischen dem Volk und der neuen Despotie ist unvermeidlich. Stalins Regime ist dem Untergang geweiht. Wird die kapitalistische Konterrevolution oder die Arbeiterdemokratie es ersetzen? Die Geschichte hat diese Frage noch nicht gelöst. Die Lösung hängt auch von der Aktivität des Weltproletariats ab. Wenn man für einen Augenblick annimmt, der Faschismus werde in Spanien triumphieren und danach in Frankreich - dann wird das Sowjetland, vom faschistischen Ring umgeben, zum weiteren Verfall verurteilt sein, der sich vom politischen Überbau auf das soziale Fundament ausbreiten wird. Mit anderen Worten: die Niederschlagung des europäischen Proletariats wird auch unvermeidlich den Zusammenbruch der USSR bedeuten. Umgekehrt: wenn die werktätigen Massen Spaniens mit dem Faschismus fertig werden, wenn die französische Arbeiterklasse den Weg der Befreiung beschreiten wird, dann werden auch die unterdrückten Massen der USSR sich aufrichten und das Haupt erheben. Dann wird die letzte Stunde des Stalin-schen Despotismus geschlagen haben.

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Aber der Triumph der Sowjetdemokratie wird nicht von selbst kommen. Das hängt auch von euch ab. Man muß den Massen helfen. Die erste Hilfe ist: ihnen die Wahrheit sagen. Die Frage steht folgendermaßen: der demoralisierten Bürokratie gegen das Volk helfen oder den fortschrittlichen Kräften des Volkes gegen die Bürokratie. Die Moskauer Prozesse sind ein Signal. Wehe dem, der es nicht hört! Der Reichstagsbrand-Prozeß war selbstverständlich von großer Bedeutung. Aber dort ging es um den verächtlichen Faschismus, um die Verkörperung aller Laster der Finsternis und Barbarei. Die Moskauer Verbrechen geschehen unter dem Banner des Sozialismus. Dieses Banner werden wir den Meistern der Fälschung nicht überlassen. Wenn unsere Generation sich als zu schwach erwiesen hat, den Sozialismus auf der Erde zu verwirklichen, so wollen wir das Banner unbefleckt unseren Kindern weitergeben. Der Kampf, der bevorsteht, übersteigt bei weitem die Kräfte einzelner Menschen, Fraktionen oder Parteien. Es ist der Kampf um die Zukunft der ganzen Menschheit. Er wird hart sein. Er wird langwierig sein. Wer physische Ruhe und seelischen Komfort sucht, der trete beiseite. In Zeiten der Reaktion ist es bequemer, sich auf die Bürokratie als auf die Wahrheit zu stützen. Aber alle, für die der Sozialismus kein leeres Wort ist, sondern der Inhalt des sittlichen Lebens - vorwärts! Weder Drohungen, noch Verfolgungen, noch Gewalt werden uns aufhalten. Vielleicht auf unseren Knochen, aber die Wahrheit wird triumphieren. Wir werden ihr den Weg bahnen. Sie wird siegen. Und unter den schrecklichen Schlägen des Gerichtstages werde ich mich glücklich schätzen, wie in den besten Tagen meiner Jugend, wenn ich gemeinsam mit euch zu ihrem Siege beitragen kann. Denn, meine Freunde, das menschliche Glück besteht nicht in der Ausnutzung der Gegenwart, sondern in der Vorbereitung der Zukunft!

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Voruntersuchung in Coyoacan

 

 

Während der ersten »kirowschen« Prozesse (Dezember 1934 bis Januar 1935) war die Annäherung Paris-Moskau bereits in vollem Gange. Die »nationale« Disziplin der französischen Presse ist zu gut bekannt. Vertreter der ausländischen, insbesondere der amerikanischen Presse konnten mich infolge meines »Inkognitos« nicht erreichen. Ich war isoliert. Mein Echo auf den ersten Sinowjew-Kamenjew-Prozeß bestand in einer kleinen Broschüre, die in einer sehr beschränkten Auflage gedruckt und verbreitet wurde. In Moskau nahm man mit Befriedigung diese Tatsache zur Kenntnis: sie erleichterte die Inszenierung des kommenden großen Prozesses. Mit seiner Vorbereitung vergingen jedoch noch anderthalb Jahre. Während dieser Zeit hatte sich die Freundschaft Stalins mit den Parteien der Volksfront in Frankreich derart gefestigt, daß die GPU mit Bestimmtheit auf die wohlwollende Neutralität nicht nur der Radikalen, sondern auch der Sozialisten rechnen konnte. Tatsächlich schloß der »Populaire« vollständig seine Spalten für jegliche Enthüllungen über die Tätigkeit der GPU, nicht nur in der USSR, sondern auch in Frankreich. Die Verschmelzung der »roten« Gewerkschaften mit den reformistischen hatte unterdessen den Siegel des Schweigens auf die Lippen der CGT gelegt Wenn Leon Blum den Streit mit Thorez vertagt so bemüht sich Leon Jouhaux, im Frieden mit beiden zu leben. Der Sekretär der IL Internationale, Friedrich Adler, tat was er konnte, um die Wahrheit aufzudecken. Aber mit kleinen Ausnahmen boykottierte die Internationale ihren eigenen Sekretär. Nicht zum erstenmal in der Geschichte wurden die führenden Organisationen Werkzeuge einer Verschwörung gegen die Interessen der Arbeitermassen und die Förderungen ihres Gewissens. Doch niemals vielleicht hatte die Verschwörung solch zynischen Charakter angenommen. Stalin konnte deshalb glauben, seines Spieles sicher zu sein.

Er hat sich verrechnet Ein dumpfer, nicht immer artikulierter, aber sicherer Widerstand erhob sich von unten. Die Arbeitermassen konnten nicht ruhig die Tatsache verdauen, daß der alte bolschewistische Stab plötzlich der Verbindung mit dem Faschismus beschuldigt und der Vernichtung ausgesetzt wurde. Es schlugen Alarm die ehrlicheren und feinfühligeren. Elemente der radikalen Intelligenz.

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 Unter diesen Umständen zeigte sich auch die ganze Bedeutung der Gruppen, die unter dem Banner der IV. Internationale stehen. Sie sind noch keine Massenorganisationen - und können nachdem Charakter der reaktionären Periode, die wir durchleben, keine sein. Das sind Kader, Ferment der Zukunft. Sie haben sich formiert im Kampfe gegen die führenden Arbeiterparteien der Epoche des Niedergangs. In der Geschichte der Arbeiterbewegung war keine Fraktion solch bösartigen und vergifteten Verfolgungen ausgesetzt wie die sogenannten »Trotzkisten«. Das hat ihnen eine politische Stählung verliehen, den Geist der Opferbereitschaft eingeimpft und sie gelehrt, gegen den Strom zu schwimmen. Gehetzte junge Kader lernen viel, denken ernst und stehen ehrlich zum Programm. Nach der Fähigkeit, sich in der politischen Situation zu orientieren und deren Entwicklung vorauszusehen, überragen sie schon jetzt unermeßlich die »autoritärsten« Führer der II. und der III. Internationale. Sie sind tief der Sowjetunion ergeben, das heißt dem, was von der Oktoberrevolution dort übrig geblieben ist, und werden, zum Unterschiede von der überwiegenden Mehrzahl der offiziellen »Freunde«, in schwieriger Stunde es durch die Tat beweisen. Aber sie hassen die Sowjetbürokratie als den bösesten Feind. Deren Fälschungen und Amalgame können sie nicht täuschen. Jede dieser Gruppen war mindestens einmal selbst Opfer einer kleinen nationalen Fälschung gewesen, vorläufig allerdings noch ohne Erschießungen, aber mit Versuchen moralischen Mordes und nicht selten physischer Gewalt. Hinter den Fälschungen der Komintern steht stets die GPU. Die Moskauer Prozesse haben darum die ausländischen »Trotzkisten« nicht überrascht. Sie haben als erste das Signal der Abwehr gegeben und sofort einen sympathisierenden Widerhall in verschiedenen Schichten und Gruppierungen der Arbeiterklasse und der radikalen Intelligenz gefunden.

Die Hauptaufgabe bestand darin, eine öffentliche Untersuchung der Moskauer Verbrechen zu erreichen. Es konnte jedoch unter den gegebenen Verhältnissen nicht die Rede sein von der Schaffung einer Untersuchungskommission auf der Basis der offiziellen Arbeiterorganisationen. Es blieb nur ein anderer Weg übrig: zur Sache der Untersuchung einzelne autoritäre Menschen mit sauberer Reputation hinzuzuziehen. Gerade so hat das amerikanische »Komitee zur Verteidigung Trotzkis« und danach auch das französische die Frage gestellt.

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Die Stalinsche Agentur hat in der ganzen Welt sofort ein Geheul erhoben, die Untersuchung werde »parteiisch« sein. Diese Menschen haben ihre Kriterien: die Verkörperung der Unparteilichkeit ist für sie Jagoda, der den Prozeß Sinowjew-Kamen-jew vorbereitete. Vergeblich hat das New-Yorker Komitee versucht, zur Kommission Vertreter der Sowjetgesandtschaft, der amerikanischen kommunistischen Partei oder der »Freunde der Sowjetunion« hinzuzuziehen. Ein heiseres Bellen antwortete aus verschiedenen Ländern der Alten und der Neuen Welt auf die wiederholten Einladungen: es demonstrierten die heißesten Anhänger der »Unparteilichkeit« ihre Solidarität mit der Justiz Stalins und Jagodas.

Aber es heißt schon immer: die »Freunde« bellen, doch die Karawane zieht vorbei. Die Kommission wurde Tatsache. Ihr Zentrum ist natürlicherweise John Dewey, Philosoph und Pädagoge, Veteran des amerikanischen »Liberalismus«. Neben ihm sitzen in der Kommission: die radikale Schriftstellerin Su-zanne La Follette; der bekannte Publizist des linken Lagers, Benjamin Stolberg; der alte deutsche Marxist des linken Flügels, Otto Rühle; der bekannte Politiker des anarchistischen Lagers, Carlo Tresca; das Haupt der amerikanischen Soziologen, Edward Alsworth Ross; der Rabbiner Edward L. Israel und andere Persönlichkeiten. Entgegen den absurden Behauptungen der Komintern-Presse ist und war kein einziges Mitglied der Kommission ein Gesinnungsgenosse von mir. Der als Marxist politisch mir am nächsten Stehende, Otto Rühle, war in unversöhnlicher Opposition zur Komintern auch in jener Periode, als ich an ihrer Leitung nahen Anteil nahm. Aber es handelt sich ja gar nicht darum. Das Moskauer Gericht beschuldigt mich nicht des »Trotzkismus«, nicht der Verteidigung des Programms der permanenten Revolution, sondern des Bündnisses mit Hitler und dem Mikado, das heißt des Verrates am" Trotzkismus. Wenn aber die Mitglieder der Kommission mit dem »Trotzkismus« sympathisieren würden (wovon in Wirklichkeit nicht die Spur ist), so würde sie dies keinesfalls geneigt machen, meinem Bündnis mit dem japanischen Imperialismus gegen die USSR, die Vereinigten Staaten und China durch die Finger zu sehen. Seine Feindschaft gegen den Faschismus hat Otto Rühle durch das Werk seines ganzen Lebens wie auch durch seine Verbannung bewiesen. Er ist weniger fähig, Milde gegen Hitlers Verbündete zu zeigen, als jene

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Beamten, die auf Kommando der Vorgesetzten segnen und fluchen. Die »Parteilichkeit« der Kommissionsmitglieder besteht nur darin, daß sie weder Jagoda, noch Wyschinski, noch Stalin selbst aufs Wort glauben. Sie wollen Beweise und fordern sie. Es ist nicht ihre Schuld, wenn Stalin ihnen das verweigert, was er nicht besitzt

An der Spitze der Pariser Kommission, die nach Direktiven aus New York arbeitet, stehen meine unversöhnlichen politischen Gegner: der sozialistische Advokat Delepine, Mitglied des Zentralkomitees der Partei Leon Blums; der italienische Advokat Modigliani, Mitglied des Exekutivkomitees der IL Internationale. Auch unter den übrigen Mitgliedern der Kommission (Frau Cesar Chabrun, Vorsitzende des Hilfskomitees für politische Gefangene; Galtier-Boissiere, Direktor der linken Zeitschrift »Le Crapouillot«; Mathe, der frühere Sekretär des Nationalen Gewerkschaftsbundes der Post- und Telegrafenangestellten, und Jacques Madaule, ein bekannter katholischer Schriftsteller) gibt es nicht einen Trotzkisten. Ich will noch hinzufügen, daß ich mit keinem einzigen Mitglied, sowohl der New-Yorker wie der Pariser Kommission, je im Leben persönliche Beziehungen oder Verbindungen unterhalten habe.

Die New-Yorker Kommission beschloß, vor allem durch eine besondere Unterkommission mich zu vernehmen, um festzustellen, ob ich über genügend Material verfüge, um die spätere Untersuchung zu rechtfertigen. Die Unterkommission bestand aus: John Dewey, La Follette, Stolberg, Otto Rühle und dem Journalisten Carleton Beals. Die Hinzuziehung des letzteren zur Unterkommission war nur deshalb erfolgt, weil einige in Aussicht genommene autoritäre Persönlichkeiten im letzten Moment verhindert waren, nach Mexiko zu reisen. Als juristischen Berater hat die Unterkommission den bekannten Advokaten John Finnerty eingeladen, einen Teilnehmer der irländischen revolutionären Bewegung und Verteidiger in den berühmten Prozessen Sacco und Vanzetti, Thom Muni und anderer. Ich meinerseits hatte als Rechtsbeistand den Chikagoer Advokaten Albert Goldmann geladen. Die Stalinsche Presse hat ihn sofort des »Trotzkismus« beschuldigt und hatte diesmal recht. Goldmann hat jedoch niemals seine politische Solidarität mit mir verheimlicht, im Gegenteil, er hat sie während der Untersuchung offen bekannt Hätte ich vielleicht zu meinem Advokaten Herrn Pritt erwählen sollen?

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Nach ihrer Ankunft in Mexiko hat die Unterkommission sofort die kommunistische Partei, die Gewerkschaften und alle Arbeiterorganisationen des Landes überhaupt eingeladen, an der Untersuchung teilzunehmen, mit dem Recht, alle Fragen, die sie für nötig halten, zu stellen und die Nachprüfung der Erklärungen zu verlangen. Aber die sogenannten »Kommunisten« und die offiziellen »Freunde« Moskaus haben mit demonstrativen Ablehnungen geantwortet, bei denen die Feigheit sich mit Hochmut zu maskieren bemühte. Wenn Stalin in die Gerichtsarena nur solche Angeklagte lassen kann, denen alle nötigen »Reuebekenntnisse« vorher entrissen wurden, so können die ausländischen »Freunde« der GPU nur in einer solchen Umgebung auftreten, wo sie auf keinen Widerspruch stoßen. Den freien Dialog vertragen diese Menschen nicht

Die ursprüngliche Absicht der Unterkommission war, ihre Arbeit öffentlich in einem der Säle Mexikos durchzuführen. Die »kommunistische« Partei drohte mit Manifestationen. Die Partei ist zwar sehr klein, dafür aber verfügt die GPU über große finanzielle und technische Mittel. Die mexikanischen Behörden stellten der Arbeit der Unterkommission keine Hindernisse in den Weg. Jedoch würde der Schutz öffentlicher Sitzungen zuviel Mühe gekostet haben. Die Unterkommission beschloß aus eigener Initiative, ihre Sitzungen im Hause Rive-ras abzuhalten, in einem Raum, der fünfzig Personen faßt Die Presse und die Vertreter der Arbeiterorganisationen, unabhängig von der Richtung, hatten freien Zutritt zu den Sitzungen. Einige mexikanische Gewerkschaftsverbände waren durch Delegierte vertreten.

Die Sitzungen der Unterkommission dauerten eine Woche, vom 10.-17. April. In der einleitenden Rede erklärte Professor Dewey: »Wenn Leo Trotzki der Taten, die man ihm vorwirft, schuldig ist, dann gibt es keine Strafe, die zu hart wäre. Der ausnehmende Ernst der Anklagen ist aber ein Grund mehr, dem Angeklagten in vollem Maße das Recht zu sichern, alle in seinen Händen befindlichen Beweise beizubringen zur Widerlegung der Anklage. Die Tatsache, daß Herr Trotzki die Beschuldigungen zurückweist, kann an sich in den Augen der Kommission nicht von Gewicht sein. Aber die" Tatsache, daß er verurteilt wurde, ohne daß man ihm die Möglichkeit gab, gehört zu werden, ist für das Gewissen der ganzen Welt von größtem Gewicht.« Diese Worte drücken am besten den Geist

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aus, der die Arbeit der Kommission erfüllte. Nicht weniger charakteristisch sind die Schlußworte seiner Rede, in der Dewey, diesmal im eigenen Namen, erklärt, weshalb er nach langem Schwanken sich bereit gefunden habe, die schwere Pflicht des Vorsitzenden der Kommission zu übernehmen: »Ich habe mein Leben der Sache der Erziehung gewidmet, die ich als Aufklärung des Volkes im Interesse der Gesellschaft verstehe. Und wenn ich den verantwortlichen Posten, den ich heute einnehme, doch übernommen habe, so nur deshalb, weil ich zu dem Entschluß gekommen bin, daß anders zu handeln bedeutet hätte, der Sache meines Lebens untreu zu werden.« Es gab im Saale keinen einzigen Menschen, der vom tiefen sittlichen Ernst dieser in ihrer Einfachheit außerordentlichen Worte des achtundsiebenzigjährigen Mannes nicht ergriffen war.

Meine kurze Antwort enthielt unter anderem folgende Erklärung: »Ich bin mir dessen klar bewußt, daß die Teilnehmer der Kommission bei ihrer Arbeit geleitet werden von ungleich bedeutenderen und tieferen Motiven als das Interesse für das Schicksal einer einzelnen Person. Um so größer aber ist meine Hochachtung und um so aufrichtiger mein Dank!« Und weiter: »Ich bitte um Nachsicht für meine englische Sprache, die - ich erlaube mir, es im voraus zu sagen - der schwächste Punkt meiner Position ist. In allem anderen erwarte ich nicht die geringste Nachsicht. Am allerwenigsten neige ich dazu, a priori Vertrauen zu meinen Behauptungen zu verlangen. Die Aufgabe der Untersuchungskommission ist, alles, von Anfang bis zu Ende, nachzuprüfen. Meine Pflicht ist, ihr dabei zu helfen. Ich werde bemüht sein, diese Pflicht vor den Augen der ganzen Welt gewissenhaft zu erfüllen.« Die Kommission ging an die Sache in außerordentlich weitem Ausmaße heran, das durch das Wesen der Moskauer Anklagen gerechtfertigt wird. Der gesamte Verlauf der Debatten wurde von einem vereideten Gerichtsstenographen niedergeschrieben. Der Bericht, der etwa 350000 Worte enthält, wird bald in einer amerikanischen und in einer englischen Ausgabe erscheinen. Wer den Wunsch hat, die Wahrheit zu erfahren oder sich ihr auch nur zu nähern, wird mit dem aufmerksamen Vergleich der zwei stenographischen Berichte, des Moskauer und des Coyoacaner, beginnen müssen.

Die zwei ersten Sitzungen waren meiner politischen Biographie gewidmet, im besonderen meinen Beziehungen zu Lenin.

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Ich konnte mich wiederum überzeugen, daß die massive Lügenkampagne, die die Komintern unermüdlich seit zwölf Jahren führt, Spuren auch in den Gehirnen denkender und ehrlicher Menschen hinterlassen hat. Nicht alle Mitglieder kannten die wirkliche Geschichte der bolschewistischen Partei, besonders die Geschichte ihrer Entartung. Die Widerlegung der Erfindungen und Legenden der Moskauer Historiographie hätte eine zu detaillierte Arbeit, zuviel Zeit und ... eine weniger gebundene englische Zunge erfordert. Es ist möglich, daß dieser erste Teil der Vernehmung kein genügend abgeschlossenes politisches Bild ergeben hat. Mir blieb nur übrig, auf eine Reihe meiner Bücher zu verweisen und um deren Aufnahme in das Untersuchungsmaterial zu bitten.

Die zwei folgenden Sitzungen waren mit der Aufklärung über meine Beziehungen zu den Hauptangeklagten der zwei großen Prozesse ausgefüllt. Ich war bemüht, der Unterkommission klarzumachen, daß die Angeklagten nicht Trotzkisten, sondern erbitterte Feinde des Trotzkismus und insbesondere meine persönlichen Feinde gewesen waren. Tatsachen und Zitate, die ich bekanntgab, schlugen der Moskauer Version und ihren Autoren derart ins Gesicht, daß die Mitglieder der Unterkommission nur staunen konnten. Als ich auf die Fragen meines Advokaten die Geschichte der Gruppierungen und persönlichen Beziehungen in der bolschewistischen Partei während der letzten zehn Jahre darlegte, staunte ich selbst mitunter. Wie hat sich Stalin entschließen, wie hat er es wagen können, auch nur den Versuch zu machen, Sinowjew und Kamenjew, Radek und Pjatakow als meine politischen Gesinnungsgenossen hinzustellen? Die Lösung des Rätsels ist jedoch in Wirklichkeit einfach: in diesem Falle, wie in so vielen anderen, steht die Frechheit der Lüge in proportionellem Verhältnis zur Macht des Inquisitionsapparates. Stalin hat nicht nur meine Feinde gezwungen, sich ais meine Freunde auszugeben, er hat sie auch genötigt, als Strafe für diese angebliche Freundschaft um ihre Hinrichtung zu bitten. Hatte Wyschinski es nötig, bei einem solchen Prozeß-Komfort sich um Tatsachen, Zitate, Chronologie und Psychologie zu kümmern?

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Fast drei Sitzungen waren der Analyse und der Widerlegung der wichtigsten, gegen mich persönlich gerichteten Aussagen gewidmet, nämlich: dem angeblichen Besuch Golzmanns und der anderen bei mir in Kopenhagen im November 1932; der angeblichen Begegnung Wladimir Romms mit mir im Bois de Boulogne, Ende Juli 1933, und endlich dem angeblichen Flug Pjatakows zu mir nach Norwegen, Dezember 1935.

Zu diesen drei entscheidenden Punkten legte ich die Originalkorrespondenz vor, die sich auf die entsprechenden Momente bezieht, offizielle Dokumente (Pässe, Visen, telegraphische Gesuche, Photographien usw.) und mehr als hundert notariell beglaubigte Zeugenaussagen aus allen Ecken Europas. Alle Umstände meines Lebens in diesen drei kurzen, aber entscheidenden Perio: den waren mit solcher Fülle klargestellt, daß den Organisatoren der Fälschung kein Loch geblieben war, wo auch nur eine Nadel hätte durchgehen können. In diesem Teil erreichte die Untersuchung in Coyoacan ihren Höhepunkt. Die Mitglieder der Kommission, die Journalisten und das Publikum, alle erkannten und fühlten in gleicher Weise, daß der Nachweis meines Alibi in den drei einzigen Fällen, wo die Anklage Zeit- und Ortumstände nennt, dem Moskauer Gerichtsverfahren in seiner Gesamtheit einen tödlichen Schlag zufügte. Allerdings versuchte Beals, der Moskauer offiziellen Version zu Hilfe zu kommen und in meinen Antworten Widersprüche zu entdek-ken. Doch konnte ich diesem Kommissionsmitglied dafür nur dankbar sein, unabhängig von seinen Absichten. Meine Lage war sehr günstig: ich sprach vor vernünftigen und ehrlichen Menschen, die danach strebten, die Wahrheit zu erfahren; ich schilderte die Tatsachen, wie sie waren, und stützte mich auf ^unwiderlegbare Dokumente; Zeitungen, Bücher, Briefe, das menschliche Gedächtnis, die Logik und die Psychologie - alles kam mir zu Hilfe. Nach jeder Antwort auf die scharfen Fragen Beals verstummte dieses rätselhafte Mitglied der Kommission in völliger Verwirrung. Seine im Publikum sitzenden Inspiratoren hörten schließlich auf, ihm Zettelchen zu schicken. In den Geheimfächern des menschlichen Gewissens war das Schicksal des Prozesses eigentlich im voraus entschieden. Allerdings vorläufig nur im kleinen Saal des blauen Hauses in Coyoacan. Das übrige ist eine Frage der Zeit und der typographischen Mittel.

Die* nächsten sechs Sitzungen beschäftigten sich mit Fragen der Sabotage, meiner Stellung zur Sowjetwirtschaft, meinen Verbindungen mit meinen Gesinnungsgenossen in der USSR, dem Terrorismus, der Verteidigung der USSR, der Tätigkeit der IV. Internationale und schließlich meiner Stellung zum Faschismus.

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Ich war nicht in der Lage, auch nur einen zwanzigsten Teil meines Materials auszunutzen. Die Hauptschwierigkeit bestand in der raschen Wahl der krassesten Dokumente, der kürzesten Zitate, der einfachsten Argumente. Eine unersetzbare Hilfe leisteten mir dabei meine alten Mitarbeiter: Jan Frankel und Jean Eijenoort. Die Kommissionsmitglieder bewahrten selbstverständlich äußerlich höchste Zurückhaltung. Aber doch schien es mir, als erreichten die Tatsachen und Argumente ihre Bestimmung und gruben sich ins Bewußtsein ein.

Entsprechend den Regeln des angelsächsischen Gerichtsverfahrens, ging die Leitung der Vernehmung in der zweiten Hälfte der Session von meinem Advokaten A. Goldmann zu dem juristischen Berater der Kommission, D. Finnerty, über. .Die Stalinisten beschuldigten ihn, er habe die Leitung »zu milde« gehandhabt. Vielleicht. Ich meinerseits wünschte nichts so sehr als mißtrauische, kämpferische, scharfe Fragen. Doch Finnertys Lage war nicht leicht. Die Aussagen, die ich machte, und die Dokumente, die ich vorlegte, vernichteten die Anklage restlos. Formell lief die Sache nur noch darauf hinaus, die Aussagen und die Dokumente kritisch zu prüfen. Das aber war zum Teil Aufgabe der europäischen Unterkommission und hauptsächlich der Plenarkommission in New York. Im gegebenen Stadium vermochten sogar die Inspiratoren Beals keine einzige Frage vorzubringen, die auch nur indirekt die Version des Moskauer Gerichts zu bekräftigen imstande gewesen wäre.

Finnerty und andere Kommissionsmitglieder waren eifrig bemüht, festzustellen, ob sich das »Regime Stalin« tatsächlich vom »Regime Lenin-Trotzki« so stark unterscheidet. Fragen über Wechselbeziehungen zwischen Partei und Sowjets und über das innere Regime der Partei selbst in verschiedenen Perioden wurden einer sorgfältigen Untersuchung ausgesetzt. Die Mehrzahl der Kommissionsmitglieder neigte zu der Meinung, daß der Bürokratismus Stalins, mit all seinen Verbrechen, deren ich ihn beschuldige, ein unvermeidliches Resultat der revolutionären Diktatur sei. Ich konnte selbstverständlich eine solche Fragestellung nicht akzeptieren. Die Diktatur des Proletariats ist für mich kein absolutes Prinzip, das aus sich heraus wohltuende oder bösartige Folgen logisch erzeugt, sondern eine historische Erscheinung, die je nach den konkreten Bedingungen, den äußern wie den innern, sich in die Richtung

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der Arbeiterdemokratie und der völligen Aufhebung der Herrschaft entwickeln wie auch in einen bonapartistischen Unterdrückungsapparat ausarten kann. Der tiefe Unterschied zwischen der formal-demokratischen und der dialektischen Stellung zu historischen Problemen in dieser Frage muß aus den Protokollen der Coyoacaner Untersuchung besonders grell hervortreten und damit allein beweisen, wie weit die Mitglieder der Kommission, mindestens in ihrer Mehrheit, vom »Trotzkismus« entfernt sind.

In der zwölften Sitzung wurde die äußerst zweideutige Erklärung Beals über seinen Austritt aus der Kommission verkündet. Diese Demonstration kam für niemand überraschend. Seit dem Augenblick seiner Ankunft in Mexiko stand Beals, ein früherer Korrespondent der TASS, in enger Mitarbeit mit Lom-, bardo Toledano, Klukhohn und anderen »Freunden« der GPU. Vor den Kollegen aus der Kommission verbarg er seine Adresse. Eine Reihe von Fragen, die er mir stellte, hatten zum Prozeß keine Beziehung, trugen aber einen bewußt provokatorischen Charakter, von dem Bestreben diktiert, mich bei der mexikanischen Behörde zu kompromittieren. Nachdem Beals seine kargen Hilfsmittel erschöpft hatte, blieb ihni nichts anderes übrig, als aus der Kommission auszutreten. Diese seine Absicht hatte er befreundeten Journalisten im voraus anvertraut, die es mit lobenswerter Unvorsichtigkeit in der mexikanischen Presse drei Tage vor Beals tatsächlichem Austritt veröffentlichten. Es ist überflüssig zu sagen, daß die Presse, die von Stalin ausgehalten wird, Beals hinter den Kulissen sorgfältig vorbereiteten Austritt auf ihre Art ausnutzte. Gleichzeitig versuchten Moskaus Agenten ein anderes Mitglied der Kommission zum Rücktritt zu bewegen, und zwar mit Hilfe von »Argumenten«, die man weder im Wörterbuch der Philosophie noch im Wörterbuch der Moral finden kann. Aber darüber wird die Geschichte ein anderes Mal erzählen.

Die letzte, dreizehnte Sitzung war zwei Reden gewidmet: meines Verteidigers und meiner eigenen. Auf den weiteren Seiten ist meine Schlußrede vor der Untersuchungskommission im Wortlaut angeführt. Ich hoffe, daß dies dem Leser, auch dem, der den stenographischen Bericht und die Dokumente nicht kennt, die Möglichkeit geben wird, sich darüber ein Urteil zu bilden: ob vom Moskauer Amalgam nach den Sitzungen in Coyoacan viel übriggeblieben ist.

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Das unmittelbare Ziel der Unterkommission war, wie wir bereits wissen, aufzuklären, ob ich tatsächlich über ein solches Material verfüge, das eine weitere Untersuchung rechtfertigen kann. Am 9. Mai gab John Dewey auf einem öffentlichen Meeting in New York seinen für das Plenum der internationalen Kommission bestimmten Bericht: Der fünfte Paragraph des Berichtes lautet: »Herr Trotzki als Zeuge. Entsprechend der bestehenden Regel, müssen sogar offiziell wirkende Gerichte das Benehmen eines Zeugen bei der Erwägung des Wertes seiner Aussagen in Betracht ziehen. Wir werden vom gleichen Prinzip geleitet bei der Wiedergabe unseres Eindrucks über das Benehmen und die Handlungsweise des Herrn Trotzki. Im Laufe sämtlicher Sitzungen schien er erfüllt von dem Wunsch, mitzuarbeiten mit der Kommission bei deren Bestreben, die Wahrheit über alle Perioden seines Lebens und seiner politischen und literarischen Tätigkeit festzustellen. Bereitwillig entgegenkommend und mit offener Aufrichtigkeit und dem Wunsche, mitzuhelfen, antwortete er auf alle Fragen, die ihm der Berater der Unterkommission und ihre Mitglieder stellten.« Die praktische Schlußfolgerung des Berichtes lautet: »Unsere Unterkommission überbringt einen stenographischen Bericht über ihre Sitzungen zusammen mit den als Beweis vorgelegten Dokumenten. Dieser Bericht überzeugt uns davon, daß Herr Trotzki die Notwendigkeit einer weiteren Untersuchung vollauf begründet hat. Wir empfehlen deshalb, die Arbeit der Kommission zu Ende zu führen.«

Mehr konnte ich vorläufig nicht verlangen! Die Plenarses-sion der Kommission ist für September angesetzt. Ihr Verdikt wird historische Bedeutung haben.

 

Warum ist eine Untersuchung notwendig?

 

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die Prozesse Sinowjew-Kamenjew und Pjatakow-Radek in den proletarischen und den demokratischen Kreisen der ganzen Welt einen Ausbruch tiefsten Mißtrauens gegen die Sowjetjustiz hervorgerufen haben. Indes mußte man gerade in diesem Falle volle Klarheit und Überzeugungskraft vom Gerichtsverfahren erwarten. Ankläger und Angeklagte, mindestens die wichtigsten von ihnen, sind der ganzen Welt bekannt. Ziele und Motive der Beteiligten müssen sich unmittelbar aus der politischen Situation,

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aus dem Charakter der handelnden Personen und aus deren gesamten Vergangenheit ergeben. Die Mehrzahl der Angeklagten ist erschossen worden: folglich ist ihre Schuld absolut bewiesen! Und doch, läßt man beiseite jene, die man durch einen einfachen telegraphischen Befehl aus Moskau von allem überzeugen kann, dann weigerte sich die öffentliche Meinung des Westens, den Anklägern und Henkern Unterstützung zu leisten. Im Gegenteil, die Unruhe und das Mißtrauen wachsen und gehen in Schrecken und Ekel über. Keiner denkt dabei an einen Justizirrtum. Die Moskauer Machthaber können nicht »aus Irrtum« Sinowjew, Kamenjew, Smirnow, Pjatakow, Serebrjakow und alle anderen erschossen haben. Das Mißtrauen zu der Justiz Wyschinski bedeutet in diesem Falle, Stalin direkt einer Rechtsfälschung mit politischen Absichten zu verdächtigen. Für eine andere Deutung bleibt kein Raum.

Vielleicht aber ist die sentimentale öffentliche Meinung voreingenommen durch Sympathien für die Angeklagten? Solche Argumente wurden wiederholt in den Fällen Francesco Ferrer in Spanien, Sacco-Vanzetti oder Muni in den Vereinigten Staaten usw. angeführt. In bezug auf die Moskauer Angeklagten kann jedoch von voreingenommenen Sympathien nicht die Rede sein. Der informierte Teil der öffentlichen Weltmeinung hegte keinerlei Sympathie, man muß offen sagen kein Vertrauen und keine Achtung für die Hauptangeklagten infolge ihrer vielfachen früheren Reuebekenntnisse und hauptsächlich infolge ihres Verhaltens vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft schilderte die Angeklagten, mit* deren eigenen Hilfe, nicht als Kapitulanten, sondern als »Trotzkisten«, in der Larve von Kapitulanten. Diese Charakteristik, soweit ihr Glauben geschenkt würde, konnte die Sympathien für die Angeklagten nicht steigern. Schließlich bildet der »Trotzkismus« selbst in der Arbeiterbewegung jetzt eine kleine Minderheit, die sich im scharfen Kampfe gegen alle anderen Parteien und Fraktionen befindet.

Viel vorteilhafter ist die Lage der Ankläger. Hinter ihnen steht die Sowjetunion. Das Anwachsen der Weltreaktion, besonders in ihrer barbarischsten Form, dem Faschismus, hat der Sowjetunion die Sympathien und Hoffnungen sogar sehr gemäßigter demokratischer Kreise zugewandt. Diese Sympathien haben gewiß einen sehr summarischen Charakter. Aber gerade deshalb besitzen die offiziellen und nichtoffiziellen

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Freunde der USSR in der Regel keine Neigung, die inneren Widersprüche des Sowjetregimes zu untersuchen; im Gegenteil, sie sind von vornherein geneigt, jede Opposition gegen die regierende Schicht als freiwillige oder unfreiwillige Unterstützung der Weltreaktion zu betrachten. Man muß dazu noch die diplomatischen und militärischen Verbindungen der USSR berücksichtigen, im Gesamtkomplex der heutigen internationalen Beziehungen: die rein nationalen und patriotischen Gefühle in einer Reihe von Ländern (Frankreich, Tschechoslowakei, zum Teil Großbritannien und die Vereinigten Staaten) prädisponieren die demokratischen Massen der Bevölkerung zugunsten der Sowjetregierung als den Widersacher Deutschlands ufM Japans. Es ist überflüssig, daran zu erinnern, daß darüber hinaus Moskau mächtige Hebel - wägbare und unwägbare - zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung der verschiedensten Gesellschaftsschichten besitzt ... Die Agitation um die neue Konstitution, die »demokratischste in der Welt«, die nicht zufällig gerade vor den Prozessen einsetzte, hat die Sympathien zu Moskau noch erhöht. Das gigantische Übergewicht des a priori-Vertrauens war somit der Sowjetregierung von vornherein gesichert. Und dennoch haben die allmächtigen Ankläger die öffentliche Meinung weder überzeugt noch erobert, trotz dem Versuch der Überrumpelung. Im Gegenteil, die Autorität der Sowjetregierung ist infolge der Prozesse sehr gesunken. Unversöhnliche Gegner des Trotzkis-mus, Verbündete Moskaus und sogar viele traditionelle Freunde der Sowjetbürokratie traten mit der Forderung auf, die Moskauer Anklagen nachzuprüfen. Es genügt, an die Initiative der II. und der Gewerkschaftsinternationale vom August 1936 zu erinnern. In der unerhört groben Antwort enthüllte der Kreml, der mit einem völligen und unbedingten Sieg gerechnet hatte, die Größe seiner Enttäuschung. Friedrich Adler, der Sekretär der II. Internationale und folglich ein unversöhnlicher Gegner des Trotzkismus, verglich die Moskauer Prozesse mit den Hexenprozessen der Inquisition. Der bekannte reformistische Theoretiker Otto Bauer, der es für möglich erachtet, in der Presse zu erklären, Trotzki spekuliere auf den künftigen Krieg (eine nicht nur falsche, sondern sinnlose Behauptung!), ist trotz seiner politischen Sympathie für die Sowjetbürokratie gezwungen, die Moskauer Prozesse als Fälschungen zu bezeichnen. Die sehr vorsichtige und von Sympathien für den

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Trotzkismus sehr ferne Zeitung »New-York-Times« resümierte die Folgerungen aus dem letzten Prozeß mit den Worten: Stalin muß die Schuld Trotzkis beweisen, nicht Trotzki seine Unschuld. Schon dieser lapidare Satz führt die juristische Überzeugungskraft des Moskauer Gerichtsverfahrens auf Null zurück.

Gäbe es keine patriotischen, diplomatischen und »antifaschistischen« Erwägungen, das Mißtrauen zu den Moskauer Anklägern würde unvergleichlich offenere und schärfere Formen angenommen haben. Das läßt sich an einem nebensächlichen, aber sehr lehrreichen Beispiel nachweisen. Im Oktober 1936 erschien in Frankreich mein Buch »Die verratene Revolution«. Einige Wochen vorher war es in New,York erschienen. Nicht einer meiner zahlreichen Kritiker, meistens meinet Gegner, beginnend mit dem früheren französischen Ministerpräsidenten Caillaux, erinnert auch nur daran, daß der Autor des Buches des Bündnisses mit dem Faschismus und dem japanischen Militarismus gegen Frankreich und die Vereinigten Staaten »überführt« sei. Niemand, absolut niemand erachtet es als notwendig, meine politischen Schlußfolgerungen den Beschuldigungen des Kremls gegenüberzustellen. Es ist, als hätten in Moskau keine Prozesse und Erschießungen stattgefunden. Diese Tatsache allein, überlegt man es sich genau, beweist deutlich, daß die denkenden Gesellschaftskreise, beginnend mit dem interessiertesten und empfindsamsten Lande, Frankreich, die ungeheuerliche Beschuldigung nicht nur nicht assimiliert, sondern sie einfach mit kaum verhülltem Ekel von sich gespien haben.

Wir können unglücklicherweise nicht wissen, was die niedergehaltene Bevölkerung der Sowjetunion denkt und fühlt. In der ganzen übrigen Welt aber sind die werktätigen Massen von einer tragischen Fassungslosigkeit ergriffen, die ihr Denken vergiftet und ihren Willen paralysiert. Entweder hat die ganze alte Führergeneration des Bolschewismus, mit Ausnahme einer einzelnen Person, den Sozialismus im Namen des Faschismus verraten, oder die heutige Leitung der USSR hat gegen alle, die die bolschewistische Partei und den Sowjetstaat aufgebaut haben, eine Rechtsfälschung organisiert. Ja, so eben steht die Frage: Entweder das Leninsche Politbüro bestand aus Verrätern, oder das Stalinsche Politbüro besteht aus Fälschern. Ein Drittes gibt es nicht! Aber gerade, weil es kein Drittes gibt, kann die fortschrittliche öffentliche Meinung, will sie nicht Selbstmord begehen, der Lösung der rätselhaften und tragischen Alternative und deren Aufklärung vor den Volksmassen nicht ausweichen.

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Ist eine Untersuchung politisch zulässig?

 

Der hochoffiziöse Einwand, dem man häufig begegnet, die Arbeit der Kommission könne der USSR »politischen Schaden« zufügen und für den Faschismus von Vorteil sein, ist - ich gebrauche einen am wenigsten energischen Ausdruck - ein Gemisch aus Stumpfsinn und Heuchelei. Nimmt man für einen Moment an, die vom Gericht gegen die Opposition erhobenen Anklagen seien begründet, das heißt Dutzende von Menschen seien nicht schuldlos erschossen, so kann es für eine mächtige Regierung keine besondere Mühe bedeuten, das Voruntersuchungsmaterial zu lüften, die Lücken des Verhandlungsberichtes zu ergänzen, die Widersprüche aufzuklären und die Zweifel zu zerstreuen. In diesem Falle könnte eine Nachprüfung die Autorität der Sowjetregierung nur steigern.

Was aber, wenn die Kommission die Moskauer Anklagen als eine bewußte Fälschung aufdeckt? Erfordert nicht in diesem Falle die politische Vorsicht, eine riskante Untersuchung zu vermeiden? Eine solche Erwägung, die selten laut und restlos ausgesprochen wird, gründet sich auf dem ängstlichen Gedanken, als könne man gegen die Macht der Reaktion mit Fiktionen, Phantomen und Betrug kämpfen, als sei das beste Mittel gegen eine Krankheit, sie nicht mit Namen zu nennen. Wenn die heutige Sowjetregierung fähig ist, zu blutigen Justizfälschungen zu greifen, um das eigene Volk zu betrügen, so kann sie nicht die Verbündete der internationalen Arbeiterklasse im Kampfe gegen die Reaktion sein. Ihre innere Unzulänglichkeit würde sich unvermeidlich beim ersten größeren historischen Stoß zeigen. Je schneller die innere Fäulnis aufgedeckt wird, um so eher wird die unvermeidliche Krise eintreten und um so mehr Hoffnungen bestehen, daß die lebendigen Kräfte des Organismus sie rechtzeitig überwinden werden. Die Augen vor der Krankheit zu schließen, bedeutet dagegen, sie ins Innere zu treiben und die schrecklichste historische Katastrophe vorzubereiten.

Stalin hat Hitler zuerst den größten Dienst mit seiner Theorie und Praxis des »Sozialfaschismus« erwiesen. Den zweiten Dienst hat er ihm durch die Moskauer Prozesse geleistet.

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Diese Prozesse, in denen die höchsten moralischen Werte zertreten und beschmutzt wurden, kann man aus dem Bewußtsein der Menschheit nicht austilgen. Den Massen helfen, die ihnen zugefügte Wunde zu heilen, kann man nur durch volle Klarheit und volle Wahrheit.

Der Widerstand eines gewissen Typus von »Freunden« gegen die Untersuchung, der an und für sich ein schreiender Skandal ist, ergibt sich aus dem Umstand, daß selbst die eifrigsten Verteidiger der Moskauer Justiz keine innere Überzeugung von der Redlichkeit ihrer Sache besitzen. Ihre geheimen Befürchtungen verdecken sie mit völlig widersinnigen und unwürdigen Argumenten. Die Nachprüfung, sagen sie, sei eine »Einmischung in die inneren Angelegenheiten der USSR«! Aber hat denn die internationale Arbeiterklasse kein Recht, sich in die inneren Angelegenheiten der USSR zu mischen? In den Reihen der Komintern pflegt man doch noch bis auf den heutigen Tag zu sagen: »Die USSR ist das Vaterland aller Werktätigen.« Ein seltsames Vaterland, in dessen Schicksale man sich nicht einmischen darf! Wenn die Arbeitermassen den Handlungen ihrer Führer nicht vertrauen, dann sind diese verpflichtet, alle Erklärungen und alle Elemente für die Nachprüfung zu liefern. Weder der Staatsanwalt, noch die Richter, noch die Mitglieder des Politbüros der USSR können eine Ausnahme von dieser elementaren Regel bilden. Wer sich über die Arbeiterdemokratie stellen will, verrät sie schon damit allein.

Man muß noch hinzufügen, daß auch von rein formaler Seite die Frage keinesfalls eine »innere« Angelegenheit der USSR ist. Es sind bereits fünf Jahre, daß die Moskauer Bürokratie mir, meiner Frau und meinem ältesten Sohn die Sowjet-Staatsbürgerschaft genommen hat. Damit hat sie sich selbst irgendwelcher besonderer Rechte in bezug auf uns beraubt. Wir besitzen kein »Vaterland«, das uns Schutz erweisen könnte. Es ist darum natürlich, daß wir uns unter den Schutz der öffentlichen Meinung der Welt stellen.

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