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3.  Was der Mensch denkt 

Über Alfred Korzybski 

 

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In China ist der Gedanke, daß es notwendig ist, ein Ahne zu sein, der vornehmste Glaube, trotz der offenkundigen Tatsache, daß die Nachkommen von Generation zu Generation elender werden.

Im hungernden Indien wird das Land durch Millionen von Rindern überrannt, die nicht zur Stillung des menschlichen Hungers verwendet werden dürfen, da sie "heilig" sind; sie dürfen auch nicht getötet und somit daran gehindert werden, dem Lande die Energievorräte zu entziehen, die für die Menschen so verzweifelt notwendig wären.

Die Idee herrscht über die Peristaltik der hungernden Mägen.

Als die Menschheit begann, ihren Verstand systematisch zu entwickeln (was ihr größter Ruhm ist), begann sie zugleich, sich auf dieser Erde Schwierig­keiten zu schaffen. Die Fesseln des Instinkts, der die Amöbe und den Affen schützt, wurden größtenteils abgeworfen, und ein Plato, Moses, Aristoteles, Beethoven, Darwin und Freud wurden möglich. Der Mensch wurde sein eigener Herr; er hatte die Freiheit, sein Geschick selbst zu bestimmen. Unglück­licherweise fand diese Freiheit nicht immer ihren Gegenspieler in der Weisheit. Aus diesem Grunde stürzten die antiken Zivilisationen — und aus diesem Grunde ist unsere eigene ins Wanken geraten.

Es ist — besonders in der modernen Zeit — üblich geworden, die Leistung des Menschen in Bezug auf die materielle Vervollkommnung stark zu betonen. Aber es hat sich die Tendenz gebildet, zu vernachlässigen, was er gedacht hat. Als eine Nation, deren Gründer das Blut ihrer nackten Füße im Schnee von Valley Forge ließen, sind wir Amerikaner seltsam blind gegen die Macht der Idee.

Wir haben kürzlich unseren verzweifeltsten Krieg gekämpft, hauptsächlich weil der kranke Geist eines finsteren Österreichers eine ganze Nation so infizierte, daß ihre Idee über ihre Beziehung zu Europa und der Welt in eine virtuelle Paranoia verwandelt wurde. Wir haben beobachtet, daß in Rußland eine wirtschaftliche Theorie fast zur Psychose wurde, welche die derzeitigen Völker mit Feuer und Schwert eines heiligen Krieges bedroht.

Das Vorstellungsbild der Milpafarmer ist vielleicht schwieriger zu ändern, als die Richtung der Wasserläufe ihres Landes. Dem Wunsch des Chinesen nach vielen Söhnen Schranken zu setzen, ist ein größeres Problem, als seine Versorgung mit wenigstens einer Mindestmenge an Nahrung. Ein Feldgeschrei, ja ein gutes Schlagwort kann dem Frieden wirksamer in den Arm fallen als eine neue Waffe. Der Glaube an alte Regeln kann eine verhängnisvollere Bodenerosion anrichten als zwei Zoll Regen pro Stunde.

   wikipedia  Milpa 

Hinter fast jeder menschlichen Handlung steht ein "Gefühl", das die Handlung in Gang setzt; und hinter dem "Gefühl" steht ein "Gedanke" oder eine "Idee". Wenn Selbsterhaltungstriebe wie der Wunsch zur Boden­konservierung ein Teil unseres täglichen Daseins werden sollen, so müssen sie auf Wissen beruhen und auf der Idee, die solchem Wissen entspringt. Wenn wir mit den Kräften dieser Erde Frieden machen wollen, muß dieser Friede in unserem eigenen Geist beginnen und wir müssen viele neue Ideen suchen und annehmen. Und viele alte verwerfen.

Eine der seltsamsten Lücken in der Entwicklung der menschlichen Kultur ist das mangelnde Verständnis der Beziehung des Menschen zu seiner physischen Umwelt. Seit er sich errungen hat, was wir Zivilisation nennen, ist er so anthropozentrisch geworden, daß er sich einbildet, er lebe in einer Art von Vakuum. Vermutlich ist er mindestens hundert Jahrhunderte Ackerbauer gewesen, und doch hat Dr. E. H. Graham das erste Buch über natürliche Grundsätze der Bodenbehandlung im Jahre... 1944! ...veröffentlicht.

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Diese Unwissenheit, die durch die ganze soziale Struktur der Welt läuft, von den Führern aller Art bis zu den Bauern und industriellen Arbeitern, ist einer der einschränkenden Faktoren, die am schwersten zu kontrollieren sein werden. 

Es wird heroische Maßnahmen erfordern, die landwirt­schaftlichen Praktiken in Gebieten wie Lateinamerika, Asien und Afrika zu ändern, wo es oft bis zu 100% Analphabeten gibt, und zwar in so kurzer Zeit zu ändern, daß der Boden noch gerettet werden kann. 

Es ist absolut sicher, daß für alle praktischen Zwecke große Gebiete der Erde, die jetzt von Hinterwaldvölkern bewohnt werden, einfach auf die Verlustliste unseres Hauptbuches zu setzen sind.

 

    Der gefährliche Arzt  

 

Die moderne Medizin gründet ihre Ethik immer noch auf die zweifelhaften Darlegungen eines unwissenden Mannes, der vor mehr als zweitausend Jahren lebte — unwissend in Begriffen der modernen Welt; sie fühlt sich jedoch weiterhin verpflichtet, so viele Menschen wie möglich am Leben zu erhalten.

In vielen Teilen der Welt verwenden die Ärzte ihre ganze Intelligenz nur auf einen Aspekt der menschlichen Wohlfahrt, auf die Erhaltung des Lebens, und verneinen ihr moralisches Recht, sie auf das Problem als Ganzes anzuwenden. Durch medizinische Fürsorge und verbessertes Sanitätswesen sind sie dafür verantwortlich, daß Millionen von Menschen weitere Jahre in wachsendem Elend leben.

Die Weigerung, eine Verantwortlichkeit auf diesem Gebiet zu erwägen, erscheint ihnen nicht unvereinbar mit ihrer intellektuellen Unangreifbarkeit. Ihnen ist es in erster Linie zu verdanken, daß Portorico beispielsweise zu einem der erbärmlichsten Gebiete dieser Erde geworden ist, denn durch ihre Errungenschaften dehnte sich die Bevölkerung über alle denkbaren Grenzen einer genügenden Lebenshaltung aus, und die augenblicklichen Versuche der Ärzte, die Situationzu verbessern, sind nichts als bloße Gesten; denn sie waschen ihre Hände in Unschuld wie Pilatus.

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Der Nationalismus verringert allzu wirksam die Ertragsfähigkeit des Bodens unserer Welt. Die Versuche zu nationaler Autarkie, der Hang, lokale Industrien in Gegenden aufzubauen, die sie nicht ernähren können, der Schutz, den solche Industrien durch Tarifschranken erhalten, die sich daraus ergebende Hemmung des freien Umsatzes von Rohmaterialien und Gütern zwingen den Menschen, sein Land in steigend verderblicher Art auszubeuten.

Für eine große und reiche Nation wie Amerika ist dieser Nationalismus ein wirksamer, wenn auch nur zeitweiliger Schutz gegen die Armut. Wie lange er im Zeitalter der Atombombe und des Bakterienkrieges aufrecht erhalten werden kann, ist zweifelhaft.

Indien hat bereits begonnen, eine Realpolitik zu verkünden, die Ausdehnung verlangt.

 

   Realitäten, die sich nicht in Worte fassen lassen  

 

Endlich ist unser aristotelisches Erbe ein Faktor, der den gesunden Gebrauch unserer natürlichen Hilfsquellen einschränkt; wir nennen es so, weil es von diesem großen Philosophen stammt und durch die Jahrhunderte von seinen Jüngern weiterentwickelt wurde.

Die moderne Ablehnung der "Logik" des Aristoteles ist zweifellos verheißungsvoll für die Entwicklung, Klärung und Erhaltung des Gebietes der Ökologie — nicht weniger als die Verwerfung euklidischer und Newtonscher Beschränkungen für die mathematischen und physikalischen Wissenschaften. Ehe wir nicht überalterte Begriffe aufgeben, verharren wir wahrscheinlich in der Verwirrung logischer Folgerungen, die nicht mehr gültig sind, und bleiben in verwirrenden Worten verstrickt.

 

Der vielleicht klarste Ausdruck einer nichtaristotelischen Formulierung ist eine graphische Darstellung, das <Strukturelle Differential>,1) von Alfred Korzybski* stammend, das wir hier in etwas abgeänderter Form wiedergeben. Es stellt die körperliche Umwelt dar und das, was wir darüber denken, fühlen und sagen. Wir wollen es um unserer Diskussion willen in Beziehung zu einem Landgebiet bringen. (Es ist ebenso anwendbar auf einen Apfel, einen Stuhl, ein Gemälde, eine Blondine, eine Kathedrale usw.)  

*   A.Korzybski bei Detopia 

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Dieses Land existiert als submikroskopische, kolloidale, atomische usw. Ebene (A), von der vieles (1948) unbekannt ist. Raum und Zeit sind darin nicht getrennt; die modernen Physiker haben uns gelehrt, in vierdimensionaler Raumzeit zu denken. Das Land ändert sich ständig; es ist am 1.Juni 1948 anderes Land als am 2. Juni 1948. Das ist wahr, wenn wir nur bedenken, was unter der submikroskopischen Ebene vorgeht; es ist auch, wie wir später sehen, auf den mikroskopischen und makroskopischen Ebenen gültig. Daher dürfen wir an das Land — oder einen Erdklumpen darin — nicht als an ein statisches Objekt denken, sondern als an einen dynamischen, sich immer wandelnden Vorgang. (Prozeß.)

Wir können durch die Verwendung wissenschaftlicher Instrumente, wie Mikroskop und pH-Meter, viele Dinge über den Boden erfahren — die Bodenstruktur, die hydrogenische Konzentration, die chemische Zusammensetzung, die vorhandenen Bodenbakterien (Protozoen) usw. —, wie durch die Punkte im Diagramm graphisch angedeutet wird. Jedoch was wir selbst mit den fortschrittlichsten wissenschaftlich-technischen Mitteln lernen, sind nicht alle Tatsachen und können es nicht sein; also hat die mikroskopische Ebene (B) weniger Punkte als die submikroskopische. Mit unseren wissenschaftlichen Methoden haben wir gewisse Kenntnisse herausgezogen, aber wir haben unvermeidlich etwas ausgelassen. Wir können nicht alles wissen! (Die "etceteras", die in diesem Buch freigiebig verwendet werden — eine Kardinalsünde gegen die Gesetze der englischen Schulsprache —, sind eine Anerkennung der Unmöglichkeit, alles über eine Sache zu sagen. Sie zu vermeiden hieße eine schlechthin unmögliche Vollständigkeit des Wissens und Ausdrucks andeuten, selbst bei unbegrenzt verfügbarem Raum.)

Wenn wir zu einer höheren Abstraktionsebene übergehen (C), der makroskopischen oder objektiven, wo wir von unsern nichtunterstützten Sinnen abhängen, so muß unser Bild noch weniger Punkte aufweisen, weil noch mehr ausgelassen ist. 

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Bei jedem Schritte sind wir von der ganzen "Wahrheit" weiter entfernt, selbst wenn sie gemeinhin verstanden wird. Bei dieser Ebene können wir unmöglich die kolloidale Struktur, die chemische Zusammensetzung, die Funktion der organischen Materie, die Formbildungen und ihren Einfluß auf das pflanzliche Leben usw. begreifen. Es wird noch mehr ausgelassen; unsere Unwissenheit ist noch größer. Näher werden viele von uns nicht an den Prozeß herankommen, der das Land ist. Es ist dies die Ebene, auf der die meisten Farmer und Gärtner leben, ebenso einige Kongreßmitglieder, Lehrer und andere, die Kenntnisse aus erster Hand haben. Weil wir auf dieser Ebene leben, unterhalten wir landwirtschaftliche Versuchsstationen, Bodenforschungen, landwirtschaftliche Lehranstalten usw. Die Leute, die darin arbeiten, haben ein breiteres Wissen über die mikroskopische Ebene; sie lassen weniger aus in ihrer Abstraktion.

Man kann diese drei Ebenen als Ebenen der Realität bezeichnen. Sie sind auf Dinge beschränkt, die man (wenn noch nicht jetzt, so doch eines Tages) wiegen, messen, fühlen, schmecken oder sehen kann. Aber sie brauchen nicht gesagt zu werden. Sie existieren auf der — wie Korzybski sagt — "unausdrückbaren Ebene". Wenn wir anfangen, über sie zu sprechen, brauchen wir notwendigermaßen eine Abstraktion höherer Art — lassen also noch mehr aus. Und das ist der Punkt, wo die Schwierigkeiten beginnen.

Die erste verbale Ebene der Abstraktion ist der mit D bezeichnete Abschnitt unserer Skizze — der Name oder die Beschreibung — "Land". Sie riecht nicht süß nach dem Regen, wird nicht in unsere Flüsse gewaschen, bringt nicht fünfzig Bushel Korn pro Acker hervor und klebt nicht an unseren Stiefeln. "Das Wort ist nicht das Ding" — aber viele von uns handeln, als sei es das Ding. Für den Geschäftsmann — z.B. viele Grundstücksmakler —, für Millionen an die Stadt gebundene Asphalttreter, für viele Volkswirte und nationale und internationale Beamte gibt es keine Unterscheidung zwischen dem Wort Land und dem Prozeß oder Gegenstand Land.

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Die beiden sind in Gedanken und Wort identifiziert. Daraus erklärt sich teilweise, warum Tausende von unglücklichen Flüchtlingen in tropische Länder verladen werden, die kein nonverbales Land besitzen, das imstande ist, seine eigene Bevölkerung zu ernähren.

(Wenn diese Erläuterung der Abstraktion nicht ohne weiteres verständlich ist, kann man versuchen, an das strukturelle Differential unter dem Begriff "Blondine" zu denken. Wie vieles wird in der Abstraktion notwendig vermieden und ausgelassen, wie viele Probleme haben das Leben wie vieler Männer kompliziert, weil sie eine "Allheit", einen "Gesamtbegriff" hatten, das heißt, weil sie annahmen, daß sie alles über sie wüßten. Wie viele junge Männer, der nicht in Worte zu fassenden Blondine kaum gewahr, haben sich Hals über Kopf in den verbalen Begriff verliebt, einschließlich seiner widerlich süßen Schlüsse, und ihn mit dem gegenständlichen Begriff identifiziert! Magazin- und Postkartenschönheiten, Straßenbekanntschaften, die Beliebtheit gewisser Filmstars — die Beliebtheit Renos — alle diese fixen Ideen legen Zeugnis ab für diese Identifizierung solcher Abstraktionsebenen, für die mögliche Gefahr der "Allheit".)

Höhere Abstraktionsebenen sind fast unbeschränkt möglich — und sie bieten sogar noch größere Gelegenheiten zur Verwirrung. Lassen Sie uns ein Wort wie "Wald" so betrachten, wie wir es mit dem Worte "Land" getan haben. Dies ist eine noch höhere Abstraktion aus der Ebene A. Man hat riesige Wälder zerstört, um Tonnen von Papier daraus zu machen, auf denen über "Wald"land geschwatzt wird. Aber was ist damit gemeint ? Der Verband der Wollzüchter sagt, es ist "Gebiet". Der Forstmann — selbst heutzutage — wird wahrscheinlich sagen, es ist eine Holzquelle. Der Hydrologe sagt, es ist Schutz der Wasserscheiden. Der mexikanische Politiker sagt, es ist Maisboden. Und so weiter. Das Wort "Wald" deutet eine Schlußfolgerung über das Land an, und jeder dieser Leute abstrahiert etwas anderes daraus — zieht eine andere Folgerung. 

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Nur wenige sprechen mit dem Bewußtsein, zu abstrahieren, oder mit dem Zugeständnis, daß vieles übersehen wird. Auf diese Weise entstehen Schwierigkeiten, die oft zu tragischen Resultaten führen, auf diese Weise werden Millionen von Dollars, Jahre des menschlichen Lebens und Millionen von Ackern guten Bodens verschwendet.

Das fehlende Bewußtsein der Abstraktion, die Voraussetzung, daß man alles weiß und alles sagt, dämmt den Geist der führenden Männer wie ihrer Gefolgschaft in gleichem Maße ein, führt zur Übervereinfachung und "löst" außerordentlich verwickelte Probleme mit vielen unbewußt ausgelassenen Faktoren. Diese Denkart ist besonders charakteristisch für gesetzgebende Körperschaften und Weltorganisationen. Sie führt zum Verfassen und zur begeisterten Annahme von Dokumenten wie dem kommunistischen Manifest und der Atlantik Charta. Sie verführt dazu, politische und/oder ökonomische Lösungen für Probleme zu suchen, die politisch, ökonomisch, sozial, geographisch, psychologisch, genetisch, physiologisch usw. sind; es ist wie die alte Anwendung des Klistiers als Allheilmittel.

 

   Der Hemmschuh verworrener Begriffe  

 

Die Verwirrung der Abstraktionsebenen führt uns dazu, Dinge, die auf der rein verbalen Ebene liegen mit dem Prozeß oder der subverbalen Ebene zu identifizieren. Ein Beispiel: eine Frau preßt sich zum Frühstück ein paar Orangen aus, trinkt den Saft und denkt: "Wie süß sind sie." Ein paar Minuten später stürzt ihr Mann herein, nimmt schnell ein paar Bissen Eierkuchen mit Ahornsirup und trinkt dann den Orangensaft. "Himmel, sind das saure Orangen!" ruft er aus.

Es sind für jeden praktischen Zweck die gleichen Orangen. Anders ist der Mann (einschließlich des Ahornsirups.) Oder, genauer, was auf der subverbalen Ebene geschah, die Beziehung des Orangensaftes zum Geschmacksnerv, der in dem einen Fall von Sirup beeinflußt ist, im andern jedoch nicht, ist der Prozeß; "Süß" oder "Sauer" sind bloße Worte. Statt die totale Situation in Betracht zu ziehen, wie sie auf dem strukturellen Differential verzeichnet ist, hat der Mann nur die eine abgesonderte Ebene gesehen — ein Element.

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Das führt uns zu der Erwägung des — wie Korzybski es nennt — "elementalischen Denkens".

Die verschiedenen Personen, die wir vorher erwähnten, haben in ihren Reaktionen auf "Waldland" in elementalen Begriffen gedacht. Diese Art der Schlußfolgerungen hat sich als ungeheuer schädlich erwiesen bei unseren tastenden Versuchen, uns mit den Problemen des menschlichen Überlebens und des angemessenen Lebensstandards auseinanderzusetzen. Sie verführt die Soziologen immer wieder zu dem Versuch, "Bevölkerungs"probleme abgetrennt von der Totalumgebung zu lösen, in denen diese Bevölkerung lebt. Sie ist teilweise verantwortlich für die Possen der Armeeingenieure, die buchstäblich nicht begreifen können, daß es notwendig ist, die Hochwasserbekämpfung auf den Berggipfeln zu beginnen.

Sie steckt viele unserer Forstleute in die Zwangsjacke der Holzproduktion, und isoliert sogar den Begriff mehrfacher Nutzung des Waldlandes von den außerordentlich zweckdienlichen Winken der Ökonomie, Soziologie, Hydrologie und der nationalen wie internationalen Vorgänge. Sie hält den studierten Landwirt — wie er oft stolz behauptet — "mit beiden Füßen auf der Erde" und trennt sein Denken — und besonders seine Ausbildung — von den unleugbar verwandten Gebieten der Logik, der ökonomischen Wissenschaften, der Semantik, der Bildung, der Sprachen, der auf breiter Basis arbeitenden Landnutzungsorganisationen, der Geschichte, der Anthropologie usw. Sie läßt viele Ökonomen in einem symbolischen Weltall herumschweifen, das irgendwo zwischen Himmel und Hölle liegt wie die Welt des Theologen aus dem 13. Jahrhundert. Sie verleitet internationale Organisationen dazu, Lösungen in ökonomischen und sozialen Konzilen zu suchen, welche durch die genaue Abgrenzung ihrer Berechnungen Unerläßlichkeiten auslassen, wie Geographie, Klima, Psychologie, Ertragsfähigkeit, Volksbräuche und Volksentwicklung, die alle in sich selbst dynamisch miteinander verbunden sind.

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Sie ist verantwortlich für die Selbstzufriedenheit des Mediziners und seine eingefleischte Überzeugung, seine Haupt­verant­wortlichkeit liege darin, denTod unter allen Umständen solange wie möglich hinaus­zuschieben.

Die Tatsache, daß die meisten von uns hauptsächlich auf der verbalen Ebene leben, verleitet zu einer Wortzersplitterung, die auf der Ebene der Realität keinerlei Rechtfertigung findet. Wir sprechen von "Körper" und "Geist" — obwohl der moderne Physiker allmählich in der psychosomatischen Medizin ihre Einheit anerkennt. "Zeit" und "Raum", "Gefühl" und "Intelligenz" sind getrennte Worte, und wir akzeptieren diese Trennung, als sei sie für die Wirklichkeit charakteristisch. (Diese Diskussion, die "Gedanken" von Gefühl und Tat abtrennt, ist — in nichtaristotelischen Begriffen — überhaupt nur ihrer Bequemlichkeit wegen verfechtbar. In der Wirklichkeit sind natürlich Gedanke, Handlung und Gefühl unentwirrbarer ineinander gewunden als die Laokoon­gruppe mit ihren Schlangen.)

Das aristotelische, doppelwertende Denken hat selbst die fortschrittlichsten Techniker angesteckt, auf Gebieten, die mit der Bewirtschaftung der natürlichen Hilfsquellen und den Problemen der menschlichen Bevölkerung verbunden sind. Die Bezeichnungen "Gut" und "Schlecht" werden als etwas Absolutes gebraucht, ohne daß man die Übergänge zwischen ihnen und die Tatsache anerkennt, daß alles Gute auch Schlechtes einschließt und umgekehrt. So haben zum Beispiel der "gute" Habicht und der "schlechte" Habicht ganze Wildkommissionen in Verwirrung gebracht und jahrzehntelang die Audubongesellschaft beschäftigt. 

"Ursache" und "Wirkung" werden als erklärende Ausdrücke verwendet, ohne daß man sich klar macht, daß jede "Ursache" schon in sich selbst eine "Wirkung" ist, und jede "Wirkung" eine "Ursache". Konservationisten neigen dazu, sich als "Menschen der Tat" zu bezeichnen, im Gegensatz zu den "Theoretikern' und den "Gehirnmenschen", ungeachtet der Tatsache, daß die Tätigkeit des Erhaltens, sobald sie vom vernünftigen Denken abgetrennt ist, unsere Fonds und unsere Hilfsmittel ungeheuerlich verschwendet hat. 

* (d-2015:) Laokoon Wikipedia

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Die "Erhaltung" ist durch ihre Loslösung von der "Bildung" so lange unfruchtbar gemacht worden (während sie in Wirklichkeit untrennbar sind), daß viele Dr. phil.s in Fragen, welche mit dem Land zu tun haben, völlige Ignoranten sind; und ein erschreckender Prozentsatz unserer staatlichen Erhaltungs- oder Schutzkommissionen wird von Traditionen geleitet, die mit dem Modell T* verschwunden sein sollten.

Die Identifizierung — was Korzybski "Istheit" nennt, resultiert in der Nichtanerkennung der Tatsache, daß alle Naturerscheinungen, vom einzelnen Kornfeld bis zu den einzelnen Ländern, einmalig und (als Prozeß) ständig wechselnd sind. Aber die Probleme von Großbritannien werden auf derselben identischen Grundlage analysiert. Für Albanien wird die gleiche Medizin, vielleicht mit der Etikette Demokratie, angewandt wie für die Vereinigten Staaten. Junge Menschen aus aller Herren Länder werden zur Erziehung und Unterweisung bei der TVA.** untergebracht, mit der Voraussetzung, auch ihre Sonderart nationaler oder regionaler Gebrechen könne durch TVA.s kuriert werden! 

*) erstes Fordmodell.     **) Tenessee-Valley-Administration = TVA. 

Bodenerhaltungsmethoden, die in den Staaten als gesund und vernünftig erprobt wurden, werden leibhaftig nach Lateinamerika verpflanzt, wo sie völlig versagen, weil die geographischen und kulturellen Bedingungen gänzlich abweichend sind. Landwirte, die alle zwei Jahre ihren Wagen und alle zehn Jahre ihre Ansichten über Ernährung und Kindererziehung ändern, kleben an diesen Begriffen aus dem 19. Jahrhundert — wie z. B. den Trugschlüssen des Malthusianismus —, als ob es göttliche Offenbarungen wären.

Eine andere Quelle rückläufiger Konfusion ist endlich unsere Nichtanerkennung dessen, was Korzybski die "vielartigen Begriffe" nennt. Es sind das Begriffe, die Abstraktionen in verschiedenen Graden andeuten, Begriffe, die, losgelöst von dem Zusammenhang, in dem man sie findet, bedeutungslos sind. Begriffe wie "Sicherheit" und "Lebensstandard" sind vielartig. 

Ein hoher Lebensstandard für den Sohn eines erfolgreichen Versicherungsmannes in Chikago — das heißt, die annehmbare Befriedigung seiner Wünsche — ist etwas gänzlich Verschiedenes vom hohen Lebensstandard eines Töpfers in Tlaquepaque. Ein "Nationalpark" ist in Venezuela nicht dasselbe Phänomen wie in Arizona. "Freiheit von Not" in Timbuktu hat wenig Verwandtschaft mit "Freiheit von Not" in Dubuque.

Identität, Allheit, Elementalismus usw. — direkte Nachkömmlinge aristotelischer Logik — haben unser Denken geformt und dadurch die Behandlung unseres Landes und der damit verbundenen Hilfsquellen so gelenkt, daß sie oft einen ebenso mächtigen Einfluß ausüben wie Regenfall und Bodenstruktur.

Die Notwendigkeit, diese irrtümlichen Begriffe zu erkennen und zu verwerfen, kann als Basis einer gesunden Verwaltung unserer Hilfsmittel überhaupt nicht nachdrücklich genug betont werden.

Vor zwei Jahrzehnten heiratete der älteste Mann im Kleinen Hudsontal die um viele Jahre jüngere Dorfidiotin. Er erklärte es damit, daß es ihm verhaßt sei, allein in ein kaltes Bett zu gehen. Die meisten von uns sind in einer vergleichbaren Lage. Unsere Ideen, vor zwanzig Jahrhunderten entwickelt, können noch so idiotisch sein in einem übervölkerten, atomischen Zeitalter, wo ein großer Teil der Welt im Wanken ist — dennoch klammern wir uns an ihnen fest, aus instinktiver Furcht, unsern Halt zu verlieren, wenn wir sie aufgeben.

Sie waren zu ihrer Zeit herrliche Begriffe; ein klarer Beweis dafür ist ihr Weiterbestehen durch all diese Jahrhunderte. Aber sie können uns nicht länger dienlich sein — es sei denn als Mühlstein um unsern Hals. Wir leben in einer Welt des Wechsels, einer Welt der unendlich komplizierten Beziehungen. Und wie die Beziehungen sich wandeln, so wandeln sich die Werte. Sie sind relativ und (im mathematischen Sinne) funktional. Statische Werte, jede Art statischen Denkens sind veraltet wie römische Wagen.

Das hat uns die moderne Wissenschaft im Bereiche der Mechanik, der Medizin, der Physik usw. gelehrt. Wir müssen es auch in unseren Beziehungen zur Erde und zueinander lernen — wenn wir überleben wollen.

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 William Vogt   Road to Survival   Die Erde rächt sich   1948