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Wundersame Reise Pjatakows nach Kjeller  

 

 

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Pjatakow hält sein Geständnis aufrecht, daß er im Dezember 1935 mit einem Flugzeug nach Norwegen gekommen und auf dem Flugplatz Kjeller gelandet sei. Das Russische Kommissariat des Auswärtigen stellte eine Untersuchung an, die dazu dienen sollte, die Aussage zu bestätigen.

Der Flugplatz Kjeller hat schon früher die Mitteilung kategorisch bestritten, daß im Dezember 1935 dort ein ausländisches Flugzeug gelandet sei. Gleichzeitig teilte Konrad Knudsen, Mitglied des Parlaments und Wohnungswirt Trotzkis, seinerseits mit, daß Trotzki in dieser Zeit überhaupt keinen Besuch gehabt hat.

»Arbeiderbladet« wandte sich heute trotzdem nochmals an den Flugplatz Kjeller, und Direktor Gulliksen, mit dem wir gesprochen haben, bestätigte uns, daß im Dezember "1935 kein einziges ausländisches Flugzeug in Kjeller gelandet ist.

Während dieses Monats war nur ein Flugzeug auf dem Flugplatz heruntergegangen, und zwar ein norwegisches Flugzeug, das aus Linköping gekommen war. Doch hatte dieses Flugzeug keine Passagiere.

Direktor Gulliksen hat, bevor er uns diese Mitteilung machte, eine Revision des Buches, in dem die täglichen Zollprotokolle eingetragen werden, vorgenommen, und auf unsere diesbezügliche Frage fügte er hinzu, es sei völlig ausgeschlossen, daß irgendein Flugzeug landen könne, ohne entdeckt zu werden.

Die ganze Nacht befindet sich auf dem Flugplatz eine Militärpatrouille.

»Wann ist das letztemal vor Dezember 1935 ein ausländisches Flugzeug in Kjeller gelandet?« fragte unser Mitarbeiter Herrn Direktor Gulliksen.

»Am 19. September. Es war ein englischer Apparat, G. A. Z. S. F., der aus Kopenhagen gekommen war. Er war vom englischen Flieger Herrn Robertson gesteuert, den ich sehr gut kenne.«

»Und nach dem Dezember 1935, wann kam dann das erste ausländische Flugzeug nach Kjeller?«

»Am 1. Mai 1936.«

»Mit anderen Worten: aus den Büchern des Flugplatzes ergibt sich, daß zwischen dem 19. September 1935 und dem 1. Mai 1936 kein einziges ausländisches Flugzeug in Kjeller gelandet ist?«

»Ja.«

Um gar keinen Zweifeln Raum zu lassen, wollen wir die offizielle Bestätigung des Zeitungsinterviews anführen. Auf eine Anfrage meines norwegischen Advokaten antwortete der selbe Direktor des einzigen Flugplatzes in Oslo, Herr Gulliksen, am 12. Februar:

Flugplatz Kjeller Kjeller, den 14. II. 1937.

Direktion

Herrn Rechtsanwalt Andreas Steilen E. Slotgate 8, Oslo

In Beantwortung ihres Briefes vom 10. d. M., teile ich Ihnen mit, daß meine Erklärung im »Arbeiderbladet« richtig wiedergegeben ist. „

Ergebenst

Gulliksen.

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Mit anderen Worten: wenn wir der GPU einen Kredit für Pjatakows Flug nicht auf 31 Tage (Dezember), sondern auf volle 884 Tage (19. September bis 1. Mai) geben, kann Stalin auch dann seine Lage nicht retten. Die Frage betreffend Pjatakows Flug nach Oslo ist damit, hoffe ich, für alle Ewigkeit erschöpft.

Am 89. Januar war das Urteil noch nicht gesprochen. Die Mitteilungen Knudsens und des »Arbeiderbladet« waren Tatsachen von so ausnehmender Bedeutung, daß sie eine Nachuntersuchung erforderten. Aber die Moskauer Themis ist nicht von der Art, daß sie den Tatsachen erlaubt, sie in ihrem Lauf aufzuhalten. Es ist höchst wahrscheinlich - und fast mit Sicherheit anzunehmen -, daß man Pjatakow und Radek bei den Vorverhandlungen versprochen hatte, ihnen das Leben zu schenken. Die Erfüllung dieses Versprechens war in be-zug auf Pjatakow, den angeblichen »Organisator« der angeblichen »Sabotage«, überhaupt nicht leicht. Wenn aber bei Stalin in dieser Hinsicht noch irgendwelche Schwankungen bestanden, so mußten die Mitteilungen aus Oslo ihnen ein Ende bereiten. Am 39. Januar habe ich durch die Presse erklärt: »Die ersten Untersuchungsschritte in Norwegen haben dem Deputierten Knudsen ermöglicht, festzustellen, daß im Dezember in Oslo überhaupt kein ausländisches Flugzeug angekommen ist ... Ich befürchte sehr, daß die GPU sich beeilen wird, Pjatakow zu erschießen, um weiteren unbequemen Fragen zuvorzukommen und die künftige internationale Untersuchungskommission zu hindern, von Pjatakow präzise Erklärungen zu verlangen.« Am nächsten Tage, dem 30. Januar, wurde Pjatakow zum Tode verurteilt, am 1. Februar - erschossen.

Durch die Vermittlung der gelben norwegischen Zeitung »Ti-dens-Tijn«, den amerikanischen Presseerzeugnissen Hearsts verwandt, versuchten die Freunde der GPU dem Fluge Pjatakows eine neue Version zu verleihen. Vielleicht ging das deutsche Flugzeug nicht auf dem Flugplatz nieder, sondern auf einem zugefrorenen Fjord? Vielleicht hat Pjatakow Trotzki nicht in dem Villenvorort bei Oslo, sondern im Walde besucht? Nicht in dem »nicht schlecht eingerichteten« Häuschen, sondern in einer Waldhütte? Nicht dreißig Minuten, sondern drei Fahrstunden von Oslo entfernt? Vielleicht ist Pjatakow nicht mit ei-

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nem Automobil angekommen, sondern mit Schlitten oder Skiern? Vielleicht war die Zusammenkunft nicht am 12.-13., sondern am 21. bis 22. Dezember? Diese Schöpfung ist nicht schlechter und nicht besser als die Versuche, die Kopenhagener Konditorei für das Hotel Bristol auszugeben. Die Hypothesen »Tidens-Tijn« haben den Fehler, daß sie von den Aussagen Pjatakows nichts übrig lassen und gleichzeitig an den Tatsachen zerschellen. Die Widerlegung dieser Phantasien ist bereits durch die norwegische Presse erfolgt, insbesondere durch die liberale Zeitung »Dagblat«, und zwar auf Grund der Nachprüfung der wichtigsten Tatsachen, das heißt der Zeit-und der Ortumstände. Der Deputierte Konrad Knudsen hat die verspäteten Erfindungen in den Spalten des gelbesten Blattes, das inzwischen ein Orakel der Komintern geworden ist, einer nicht weniger vernichtenden Kritik unterzogen.

Ich will hier noch hinzufügen, daß der dänische Schriftsteller Andersen Nexö, der sich durch einen glücklichen Zufall (wie Pritt, wie Duranti und manche andere) während des Prozesses gerade in Moskau aufgehalten und mit »eigenen Ohren« die Geständnisse Pjatakows angehört hat, Anfang März extra nach Oslo kam, um einen Vortrag zu halten. Ob Nexö Russisch versteht, ist gleichgültig; es genügt, daß der skandinavische Ritter der Wahrheit an der Richtigkeit der Aussagen Pjatakows »nicht zweifelt«. Wenn Romain Rolland auf sich die erniedrigende Mission nahm, die vom völligen Verlust des moralischen und psychologischen Feingefühls zeugt, warum soll das nicht auch Herr Nexö tun? 

Die Demoralisation, die die GPU in die Mitte eines gewissen Teiles der radikalen Schriftsteller und Politiker der ganzen Welt hineinträgt, hat wahrhaft bedrohliche Dimensionen angenommen. Welche Methoden die GPU in jedem individuellen Falle anwendet, will ich hier nicht untersuchen. Es ist zur Genüge bekannt, daß diese Methoden nicht immer ideologischer Art sind (davon hat schon vor längerer Zeit mit dem ihm eigenen Zynismus der irländische Schriftsteller O'Flaherty erzählt). Einer der Gründe meines Bruches mit Stalin und seinen Mitkämpfern war, nebenbei gesagt, die seit 1924 praktizierten Bestechungen der in der europäischen Arbeiterbewegung stehenden Männer. Ein indirektes, aber äußerst wichtiges Resultat der Arbeit der Kommission wird, hoffe ich, die Reinigung der radikalen Reihen von »linken« Sykophanten sein, von politischen Parasiten, »revolutionären« Höflingen und jenen Herren, die Freunde der USSR bleiben, solange sie Freunde des Staatsverlags sind oder einfache Pensionäre der GPU.

 

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Was wurde im letzten Prozeß widerlegt?

 

 

Die Agenten Moskaus haben in der allerletzten Zeit folgende Argumente gebraucht: »Während seines Aufenthalts in Mexiko hat Trotzki keinerlei Beweise beigebracht. Es besteht kein Grund, anzunehmen, er würde sie in Zukunft beibringen. Somit ist die Kommission von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt.« Wie kann man, frage ich, ohne Untersuchung der Tatsachen und Dokumente eine Fälschung umstoßen, die während einer Reihe von Jahren vorbereitet und aufgebaut wurde? »Freiwillige Geständnisse« von Stalin, Jagoda, Jeschow und Wyschinski besitze ich tatsächlich nicht, das gestehe ich im voraus. Wenn ich bis jetzt keine magische Formel beigebracht habe, die alle Beweise erschöpft, so ist es unwahr, daß ich keine Beweise beigebracht hätte. Während des letzten Prozesses gab ich täglich in der Presse Erklärungen mit genauen Widerlegungen ab. Den stenographischen Bericht des zweiten Prozesses habe ich erst vor zwei Wochen erhalten. Von einer abgeschlossenen Widerlegung kann unter diesen Umständen nicht die Rede sein. Jedoch habe ich - obwohl ich über keine Tageszeitung oder auch nur Wochenzeitung verfüge, wo ich mich in aller Freiheit aussprechen könnte - alle Angaben des letzten Prozesses, die gegen mich persönlich gerichtet waren, völlig widerlegt und damit das gesamte Prozeßamalgam untergraben.

Sich in seinem Schlußwort gegen die Beschimpfungen des Staatsanwalts verteidigend, der die Angeklagten nur als Gauner und Banditen charakterisierte (der Staatsanwalt Wyschinski ist selbst ein zynischer Karrierist, ein früherer rechter Menschewik), überschritt Radek offensichtlich die vorher festgelegten Grenzen der Selbstverteidigung und sagte mehr, als nötig war, und mehr, als er selbst gewollt hatte. Das ist ja überhaupt der bemerkenswerteste Zug an Radek! Diesmal aber hat er Dinge von hervorragender Bedeutung ausgesprochen. Aus diesem Grunde ist es wichtig, das letzte Wort des Angeklagten ganz besonders aufmerksam zu lesen. Die terroristische Tätigkeit und die Verbindung der Trotzkisten mit der Konterrevolution und den Schädlingsorganisationen

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sind, nach Radeks Worten, restlos bewiesen. »... Aber«, fährt er fort, »der Prozeß hat zwei Zentren, er hat noch eine andere riesige Bedeutung. Er hat die Schmiede des Krieges gezeigt, und er hat gezeigt, daß die trotzkistische Organisation eine Agentur jener Kräfte wurde, die den Weltkrieg vorbereiten. Welche Beweise gibt es für diese Tatsache? Für diese Tatsache gibt es Zeugenaussagen zweier Menschen: die eine von mir, der ich Direktiven und Briefe von Trotzki erhielt - die ich leider verbrannte - und die Zeugenaussagen von Pjatakow, der Trotzki gesprochen hat. Alle übrigen Aussagen der anderen Angeklagten beruhen auf unseren Aussagen. Wenn ihr es mit reinen Kriminellen zu tun habt, mit Spitzeln, worauf basiert dann Eure Sicherheit, daß das, was wir gesagt haben, die Wahrheit ist, die unerschütterliche Wahrheit?« Man traut seinen Augen nicht, wenn man diese zynisch-offenen Zeilen im Prozeßbericht liest. Weder der Staatsanwalt noch der Vorsitzende machten auch nur den geringsten Versuch, Radek zu berichtigen oder zu korrigieren: zu riskant! Indes töten Radeks verblüffende Worte den gesamten Prozeß. Ja, die ganze Anklage gegen mich stützt sich auf Radeks und Pjatakows Aussagen. An Belastungsmaterial existiert keine Spur. Briefe, die Radek von mir angeblich erhielt, hat er »leider« verbrannt (im russischen Prozeßbericht ist die Anklageschrift jedoch so verfaßt, als habe er meine Briefe im Original zitiert). Der Staatsanwalt behandelt Radek und Pjatakow wie prinzipienlose Lügner, die nur eine Aufgabe verfolgen: die Behörden zu betrügen. Radek antwortet: Wenn unsere Aussagen falsch sind (sowohl Radek wie der Staatsanwalt wissen, daß die Aussagen falsch sind!), was bleibt Euch als Beweis dafür, daß Trotzki mit Deutschland und Japan einen Bund geschlossen hat zu dem Zwecke, den Krieg zu beschleunigen und die USSR zu zerreißen? Euch bleibt nichts. Dokumente gibt es nicht. Die Aussagen der anderen Angeklagten stützen sich auf unsere Aussagen ... Der Staatsanwalt schweigt. Der Vorsitzende schweigt. Es schweigen auch die ausländischen »Freunde«. Ein drückendes Schweigen! Das ist das wahre Gesicht des Prozesses. Ein grauenhaftes Gesicht!

Wir wollen noch einmal an die faktische Seite der Aussagen von Radek und Pjatakow erinnern. Radek stand angeblich mit mir in Verkehr durch Wladimir Romm. Wladimir Romm hatte mich ein einziges Mal gesehen: Ende Juli 1933, im Bois de Bou-

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lqgne bei Paris. Durch genaueste Daten, Tatsachen und Zeugen, darunter auch die französische Polizei, habe ich bewiesen, daß ich Ende Juli 1933 im Bois de Boulogne nicht war und dort nicht gewesen sein konnte, da ich als Kranker von Marseille direkt nach Saint-Palais bei Royan kam und mich also einige hundert Kilometer von Paris entfernt befand.

Pjatakow gab an, im Dezember 1935 mit einem deutschen Flugzeug zu mir nach Oslo gekommen zu sein. Die offiziellen norwegischen Behörden brachten jedoch zur allgemeinen Kenntnis, daß vom 19. September 1935 bis 1. Mai 1936 überhaupt kein einziges ausländisches Flugzeug nach Oslo kam. Das sind absolut kategorische Zeugnisse. Pjatakow hat mich ebensowenig in Oslo besucht, wie mich Romm im Bois de Boulogne gesprochen hat. Radeks Verbindung mit mir war aber ausschließlich über Romm gegangen. Der Zusammenbruch der Rommschen Aussagen läßt nichts übrig von Radeks Aussagen. Nicht mehr bleibt auch von Pjatakows Aussagen übrig. Aber nach Radeks Geständnis, das vom Gericht stillschweigend bestätigt wurde, beruht die Anklage gegen mich ausschließlich auf den Aussagen von Radek und Pjatakow. Alle anderen Aussagen haben nur den Charakter von Ersatz- und Hilfsmitteln. Sie müssen Stützpunkte für Radek und Pjatakow, den Hauptangeklagten, sein, richtiger den Hauptzeugen Stalins gegen mich. Radeks und Pjatakows Bestimmung ist, die direkte Verbindung der Verbrecher mit mir nachzuweisen. »Alle übrigen Aussagen beruhen auf den unseren«, gesteht Radek. Mit anderen Worten: sie beruhen auf nichts. Die Hauptanklage ist zusammengebrochen. Sie zerfällt in Staub. Man braucht die Ziegelsteine des Gebäudes nicht auseinanderzunehmen, wenn die zwei Grundpfeiler, auf die es sich stützte, eingestürzt sind. Meine Herren Ankläger können im Schutt auf dem Bauche herumkriechen und die Ziegelsteinsplitter sammeln...

 

Der Staatsanwalt als Fälscher

 

Meine »terroristische« und »defaitistische« Tätigkeit bildete bekanntlich ein strengstes Geheimnis, in das ich nur die vertrautesten Personen eingeweiht hatte. Dagegen war meine dem Terrorismus und Defaitismus feindliche öffentliche Tätigkeit nur »Maskierung«. Auf dieser Position balancierend, verfällt der Staatsanwalt manchmal doch in Versuchung, auch in meiner öffentlichen Tätigkeit die Propagierung von Terror und Defaitismus nachzuweisen. Wir wollen an einigen wichtigen Beispielen zeigen, daß die literarischen Fälschungen Wyschinskis nur ein Hilfsmittel seiner Prozeßfälschungen sind. 1.

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Am 20. Februar 1932 beraubte das Zentralexekutivkomitee der USSR durch ein besonderes Dekret mich und meine im Auslande befindlichen Familienmitglieder der Sowjetbürgerschaft. Nebenbei gesagt ist allein schon der Text des Dekrets ein Amalgam. Ich wurde nicht nur als Trotzki bezeichnet, sondern auch mit dem Namen meines Vaters - Bronstein, obwohl dieser Name vorher in keinem Sowjetdokument genannt war. Gleichzeitig wurden auch Menschewiki mit dem Namen Bronstein aufgestöbert und auch diese in den Akt der Ausbürgerung aufgenommen. Das ist der politische Stil Stalins!

 

Ich antwortete mit einem »Offenen Brief an das Präsidium des ZEK der USSR« am 1. März 1932. (»Bulletin der Opposition«, Nr. 37.) Der »Offene Brief« erinnert an eine Reihe von Fälschungen, begangen von der Sowjetpresse auf Befehl der Kommandospitze, mit der Absicht, mich in den Augen der werktätigen Massen der USSR zu kompromittieren. Seine wichtigsten Irrtümer in Fragen der Innen- und Außenpolitik aufzählend, brandmarkte der »Brief« Stalins bonapartistische Tendenzen. 

»... Unter der Knute der Stalinschen Clique«, sagt der Brief, »hilft das unglückliche, eingeschüchterte, verwirrte und zerzauste Zentralkomitee der deutschen Kommunistischen Partei den Führern der deutschen Sozialdemokratie, die deutsche Arbeiterklasse Hitler zur Kreuzigung auszuliefern.« 

In weniger als einem Jahr hat sich diese Prophezeiung unglücklicherweise völlig bestätigt! Der »Offene Brief« enthält ferner folgenden Satz: »... Stalin hat euch in eine Sackgasse hineingeführt. Man kann den Weg aus ihr nicht anders finden, als indem man die Staliniade liquidiert. Man muß der Arbeiterklasse vertrauen, man muß der proletarischen Avantgarde die Möglichkeit geben, das gesamte Sowjetsystem zu überprüfen und vom angesammelten Kehricht erbarmungslos zu reinigen. Man muß endlich den dringenden Rat Lenins erfüllen: Stalin entfernen.« Den Vorschlag, »Stalin entfernen«, motivierte ich mit folgenden Worten: »Ihr kennt Stalin ebenso gut wie ich ... Stalins Stärke lag stets nicht in ihm, sondern im Apparat oder in ihm, insofern er die vollendetste Verkörperung des bürokratischen Automatismus ist. Vom Apparat getrennt, ihm gegenüberge-

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stellt, ist Stalin ein Nichts, ein leerer Platz ... Es ist Zeit, von dem Mythos Stalin Abschied zu nehmen.« 

Daß hier nicht die Rede ist von der physischen Vernichtung Stalins, sondern von der Liquidierung seiner Apparat-Allmacht, ist völlig klar. Gerade dieses Dokument: Der »Offene Brief an das ZEK«, wurde später, so unwahrscheinlich das sein mag, für Stalin-Wyschinski die Grundlage der Prozeßfälschungen.

 

In der Gerichtssitzung vom 20. August 1936 sagte der Angeklagte Olberg aus: »... Zum erstenmal sprach mit mir Sedow über meine Reise in die USSR nach Trotzkis Aufruf, der an seine Ausbürgerung anknüpft. In diesem Aufruf entwickelte Trotzki den Gedanken, daß es notwendig sei, Stalin zu ermorden. Dieser Gedanke wurde ausgedrückt mit den Worten: >Man muß Stalin entfernen.< Sedow zeigte mir den auf einer Schreibmaschine abgetippten Text dieses Aufrufs und erklärte: >Nun, jetzt sehen Sie, deutlicher kann man es nicht sagen. Das ist die diplomatische Formulierung.< Damals hat mir Sedow den Vorschlag gemacht, in die USSR zu gehen.«

Der »Offene Brief« heißt bei Olberg vorsichtigerweise »Aufruf«. Das ganze Zitat führt Olberg nicht an. Der Staatsanwalt verlangt nichts Näheres. Die Worte »Stalin entfernen« werden gedeutet: man muß Stalin ermorden.

Laut Prozeßbericht sagt Golzmann am 21. August aus, daß Trotzki im weiteren Gespräch geäußert habe, »man muß Stalin entfernen« ... Wyschinski: »Was bedeutet das, Stalin entfernen? Erklären Sie es.« Golzmann erklärt es, selbstverständlich wie Wyschinski es braucht.

Gleichsam um alle Zweifel über die Quelle seiner eigenen Fälschung zu zerstreuen, sagt Wyschinski am 22. August 1936 in seiner Anklagerede: »... Deshalb hat sich Trotzki im März 1932 in einem Anfall konterrevolutionärer Wut mit einem offenen Brief entladen, wo er fordert, Stalin zu entfernen (dieser Brief wurde aus der Geheimwand des Golzmannschen Koffers herausgeholt und als Beweisstück in die Akten aufgenommen).«

Der Staatsanwalt spricht direkt von einem »Offenen Brief«, der im März 1932 als Antwort auf meine Ausbürgerung mit der Forderung »Stalin entfernen« geschrieben wurde. Das eben ist mein »Offener Brief an das Zentralexekutivkomitee«! Nach den Worten des Staatsanwalts wurde dieser Brief »aus der Geheimwand des Golzmannschen Koffers herausgeholt«. Es ist möglich, daß Golzmann bei seiner Abreise aus dem Auslande eine

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Nummer des Bulletins mit meinem Offenen Brief im Koffer versteckte, das ist eine alte Tradition der russischen Revolutionäre. Jedenfalls weisen die genauen Kennzeichen des Staatsanwalts: a) Bezeichnung: Offener Brief; b) Datum: März 193a; c) Thema: Dekret über die Ausbürgerung, und schließlich d) die Parole: »Stalin entfernen«, mit absoluter Sicherheit darauf hin, daß es sich um meinen »Offenen Brief an das Zentralexekutivkomitee« handelt, und daß gerade um dieses Dokument sich die Aussagen Olbergs und Golzmanns wie auch die Anklagerede im Prozeß Sinowjew-Kamenjew drehte.

In seiner Anklagerede im Prozeß Pjatakow-Radek (am 28. Januar 1937) kehrt Wyschinski zum »Offenen Brief« als der Grundlage der terroristischen Direktive zurück. »... In unseren Händen befinden sich Dokumente, die dafür zeugen, daß Trotzki mindestens zweimal, und zwar in offener, unverschlei-erter Form den Grundsatz des Terrors aufgestellt hat, Dokumente, die der Autor urbi et orbi (der ganzen Welt) verkündete. Ich meine erstens jenen Brief von 193s, in dem Trotzki seinen verräterischen, schändlichen Ruf - >Stalin entfernen< - ausstieß.« Unterbrechen wir hier für einen Augenblick das Zitat, aus dem wir wiederum erfahren, daß die terroristische Direktive von mir offen ausgegeben oder, wie der Staatsanwalt sagt, »urbi et orbi verkündet« wurde, mit einem Wort, es handelt sich wiederum um den gleichen Offenen Brief, in dem ich, mich auf Lenins Testament berufend, empfehle, Stalin vom Posten des Generalsekretärs zu entfernen.

Es ist nun klar! In den zwei Hauptprozessen gegen Sinowjewisten und Trotzkisten bildet der Ausgangspunkt der Anklage wegen Terror eine bewußt falsche Deutung eines Artikels, den ich in verschiedenen Sprachen veröffentlicht habe und den jeder, der des Lesens mächtig ist, nachprüfen kann. Das sind die Methoden Wyschinskis! Das sind die Methoden Stalins! 2.

In der gleichen Anklagerede (vom 28. Januar 1937) fährt der Staatsanwalt fort: »... Zweitens meine ich ein Dokument, das sich auf eine spätere Zeit bezieht, das Trotzkistische >Bulletin der Opposition^ Nr. 36-37, Oktober 1934 (1933!), wo wir eine Reihe direkter Hinweise auf den Terror als die Kampfmethode gegen die Sowjetmacht finden.« Es folgt ein Zitat aus dem Bulletin: »Es wäre eine Kinderei zu glauben, man könne die Stalin-sche Bürokratie mittels eines Partei- oder Sowjetkongresses absetzen. 

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Zur Beseitigung der regierenden Clique sind keine normalen konstitutionellen Wege geblieben... Sie zwingen, die Macht der proletarischen Avantgarde zu übergeben, kann man nur mit Gewalt.« (»Bulletin der Opposition«, Nr. 36-37, Oktober 1933.) »Wie soll man das kennzeichnen, wenn nicht als einen direkten Aufruf zum Terror? Einen anderen Namen kann ich dem nicht geben.« Um diese Schlußfolgerung vorzubereiten, erklärt Wyschinski einleitend: »Ein Gegner des Terrors, der Gewalt hätte gesagt: >Es ist (eine Staatsumwälzung) auf friedlichem Wege möglich, sagen wir, auf der Basis der Konstitution/ Ja, eben: >sagen wir, auf der Basis der Konstitution.^...«

Alle diese Erwägungen beruhen auf der Identifizierung von revolutionärer Gewalt mit individuellem Terror. Sogar die zaristischen Staatsanwälte nahmen nur selten zu solchen Kniffen Zuflucht! Ich habe mich niemals für einen Pazifisten, Tolstojaner oder Gandhisten ausgegeben. Ernste Revolutionäre spielen nicht mit der Gewalt. Aber sie lehnen es niemals ab, zur revolutionären Gewalt zu greifen, wenn die Geschichte keine anderen Wege übrig läßt. Vom Jahre 1923 bis 1933 verteidigte ich den Gedanken der »Reform« in bezug auf den staatlichen Sowjetapparat.

Und gerade deshalb empfahl ich noch im März 1932 dem Zentralexekutivkomitee, Stalin zu entfernen. Nur allmählich und unter dem Druck unabwendbarer Tatsachen bin ich zu der Schlußfolgerung gekommen, daß die Volksmassen die Bürokratie nicht anders werden stürzen können als auf dem Wege der revolutionären Gewalt. Entsprechend dem Grundprinzip meiner Tätigkeit habe ich meine Schlußfolgerung sofort offen geäußert. Ja, ich glaube, daß man das System des Stalinschen Bonapartismus nur durch eine neue politische Revolution liquidieren kann. Jedoch werden Revolutionen nicht auf Bestellung gemacht. Revolutionen erwachsen aus der Entwicklung der Gesellschaft. Man kann sie nicht künstlich hervorrufen. Noch weniger kann man die Revolution durch das Abenteuer terroristischer Attentate ersetzen. Wenn Wyschinski, anstatt diese zwei Methoden gegenüberzustellen, individuellen Terror und Aufstand der Massen, sie identifiziert, dann streicht er die gesamte Geschichte der russischen Revolution und die gesamte Philosophie des Marxismus aus! Und was setzt er an ihre Stelle? Die Fälschung!

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Genau wie Wyschinski hat auch der Gesandte Trojanowski gehandelt, der bekanntlich während des letzten Prozesses entdeckte, daß ich in einer meiner Kundgebungen terroristische Ansichten selbst eingestanden hätte. Trojanowskis Entdek-kung wurde gedruckt, man hat darüber diskutiert, und es war notwendig, sie zu dementieren. Ist das nicht beleidigend für die menschliche Vernunft? Es stellt sich heraus, daß ich einerseits in meinen Büchern, Artikeln und Erklärungen über die letzten Prozesse die Beschuldigung des Terrorismus kategorisch widerlegte und meine Widerlegung mit theoretischen, politischen und faktischen Motiven begründete. Andererseits aber gab ich der Zeitung Hearsts eine Erklärung ab, in der ich, alle meine früheren Erklärungen widerrufend, dem Sowjetgesandten meine terroristischen Verbrechen offen eingestand. Wo sind die Grenzen des Unsinns? Wenn Trojanowski vor den Augen der gesamten zivilisierten Welt solche, ihrer Plumpheit und ihres Zynismus nach unerhörten Fälschungen für zulässig hält, so ist es nicht schwer, sich vorzustellen, was alles hinter den Gefängnismauern die GPU begeht!

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Nicht besser verhält sich bei Wyschinski die Sache mit meinem Defaitismus. Die ausländischen Advokaten der GPU fahren fort, sich an der Frage die Köpfe zu zerbrechen, wie das frühere Haupt der Roten Armee Defaitist werden konnte. Für Wyschinski und die anderen Moskauer Falsifikatoren existiert diese Frage schon längst nicht mehr; Trotzki war stets Defaitist, sagen sie, auch während des Bürgerkrieges. Darüber besteht bereits eine ganze Literatur. Der an ihr erzogene Staatsanwalt sagt in seiner Anklagerede: »... Man muß sich dessen erinnern, daß Trotzki bereits vor zehn Jahren seine defaitisti-sche Position in bezug auf die USSR mit der Berufung auf die bekannte These (?) Clemenceaus verteidigt hat. Trotzki schrieb damals: >Man muß die Taktik Clemenceaus wieder aufstellen^ der sich bekanntlich (!) gegen die französische Regierung erhoben hat zu einer Zeit, als die Deutschen 80 Kilometer vor Paris standen* ...< Trotzki und seine Komplizen haben nicht um-

*In der englischen Ausgabe stehen diese Worte sogar in Anführungszeichen, was die Mitglieder der Untersuchungskommission veranlaßte, sie für ein Zitat zu halten. In Wirklichkeit ist der Satz vom Staatsanwalt frei erfunden. Die gerichtlichen »Zitate« Wyschinskis sind von der gleichen Zuverlässigkeit wie die literarischen »Zitate« Stalins: diese Schule hat einen gemeinsamen Stil.

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sonst Clemenceaus These hervorgehoben. Sie sind zu dieser These zurückgekehrt, aber jetzt weniger theoretisch als durch praktische Vorbereitung, die Vorbereitung einer Aktion, um im Bunde mit der ausländischen Konterspionage eine militärische Niederlage der US SR herbeizuführen.«

Es ist schwer zu glauben, daß der Text dieser Rede in fremden Sprachen und sogar Französisch gedruckt wurde. Die Franzosen waren wohl nicht wenig verwundert, als sie erfuhren, daß sich Clemenceau im Kriege »gegen die französische Regierung erhoben hat«. Sie haben niemals geahnt, daß Cle-menceau Defaitist und Verbündeter einer »ausländischen Konterspionage« war. Im Gegenteil, sie nannten ihn den »Vater des Sieges«. Was aber bedeutet dieser ganze Gallimathias des Herrn Staatsanwalts? Es handelt sich darum, daß die Stalin-sche Bürokratie bereits im Jahre 1926, zur Rechtfertigung ihrer Willkür gegen die Sowjets und die Partei, begann, an die Kriegsgefahr zu appellieren: die klassische Methode des Bonapartismus! Demgegenüber habe ich mich stets in dem Sinne ausgesprochen, daß die Freiheit der Kritik nicht nur in Friedenszeiten, sondern auch im Kriegsfalle notwendig ist. Ich verwies darauf, daß sogar in den bürgerlichen Ländern, besonders in Frankreich, die regierende Klasse während des Krieges, trotz aller Angst vor den Massen, es nicht wagte, die Kritik völlig zu unterdrücken. Damit im Zusammenhang erinnerte ich an das Beispiel Clemenceaus, der, trotz der Nähe der Front von Paris oder, richtiger, gerade deshalb, die Unfähigkeit der französischen Kriegspolitik geißelte. Schließlich gelang es bekanntlich Clemenceau, das Parlament zu überzeugen, er kam an die Spitze der Regierung und sicherte den Sieg, Wo ist da ein »Aufstand«? Wo Defaitismus? Wo die Verbindung mit ausländischer Konterspionage? Ich erinnere nochmals daran, daß der Hinweis auf Clemenceau von mir in der Periode gemacht wurde, als ich noch absolut an einen friedlichen Weg der Umbildung des Regierungssystems in der USSR glaubte. Heute könnte ich mich auf Clemenceau nicht berufen, gerade deshalb, weil der Bonapartismus Stalins die Wege legaler Reformen abgeschnitten hat. Ich stehe aber auch heute auf dem Boden der Verteidigung der USSR, das heißt der Verteidigung ihrer sozialen Grundlagen, sowohl gegen jeden Imperialismus von außen wie auch gegen jeden Bonapartismus im Lande.

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In der Frage des »Defaitismus« stützte sich der Staatsanwalt zuerst auf Sinowjew, dann auf Radek, als auf die Hauptzeugen gegen mich. Ich will mich hier auf Sinowjew und Radek als auf Zeugen gegen den Staatsanwalt berufen. Ich werde ihre freie und unverfälschte Ansicht wiedergeben.

Die abscheuliche Hetze gegen die Opposition behandelnd, schrieb Sinowjew am 6. September 1937 an das Zentralkomitee: »Es genügt, auf den Artikel des nicht unbekannten N. Kusmin in der >Komsomolskaja Prawda< zu verweisen, in dem dieser >Lehrer< unserer militärischen Jugend - des Genossen Trotz-kis Erwähnung Clemenceaus als eine Forderung deutet, die Bauern im Kriegsfalle an der Front zu erschießen. Was ist das anderes als offene thermidorianische, um nicht zu sagen Schwarzhundert-Agitation? ...«

Gleichzeitig mit dem Brief Sinowjews schrieb Radek (September 1927) in seinen Programm-Thesen: »... In der Frage des Krieges muß man in der Plattform Dinge wiederholen, die bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt wurden, und sie unter einen Nenner bringen, und zwar: unser Staat ist ein Arbeiterstaat, obwohl starke Tendenzen an der Änderung dieses Charakters arbeiten. Die Verteidigung dieses Staates ist die Verteidigung der proletarischen Diktatur ... Die Frage, die die Stalingruppe aufwirft, indem sie Trotzkis Erwähnung Clemenceaus entstellt, darf man nicht ignorieren, sondern muß darauf klar antworten: Wir werden die Diktatur des Proletariats auch unter der falschen Leitung der heutigen Mehrheit verteidigen, wie wir das bereits erklärt haben; aber das Pfand des Sieges liegt darin, daß die Fehler dieser Leitung korrigiert werden und die Partei unsere Plattform annimmt.«

Die Zeugnisse von Sinowjew und Radek sind in doppeltem Sinne wertvoll: einerseits stellen sie die Ansicht der Opposition über die Verteidigung der USSR richtig dar, andererseits zeigen sie, daß die Stalingruppe meine Erwähnung Clemenceaus schon im Jahre 1937 auf jede Weise entstellt hat, um der Opposition defaitistische Tendenzen unterzuschieben. Es ist bemerkenswert, daß der gleiche Sinowjew in seinen späteren Reuebekenntnissen die offizielle Fälschung des Falles Clemen-ceau gehorsam in sein Arsenal aufnahm. »... Die gesamte Partei wird«, schrieb Sinowjew am 8. Mai 1933 in der »Prawda«, »wie ein Mann unter dem Banner Lenins und Stalins kämpfen ... Nur verächtliche Renegaten werden versuchen, an die

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berüchtigte Clemenceau-These zu erinnern.« Ähnliche Zitate könnte man sicherlich auch bei Radek entdecken. Also der Staatsanwalt hat auch diesmal nichts erfunden. Er hat nur eine kriminelle Bearbeitung der traditionellen thermidorianischen Hetze gegen die Opposition geliefert. Und auf solchen niedrigen Kniffen ist die ganze Anklage aufgebaut. Lüge und Fälschung! Fälschung und Lüge! Und im Resultat - Erschießungen.

 

 

Die Theorie der »Maskierung«

 

Einige »Juristen« von jener Art, die Mücken seihen und Kamele schlucken, möchten den Einwand machen, meine Korrespondenz besitze keine »juristische« Beweiskraft, da noch immer für die Annahme Raum bleibt, sie wurde mit dem beabsichtigten Ziele geführt, meine wirklichen Gedanken und Handlungen zu maskieren. Dieses Argument, entnommen der banalen Kriminalpraxis, eignet sich absolut nicht für einen politischen Prozeß von grandiosem Maßstabe.

Zum Zwecke der Maskierung kann man fünf, zehn, hundert Briefe schreiben. Man kann aber nicht während einer Reihe von Jahren über die verschiedensten Fragen, mit den verschiedensten Menschen, nahe- und fernstehenden, eine intensive Korrespondenz führen, mit dem einzigen Zweck: alle und jeden zu täuschen. Man muß zu den Briefen die Bücher und Artikel hinzuzählen. Auf »Maskierung« kann man die Kräfte und die Zeit verwenden, die nach der Hauptarbeit übrigbleiben.

Jedoch ununterbrochen eine riesige Korrespondenz führen kann man nur, wenn man an ihrem Inhalt und an ihren Folgen tief interessiert ist. Gerade deshalb widerspiegeln die zahllosen, vom Geiste des Proselytismus durchdrungenen Briefe das wahre Gesicht des Autors und keinesfalls eine vorübergehend angenommene Maske.

Als Zeuge in Sachen des mißlungenen Überfalls der Faschisten auf meine Archive am 11. Dezember 1936 in Norwegen auftretend, führte ich ein Beispiel aus dem Gebiete der Religion an. Bringen wir hier eiji Beispiel aus dem Gebiete der Kunst. Nehmen wir an, jemand erklärt, Diego Rivera sei ein Geheimagent der katholischen Kirche. Wenn ich an einer Kommission zur Untersuchung dieser Verleumdung teilnehmen würde, würde ich zuerst allen an dieser Frage Interessierten empfehlen, die Fresken Riveras zu betrachten: Man kann wohl kaum

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einen leidenschaftlicheren ud intensiveren Ausdruck des Hasses gegen die Kirche finden. Mag dann ein Jurist zu erwidern versuchen: Vielleicht hat Rivera seine Fresken mit der Absicht gemacht, um seine wahre Rolle zu maskieren?

 

Um Verbrechen zu maskieren (ich spreche diesmal von Verbrechen der GPU), kann man, mit Hilfe eines gedungenen Apparates, eine Anklageschrift fabrizieren, eine Reihe monotoner Geständnisse erpressen und auf Staatskosten einen »stenographischen« Prozeßbericht drucken. Die inneren Widersprüche und die Plumpheit der Mache enthüllen an sich genügend die bestellte bürokratische »Schöpfung«. 

Ohne Überzeugung und ohne intellektuelle Leidenschaft lassen sich aber nicht gigantische Fresken malen, die in der Sprache der Kunst die Unterjochung des Menschen durch den Menschen geißeln, oder eine lange Reihe von Jahren unter den Schlägen des Feindes Ideen der Weltrevolution entwickeln. Man kann nicht zum Zwecke der Maskierung wissenschaftliche, künstlerische oder politische Arbeiten mit »Herzblut und Nervensaft« (Börne) tränken. Menschen, die eine Ahnung von schöpferischer Arbeit haben, überhaupt ernste und feinfühlige Menschen, werden verächtlich über die bürokratische und »juristische« Kasuistik lachen und zur Tagesordnung übergehen. 

Wollen wir schließlich die unparteiische Arithmetik zur Sache heranholen. Der Inhalt meiner verbrecherischen Arbeit, wie er sich aus den Zeugenaussagen in den beiden Prozessen ergibt, ist der folgende: drei Zusammenkünfte in Kopenhagen, zwei Briefe an Mratschkowski und die anderen, drei Briefe an Radek, ein Brief an Pjatakow, einer an Muralow, eine Zusammenkunft mit Romm von 20 bis 25 Minuten Dauer, eine Zusammenkunft mit Pjatakow von zwei Stunden. Alles! 

Insgesamt haben mich Unterredungen und Korrespondenz mit den Verschwörern, nach deren eigenen Aussagen, 12 bis 13 Stunden gekostet. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich verloren habe auf die Zusammenkünfte mit Hess und den japanischen Diplomaten. Rechnen wir noch zwölf Stunden. Zusammen wird das kaum drei Arbeitstage ausmachen. Für die acht Jahre meiner letzten Verbannung kann ich etwa 2920 Arbeitstage ausrechnen. Daß ich diese Zeit nicht nutzlos vergeudet habe, beweisen die Bücher, die ich in diesen Jahren herausgab, die zahllosen Artikel und noch zahlreicheren Briefe, die nach Umfang und Charakter sich Artikeln nähern. 

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Wir kommen, somit zu einer recht paradoxen Schlußfolgerung: Im Laufe von 2 917 Arbeitstagen schrieb ich Bücher, Artikel, Briefe, führte Unterhaltungen, die der Verteidigung des Sozialismus, der proletarischen Revolution und dem Kampfe gegen Faschismus und Reaktion überhaupt gewidmet waren. Aber drei Tage - ganze drei Tage - widmete ich der Verschwörung im Interesse des Faschismus. Meinen Büchern und Artikeln, die im Geiste der kommunistischen Revolution geschrieben sind, haben sogar die Gegner gewisse Qualitäten nicht abgesprochen. Dagegen zeichnen sich, nach dem Moskauer Bericht, meine Briefe und die mündlichen Direktiven - die von Interesse für den Faschismus inspiriert sind - durch äußerste Dummheit aus. In den zwei Zweigen meiner Tätigkeit, der offenen und der geheimen, macht sich somit eine außerordentliche Disproportion bemerkbar. Die offene, das heißt die heuchlerische Tätigkeit, die zur Maskierung dienende, überwog die geheime, das heißt die »wirkliche«, fast tausendfach quantitativ und, ich wage es zu hoffen, auch qualitativ..Es entsteht der Eindruck, als habe ich einen Wolkenkratzer aufgebaut, um eine krepierte Ratte zu »maskieren«. Nein, das ist nicht überzeugend!

Das gleiche bezieht sich auch auf die Zeugenaussagen. Selbstverständlich habe ich im Kreise politischer Freunde gelebt und Beziehungen hauptsächlich, obwohl nicht ausschließlich, mit meinen Gesinnungsgenossen unterhalten. Man kann unschwer einen Versuch machen, die Aussagen meiner Zeugen als parteiisch (»ex parte«) abzulehnen.

Ein solcher Versuch muß jedoch von vornherein als unzulänglich erkannt werden. In ungefähr dreißig Ländern bestehen heute größere oder kleinere Organisationen, die entstanden sind und sich entwickelt haben, besonders in den letzten acht Jahren, in enger Verbindung mit meinen theoretischen Arbeiten und politischen Artikeln. Hunderte von Mitgliedern dieser Organisationen sind mit mir in persönliche Korrespondenz getreten, haben mit mir diskutiert und mich bei der ersten Möglichkeit besucht. Jeder von ihnen hat dann seine Eindrücke mit Dutzenden und manchmal mit Hunderten anderer geteilt. Also handelt es sich nicht um irgendeine abgeschlossene Gruppe, die Familienegoismus oder Gemeinsamkeit materieller Interessen verbindet, sondern um eine breite internationale Bewegung, die sich ausschließlich von ideologischen

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Quellen nährt. Man muß noch hinzufügen, daß in allen diesen dreißig Organisationen all diese Jahre ein intensiver geistiger Kampf vor sich gegangen ist, der häufig zu Spaltungen und Ausschlüssen führte. Das innere Leben dieser Organisationen hat wiederum in Bulletins, Zirkularbriefen und polemischen Artikeln seinen Ausdruck gefunden. An all dieser Arbeit habe ich aktiv teilgenommen. Es fragt sich nun: hat die internationale Organisation der »Trotzkisten« von meinen »wahren« Plänen und Absichten (Terrorismus, Krieg, Niederlage der USSR, Faschismus) gewußt? Wenn ja, dann ist es ganz unerklärlich, wieso dieses Geheimnis nicht bekannt geworden ist (aus Unvorsichtigkeit oder aus böser Absicht), besonders wenn man die vielen Konflikte und Spaltungen berücksichtigt. Wenn nicht, so bedeutet das, daß es mir gelungen ist, eine wachsende internationale Bewegung ins Leben zu rufen, und zwar auf Grund von Ideen, die in Wirklichkeit gar nicht meine Ideen waren, sondern mir nur zur Maskierung gerade entgegengesetzter Ideen gedient haben. Aber eine solche Annahme ist doch ein zu großer Unsinn! Nun sei noch hinzugefügt, daß ich vorschlage, Dutzende von Menschen als Zeugen zu laden, die mit der Trotzkistischen Organisation gebrochen haben oder aus ihr ausgeschlossen wurden und heute meine politischen Gegner, teils recht erbitterte, sind. Für diese breiten Maßstäbe - die Quantität geht auch hier in Qualität über - den engen Begriff ex parte anzuwenden, heißt, im Namen des Schattens die Realität aus den Augen zu verlieren.

 

 

Wozu und weshalb diese Prozesse?

 

 

Ein amerikanischer Schriftsteller klagte mir im Gespräch: »Es fällt mir schwer zu glauben, daß Sie mit den Faschisten ein Bündnis eingegangen sind, aber es fällt mir auch schwer zu glauben, daß Stalin eine so schreckliche Fälschung begangen hat.« Ich konnte meinen Gesprächspartner nur bedauern. Es ist in der Tat schwer, eine Lösung zu finden, wenn man an die Frage ausschließlich von der individuell-psychologischen und nicht von der politischen Seite herangeht. Ich will damit die Bedeutung des individuellen Elements in der Geschichte nicht bestreiten. Sowohl Stalin wie ich befinden uns nicht zufällig auf unseren heutigen Posten. Aber diese Posten haben nicht wir geschaffen. Jeder von uns ist in das Drama hineingezogen worden als Vertreter bestimmter Ideen und Prinzipien. 

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Wiederum hängen Ideen und Prinzipien nicht in der Luft, sondern haben tiefe soziale Wurzeln. Man muß darum nicht die psychologische Abstraktion Stalin als »Menschen« nehmen, sondern seine konkrete historische Figur als Führer der Sowjetbürokratie. Stalins Handlungen kann man nur verstehen, wenn man von den Existenzbedingungen der neuen privilegierten Schicht ausgeht, die, gierig nach der Macht, gierig nach den Gütern des Lebens, Angst hat um ihre Positionen, Angst vor den Massen - und jegliche Opposition tödlich haßt.

Die Lage der privilegierten Bürokratie in der Gesellschaft, die sie selbst sozialistisch nennt, ist nicht nur widerspruchsvoll, sondern auch falsch. Je schärfer der Sprung von der Oktoberrevolution, die die soziale Lüge bis auf den Grund enthüllte, zur heutigen Lage, die eine Kaste von Parvenüs zwingt, die sozialen Wunden zu maskieren - um so tiefer die thermidorianische Lüge. Es handelt sich folglich nicht um eine individuelle Lasterhaftigkeit der einen oder der anderen Person, sondern um das Lasterhafte einer ganzen sozialen Gruppe, für die die Lüge eine politische Lebensfunktion geworden ist. Im Kampfe um ihre neuen Positionen hat sich diese Kaste selbst ganz neu erzogen und parallel damit hat sie ihre Führer erzogen oder richtiger demoralisiert. Sie hat auf ihren Schultern jenen hochgehoben, der am besten, am entschiedensten und am erbarmungslosesten ihre Interessen ausdrückt. So wurde Stalin, der einstmals ein Revolutionär war, zum Führer der thermidorianischen Kaste.

 

Die Formeln des Marxismus, die die Interessen der Massen ausdrücken, haben die Bürokratie immer mehr behindert, insofern sie sich unvermeidlich gegen die Interessen dieser Bürokratie wenden. Seit ich mich in die Opposition zur Bürokratie gestellt habe, begannen deren Hoftheoretiker das revolutionäre Wesen des Marxismus Trotzkismus zu nennen. Gleichzeitig veränderte sich der offizielle Begriff Leninismus von Jahr zu Jahr, indem er immer mehr den Bedürfnissen der regierenden Kaste angepaßt wurde. Bücher, die der Geschichte der Partei, der Oktoberrevolution oder der Theorie des Leninismus gewidmet waren, wurden jedes Jahr abgeändert. Ich habe ein Beispiel aus der literarischen Tätigkeit Stalins angeführt. Im Jahre 1918 schrieb er, daß der Sieg des Oktoberaufstandes »vor allem und am meisten« durch Trotzkis Leitung gesichert war. 

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Im Jahre 1924 schrieb er, daß Trotzki bei der Oktoberumwälzung keine besondere Rolle spielen konnte. Nach dieser Stimmgabel wurde die ganze Historiographie abgetönt. Das bedeutet praktisch, daß Hunderte junger Gelehrter und Tausende von Journalisten systematisch im Geiste einer Fälschung erzogen wurden. Wer Widerstand leistete, dem schnürte man die Kehle zu. In noch größerem Maße gilt das für die Propagandisten, Beamten, Richter, von den Staatsanwälten der GPU ganz zu schweigen. 

Die ununterbrochenen Säuberungen der Partei waren vor allem auf die Ausrottung des Trotzkismus gerichtet, wobei als Trotzkisten nicht nur unzufriedene Arbeiter bezeichnet wurden, sondern auch alle jene Schriftsteller, die gewissenhaft historische Tatsachen und Zitate anführten, die dem letzten offiziellen Standard widersprachen. Dichter und Künstler unterwarfen sich dem gleichen Regime. Die geistige Atmosphäre des Landes wurde durch und durch vom Gifte der Konvention, der Lüge und der direkten Fälschung erfüllt.

Alle Möglichkeiten auf diesem Wege waren jedoch bald erschöpft. Theoretische und historische Falsifikationen erfüllten nicht mehr den Zweck: man gewöhnte sich zu sehr an sie. Man mußte den bürokratischen Repressalien eine massivere Begründung geben. Den literarischen Falsifikationen kamen Beschuldigungen kriminellen Charakters zu Hilfe.

Meine Ausweisung aus der USSR wurde offiziell damit motiviert, daß ich einen »bewaffneten Aufstand« vorbereitet hätte. Allerdings wurde diese mir persönlich vorgehaltene Beschuldigung von der Presse nicht einmal gedruckt. Es mag vielleicht jetzt unglaublich scheinen, aber schon im Jahre 1929 beschuldigte die Sowjetpresse die Trotzkisten der »Sabotage«, »Spionage«, »Vorbereitung von Eisenbahnkatastrophen« usw. Prozesse hat es jedoch wegen dieser Beschuldigungen nicht gegeben. Die Sache beschränkte sich auf literarische Verleumdungen, die jedoch ein wichtiges Glied in der Vorbereitung späterer Prozeßfälschungen waren. Um die Repressalien zu rechtfertigen, brauchte man falsche Beschuldigungen. Um den falschen Beschuldigungen Gewicht zu verleihen, mußte man sie durch noch schärfere Repressalien bekräftigen. So stieß die Logik des Kampfes Stalin auf den Weg der blutigen Prozeßamalgame.

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Sie wurden für ihn eine Notwendigkeit auch aus internationalen Gründen. Wenn die Sowjetbürokratie Revolutionen nicht wünscht und sie fürchtet, so kann sie dennoch nicht offen von der revolutionären Tradition, sich lossagen, ohne ihre Reputation im Innern der US SR völlig zu untergraben, Ein offener Bankrott der Kommunistischen Internationale schafft Raum für eine neue Internationale. Seit dem Jahre 1933 hat der Gedanke neuer revolutionärer Parteien unter dem Banner der IV. Internationale große Fortschritte in der Alten und in der Neuen Welt gemacht. Ein außenstehender Beobachter kann schwer die tatsächlichen Ausmaße dieser Erfolge einschätzen. Sie lassen sich mit der Statistik der Mitgliedskarten allein nicht berechnen. Viel größere Bedeutung hat die allgemeine Tendenz der Entwicklung. Durch alle Sektionen der Komintern gehen tiefe Risse, die beim ersten historischen Stoß zu Spaltungen und Zusammenbrüchen führen werden. Wenn Stalin Angst hat vor dem kleinen »Bulletin der Opposition« und seine Einfuhr in die USSR mit Erschießungen bestraft, dann ist es nicht schwer zu begreifen, welche Furcht die Bürokratie davor hat, daß in die USSR Nachrichten dringen könnten über die aufopferungsvolle Arbeit der IV. Internationale im Dienste der Arbeiterklasse.

Die moralische Autorität der Führer der Bürokratie und vor allem Stalins hält sich in großem Maße auf dem Babylonischen Turm von Verleumdungen und Fälschungen, der im Laufe von dreizehn Jahren errichtet wurde. Die moralische Autorität der Komintern hält sich voll und ganz auf der moralischen Autorität der Moskauer Bürokratie. Wiederum braucht Stalin unbedingt die moralische Autorität der Komintern und deren Unterstützung vor der russischen Arbeiterklasse. Dieser Babylonische Turm, der seine Erbauer selbst schreckt, hält sich im Inneren der USSR mit Hilfe immer schrecklicherer Repressalien, außerhalb der USSR - mit Hilfe des gigantischen Apparates, der auf Kosten der sowjetrussischen Arbeiter und Bauern die öffentliche Weltmeinung mit Mikroben der Lüge, Fälschung und Erpressung vergiftet. Millionen Menschen in der ganzen Welt identifizieren die Oktoberrevolution mit der ther-midorianischen Bürokratie, die Sowjetunion - mit Stalins Clique, die revolutionären Arbeiter - mit dem durch und durch demoralisierten Apparat der Komintern.

Die erste größere Bresche im Babylonischen Turm wird dazu führen, daß er völlig zusammenstürzt und unter seinen Trümmern die Autorität der thermidorianischen Führer begräbt. Deshalb ist es für Stalin eine Frage auf Tod und Leben: die IV. Internationale im Keime totzuschlagen!

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In dem Augenblick, da wir hier die Moskauer Prozesse analysieren, tagt in Moskau, nach den Zeitungsberichten, das Exekutivkomitee der Komintern. Auf ihrer Tagesordnung steht: Kampf gegen den Welttrotzkismus. Diese Session des Exekutivkomitees der Komintern ist nicht nur ein Glied in der langen Kette der Moskauer Fälschungen, sondern auch ihre Projektion auf die Weltarena. Wir werden morgen von neuen Verbrechen der Trotzkisten in Spanien hören, von ihrer direkten oder indirekten Unterstützung der Faschisten. Wir werden morgen hören, daß Trotzkisten in den Vereinigten Staaten Eisenbahnkatastrophen vorbereiten und im Interesse Japans den Panamakanal zuschütten wollen. Wir werden übermorgen hören, daß die Trotzkisten in Mexiko Maßnahmen zur Restaurierung Porfirio Diaz' treffen. 

Man kann einwenden, Diaz sei schon lange tot? Die Moskauer Schöpfer des Amalgams machen vor solchen Kleinigkeiten nicht halt. Sie machen überhaupt vor nichts halt. Politisch und moralisch steht für sie die Frage auf Leben und Tod. Die Emissäre der GPU jagen durch alle Länder der Alten und der Neuen Welt. Mangel an Geld leiden sie nicht. Was bedeutet für die regierende Clique eine Mehrausgabe von 30-50 Millionen Dollar, wenn ihre Autorität und ihre Macht auf dem Spiele stehen! Menschliche Gewissen werden von diesen Herren wie Kartoffeln gekauft. Wir werden nicht wenige solcher Beispiele sehen.

Zum Glück sind nicht alle käuflich. Andernfalls wäre die Menschheit schon längst verfault. In der Untersuchungskommission besitzen wir eine wertvolle Zelle des unbestechlichen öffentlichen Gewissens. Alle, die sich nach einer Reinigung der öffentlichen Atmosphäre sehnen, wird die Kommission instinktiv anziehen. Trotz den Intrigen, Bestechungen und Verleumdungen wird sie bald ein Panzer von Sympathie der breiten Volksmassen umgeben.

Meine Herren Mitglieder der Kommission! Es sind nun fünf Jahre, ich wiederhole: fünf Jahre(!), daß ich unablässig die Schaffung einer internationalen Untersuchungskommission fordere. Der Tag, an dem ich das Telegramm von der Bildung Ihrer Untersuchungskommission erhielt, war ein großes Fest in meinem Leben. Freunde fragten mich, nicht ohne Besorgnis: Werden nicht Stalinisten in die Kommission eindringen, wie sie in das Komitee zur Verteidigung Trotzkis eingedrungen

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sind? Ich antwortete: Bei Tageslicht sind die Stalinisten nicht schrecklich. Im Gegenteil: ich werde die vergifteten Fragen der Stalinisten begrüßen; um sie zu zerschmettern, brauche ich nur zu erzählen, was in Wirklichkeit war. Die Weltpresse wird meinen Antworten die notwendige Öffentlichkeit verschaffen. Ich habe gewußt, daß die GPU einzelne Journalisten und ganze Zeitungen bestechen wird. Doch habe ich keinen Augenblick gezweifelt, daß man das Weltgewissen nicht bestechen kann und daß es in diesem Falle einen seiner glänzenden Siege erringen wird. «

 

 

Die Enthauptung der Roten Armee

 

 

 

Ist es noch nötig, in Details zu wühlen, die Prozeßberichte den Buchstaben nach zu prüfen, Widerlegungen zu sammeln, die Fälschungen einer mikroskopischen Analyse zu unterziehen? Stalin widerlegt sich selbst mit unvergleichlich massiveren Argumenten. Jeder Tag bringt sensationelle Nachrichten aus der USSR, die davon zeugen, daß das Regime von der letzten Krise erfaßt ist, die man Agonie nennen könnte, wenn diese Analogie mit lebendigen Organismen nicht die Vorstellung von zu kurzen Fristen erwecken würde.

Die »alte Garde«, in deren Namen im Jahre 1923 der Kampf gegen den »Trotzkismus« begann, ist politisch längst liquidiert. Ihre physische Vernichtung wird jetzt im Stalinschen Stile vollendet, der sadistische Grausamkeit mit bürokratischem Pedantismus vereinigt. 

Es wäre jedoch zu oberflächlich, die mörderischen und selbstmörderischen Maßnahmen Stalins allein mit Herrschsucht, Grausamkeit, Rachsucht und anderen persönlichen Eigenschaften zu erklären. 

Stalin hat schon längst die Kontrolle über die eigene Politik verloren. Die Bürokratie insgesamt hat die Kontrolle über die eigenen Selbstverteidigungsreflexe verloren. Die neuen Verfolgungen, die alle Grenzen des Faßbaren überschritten haben, werden durch die Progression der alten Verfolgungen aufgezwungen. Ein Regime, das vor den Augen der ganzen Welt eine Fälschung nach der anderen inszenieren, den Kreis seiner Opfer automatisch erweitern muß, ein solches Regime ist dem Untergang geweiht.

Nach den gemachten Erfahrungen ist Stalin bereits gezwungen, auf »öffentliche« Prozesse zu verzichten. Offiziös wird dieser Verzicht damit motiviert, daß vor dem Lande »wichtigere Aufgaben« stehen. Unter dieser Parole bekämpfen im Westen die »Freunde« den Gegenprozeß. Inzwischen werden in verschiedenen Teilen der USSR immer neue Herde »des Trotzkismus, der Sabotage und Spionage« entdeckt. Im Fernen Osten sind, nach den veröffentlichten Angaben, seit Anfang Mai dreiundachtzig »Trotzkisten« erschossen worden. Die Arbeit geht weiter. Weder über den Verlauf der Prozesse noch sogar über die Namen der Opfer bringt die Presse etwas. Wer sind die Erschossenen? 

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Einen gewissen Prozentsatz stellen wahrscheinlich wirkliche Spione: im Fernen Osten ist an ihnen kein Mangel. Der andere Teil wird aus Oppositionellen, Unzufriedenen, Unbequemen gewählt. Einen dritten Teil bilden Agents provocateurs, die als Verbindung zwischen den »Trotzkisten« und den Spionen gedient haben und damit zu gefährlichen Zeugen geworden sind. 

Aber es gibt noch einen vierten Teil, der immer mehr anwächst: das sind die Verwandten, Freunde, Untergebenen, die Bekannten der Erschossenen, Menschen, die von den Fälschungen wissen und in der Lage sind, wenn nicht zu protestieren, so doch von Stalins Verbrechen anderen Menschen zu erzählen.

 

Was sich unten, besonders in den Randgebieten, abspielt, wo die Morde anonymen Charakter tragen, kann man nur an dem ermessen, was oben geschieht. Stalin ist es seinerzeit nicht gelungen, einen öffentlichen Prozeß gegen Bucharin und Rykow zu inszenieren, weil die Angeklagten sich weigerten, »Reuebekenntnisse« abzulegen. Man ist gezwungen, ihre Erziehung fortzusetzen. Nach einigen Nachrichten sind Rykow und Bucharin, das ehemalige Haupt der Regierung und das ehemalige Haupt der Komintern, zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden, hinter geschlossenen Türen, wie im Juli 1935 - zwischen zwei Prozeßkomödien - Kamenjew hinter geschlossenen Türen zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. 

Schon allein diese Gegenüberstellung drängt die Schlußfolgerung auf, daß das Urteil über Rykow und Bucharin kein endgültiges ist. Die von dem unverschämten Analphabeten Mechlis, einem früheren Privatsekretär Stalins, geleitete Presse fordert die »Ausrottung« der Feinde des Volkes. Das Erstaunlichste - wenn man sich den Luxus des Staunens noch leisten darf - ist fast die Tatsache, daß Rykow und Bucharin heute »Trotzkisten« genannt werden, wo doch die Hauptschläge der linken Opposition sich stets und unabänderlich gegen den rechten Flügel gerichtet hatten, den Rykow und Bucharin repräsentierten. Andererseits hatte im Kampfe gegen den Trotzkismus nur Bucharin so etwas wie eine Doktrin geliefert, auf die sich Stalin während einer Reihe von Jahren stützte - soweit er sich überhaupt auf irgendeine Doktrin stützt. 

Es stellt sich jetzt heraus, daß Bucharins unzählige Artikel und Bücher gegen den Trotzkismus, an denen der gesamte Apparat der Komintern erzogen wurde, nur zur Verschleierung seiner geheimen Arbeit mit den Trotzkisten auf dem Boden des Terrors dienten, wie dem Bischof von Canterbury die kirchlichen Funktionen nur zur Maskierung seiner atheistischen Propaganda dienen. 

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Aber wer kümmert sich heute um solche Lappalien! Jene, die die Vergangenheit kennen, sind ausgerottet oder aus Angst vor der Ausrottung zum Schweigen gezwungen. Die Mietlinge der Komintern, die vor einigen Jahren vor Bucharin auf allen Vieren krochen, fordern jetzt, daß man ihn als »Trotzkisten« und Feind des Volkes kreuzige.

Revolutionäre Epochen schweißen die Volksmassen zusammen. Umgekehrt bedeuten reaktionäre Perioden den Sieg der Zentrifugalkräfte. Während der letzten 14 Jahre ist nicht ein Riß in der bolschewistischen Partei ausgebessert worden, nicht eine Wunde vernarbt, nicht ein Konflikt durch Versöhnung aus der Welt geschaffen worden. Kapitulationen und Erniedrigungen haben nichts genützt. Die Zentrifugalkräfte verbreiterten jeden Spalt, bis sie ihn zu einer unüberwindlichen Kluft gestalteten. Wer nur mit dem kleinen Finger in den Spalt geriet, war unwiderruflich verloren.

Mit der »alten Garde«, das heißt mit den Bolschewiken aus der Zeit der zaristischen Illegalität ist im wesentlichen Schluß gemacht worden. Jetzt ist der Mauser der GPU auf die nächste Generation gerichtet, die ihren Aufstieg mit dem Bürgerkrieg begann. Allerdings haben schon in den früheren Prozessen neben den alten Bolschewiki jüngere Angeklagte figuriert. Jedoch waren es Hilfsfiguren, die man für die Abrundung des Amalgams nötig hatte. Die Überprüfung der Vierzigjährigen, das heißt der Generation, die Stalin half, die alte Garde zu erledigen, bekommt nun systematischen Charakter. Jetzt geht es bereits nicht mehr um zufällige Figuren, sondern um Sterne zweiter Größe.

Postyschew war dank seiner eifrigen Beteiligung an dem Kampf gegen den Trotzkismus zum Posten des Sekretärs des ZK aufgestiegen. In der Ukraine unternahm er im Jahre 1933 eine Säuberung des Partei- und Staatsapparates von »Nationalisten« und trieb mit seiner Hetze wegen »Begönnerung der Nationalisten« den ukrainischen Volkskommissar Skrypnik zum Selbstmord. Diese Tatsache hat die Partei um so mehr verblüfft, als ein Jahr zuvor der sechzigste Geburtstag Skrypniks, eines alten Bolschewiken, Mitglied des ZK und hundertprozentigen Stalinisten, in Charkow und in Moskau feierlich begangen wurde.

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Im Oktober 1933 schrieb ich aus diesem Anlaß: »... Die Tatsache, daß das Stalinsche System solcher Opferungen bedarf, beweist, von welch scharfen Gegensätzen es sogar auf der obersten Spitze zerrissen wird.« (»Bulletin der Opposition«, Nr. 36/37.) Vier Jahre später zeigte es sich, daß Postyschew, der nach seinen Heldentaten als Diktator in der Ukraine belassen wurde, sich der Begönnerung der Nationalisten selbst schuldig gemacht hatte; als in Ungnade gefallener Würdenträger wurde er vor kurzem ins Wolgagebiet versetzt. Man kann annehmen: nicht für lange. Nicht nur Wunden, auch Kratzer vernarben nicht mehr. Ob Postyschew zum Selbstmord greifen oder Reuebekenntnisse über nicht begangene Verbrechen ablegen wird, Rettung gibt es für ihn in keinem Falle. In Weißrußland erschoß sich der Vorsitzende des Zentralexekutivkomitees, Tscherwjakow. In seiner Vergangenheit war er mit den Rechten verbunden, hatte sich aber schon vor langer Zeit öffentlich dem Kampfe gegen sie angeschlossen. Der offizielle Bericht sagt verschämt, Tscherwjakow, der nach der Konstitution gleiche Rechte wie Kalinin besaß, habe Selbstmord aus »Familiengründen« begangen. Stalin hat sich also doch nicht entschließen können, ein Haupt der USSR als deutschen Agenten zu bezeichnen. Doch gleichzeitig mit diesem Selbstmord wurden in Minsk die Volkskommissare Weißrußlands verhaftet, die mit Tscherwjakow eng verbunden waren. Ebenfalls aus »Familiengründen«? Betrachtet man die Bürokratie als eine »Familie«, dann kann man allerdings sagen, daß sich diese Familie im Stadium der Verwesung befindet.

 

Viel erstaunlicher (wenn man sich wiederum das Staunen gestatten darf) ist die Sternenbahn Jagodas, der in den letzten zehn Jahren Stalins nächste Person war. Keinem einzigen Mitglied des Politbüros vertraute Stalin jene Geheimnisse an, die er dem Chef der GPU anvertraute. Daß Jagoda ein Lump ist, wußten alle. Aber erstens unterschied er sich nicht sonderlich von manchen seiner Kollegen. Zweitens brauchte ihn Stalin gerade in der Eigenschaft eines vollendeten Lumpen für die Ausführung der dunkelsten Aufträge. Der ganze Kampf gegen die Opposition, der eine Kette wachsender Falsifikationen und Fälschungen darstellt, wurde unter Jagodas Leitung nach unmittelbaren Direktiven Stalins durchgeführt. Und dieser Hüter des Staates, der die ältere Generation der Partei mit der Wurzel ausgerottet hat, erweist sich als Gangster und Verräter. Er wird verhaftet. Legt er Reuebekenntnisse ab nach dem von ihm ausgearbeiteten Ritual?

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Sein Schicksal wird es nicht ändern. Indes stellt die Weltpresse mit ernster Miene Erwägungen darüber an, ob Jagoda mit den ... Trotzkisten in Verbindung gestanden habe. Warum auch nicht? Wenn Bucharin den Trotzkismus theoretisch erledigte, so konnte Jagoda die Trotzkisten physisch erledigen, um so seine Verbindung mit ihnen besser zu maskieren. Aber die allerseltsamsten Dinge gehen im Kriegsministerium vor, und zwar an seiner allerhöchsten Spitze. Nachdem Stalin die Partei und den Sowjetapparat enthauptet hatte, ging er an die Enthauptung der Armee.

 

Am it. Mai wurde der ruhmreiche Marschall Tuchatschewski seines Postens als Stellvertretender Volkskommissar für Landesverteidigung plötzlich enthoben und auf einen kleinen Posten in die Provinz versetzt. In den folgenden Tagen wurden die Kommandierenden der Militärbezirke und einige hervorragende Generale versetzt. Diese Maßnahmen verhießen nichts Gutes. Am 16. Mai wurde ein Dekret veröffentlicht, das die Militärischen Sowjets an der Spitze der Bezirke, in der Flotte und der Armee wieder herstellt. Es war klar, die regierende Spitze trat in einen ernsten Konflikt mit dem Offizierskorps.

»Revolutionäre Militärsowjets« wurden von mir während des Bürgerkrieges eingeführt. Ein Sowjet bestand aus dem Kommandierenden und zwei, manchmal drei politischen Mitgliedern. Obwohl der Chef formell die absoluten Kommandorechte besaß, hatten doch seine Befehle ohne die Unterschrift der politischen Sowjetmitglieder keine Kraft. Die Notwendigkeit dieser Rückversicherung, die als ein vorübergehendes Übel betrachtet wurde* ergab sich aus dem Mangel an einem zuverlässigen Kommandobestand und dem Mißtrauen der Soldaten auch zu den loyalen Kommandeuren. Die allmähliche Formierung eines roten Offizierskorps sollte mit den Sowjets ein Ende machen und das auf dem militärischen Gebiet unvermeidliche Prinzip der Einzelleitung wieder herstellen.

Frunse, der mich im Jahre 1925 als Haupt des Kriegskommissariats ablöste, führte die Einzelleitung im beschleunigten Tempo durch. Den gleichen Weg ging dann Woroschilow. Der Sowjetstaat hatte, sollte man meinen, Zeit genug, einen zuverlässigen Offiziersbestand zu erziehen und die lästige Notwendigkeit, den Kommandeur durch einen Kommissar zu kontrollieren, abzuschaffen. 

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Es kam aber anders. 

Am Vorabend des zwanzigsten Jubiläums der Revolution, als die Moskauer Oligarchie daran ging, den Kommandobestand zu zerschlagen, hielt sie es für nötig, das Kollegiumsprinzip in der Armee wieder einzuführen. Die neuen militärischen Sowjets heißen nicht mehr »revolutionäre«. Und in der Tat, sie haben mit ihrem Urbild nichts gemein. Die mihtärischen Sowjets des Bürgerkrieges sicherten der revolutionären Klasse die Kontrolle über die Kriegstechniker, die einer feindlichen Klasse entstammten. Die Sowjets von 1937 haben die Aufgabe, der Oligarchie, die sich über die revolutionäre Klasse erhoben hat, zu helfen, die von ihr usurpierte Macht gegen Attentate seitens ihrer eigenen Marschälle und Generale zu schützen.

 

Nach der Absetzung Tuchatschewskis fragte sich jeder Eingeweihte: wer wird nunmehr die Sache der Landesverteidigung leiten? Der an Tuchatschewskis Stelle berufene Marschall Jegorow, ein Oberstleutnant aus dem großen Kriege, ist eine verschwommene Mittelmäßigkeit. Der neue Stabschef, Schaposchnikow, ist ein gebildeter und gewissenhafter Offizier der alten Armee, jedoch ohne strategische Begabung und ohne Initiative. Woroschilow? Es ist kein Geheimnis, daß der »alte Bolschewik« Woroschilow - nur eine dekorative Figur ist. Bei Lenins Lebzeiten war es keinem in den Sinn gekommen, ihn in das Zentralkomitee aufzunehmen. Während des Bürgerkrieges bewies Woroschilow neben unbestreitbarem persönlichem Mut einen völligen Mangel an militärischen und administrativen Qualitäten und außerdem hinterwäldlerische Enge des Horizonts. Seine einzige Legitimation für den Posten eines Mitgliedes des Politbüros und des Volkskommissars für Landesverteidigung besteht darin, daß er schon in Zarizyn im Kampfe gegen das Kosakentum eine Stütze der Stalinschen Opposition gegen jene Kriegspolitik war, die den Sieg im Bürgerkriege gesichert hat. Weder Stalin noch die übrigen Mitglieder des Politbüros haben sich übrigens je Illusionen in bezug auf Woroschilow als einen militärischen Führer gemacht. Sie waren deshalb bestrebt, ihn durch qualifizierte Mitarbeiter zu stützen. 

Die wirklichen Leiter der Armee waren in den letzten Jahren zwei Männer gewesen: Tuchatschewski und Gamarnik.

Weder der eine noch der andere gehörten zur alten Garde. Beide haben sich im Bürgerkrieg ausgezeichnet, nicht ohne die Beteiligung des Autors dieser Zeilen. Tuchatschewski hat zweifellos hervorragende strategische Begabung bewiesen. Es fehlte ihm jedoch die Fähigkeit, eine militärische Situation allseitig einzuschätzen.

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Seine Strategie zeigte stets ein Element von Abenteurertum. Auf diesem Boden hatten wir einige Zusammenstöße, übrigens der Form nach absolut freundschaftliche. Ich mußte auch Kritik üben an den Versuchen Tuchatschewskis, mit Hilfe elementarer Formeln des Marxismus, die er sich in aller Eile angeeignet hatte, eine »neue Kriegsdoktrin« zu schaffen. Man darf jedoch nicht vergessen, daß Tuchatschewski damals sehr jung war und einen zu großen Sprung gemacht hatte: aus den Reihen des Gardekorps in das Lager des Bolschewismus. Seit jener Zeit hat er offenbar fleißig gelernt, wenn nicht Marxismus (das lernt heute in der USSR keiner), so doch das Kriegshandwerk. Er hat gelernt, die neue Technik zu verstehen und spielte, nicht ohne Erfolg, die Rolle des »Mechanisators« der Armee. Ob es ihm gelungen war, das notwendige innere Gleichgewicht zu gewinnen - ohne das es überhaupt keinen großen Heerführer geben kann -, hätte nur ein neuer Krieg beweisen können, in dem Tuchatschewski die Rolle des Generalissimus im voraus zugewiesen war.

 

Jan Gamarnik, der aus einer jüdischen Familie in der Ukraine stammt, hat sich schon während des Bürgerkrieges durch politische und administrative Fähigkeiten ausgezeichnet, allerdings in provinziellem Maßstabe. Im Jahre 1924 hörte ich über ihn, als einen ukrainischen »Trotzkisten«. Meine persönlichen Beziehungen zu ihm waren bereits abgebrochen. Die damals in der Partei führende »Troika« (Sinowjew-Stalin-Kamenjew) war vor allem bemüht, die fähigen Trotzkisten aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen, sie an neue Orte zu versetzen und womöglich durch Perspektiven einer Karriere zu bestechen.

Gamarnik wurde aus Kiew nach dem Fernen Osten gesandt, wo er die administrative Leiter schnell emporstieg und mit dem »Trotzkismus« bereits im Jahre 1925 radikal brach, das heißt zwei bis drei Jahre vor der Kapitulation der angesehensten Angeklagten der letzten Prozesse. Als die »Umerziehung« Gamarniks abgeschlossen war, holte man ihn nach Moskau und stellte ihn an die Spitze der politischen Verwaltung der Armee und Flotte. Zehn Jahre lang bekleidete Gamarnik verantwortliche Posten, in der Mitte des Parteiapparates und in täglicher Zusammenarbeit mit der GPU - ist es denkbar, unter solchen Bedingungen zwei politische Linien zu verfolgen: die eine für die Außenwelt, die andere geheim? 

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Mitglied des ZK und höchster Vertreter der regierenden Partei in der Armee, war Gamarnik wie Tuchatschewski Fleisch vom Fleische und Blut vom Blute der regierenden Kaste. Warum aber sind diese beiden Führer der bewaffneten Macht vor die Kugel geraten? Sinowjew und Kamenjew gingen zugrunde, weil sie dank ihrer Vergangenheit gefährlich schienen und hauptsächlich weil Stalin durch ihre Erschießung hoffen konnte, dem »Trotzkismus« einen tödlichen Schlag zu versetzen. Pjatakow und Radek, frühere angesehene Trotzkisten, waren die einzigen passenden Figuren für einen neuen Prozeß, der die Fehler des ersten, zu plumpen Gebräus korrigieren sollte. Weder Tuchatschewski noch Gamarnik waren für diese Aufgaben geeignet. Tuchatschewski war niemals Trotzkist gewesen. Gamarnik hat den Trotzkismus in einer Periode gestreift, als sein Name noch völlig unbekannt war. Warum aber hatte Radek den Befehl, während der gerichtlichen Untersuchung Tuchatschewskis Namen zu nennen? Und warum geriet Gamarnik sofort nach seinem geheimnisvollen Tode in die Liste der »Feinde des Volkes«?

 

Als Erzieher des Kommandokorps und zukünftiger Generalissimus mußte Tuchatschewski um die begabten Heeresführer sehr besorgt sein. Putna war einer der hervorragendsten Offiziere des Generalstabs. Vielleicht hatte ihn Tuchatschewski tatsächlich zu Radek gesandt, um irgendwelche Auskünfte zu holen. Radek war der Offiziosus der Außenpolitik, Putna - Militärattache in England. Tuchatschewski konnte durch Putna irgendwelche Nachrichten von Radek erhalten, wie Stalin nicht selten für seine Reden und Interviews Informationen von Radek benutzte. 

Es ist allerdings auch möglich, daß diese ganze Episode freie Erfindung ist, wie so vieles andere. Die Sache ändert es nicht. Tuchatschewski hat wahrscheinlich für Putna wie für andere Offiziere, die die GPU in ihr Amalgam hineinzog, interveniert. Man mußte ihm eine Lehre erteilen. Was war dabei die Rolle Woroschilows? Seine Verbindung mit Stalin hat bis jetzt Woroschilows Politik stärker bestimmt als die Verbindung mit der Armee. Außerdem hat Woroschilow, ein beschränkter und unberechenbarer Mensch, nicht anders als feindselig auf seinen zu begabten Stellvertreter zu blicken vermocht. Dies kann der Beginn des Konfliktes gewesen sein.

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Gamarnik nahm leitenden Anteil an allen Säuberungen in der Armee und machte alles, was man von ihm verlangte. Doch hat es sich früher wenigstens um Oppositionelle, Unzufriedene, Verdächtigte gehandelt, folglich um Interessen des »Staates«. Im letzten Jahre jedoch stellte sich die Notwendigkeit heraus, aus der Armee ganz schuldlose Menschen hinauszuwerfen, die durch irgendwelche alte Verbindungen, durch ihr Amt oder einfach zufällig zur Organisierung einer neuen Justizfälschung gebraucht wurden. Mit vielen dieser Kommandeure waren Gamarnik wie Tuchatschewski durch Bande der Kameradschaft und der Freundschaft verbunden. Als Chef der PUR (politische Verwaltung der revolutionären Sowjets) war Gamarnik verpflichtet, seine Mitarbeiter nicht nur Wyschinski auszuliefern, sondern sich auch an der Fabrikation falscher Beschuldigungen gegen sie zu beteiligen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er mit der GPU einen Kampf aufgenommen und sich über Jeschow bei... Stalin beschwert hat. Dies schon allein kann ihn vor die Kugel gebracht haben.

Von Interessen der Landesverteidigung bewegt, können sich Kommandierende der Militärbezirke wie überhaupt verantwortliche Generale für Tuchatschewski eingesetzt haben. Der Wirrwarr der Versetzungen und Verhaftungen während des Monats Mai und der ersten Junitage läßt sich nur mit der Panik in den regierenden Kreisen erklären. Am 31. Mai erschoß sich Gamarnik - oder wurde erschossen. Die Kommandierenden der Militärbezirke hatten kaum Zeit, die neuen Bestimmungsorte ihrer Versetzungen zu erreichen, als sie schon verhaftet und vor Gericht gestellt waren. Man verhaftete: den eben nach Samara versetzten Tuchatschewski, den eben nach Leningrad versetzten Jakir, den Kommandierenden des Weißrussischen Militärbezirks, Uborewitsch, den Chef der Kriegsakademie, Kork, den Chef der Personalverwaltung der Armee, Feldmann, den Chef der Osoaviachim, Eidemann, kurze Zeit vorher den früheren Militärattache in Japan und England, Putna, und den Kavalleriegeneral Primakow. Alle acht wurden zum Tode verurteilt und erschossen.

Die Armee muß sich bis ins Mark erschüttert gefühlt haben. Von der Legende umwehte Helden des Bürgerkrieges, begabte Heerführer und Organisatoren, Führer der Armee, gestern noch Stütze und Hoffnung des Regimes - wie und weshalb sind sie umgekommen?

Zwei Worte wollen wir jedem von ihnen widmen.

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Wenn Tuchatschewski aus einem zaristischen Offizier ein Bolschewik wurde, so wurde Jakir aus einem jungen, tuberkulösen Studenten ein roter Kommandeur. Schon bei den ersten Schritten bewies er Phantasie und Scharfsinn eines Strategen; alte Offiziere betrachteten nicht selten mit Verwunderung den hageren Kommissar, wenn er mit einem Streichholz die Karte absteckte. Seine Ergebenheit für die Revolution und die Partei hat Jakir unmittelbarer beweisen können als Tuchatschewski. Nach Beendigung des Bürgerkrieges studierte er ernst. Die Autorität, die er genoß, war groß und verdient. In eine Reihe mit ihm kann man den weniger glanzvollen, aber ebenso erprobten und zuverlässigen Heerführer des Bürgerkrieges, Uborewitsch, stellen. Diesen beiden war der Schutz der Westgrenze übertragen, und sie haben sich jahrelang auf ihre Rolle im nächsten großen Krieg vorbereitet. 

Kork, ein Zögling der zaristischen Kriegsakademie, kommandierte in den kritischen Jahren erfolgreich eine Armee, dann einen Militärbezirk und kam zuletzt an die Spitze der Kriegsakademie, an die Stelle von Eidemann, der zur nächsten Umgebung Frunses gehörte. In den letzten Jahren war Eidemann der Chef der Osoaviachim, die die aktive Verbindung der Zivilbevölkerung mit der Armee verwirklicht. Putna war ein gebildeter, junger General mit internationalem Horizont. In Feldmanns Händen lag die unmittelbare Überwachung des Kommandobestandes; das allein zeigt das Maß des Vertrauens, das er genoß. Primakow war zweifellos nach Budjonny der hervorragendste Chef der Kavallerie. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß in der ganzen Roten Armee kein Name, außer Budjonny, übriggeblieben ist, der sich mit der Popularität, von Begabung und Kenntnissen zu schweigen, mit den Namen dieser plötzlich zu Verbrechern Gestempelten messen könnte. Die Vernichtung der leitenden Spitze der Roten Armee ist demnach mit großer Sachkenntnis durchgeführt worden!

Schärfste Aufmerksamkeit verdient die Organisierung des Gerichts: unter Vorsitz des geringwertigen Beamten Ulrich war eine Gruppe älterer Generale mit Budjonny an der Spitze gezwungen, ihren Kriegskameraden das von Stalins Sekretariat diktierte Todesurteil zu sprechen. Das war eine teuflische Prüfung auf Treue. Die am Leben gebliebenen Heerführer sind durch die Schande, mit der er sie bewußt bedeckt hat, von nun an zu Knechten Stalins geworden. Das System der Intrigen geht indes weiter. Stalin hat Angst nicht nur vor Tuchatschewski, sondern sogar vor Woroschilow. 

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Das beweist insbesondere die Ernennung Budjonnys zum Kommandierenden des Moskauer Militärbezirks. Als alter Kavallerie-Unteroffizier hat Budjonny stets den militärischen Dilettantismus Woroschilows verachtet. In der Periode der gemeinsamen Arbeit in Zarizyn haben sie wiederholt einander mit dem Revolver bedroht. Die hohe Karriere hat die äußeren Formen der Feindschaft abgeschliffen, aber nicht gemildert. Die militärische Macht in der Hauptstadt ist aber jetzt als Gegengewicht gegen Woroschilow Budjonny übertragen. Wer von ihnen in der Liste der Geweihten an der Reihe ist, wird die Zukunft zeigen.

Die Beschuldigung gegen Tuchatschewski, Jakir und die anderen, sie wären Agenten Deutschlands gewesen, ist derart dumm und schändlich, daß sie kaum widerlegt zu werden verdient. Stalin hat auch gar nicht gehofft, man würde im Auslande dieser schmutzigen Verleumdung Glauben schenken. Doch hat er auch diesmal durch stark wirkende Argumente die Ermordung der begabten und selbständigen Menschen vor den russischen Arbeitern und Bauern rechtfertigen müssen. Er rechnet auf die hypnotische Wirkung der totalitären Presse und des nicht weniger totalitären Radios.

Welches aber sind die wirklichen Gründe der Ausrottung der besten Sowjetgenerale?  

Darüber kann man sich nur hypothetisch äußern, auf Grund einer Reihe direkter und indirekter Symptome. In Anbetracht der nahenden Kriegsgefahr konnten die verantwortlichen Kommandeure nicht ohne Sorge die Tatsache betrachten, daß an der Spitze der bewaffneten Kräfte Woroschilow steht. Zweifellos hatte man in diesen Kreisen an dessen Stelle Tuchatschewskis Kandidatur vorgeschoben. In seinem ersten Stadium hat das Generals-»Komplott« wahrscheinlich versucht, sich auf Stalin zu stützen, der schon lange das ihm gewohnte Doppelspiel spielte und den Antagonismus zwischen Tuchatschewski und Woroschilow für seine Zwecke ausnutzte. 

Tuchatschewski und seine Anhänger haben offenbar ihre Kräfte überschätzt. Im letzten Moment vor die Notwendigkeit der Wahl gestellt, zog Stalin Woroschilow vor, der bis jetzt ein gehorsames Werkzeug war, und verriet Tuchatschewski, der unter Umständen ein gefährlicher Rivale werden konnte. Die in ihren Hoffnungen betrogenen und durch den »Verrat« Stalins gereizten Generale konnten davon gesprochen haben, daß man die Armee überhaupt von der Bevormundung des Politbüros befreien müßte. Von hier bis zur direkten Verschwörung ist es noch weit. Aber unter dem totalitären Regime bedeutet das den ersten Schritt dazu.

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Wenn man die Vergangenheit der Erschossenen und die Physiognomie jedes einzelnen von ihnen richtig wägt, ist es schwer anzunehmen, daß sie irgendein gemeinsames politisches Programm verband. Jedoch konnte ein Teil von ihnen mit Tuchatschewski an der Spitze auf dem Gebiete der Landesverteidigung ein eigenes Programm gehabt haben. Man darf nicht vergessen, daß nach Hitlers Machtantritt Stalin, alles tat, um die freundschaftlichen Beziehungen mit Deutschland aufrechtzuerhalten. Die Sowjetdiplomaten kargten nicht mit zuvorkommenden Erklärungen an die Adresse des Faschismus, die heute skandalös klingen. 

Die Philosophie dieser Politik wurde von Stalin geliefert: »Vor allem muß man den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande schützen. Faschismus und Demokratie sind Zwillinge und keine Gegensätze. Frankreich wird uns nicht überfallen, und die Bedrohung seitens Deutschlands kann man durch Zusammenarbeit mit ihm neutralisieren.« Auf ein Zeichen von oben waren die Führer der Armee bemüht, freundschaftliche Beziehungen mit den deutschen Militärattaches, Ingenieuren und Industriellen zu unterhalten und ihnen den Gedanken an eine mögliche Zusammenarbeit der beiden Länder einzuflößen. Einige der Generale akzeptierten diese Politik um so bereitwilliger, als ihnen die deutsche Technik und die deutsche »Disziplin« stark imponierten.

 

Stalin war jedoch gezwungen, die »freundschaftlichen« Beziehungen mit Deutschland durch ein Defensivbündnis mit Frankreich zu ergänzen. Darauf konnte Hitler nicht eingehen. Er braucht freie Hand in die eine wie in die andere Richtung. Als Antwort auf die Annäherung Moskaus an Paris stieß er Stalin demonstrativ weg. Nach ihm tat es auch Mussolini. Entgegen seinen ursprünglichen Absichten war Stalin gezwungen, die Philosophie von den »Zwillingen« aufzugeben und Kurs auf eine Freundschaft mit den westlichen »Demokratien« zu nehmen. Im Ministerium des Auswärtigen wurde ein symbolischer Wechsel vorgenommen: der Stellvertreter Litwinows, Krestinski, der frühere Sowjetgesandte in Deutschland, wurde entfernt, an seine Stelle kam Potemkin, der frühere Sowjetgesandte in Frankreich. An der Spitze der Generalität konnte man die Wendung nicht so leicht vollziehen, was im Charakter der Militärkaste, einer zahlreicheren und unbeweglicheren als die der Diplomatie, liegt.

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Nimmt man an, daß Tuchatschewski tatächlich bis in die letzten Tage eine progermanische Orientierung vertrat (ich bin davon nicht überzeugt), so jedenfalls nicht als Agent Hitlers, sondern als Sowjetpatriot, aus strategischen und ökonomischen Erwägungen, die noch vor kurzem von Stalin geteilt wurden. Außerdem haben sich einige Generale an die vorangegangenen Freundschaftsbeteuerungen für Deutschland gebunden gefühlt. Da Stalin lange lavierte, bemüht, beide Türen offenzuhalten, gab er absichtlich den Generalen kein Signal zum Rückzug. Auf seine Unterstützung rechnend, können die Generale, weitergegangen sein, als sie ursprünglich beabsichtigt hatten. 

Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß andererseits Woroschilow, der als Mitglied des Politbüros von der neuen Orientierung rechtzeitig unterrichtet war, absichtlich Tuchatschewski die Militär- und Parteidisziplin überschreiten ließ, um dann mit der ihm eigenen Grobheit plötzlich einen Kurswechsel zu verlangen. 

Die Frage, ob man mit Deutschland oder mit Frankreich gehen müsse, verwandelte sich in eine Frage, wer die Armee leiten soll: das Politbüro-Mitglied Woroschilow oder Tuchatschewski, der die Blüte des Kommandobestandes hinter sich hatte. Da es keine öffentliche Meinung, keine Partei, keine Sowjets gibt und das Regime die letzten Reste der Elastizität verloren hat, wird jede akute Frage durch den Mauser entschieden. Stalin ging um so williger auf eine blutige Lösung ein, als er, um den neuen internationalen Verbündeten seine Treue zu beweisen, Sündenböcke für jene Politik brauchte, von der er sich gestern losgesagt hatte.

 

Die Stellung der Generale zur linken Opposition? Gamarnik wurde nach seinem Tode von den Moskauer Zeitungen als »Trotzkist« bezeichnet. Einige Monate zuvor wurde Putna in den Prozessen Sinowjew und Radek als »Trotzkist« erwähnt. Die anderen hat niemand mit diesem schrecklichen Namen belegt, weder vor dem Prozeß noch, wie anzunehmen ist, im Prozeß, denn sowohl Richter wie Angeklagte brauchten hinter verschlossenen Türen keine Komödie zu spielen. Von der Umwandlung Tuchatschewskis, Jakirs, Uborewitschs, Eidemanns und der anderen in »Trotzkisten« hielt ab nicht nur das Fehlen jeglicher äußeren Anhaltspunkte, sondern auch der Wunsch, die Macht des Trotzkismus in der Armee nicht zu sehr aufzubauschen. 

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Dennoch werden einen Tag nach der Hinrichtung im Befehl Woroschilows sämtliche Erschossenen bereits als Trotzkisten tituliert. Wie wir sehen, hat auch die Fälschung ihre Logik: wenn die Generale, wie die Trotzkisten, Deutschland gedient haben zum Zwecke der »Wiederherstellung des Kapitalismus«, so mußte Deutschland sie in seinen Interessen vereinigt haben. Außerdem ist »Trotzkismus« schon längst zum Sammelbegriff für all das geworden, was der Ausrottung unterliegt.

 

Unsere Betrachtungen über die Gründe der Enthauptung der Armee enthalten ein Element der Mutmaßung. In den Details, die man nicht so bald erfahren wird, mag die Sache anders geschehen sein. Doch ist der politische Sinn der neuen Schlächterei schon jetzt klar. Wenn Stalin die Generäle hätte retten wollen, so hätte er die Möglichkeit gehabt, ihnen die Rückzugsbrücken rechtzeitig zu öffnen. Aber er wollte nicht. Er fürchtet, Schwäche zu zeigen. Er fürchtet die Armee. Er fürchtet die eigene Bürokratie. Und nicht ohne Grund. Tausende und aber Tausende Beamter und Kommandeure, die dem Bolschewismus entstammen oder sich dem Bolschewismus anschlossen, haben Stalin bis vor kurzem auf Treu und Gewissen gestützt. Doch die jüngsten Ereignisse erweckten in ihnen Angst - um das Schicksal des Regimes und um das eigene Schicksal. Jene, die Stalin geholfen haben, aufzusteigen, erweisen sich immer untauglicher dafür, ihn auf der schwindelerregenden Höhe zu halten. Stalin ist gezwungen, die Werkzeuge seiner Herrschaft immer wieder zu erneuern. Und gleichzeitig fürchtet er, daß die erneuerten Werkzeuge an ihre Spitze einen anderen Führer stellen könnten.

Besonders scharf steht diese Gefahr in bezug auf die Armee. Wenn eine Bürokratie sich von der Kontrolle des Volkes befreit, dann strebt die Militärkaste unvermeidlich danach, sich von der Vormundschaft der Zivilbürokratie zu befreien. Der Bonapartismus hat stets die Tendenz, die Form der offenen Herrschaft des Säbels anzunehmen. Unabhängig von den wirklichen oder angeblichen Ambitionen Tuchatschewskis muß das Offizierskorps immer mehr vom Bewußtsein seiner Überlegenheit über die Diktatoren im Zivilrock durchdrungen werden. Anderseits muß Stalin einsehen, daß die Polizeiherrschaft über das Volk, die er mit Hilfe der Hierarchie der Parteisekretäre ausübt, einfacher und direkter verwirklicht werden kann von einem der »Marschälle« mit Hilfe des Militärapparates. 

Die Gefahr ist zu evident. Eine Verschwörung hat es zwar noch nicht gegeben, doch steht sie auf der Tagesordnung. Die Schlächterei trug präventiven Charakter. Stalin hat einen »glücklichen« Zufall benutzt, um dem Offizierskorps eine blutige Lehre zu erteilen.

Doch kann man im voraus sagen, daß diese Lehre niemand zurückhalten wird. Stalin gelang es, die Rolle des Totengräbers des Bolschewismus zu erfüllen, nur weil er selbst - ein alter Bolschewik ist. Diese Deckung hat die Bürokratie nötig gehabt, um die Massen zu ersticken und die Schale der spartanischen Tradition zu zerbrechen. Das Lager des Thermidors ist aber nicht einheitlich. Die Oberschicht der Privilegierten repräsentieren Menschen, die von den Traditionen des Bolschewismus selbst noch nicht ganz frei sind. Auf dieser Zwischenformation: den Postyschews, Tscherwjakows, Tuchatschewskis, Jakirs, von den Jagodas ganz zu schweigen, kann sich das Regime nicht halten. Die nächstfolgende Schicht verkörpern gleichgültige Administratoren, wenn nicht durchtriebene Kanaillen und Karrieristen. 

Stalin kennt diese Schichtung besser als sonst einer. Deshalb wähnt er, nun, nachdem die Massen erdrosselt sind und die alte Garde ausgerottet ist, läge die Rettung des Sozialismus in ihm allein.

Es handelt sich nicht einfach um persönliche Machtgier oder Grausamkeit. Stalin muß die juristische Festigung seiner persönlichen Macht anstreben, als lebenslänglicher »Führer«, als mit allen Vollmachten ausgestatteter Präsident oder schließlich als gekrönter Imperator. Gleichzeitig aber muß er fürchten, daß aus der Mitte der Bürokratie selbst oder vor allem aus der Armee sich gegen seine cäsaristischen Pläne Widerstand erheben kann. Das bedeutet, daß, bevor er - mit oder ohne Krone - stürzt, Stalin vor allem versuchen wird, die besten Elemente des Staatsapparates zu vernichten.

Der Roten Armee hat er jedenfalls einen schrecklichen Schlag zugefügt. Als Folge der neuen Justizfälschung ist sie um einige Köpfe kleiner geworden. Moralisch ist sie bis auf den Grund erschüttert. Die Interessen der Landesverteidigung sind den Interessen der Selbsterhaltung der regierenden Clique geopfert worden. Nach den Prozessen Sinowjew-Kamenjew, Radek-Pjatakow bezeichnet der Prozeß Tuchatschewski, Jakir usw. den Anfang vom Ende der Stalinschen Diktatur.

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