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7  Das gefährdete Land    Vogt-1948

 

 

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Alle lateinamerikanischen Länder - bis auf drei oder vier - sind übervölkert. Sie können ihren Bürgern nur dann Obdach, Nahrung und Wasser für ihre vielerlei Nöte geben, wenn sie fortlaufend und immer schneller ihre natürlichen Hilfsmittel zerstören; wie ein drohendes Gewitter hängt der biologische Bankerott zu ihren Häupten. Über Haiti und San Salvador ist er schon hereingebrochen; dort sterben Hunderttausende von Menschen langsam Hungers.

Auch der größte Teil von Mexiko wird in hundert Jahren eine Wüste sein, wenn es nicht eine durchgreifende Verbesserungs einer Bodenbehandlung vornimmt. Geschieht das nicht, so wird es bald nicht einmal mehr die fünfzehnhundert Kalorien pro Tag aufbringen, von denen der Durchschnittsbewohner von El Salvador und Tausende von Mexikanern jetzt leben müssen.1 Das gleiche Schicksal steht Chile vielleicht ein paar Jahre später bevor.

Wäre es möglich, den Zeitfaktor beiseite zu setzen, so könnte man die Zukunft dieser wichtigen Gebiete (52% der Oberfläche der westlichen Hemisphäre) wohl optimistischer betrachten. Unglücklicherweise jedoch ist einer der kritischsten Faktoren die Zeit, die den Laternamerikaner zugleich mit ihren anderen Hilfsmitteln unter den Händen zerrinnt.

Die lateinamerikanische Gleichung ist wie in allen anderen Ländern der modernen Welt grenzenlos verwickelt; unsere zwanzig Nachbarn im Süden sind die Resultanten zahlreicher Kräfte. Die führenden Männer in vielen dieser Länder sind durch die kulturelle Zurückgebliebenheit gehindert, die ihren Ursprung im Spanien des 16. und im Frankreich des 19. Jahrhunderts hatte. Ihre Völker sind viele Jahre lang von Fremden ausgebeutet worden, und durch diese Ausbeutung entstanden einige ihrer ernstesten Schwierigkeiten.

Der Lotustraum vom nordamerikanischen Lebensstandard lockt manchen Lateinamerikaner in das Niemals-Niemals-Land, dessen goldenes Licht einen trügerischen Schimmer über die Wirklichkeit breitet. Ihre hungrigen, unbefriedigten Massen greifen nach einer Mischung von Sowjet und Lydia Pinkham, von der sie sich, ganz ohne jede Beziehung zu ihrer eigenen Grundkrankheit, eine sichere Heilung versprechen. In diesem verworrenen Gewebe sind drei Strähnen, die mit ihren beherrschenden Farben hervorstechen. Die eine ist durch die Geographie gefärbt, die beiden andern durch die Volkssitten der europäischen und der primitiven Neuen Welt.

 

   Das feindliche Land   

Die Geographie Lateinamerikas ist der härteste und unentrinnbarste Faktor, den der Mensch nicht mildern kann. Wenn der Leser nicht eine sehr klare Vorstellung von dem Relief hat, das die westliche Hemisphäre vom Rio Grande bis zum Kap Horn charakterisiert, so liest er dieses Kapitel am besten anhand einer guten Landkarte — möglichst von der Amerikanischen Geographischen Gesellschaft herausgegeben. Selbst ein flüchtiger Blick auf diese Karte wird ihm zeigen, welche verschwindend kleine Menge ebenen oder halbebenen Landes in den Republiken Lateinamerikas zu finden ist. Rußland hat seine Ukraine, die Vereinigten Staaten und Kanada haben ihren Mais- und Weizengürtel, und Lateinamerika hat nur die Pampas.

Das chilenische und argentinische Patagonien ist Halbsteppe, hat aber nur dreizehn Zoll Niederschläge pro Jahr. Es produziert rauhes Gras von niedriger Ertragsfähigkeit und eignet sich nur zur Weide. Es ist in manchen Gebieten bereits überweidet, mit einer daraus resultierenden Degeneration der Weide durch die Einwanderung von Pflanzen niedrigen Nährwerts; und es soll, Berichten zufolge, unter der Winderosion leiden.

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Das hohe und relativ ebene Plateau nordwestlich von Rio de Janeiro hat armen Boden und ungenügenden Regenfall, und kann daher auch nur als leichte Weide genutzt werden. Es ist ungefähr unserem eigenen Südwesten vergleichbar. Das nordöstliche Brasilien leidet unter häufigen mörderischen Dürren. Das ebene Gebiet des riesigen Amazonasbeckens ist mit schwerem tropischem Wald bedeckt. Sein Boden ist arm, und wenn der Wald entfernt wird, so werden die unentbehrlichen Chemikalien schnell durch Regenfälle ausgelaugt, die stellenweise sieben Fuß pro Jahr überschreiten. Der organische Stoff auf der Oberfläche des Bodens ist oxydiert unter den unmäßig heißen Temperaturen der Tropensonne; ein Geograph sagt, er sei "wie brennendes Magnesium­pulver".

Die Küstenebenen, die sich während der letzten achthundert Jahre durch den Boden, der vom Hochland heruntererodierte, sehr weit ausgedehnt haben, leiden gleichfalls durch die unmäßige Hitze und den zu intensiven Regen. Die Bananenkultur an den Küsten Zentralamerikas macht oft binnen sieben oder acht Jahren das jungfräuliche Waldland zu brachliegendem Busch; die "Llanos" von Venezuela, die einzige weitere Ebene von nennenswertem Ausmaß, haben größtenteils armen Boden und ungünstige Regenverhältnisse — eine Zeitlang übermäßig, den Rest des Jahres unzureichend.

Außer den argentinischen Pampas haben diese Länder eine so geringe Ertragsfähigkeit, daß die Farmer größtenteils auf kleine zwischen den Bergen gelegene Gebiete beschränkt, oder gezwungen sind, die Hänge zu bebauen. Die Bergmulden im Gebirge ernähren — aus Gründen, auf die wir zurückkommen — nicht annähernd die Bevölkerung, die sie ernähren müßten. An den Hängen wird der Boden dem Farmer sozusagen unter den Füßen weggewaschen.

In den Vereinigten Staaten trifft es im allgemeinen zu, daß jeder Hang von mehr als 5% vom Farmer besondere Behandlung verlangt, sei es durch Streifenanbau, Reliefpflügen oder Terrassieren. Der Bevölkerungsdruck und das System des Landbesitzes zwingen den Farmer Lateinamerikas, Hänge von 100% und mehr zu bebauen.

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Auf manchem Boden können Baumernten wie Kaffee ruhig angebaut werden, besonders dort, wo so gut teTrassiert wird wie in El Salvador. Jedoch obwohl ein großer Teil des lateinamerikanischen Bodens nicht so erodibel ist wie der unsere, schwindet auch er mit erschreckender Schnelligkeit. Auf dem ganzen südamerikanischen Kontinent ist die Bodenerosion des bebauten Landes fast allgemein.

 

    Ein alter spanischer Brauch   

 

Eine zweite Kraft, die Lateinamerika beherrscht, ist die spanische Tradition der zentralisierten Regierung, die der Neuen Welt aufgezwungen wurde; sie geht mindestens auf die Zeiten Julius Cäsars zurück. Die herrschenden Gruppen, einschließlich der Regierungsbeamten, haben sie aufrechterhalten, und viele mächtige ungünstige Einflüsse rühren noch von ihr her. Fast ausnahmslos empfangen die Großstädte und Provinzen einen unproportionalen Anteil des nationalen Einkommens und der Leistungen der Regierung. 

Der Landbewohner ist der vergessene Mann, und seine Umwelt ist böse vernachlässigt — außer sobald es an die Ausbeutung geht! Man hat von den Vereinigten Staaten die peinliche Wahrheit gesagt, daß "die lokale Verwaltung hier zu Hause ein gen Himmel stinkender Haufen von Korruption, Inkompetenz, Verschwendung und Mißleitung" sei3. Wo aber die Lokalregierung schwach oder inkonsequent ist, wie beinahe im ganzen Lateinamerika, wird die Korruption und Inkompetenz wahrscheinlich auch für die gesamte Nationalregierung charakteristisch sein. Aus diesem Grund besteht gegenwärtig kaum eine Möglichkeit zur verantwortungsvollen und klugen Bewirtschaftung der natürlichen Hilfsquellen im Verhältnis zur öffentlichen Not.

Die Politiker polstern ihr eigenes Nest und das ihrer Freunde weich aus. Sie "verkaufen meistbietend" auf der nationalen Skala, wie es unsere "Bosse" auf der lokalen tun. Die Geschäftswelt ist nur dann imstande, ihren gewünschten Lebensstandard aufrechtzuerhalten, wenn sie die Regierung besticht, etwa nach dem System, das Lincoln Steffens vor fünfundvierzig Jahren beschrieb. 

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Es wird so viel Geld gestohlen, und die Lohnrollen gehen durch so viele Hände, daß die Regierungen oft nicht in der Lage sind, verantwortungsvollen, fähigen Beamten ein angemessenes Gehalt zu zahlen, oder die Maßnahmen fortzusetzen, die zur gesunden Bewirtschaftung der natürlichen Hilfsquellen notwendig wären. Eine Regierung setzte tatsächlich einmal einen Fond von 250.000 Dollar für Erosionsbekämpfung unter einem amerikanischen Spezialisten aus; von dieser Summe erhielt er 1300 Dollar, ein Maultier im Werte von 300 Dollar und eine Schreibmaschine — ohne Farbband!

In manchen Ländern ist die technische Ausbildung direkt ein Hinderungsgrund; die "Politicos", die in den Ministerien sitzen, können es sich nicht leisten, Männer unter sich zu dulden, die wirklich wissen, was vorgeht. Ein Zivildienst existiert nicht, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen wie die Guano Administration von Peru. Das Personal vieler Regierungsabteilungen wechselt nicht nur mit den Regierungen, sondern oft mit dem kaleidoskopartigen Wechsel der Minister, der in einigen dieser Länder alle fünf oder sechs Monate stattfindet. Für einen großen Teil der Hemisphäre, so bemerkt ein lateinamerikanischer Wissenschaftler, ist die moralische Erosion das Problem Nummer eins; ehe es überwunden ist, kann das zweifellos nächstwichtige, das der Bodenerosion, unmöglich gelöst werden.

 

    Der Indianer trägt die Berge ab  

 

Das vermutlich drittwichtigste Element in dieser vielfältigen Wirrnis, die fast im ganzen Lateinamerika herrscht, ist das "fortschreitende" oder <Milpa>-System der Landwirtschaft, das von der eingeborenen Bevölkerung überliefert wurde. In primitiven Zeiten, als die Ureinwohner nur grobe Werkzeuge besaßen, schlugen sie zuerst einige Bäume nieder, verbrannten dann weitere, um eine Lichtung herzustellen, und benutzten dann das Feuer, um die Reste der Vegetation zu zerstören.

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Sie bebauten nun diesen Flecken Land drei oder vier Jahre oder länger, je nach den örtlichen Gegebenheiten, bis der Boden erschöpft war, und zogen dann weiter zu einem neuen Trakt, um den Hergang zu wiederholen. In der Zwischenzeit blieb der erste Trakt etwa zwanzig oder dreißig Jahre brachliegen, bis seine Fruchtbarkeit wieder zum Teil hergestellt war. In Gebieten, wo der Regen nicht zu intensiv, die Bevölkerungszahl klein und die Hänge nicht hoch erodibel waren, funktionierte dieses Agrikultursystem leidlich gut. In anderen Gebieten, wie im Hochland Honduras, in Guatemala und Mexiko aber brachte es eine fortschreitende Zerstörung des Bodens mit sich, und die Archäologen schreiben den Zerfall der Maya- und der frühen mexikanischen Kultur der "Milpa" zu.

Ephraim war mit seinen Götzen verheiratet — und viele Hunderttausende von Quadratmeilen Lateinamerikas werden heute noch fast ausschließlich nach dem Milpasystem bewirtschaftet. Während man es jedoch in manchen Landstrichen und unter primitiven Bedingungen als vielleicht die einzige durchführbare Methode verteidigen könnte, gibt es heute wenige Teile der Neuen Welt, für die es nicht verhängnisvoll wäre. Die Bevölkerung hat sich um 100% vermehrt, und der Bedarf an kulturfähigem Boden ist von zunehmender Dringlichkeit. Es ist nicht mehr möglich, das Land brach liegenzulassen, wie in der Zeit vor den Konquistadoren. Stahlaxt und Machete haben die zerstörende Arbeit des kleinen Farmers nur noch mörderischer gemacht.

Unter primitiven Bedingungen gebrauchte man Kratzstöcke und Holzbohrer zum Anbau von Mais, der für die Eingeborenen Südamerikas die notwendigste Feldfrucht war. In vielen Gebieten werden diese Werkzeuge noch heute benutzt, und sie verursachen ein Minimum an Bodenzerstörung. Billige Pflüge jedoch, von Ochsen gezogen (eine andere europäische Neuerung), berauben den Boden seiner Vegetationsdecke und öffnen ihn für den ganzen erosiven Aufprall des wolkenbruchartigen Tropenregens, der manchmal bis zu 112 Zoll in einem Monat ansteigt!

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Es gibt einen Roman von Lesley Byrd Simpson, <Viele Mexikaner>; darin betitelt er ein glänzendes Kapitel: <Der Tyrann>. Mit dem Tyrannen meint er den Mais. Die Abhängigkeit der lateinamerikanischen Massen vom Mais zusammen mit der Zunahme der Bevölkerung und den modernen landwirtschaftlichen Methoden hat eine weit einflußreichere Rolle in der Geschichte fast aller dieser Länder gespielt, als sämtliche anderen Faktoren zusammengenommen.

Die spanische Tradition, der indianischen Tradition aufgedrungen und durch das moderne Wettbewerbssystem der Ökonomie verstärkt, ergab eine geradezu vampyrhafte Aussaugung des Bodens, wie sie heute kaum irgendwo sonst auf der Welt existiert. Die Vereinigten Staaten, in bezug auf ihre natürlichen Hilfsquellen alles andere als großzügig, verbrauchen ungefähr eine Milliarde Dollar pro Jahr für Bodenkonservierung. Lateinamerika dagegen verbraucht mit seiner größeren Bevölkerungszahl und nach vielen Jahrhunderten der Zerstörung weniger als ein Prozent dieses Betrages!

 

   Die entfesselten Wasser   

 

Eine der ernstesten Schwierigkeiten, die sich über das ganze Gebiet erstreckt, ist der Mangel an Brennstoff. Schätzungsweise sind fünfundsiebzig Millionen Menschen zum Kochen, Heizen und sogar für industrielle Zwecke auf Holzkohle und Klafterholz angewiesen. Die Eisenbahnen in El Salvador, die in britischem Besitz sind, heizen mit Holz — in einem Lande, in dem es so gut wie gar keinen Wald gibt! Von demselben Brennstoff abhängig sind die Eisenbahnen in Peru, Brasilien, Mexiko und vielen anderen Ländern. In Brasilien transportiert man das Klafterholz für die Lokomotiven oft bis zu neunzig Meilen und zwar per Wagen oder Trecker4. Auch zum Erzschmelzen verwendet man in Brasilien und Chile noch Holz, wie das die Spanier im 16. Jahr­hundert taten! 

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Das Holz als Brennstoff wäre zweifellos die wichtigste landwirtschaftliche Bodenausnutzung in ganz Lateinamerika, dennoch hat keine der zwanzig Republiken ein Forstdepartement, das auch nur annähernd seiner Aufgabe gewachsen ist, und alle diese Staaten zehren ausnahmslos vom Kapital — vom Holzbestand —, um verfügbares und nützliches Holz zu haben. Mehrere Sachverständige in Chile schätzten, daß die Waldmenge, die durch Waldbrände zerstört wurde, ungefähr sechs- bis dreizehnmal so groß sei, wie die durch Einschlag vernichtete. Im Jahre 1944 verbreiteten sich Waldbrände über eine viertel Million Acker Waldland in Chile — und die chilenische Regierung beschäftigt nicht einen einzigen Feuerwärter oder Förster in ihren Diensten.

Als selbstverständliches Resultat der unverantwortlichen Wald Vernichtung verschiebt sich das ganze hydrologische System Lateinamerikas. Entfesselte Wasser — von dem Zwang der Pflanzendecke im Oberlande befreit — fressen den Mutterboden weg, tragen schwere Ladungen Erde mit sich fort, überschwemmen Dörfer und Städte, hemmen die Schiffahrt und vernichten hunderte von Menschenleben. Im Jahre 1947 stellte die Gracelinie ihre gesamte Schiffahrt nach Barranquilla, Kolumbiens zweitgrößtem Hafen, ein, weil die Einfahrt durch Schlamm aus dem Magdalenenstrom gesperrt war. Dieser Fluß, der nur 950 Meilen lang ist, trägt nach der Schätzung kolumbianischer Ingenieure mehr Boden fort, als der 4000 Meilen lange Missouri. Selbst in Ländern wie El Salvador und Chile, die jährlich etwa sechs Fuß Niederschläge haben, fällt der Grundwasserspiegel.

Es ist ein ungeheuer verwickeltes und empfindliches Problem, den nötigsten menschlichen Bedarf den vorhandenen Quellen so weit anzupassen, daß ein ausreichender Lebensstandard auf permanenter Basis aufrechterhalten werden kann. Bodenkonservierungsmethoden, die für Georgia passen, sind in Costa Rica vollkommen unangebracht. Die Arbeit der Pflanzenzüchter, die Anbaufrüchte in der nördlichen Hemisphäre zu verbessern, geht zum größten Teil verloren, wenn diese Anbaufrüchte in eine Umgebung kommen, wo Tageslänge, Temperatur, Regenfälle, Pflanzenkrankheiten und Insekten ein biologisch vollkommen anderes Muster weben. 

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In Ländern mit so steil ansteigendem Gebirge finden wir in einer Entfernung von zehn Meilen mehr klimatische Unterschiede als in fünfhundert Meilen der Vereinigten Staaten. Genau wie nicht zwei menschliche Wesen vollkommen gleich sind, oder wie jede Weide in Nordamerika ihre eigenen biologischen und physikalischen Grundlagen hat, so weichen auch alle Gebiete Lateinamerikas voneinander ab.

 

   Das wissenschaftliche Vakuum  

 

Aber diese Verschiedenheiten sind viel extremer. Um die Probleme einigermaßen weise zu behandeln, die aus diesen extremen Verschiedenheiten herrühren, brauchte man zuverlässige klimatische Daten sehr langer Perioden. Ehe ein Landverwalter auch nur weiß, von welcher Bodenspezies er spricht, müßte er unbedingt biologische Überblicke haben, die das tierische und pflanzliche Leben umschließen. Wenn die nützlichen Elemente in der Umgebung gesteigert werden sollen, muß man die beschränkenden Faktoren kennen, die die wünschenswerten Arten niederhalten, von den sauerstoffbindenden Bodenbakterien bis zu den Habichten, welche die Nager vermindern.

Das Studium der normalen Beziehungen zwischen Klima, Boden, Fauna und Flora, aus denen die "Umgebung" hervorgegangen ist, hat noch kaum begonnen — und diese Beziehungen müssen gründlichst studiert werden, wenn man den Boden nicht wie ein Pfuscher bearbeiten will. Die Faktoren, die Pilzkrankheiten eindämmen und gegen Insektenhorden kämpfen (welche — wie die Heuschrecken — Zentral- und Südamerika verheeren), müssen genau bekannt sein, damit es möglich ist, Plagen dieser Art so niedrig wie möglich zu halten. Statistische Daten und die Kenntnisse, die zu ihrer Auslegung gehören, sind die conditio sine qua non in der Welt der modernen Biologie, gleichviel ob sie sich mit Pflanzen, Menschen oder den sogenannten "niederen Tieren" beschäftigen. Zur Verbesserung der Agrikultur sind Bodenbeobachtungen und Analysen unerläßlich notwendig. 

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Wenn der Mensch die Wohltaten der Früchte des Bodens in vollem Ausmaße genießen will, muß er etwas von ihren ernährungsmäßigen Bedingungen wissen und von den Möglichkeiten des Bodens, diese zu befriedigen. Ohne die Resultate solcher Forschungen ist es unmöglich, sich ein Bild von der Wirkung unkluger oder gewissenloser Bodenausbeutung zu machen.

In Lateinamerika sind nicht einmal so elementare Daten wie Verzeichnisse der Hilfsmittel vorhanden! Ohne Inventar kann kein Geschäft hoffen, fortzubestehen. Wieviel schwieriger ist es, den Komplex natürlicher Hilfsquellen zu verwalten, ohne sie richtig zu kennen, ohne zu wissen, was sie sind, wo sie sind, und in welcher Menge sie vorhanden sind. Die Seelenruhe, mit der die meisten Lateinamerikaner die Zerstörung ihres natürlichen Reichtums hinnehmen, kommt zweifellos daher, daß sie keine Inventarverzeichnissebesitzen. Sie haben gar keine Möglichkeit, zuerkennen, was wirklich vor sich geht.

Als ich dieses Buch schrieb, war Argentinien das einzige Land unter den lateinamerikanischen Staaten, das sich rühmen konnte, einen angemessenen meteorologischen Dienst zu haben, durch den es in der Lage war, klimatologische Daten zu sammeln. Nur in Argentinien und Mexiko werden nennenswerte meteorologische Forschungen vorgenommen, und in Mexiko ist der Glanz solcher Untersuchungen erheblich getrübt durch den Mangel an Information. Nicht mehr als zwei oder drei dieser Republiken betreiben irgendeine Art von Wald- und Forstforschung, und auch ihre Programme sind geringwertig. Nicht mehr als zwei oder drei haben auch nur mit einer wirksamen Bodenforschung begonnen. Dasselbe gilt von biologischen Beobachtungen. Und hinsichtlich der hydrologischen Forschungen ist die Lage noch viel ärger.

Ein paar tapfere und hochgesinnte Gelehrte betreiben wirklich nützliche Forschungen, aber ihre Armut schneidet sie allzu oft von den Entdeckungen der übrigen Welt ab. In Ländern, in denen der Lebensunterhalt teurer ist als in den Vereinigten Staaten, bekommen die Wissenschaftler im Dienste der Universitäten und der Regierung oft Gehälter unter hundert Dollar monatlich.

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Die meisten Forscher müssen zwei oder drei Posten haben, um leben zu können. Ein glänzender biologischer Forscher muß Kinder unterrichten, um seine eigenen Kinder satt zu machen. Die ewigen Konflikte in den Regierungen und die Korruption in vielen Ländern zwingen den Forscher, in erster Linie Politiker zu sein; kräftige Ellbogen haben größere Aussichten, sich durchzusetzen, als fähige Köpfe. In ganz wenigen Ländern gibt es auch nur den bescheidenen Grad von Zusammenarbeit, den die Vereinigten Staaten in ihrem Landwirtschaftsministerium, Innenministerium, den landwirtschaftlichen Hochschulen, Universitäten und wissenschaftlichen Gesellschaften durchführen.

Heute, im Jahre 1948, besteht wenig Aussicht, daß sich die Lage bessern wird. 

Viele lateinamerikanische Universitäten sind in ihren didaktischen Lehrmethoden noch geradezu mittelalterlich. Andere verfolgen Frankreichs System von 1873. Sogenannte Botaniker können Hunderte von wissenschaftlichen Namen herunterschnurren, ohne imstande zu sein, ein paar Pflanzen im Felde zu identifizieren! Sie haben niemals den Ruf Louis Agassizs gehört: "Wer die Natur in Büchern studiert, wird sie nicht finden können, wenn er ins Freie geht!" 

Trotz der Dollarmillionen, die für Straßen, Armeen, Bestechung und Erpressung ausgegeben werden, ist die Armut der meisten lateinamerikanischen Institute für Wissenschaft so groß, daß die Biologen ohne Laboratorien und Bibliotheken arbeiten müssen. Oft hat eine ganze biologische Klasse nur ein einziges Mikroskop. Wissenschaftliche Zeitschriften und Leitfäden sind einfach unerreichbar, und deshalb kann ein Gelehrter in seinem Gebiet nicht auf dem Laufenden bleiben, selbst wenn er mit gutem Wissen ausgerüstet seine Arbeit begonnen hat. Auf vielen südamerikanischen Universitäten liegt das Lehrniveau weit unter dem der besseren Fachschulen der skandinavischen Länder, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten. Dabei muß betont werden, daß es in keiner Weise an Intelligenz und Tüchtigkeit mangelt. Die Lateinamerikaner sind anmaßend stolz auf ihre Kultur und neigen dazu, die Angloamerikaner für nicht viel mehr als Barbaren zu halten.

 Bei ihnen sind die Dichter und Philosophen fast so zahlreich wie bei uns die Geschäftsvertreter, aber Physiker, Zoologen, Botaniker, Physiologen, Geographen und Ökologen sind geradezu Seltenheiten, und wenn sie wirklich einmal auftauchen, so stellt sich gewöhnlich heraus, daß sie an Unterernährung leiden.

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    Niemand denkt an das Morgen   

 

Als Auswirkung dieses Mangels an Forschungsarbeiten stellt sich natürlich eine klaffende Lücke auf dem Gebiete der Bewirtschaftung der Bodenwerte ein. El Salvador hat mehr als sechshundert Menschen auf einer Quadratmeile anbaufähigen Landes — aber es hat erst jetzt eine Landwirtschafts­kammer eingerichtet. Mexiko, ehedem ein schwer bewaldetes Land, ist in das Stadium des Holzhungers abgeglitten. Die modernen Begriffe des ausgewählten Einschlags und der Waldkultur sind so gut wie unbekannt; das Land hält an einem alten Gesetz fest, welches das Nachpflanzen der irgendwie magischen Zahl von drei Bäumen für jeden abgehauenen verlangt; es erübrigt sich zu sagen, daß eine "Mordida" (Zahlung von Bestechungsgeldern) für die Holznutzer billiger ist als ein Aufforstungsprogramm, und daß daher die Holzproduktion in Mexiko der Zerstörung um sechzig bis achtzig Jahre nachhinkt. Das gleiche gilt für Chile, nur mit dem Unterschied, daß man in Chile nicht einmal eine Mordida zu bezahlen braucht!

Das greifbare Holz — das einzige Holz also, das tatsächlichen ökonomischen Wert hat — wird in den tropischen Ländern geradezu rapide ausgerottet. Selbst wenn die Forderung nach gesunder Bewirtschaftung der tropischen Wälder laut würde, so wären die erforderlichen wissenschaftlichen Kenntnisse nicht vorhanden. Kein Land — mit der einzig möglichen Ausnahme Argentiniens — hat einen Bodenkonservierungsdienst, der annähernd ausreichend arbeitet. Kein einziges Land südlich des Rio Grande schützt seinen Wildbestand. 

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Wo der Mensch nur ein Stück Wild — einschließlich solcher Vogelarten wie der Wanderdrossel — oder einen Pelzträger erreichen kann, vernichtet er ihn. Der einzige Schutz der Kreatur ist die Unzugänglichkeit der Gebiete, in denen sie lebt, und die Armut des Volkes, die den Kauf der Feuerwaffen erschwert. Aber auch Schlingen und Fallen haben genügt, um manche Tierarten in weiten Bezirken auszurotten. Dabei kann man dem Volk kaum einen Vorwurf aus solchem Morden machen; bei uns war man höchst konsterniert über die Forderung, einen Tag pro Wroche fleischlos zu leben; aber Millionen von Lateinamerikanern essen nur einmal wöchentlich oder noch seltener Fleisch!

Durch das System des Landbesitzes werden die Möglichkeiten der Konservierung in Lateinamerika noch verringert; in den meisten dieser Republiken sind sehr ausgedehnte Landstriche in Händen der Großgrundbesitzer, und in allen gehört ihnen der beste Boden. Meistens wissen sie wenig oder gar nichts von Agrikultur und Bodenbewirtschaftung, und beurteilen den Zustand ihrer Ländereien lediglich nach dem Jahresprofit, den sie ihm abwerfen. Auf dem besten Boden Zentralamerikas sind große Kaffeefincas und Weiden, oder er ist in der Hand ausländischen Kapitals. Die Masse der Bevölkerung wird auf die Berghänge gedrängt, wo der Boden durch die übliche Bewirtschaftung für die täglichen Nöte nur vollends verdorben wird. In den meisten Ländern ist es kein ungewöhnlicher Anblick, gute Herden auf dem intermontalen Talboden grasen zu sehen, der von den Milpas der Indianer auf den darüberliegenden Hängen heruntergewaschen wurde. Jedes rationale Wirtschaftssystem würde natürlich den Mais im Talboden anbauen und das Vieh auf den Hängen weiden.

Die rein aussaugende Haltung des größten Teils der Großgrundbesitzer — durch ihre häufige Unkenntnis der Landwirtschaft als solche verstärkt — zeitigt jede mögliche Schändung des Bodens. Man brennt die Wälder nieder, um schnelle Profite zu haben (statt sie planmäßig einzuschlagen oder als W'aldgebiete instand zu halten), weil man neues fruchtbares Land braucht. Man ignoriert einfach die Notwendigkeit der Bodendüngung; manche Landbesitzer geben ihr Geld viel lieber für eine Reise nach New York aus, als daß sie die Fruchtbarkeit ihrer Farm aufrechterhalten.

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In den meisten dieser Gebiete geschieht überhaupt nichts, um die Bodenerosion einzudämmen. In Chile beispielsweise, wo ich ungefähr zehntausend Meilen gereist bin, habe ich auf mehr als neunzig Prozent der bebauten Hänge Bodenerosion vorgefunden, und in den mittleren Teilen des Landes auf allen Hängen, wo das Vieh weidete. Indem riesigen Gebiet, das ich bereiste, fand ich einen einzigen Hang, der reliefförmig gepflügt war!

 

Mexiko hat versucht, das alte Latifundiensystem zu brechen, indem es zu einem System zurückkehrte, das eine gewisse Ähnlichkeit mit den frühen indianischen Gemeinden, den Ejidos, hatte. Dieser wohlgemeinte Versuch — aus dem außer Frage stehenden Idealismus von Männern wie Juarez, Zapata und Modero hervorgegangen und endlich durch den Präsidenten Lazaro Cardenas durchgeführt — hat im allgemeinen böse Rückschläge ergeben. 

Die Ejidos stützten sich auf ein Gemeindewesen, in dem der Farmer oft nur einen unzureichenden Streifen Land bekam. Mit rund zehn Ackern für eine ganze Familie ist Fruchtfolge, Brache, Weide und Düngung einfach undenkbar. Aus jedem Quadratmeter muß das Letzte an Ertragsmöglichkeit herausgepreßt werden. Die Erosion trägt die ganzen Ejidos fort. 

Viele Farmer sind so unwissend, daß sie gar nicht verstehen ihr Land zu bebauen. Der Landhunger hat die Ejidos auch auf solchen Gegenden verbreitet, die zur Bewirtschaftung gänzlich ungeeignet waren. Auch hier ist die politische Korruption eingerissen, und der "Ejidatario" darf gegen das Gesetz in den nationalen Parks Bäume fällen und Kartoffeln pflanzen. Gewöhnlich findet er einen Politiker, der ihn für seine Wahlliste gewinnen will... Aber hier muß ich betonen, daß dieser Kommentar über Mexiko geschrieben wurde, ehe Präsident Aleman Zeit hatte, die Wirksamkeit seines Kampfes gegen die Bestechung unter Beweis zu stellen. Er will den bösen Geist der Mordida austreiben und kämpft gegen die mächtigen Gegner Gewohnheit, Armut und Apathie. Wenn er Erfolg hat, so wäre das eine der größten Heldentaten der lateinamerikanischen Geschichte. Aber es ist verzeihlich, daß man sich fragt, ob seine Reformversuche nicht das Schicksal solcher Versuche in Los Estados Unidos del Norte teilen werden...

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   Die Kehrseite der medizinischen Segnungen   

 

Zu all den hier aufgezählten Faktoren kommen noch eine Reihe Phänomena aus dem Norden und von Jenseits des Atlantik; durch sie werden die verworrenen Strähne so vollends durcheinandergebracht, daß sie fast einen gordischen Knoten bilden. Wohlmeinende öffentliche Gesundheitsbehörden haben, unter völliger Ignorierung des Problems, wovon so viele Millionen Lateinamerikaner sich ernähren sollen, dazu beigetragen, die Sterblichkeitsziffer zu senken. Das Gelbe Fieber ist aus fast ganz Südamerika verbannt. In weiten Gebieten ist die Malaria erheblich eingeschränkt. Die Pocken verschwinden. Trotz der wachsenden Schwierigkeiten durch abnehmende Wasservorräte ist das Trinkwasser in vielen Städten so verbessert, daß die Darmerkrankungen, der wirksamste Faktor gegen die Übervölkerung, stark abgenommen haben. Und wie die übrige Welt steht auch Lateinamerika der dringenden Not gegenüber, mehr junge, hungrige Münder satt zu machen.

Die fremden Märkte für die Rohmaterialien Lateinamerikas haben sich ausgedehnt, und auch das führt wieder dazu, den Boden von den Hängen hinunterzujagen. Quebrachorinde zum Gerben war sehr gesucht. In Paraguay und Argentinien sind auf großen Gebieten diese Bäume einfach ausgerottet; es ist wenig oder nichts geschehen, um sie zu ersetzen. Das chilenische Holz findet in Übersee einen zunehmenden Markt, und eine amerikanische Forstmission, die Chile besuchte, zeigte die Möglichkeiten und die Methoden zur Waldausbeutung; sie injizierte eine große Dosis Adrenalin in die Holzindustrie. Bis heute geschah so gut wie nichts, um die abgeholzten Bäume zu ersetzen. 

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In dieser Zerstörung eines Kontinents haben das amerikanische Kapital und die amerikanischen Holzleute eine wichtige und schändliche Rolle gespielt. Dieselbe Verantwortungslosigkeit, die in den Vereinigten Staaten so vielen Schaden angerichtet hat, wurde auf die viel verletzbarere Umwelt Lateinamerikas losgelassen. Hier gibt es weder eine organisierte öffentliche Meinung, noch genügende technische Kenntnisse, um diese an Rohstoffen ohnedies schon armen Länder gegen ihre Vernichter zu schützen. Es wird uns zur ewigen Schande gereichen, wenn wir diesen Raubbau weiter sein Unwesen treiben lassen.

Und wenn es nur in unserem eigenen nationalen Interesse wäre, müßten wir die amerikanischen Vandalen drüben kontrollieren. Wir haben Millionen Dollars daran gewandt, den Beweis zu erbringen, daß wir es ehrlich meinen mit unseren Worten über die Politik der guten Nachbarschaft — gleichzeitig aber geben wir es nicht nur zu, sondern fördern es sogar, daß amerikanische Geschäftsleute die wichtigsten Unterhaltsmittel von Millionen Südamerikanern vernichten. Das ist eine besonders gefährliche Form der Dollardiplomatie, und schwere Rückschläge für uns können nicht ausbleiben, wenn die Völker jener Länder gewahr werden, was wir ihnen zugefügt haben. Die Tatsache, daß Lateinamerika selbst sein Land meistbietend ausverkauft, wird dann vergessen sein, und derKolossus im Norden ist an allem schuld.

Die Entwicklung der Ölfelder in Venezuela hat einen gegen sich selber gerichteten Kannibalismus der Wirtschaft geschaffen. Das öl, eine nicht ersetzbare Hilfsquelle, wird ebenso sicher wie rapide erschöpft. Jahrelang war das Land es zufrieden, auf diesem Goldstrom entlang zu treiben, und hat sich nicht einmal um die Erzeugung der Feldfrüchte, des Fleisches und der Meiereiprodukte bemüht, zu der es fähig ist. Die große Masse des Volks, die wenig von dem Ölsegen abbekam, hat Agrikultur für die tägliche Notdurft des Lebens getrieben, mit dem Resultat, daß Venezuela zu den erodiertesten Ländern der Hemisphäre gehört. Sein Budget für 1948 zeigt folgende Ziffern: 82 Millionen Dollar für öffentliche Arbeiten, 35 Millionen für nationale Verteidigung — und 25 Millionen für Agrikultur!5

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Als teilweise militärische Maßnahme haben die Vereinigten Staaten die interamerikanische Straße nach Süden bis zum Panamakanal gebaut — mit nur geringer Hilfe der mittelamerikanischen Länder. In gewissem Ausmaße war der Verlauf dieser Straße von lokalen Politiken vorgeschrieben — und diejenigen, die sie entworfen haben, erklären ihre sonderbaren Umwege mit dem Wunsch, sie für die Länder, durch die sie läuft, wenigstens so nützlich wie möglich zu machen. Sie sind nur allzu erfolgreich mit der Beschleunigung dieser Verbindungen gewesen — ein vielleicht wünschenswertes Ziel, wenn nicht die Straße zu einem Werkzeug der Zerstörung geworden wäre! Die Länder, durch die sie führt, besitzen nichts von den technischen Errungenschaften oder den finanziellen Hilfsmitteln, die dazu nötig wären, die neu erschlossenen Gebiete zu bewirtschaften. Daraus machen sich Leute wie der Holzhändler Jim Hanrahan in unserm ersten Kapitel ein Festessen. Bereits jetzt ist Zerstörung das Resultat.

Eine nicht geringe Rolle als zerstörende Kraft spielt im Lateinamerika von heute die Vorstellung vom "amerikanischen Lebensstandard". Sie hat alle Klassen dazu gebracht, um die Gunst fremder Götter zu buhlen, und wird sich vielleicht als der schädlichste Einfluß erweisen, der in der südlichen Hemisphäre am Werke ist. Automobil, Radio und WC, mit welchen die Menschen von Omsk bis zur Magellanstraße ihre Altäre geschmückt haben, sind von den Diktatoren wie von den Demokraten als die Norm akzeptiert worden, an der das Leben zu messen ist. 

Südlich des Rio Grande nimmt man die amerikanischen Filme ernst, und Millionen Menschen sehnen sich danach, so zu leben, wie es in ihrer Vorstellung die Bürger der Vereinigten Staaten tun. Das amerikanische Geschäft war nicht faul und hat seinen Vorteil aus diesen Wunschträumen gezogen, und die amerikanische Regierung hat Millionen von Dollars — oder besser gesagt Arbeitsstunden ihrer Steuerzahler — nach Lateinamerika hineingepumpt, um dort "den Lebensstandard zu heben". Daß dies außerdem noch mit einem zuweilen geradezu unglaubhaften Grad von Unwissenheit und mangelnder Klugheit geschehen ist, tut nichts zur Sache. Aber durch keine ökonomische Alchemie kann der Unrat der Lateinamerikaner in das Feingold der nördlichen Hemisphäre verwandelt werden.

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    Der Ignus Fatuus der Industrialisierung  

 

Mit Ausnahme von Argentinien und Brasilien — und auch da muß man ein "vielleicht" einfügen — sind die Länder südlich von uns so fundamental und unentrinnbar arm, daß es ausgeschlossen für sie ist, einen Lebensstandard zu erreichen, der dem der Vereinigten Staaten nahekommt. Tausende von Lateinamerikanern sind verzaubert von dem Worte "Industrialisierung" und bilden sich ein, daß es für sie dasselbe bedeuten kann, was es für andere Teile der Welt bedeutet hat. 

Sie übersehen die Tatsache, daß die Kohle — die allein die Entfaltung des europäischen Kontinents, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten ermöglicht hat — südlich des Rio Grande nicht vorhanden ist, außer in ein paar kleinen Lagern von geringer Qualität. Einige Länder hegen große Hoffnungen, daß sie genug hydroelektrische Kraft aufbringen können, um Industriezentren zu entwickeln, aber sie übersehen die Unzulänglichkeit und Abgelegenheit dieser Kraftquellen, die meistens nicht erreichbar sind. Wo es einigermaßen zugängliche Wasserfälle gibt, werden die Wasserscheiden gewöhnlich leichtsinnig kahl geschlagen ohne jeden Gedanken an die Beziehung zwischen der Pflanzendecke und der hydroelektrischen Kraft. Ein bezeichnendes Kommentar für die Industrialisierungsmöglichkeiten Südamerikas ist die Tatsache, daß so wenige Europäer und Nordamerikaner versucht haben, dort Zweigstellen einzurichten.

Lateinamerika ist in politischem Sinne balkanisiert. Nur Brasilien und vielleicht Mexiko und Argentinien haben ausreichende Bevölkerung für einen genügend großen internen Markt, der ihnen überhaupt eine Industrialisierung gestattet. Die große Masse des Volkes in Mexiko und Brasilien ist — wie die große Masse in den ihnen benachbarten Staaten — kaum imstande, sich Schuhe zu kaufen.

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Es ist für die lateinamerikanischen Staaten Tradition geworden, daß die Hauptquelle ihres Einkommens aus der Importsteuer kommt, und jetzt wird diese Steuer noch erhöht, um die Industrien zu schützen, die sie einzurichten versuchen. Wenn Zollschranken sichtbar wären, so sähe Lateinamerika wie eine Reihe eingemauerter Staaten aus! "Wir müssen freie Märkte für den Wohlstand der Welt haben!" verkünden uns die Wirtschaftler. "Wir müssen industrialisieren, um den Lebensstandard zu heben!" Wie aber Länder wie Chile oder Mexiko ohne strengste Zollschranken industrialisieren können, das verrät uns kein Wirtschaftler.

Chile borgte sich 21 Millionen Dollar von den Vereinigten Staaten, um ein Stahlwerk zu bauen. Der überwiegende Teil seiner eigenen Bevölkerung von fünf Millionen kauft kaum einen aus Stahl gemachten Gegenstand, der größer als ein Messer oder ein Beil ist. Peru mit seiner Bevölkerung von sieben Millionen, deren Kaufkraft pro Kopf noch niedriger ist als die chilenische (siehe Tafel 2), baut sich nun gleichfalls ein Stahlwerk, das natürlich mit dem chilenischen und brasilianischen Stahl konkurrieren will.

Der lateinamerikanische Geschäftsmann hat ganz andere Ideale als der Nordamerikaner — er wünscht hohe Gewinne aus wenig Verkäufen. In Chile kostete 1942 ein Handtuch, wie es die Zehn-Cent-Geschäfte der Vereinigten Staaten führen, sechzig Cent. Es war aus peruanischer Baumwolle, auf der ein hoher Einfuhrzoll lag. Andere peruanische Produkte, die nach Chile gehen (Produkte, die in keiner Weise konkurrenzfähig sind), unterliegen Zöllen bis zu 135% ihres Wertes! Trotz der niedrigen Arbeitslöhne Chiles kosteten dort einheimische Produkte im Jahre 1945 zehnmal so viel wie der gleiche und gleichwertige Gegenstand in den Vereinigten Staaten.

Man kommt nicht um die Tatsache herum: der Boden Lateinamerikas hat eine so geringe Ertragsfähigkeit und kann auf je tausend Acker so wenig produzieren, daß die Kaufkraft des Volkes niemals auf eine Höhe gebracht werden kann, die der europäischen oder nordamerikanischen Kaufkraft auch nur nahekommt. 

209


Da seine internen Märkte begrenzt sind, kann Lateinamerika die Produkte seiner Industrie nur nach dem Ausland verkaufen, und es darf kaum hoffen, hier mit den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Belgien, der Schweiz, der Tschechoslowakei und vielleicht sogar Rußland in Wettbewerb zu treten.

Vielleicht wird die Situation Lateinamerikas noch klarer durch eine mehr ins einzelne gehende Betrachtung einiger seiner Länder. Tatsächlich darf man ja eigentlich überhaupt nicht von "Lateinamerika" sprechen, denn es ist ein so extrem unterschiedliches Gebiet. Trotz seiner Verbundenheit durch die "Iberische Kulturtradition" (die natürlich Haiti ausschließt) und durch eine übereinstimmend schwierige Geographie wäre es ein schwerer Irrtum, ein lateinamerikanisches Land mit dem anderen zu identifizieren.

 

   Das Land <des Tyrannen>  

 

Als die den Vereinigten Staaten zunächst liegende Republik ist Mexiko dem amerikanischen Volk am besten bekannt und hat den Aufprall unserer Kultur am meisten gefühlt. Die englische Sprache (oder was bei den meisten Amerikanern als englische Sprache gilt) hat zum großen Mißbehagen der Puristen das mexikanische Spanisch verfälscht. Mexiko City hat zum größten Teil seinen spanischen Charakter verloren (bis auf die Installationen) und erinnert an Winnipeg oder Minneapolis mit einem spanischen Akzent. 

Der beliebteste Treffpunkt der Mexikaner wie der Amerikaner ist die amerikanische Drogerie mit anschließendem Teeraum. Die Zeitungen sind mit AP- und UP-Geschichten angefüllt, und Walter Lippmann und Louella Parson werden hier nicht weniger gelesen als in Los Angeles. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß der amerikanische Geschäftsmann, Jurist oder Diplomat dazu neigt, Mexiko durch eine in Chikago oder Dubuque gefärbte Brille zu betrachten, und die Mexikaner akzeptieren diese Einschätzung.

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Ein mir bekannter Mexikaner erzählte mir einmal, daß seine Landsleute bei der Besichtigung von Fort Worth oder San Antonio angesichts der schönen Straßen und Gebäude wahrscheinlich ausrufen werden: "Sieh mal an, was diese Gringos uns gestohlen haben!" 

Bei längerer und weniger oberflächlicher Betrachtung — und das gilt bis nach Kalifornien hinein — findet man eine noch viel cholerischere Entrüstung durchaus begründet. Denn auch Mexiko kämpft mit dem Rücken gegen die Wand.

Die jüngste Information, die ich bekommen konnte, lautete auf 17 Millionen mexikanischer Acker unter dem Pflug, und man schätzt — wahrlich mit unberechtigtem, Optimismus —, daß 24 Millionen Acker zusätzlich auf Pflug und Pflanzstock warten. Die meisten der jetzt bebauten 17 Millionen Acker leiden in leichterem oder schwererem Maße an Erosion. Demnach muß sich Mexiko bei seiner sich rasch vermehrenden Bevölkerung von 22 Millionen mit weniger als zwei Ackern potentiell bestellbarem Boden pro Kopf begnügen — wenn es Glück hat! 

"Entmutigender konnte eine Feststellung nicht sein! Der mexikanische Boden allein kann derzeit nicht annähernd die Masse seiner Bevölkerung ernähren, die kaum ein Drittel des Bodens besitzt, den sie für eine sachgemäße Ernährung brauchen würde."6) 

Das meiste Land, das jetzt bebaut wird oder wahrscheinlich kulturfähig ist, fällt nicht in die Bodenklasse I, und die Maßnahmen zur Bekämpfung der Erosion sind ganz und gar unzulänglich, trotz eines technisch ausgezeichneten Bodenkonservierungsdienstes. Mexikos bestellbares Land wird allzu schnell ins Meer gewaschen.

Das ist unsern Nachbarn im Süden kein neues Problem. Eine der größten Autoritäten in der Geschichte der Azteken, der verstorbene George Vaillant, sagt:

"Ixtlixochitl hat berichtet, religiöse Konflikte, Aufstände und Mißernten hätten zum Verfall von Teotihuacän beigetragen... Nun, die Mißernten konnten von der Entwaldung und dem darauf folgenden Austrocknen der Flüsse herrühren. In Teotihuacan waren alle Mauern mit Kalkzement überzogen, und vom gleichen Material war auch das gesamte Pflaster. 

211


Die modernen Mayaindianer verbrennen das Zehnfache an Holz, als die Menge des zu erzeugenden Kalkzements beträgt, und sie haben den Vorteil der Stahläxte. Deshalb gehört nicht viel Phantasie zu der Annahme, daß die toltekischen Maurer, denen Metall jeder Art fehlte, es bequemer fanden, Holzkohlenherde zu benutzen (sie gewannen die Holzkohle durch einfaches Niederbrennen der Wälder), als sich das nötige Brennmaterial durch Holzhacken mit der Steinaxt zu verschaffen. Wenn diese Auslegung zutrifft, müssen sie die Berge weitestgehend kahl gebrannt haben, und die Folge war natürlich das Eintrocknen der Flüsse und die Erosion der Felder. Diese Ansicht wird durch den Anblick der kahlen Berge um das heutige Teotihuacan bestätigt; der bloße Holz- und Brennmaterialbedarf der Bevölkerung nach den Konquistadoren kann nicht eine solche Ausrottung der Wälder hervorgerufen haben; die Tolteken und ihre Nachfolger, die Chichimeken und Azteken hatten zweifellos den Löwenanteil an dieser Waldvergeudung."7)

Über Tausende von Quadratmeilen mexikanischen Territoriums ist der gleiche Prozeß der Bodenzerstörung hingegangen. Wo ehedem mächtige Wälder einen reichen Boden bildeten und schützten, hat ihre Vernichtung nur unfruchtbaren harten Untergrund zurückgelassen, einen Boden, auf dem kaum Maguay-Kaktus wächst. Auf dem Weg von Mexiko City nach Morelia, einer Strecke von etwa 200 Meilen, zählte ich die Kilometerpfosten zwischen den sichtbaren Erosionsstellen. Ungefähr alle zwei Meilen waren akute ausgehöhlte Spalten sichtbar!

Von 1930 bis 1945 vermehrte sich die Bevölkerung von Mexiko um 30%. Und je mehr Münder satt zu machen waren, um so größere Anforderungen wurden an den Boden gestellt. Die Maisfelder wurden immer höher auf die Hänge getrieben, vom Talgrund bis auf den Gipfel. Selbst der unbefangene Reisende in Mexiko, der nur das primitivste Verständnis für Bodenerosion besitzt, wird wahrscheinlich von dieser Bodenzerstörung erschüttert sein. Sie zieht sich an der ganzen Laredostraße hin, die von Automobilisten und Motorradfahrern nach Mexiko City benutzt wird. 1944 flog ich in sehr niedriger Höhe über einen großen Teil des mexikanischen Gebietes westlich und nördlich der Hauptstadt. 

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Mehr als go% des bebauten Landes, das ich sah, war durch Erosion stark zerfurcht. Viele Maisfelder waren behutsam zwischen tiefen Spalten angelegt, die sie sicher eines Tages verschlingen würden. Die mexikanische Regierung hat aber seither noch keinen Versuch unternommen, dieses Schicksal aufzuhalten, sondern beschleunigt es noch dadurch, daß sie Preise für erhöhte Maisproduktion aussetzt!

Ein nordamerikanischer Wert, der von den Mexikanern ohne jede Kritik akzeptiert wurde, ist die Annehmlichkeit guter Straßen. Nach mexikanischen Begriffen ungeheure Summen wurden für Straßen aufgebracht — in einem Jahr achtzig Millionen Dollar! Durch diese Straßen wurden die Wälder und das angrenzende Kulturland zugänglicher für die Märkte. Aber es geschah nichts Wirksames, um das mexikanische Volk zur gesunden Nutzung dieses Landes zu erziehen, das ihm durch die Straßen erschlossen wurde, oder den Raubbau zu unterbinden. Als Resultat lief die Zerstörung nach allen Richtungen — längs den Straßen und auf den Hängen über den Straßen — wie sich eine Seuche durch eine Bakterienquelle verbreitet.

Das heißt aber nicht, daß es erst der Straßen bedurft hätte, um Mexikos Land zu zerstören! Der Staat Oaxaca, den die meisten Reisenden zu Fuß oder per Maultier durchqueren müssen, wird nach Ansicht einer mexikanischen Autorität, die es wissen muß, in fünfzig Jahren eine Wüste sein. Fast sein ganzes Land, das in die Bodenklassen VI, VII und VIII fällt, ist für den Ackerbau völlig ungeeignet und wird dennoch intensiv bewirtschaftet! Die Bauern nehmen es als ganz selbstverständliche Alltäglichkeit hin, daß sie fünf oder sechs Meilen von ihrer Hütte zu den Feldern laufen müssen, auf denen sie ihren Mais bauen. Die Geschichte von der kleinen indianischen Frau, die ihr Trinkwasser fünf Meilen weit tragen muß, ist keine Phantasie. Wahrscheinlich befinden sich viele Tausende in der gleichen Lage.

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Die Zerstörung der Wälder wirkte sich im Versickern zahlloser Brunnen und Quellen aus. In vielen mexikanischen Nationalparks habe ich selbst illegales Holzfällen und Weiden gesehen und photographiert. Ein Ausflug zu einer genossenschaftlichen Sägemühle im Cofre de Perote Nationalpark war wie ein Besuch bei nordamerikanischen Alkoholschmugglern; "Contrabandistas" mit dem "Dreißig-Dreißigern" aus Mexikos Sang und Sage bewaffnet, beobachteten uns hinter den Bäumen, bis sie unsere Führer als ihre Freunde erkannt hatten. Die Seen, die Teiche zur Fischzucht, ja selbst die modernen hydroelektrischen Reservoire sind mit guter Erde angefüllt. Der Staat Michoacän ist in der Regenzeit ein Meer von rotem Schlamm; von rotem Schlamm, der an seinem Platze festgehalten als guter Boden die Rohmaterialien produziert hätte, die Mexikos Reichtum wieder aufbauen könnten8.

Im Herbst 1944 brauste ein tropischer Hurrikan landeinwärts über das mexikanische Tafelland und schüttete Millionen Tonnen Wasser in vierundzwanzig Stunden herunter. Die Flüsse, die von entforsteten Wasserscheiden in das Karibische Meer und den Pazifik flössen, wurden wild, und mehr als dreihundert Menschen kamen ums Leben. Die Verbindungen zur Hauptstadt waren unterbrochen, die Rohrleitungen für Gasolin und Brennöl zerstört. Der Mangel an Holzkohle und Petroleum zum Kochen verursachte beinahe eine Panik. Die Regierung, die zuvor fruchtlos versucht hatte, die Wälder gegen den Raubbau der Kohlenbrenner zu schützen, beachtete gar nicht, daß die Entforstung zur Gewinnung von Holzkohle eine der hauptsächlichsten Ursachen dieser schrecklichen Hochfluten war, und hob jetzt alle Beschränkungen wieder auf. Wenige Wochen später flog ich von Guatemala nach Mexiko City und zählte siebzehn brennende Wälder; man ließ die meisten ruhig weiterbrennen, bis das Feuer von selbst erlosch.

Gutunterrichtete mexikanische Freunde haben mir erzählt, daß die Hälfte ihrer Landsleute nicht genug zu essen hat.

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Tabelle 2     Nahrung und Einkommen in Lateinamerika (9)

 

Kalorien 
pro Kopf
Anzahl

Vorkriegszeit 
Prozent von
Getreideprod

Jährliches
Einkommen 
pro Kopf 1938-1940
in Dolla

       

Mexiko

1909

52,6

50

Kolumbien

1934

39,7

68

El Salvador

1944

47,9

25

Costa Rica

2014

34,6

84

Honduras

2079

51,6

34

Peru

2090

49,4

32

Dominikanische Rep.

2130

31,0

40

Chile

2481

44.6

133

Brasilien

2552

33,6

49

Paraguay

2813

19,4

33

Uruguay

2902

33,5

82

Kuba

2918

29,9

105

USA

3249

27,3

555

Argentinien

3275

37,9

171

Haiti

-

-

15

Ekuador

-

-

22

Guatemala

-

-

28

Nikaragua

-

-

38

Bolivien

-

-

67

Venezuela

-

-

105

Panama

-

-

135

 

Das ist für Mexiko eine alte Geschichte. Nahrungshunger und Landhunger waren die beiden Hauptquellen der mexikanischen Revolution. Ein Versuch, diesen Landhunger zu stillen, zerschlug viele Großgrundbesitze und übergab sie an Indianergemeinden. Aber die Bodenerosion nahm schon vor der mexikanischen Revolution überhand. Oft sieht man alte Steinwälle vier oder fünf Fuß hoch in die Luft ragen, auf schmalen Erdplatten, von denen der angrenzende Boden schon seit vielen Jahren weggewaschen ist. Das neue System des Landbesitzes hat die Situation wahrscheinlich nicht gebessert.

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Die paar tausend Landbesitzer der Diktatur des Porfirio Diaz sind jetzt mehrmals verhundertfacht worden und nun ist es überaus schwierig, so viele Menschen von der Notwendigkeit eines Wechsels ihrer Farmmethoden zu überzeugen — und ihnen zu zeigen, was sie zu tun haben. Angesichts der rapiden Zunahme der Bevölkerung und der ständigen Notwendigkeit der Mehrproduktion ist das wahrlich keine leichte Aufgabe. Emiliano Zapata, der große agrarische Führer, rief aus: "Der Boden gehört dem, der ihn bearbeitet!" Offenbar ist es Zapata niemals klar geworden, daß der Besitz einer so unentbehrlichen Materie wie der Boden es ist, unausweichbar Verantwortung aufbürdet und nicht nur Rechte verleiht!

Ein anderes modernes Geheimmittel, das die Mexikaner in vollstem Vertrauen auf seine wunderwirkenden Heilkräfte kritiklos schluckten, ist die Industrialisierung. 

Die industrielle Entwicklung war immer Glücksache, mit geringen Beziehungen zu den National- und Weltfaktoren, die durch sie beeinflußt werden oder ihren Erfolg oder Mißerfolg bestimmen könnten. Man hat eine Kunstseidenfabrik angelegt, damit man die Wälder nutzbar machen könnte, die die Wasserscheide der Stadt Colima schützten. Um dieses Holz aber zugänglich zu machen, hat man die Grenzen des Colima-Nationalparks geändert (der Park war unter anderm zum Schutz der Wasserscheiden angelegt worden!), um alle Wälder auszuschließen. Niemand scheint in Betracht gezogen zu haben, woher Colima in fünfundzwanzig Jahren sein Wasser bekommen wird.

Weder das mexikanische Volk noch seine Regierung haben die enormen Anforderungen erwogen, welche die moderne Industrie an die Wasservorräte stellt. Eine der größten amerikanischen Korporationen wollte in Mexiko Filialfabriken errichten, gab aber die Idee wieder auf, nachdem ihre Ingenieure entdeckt hatten, daß die Wasservorräte nicht ausreichend waren. Mexiko City ist auf dem Bett eines alten Sees gebaut, und hat sich über hundert Jahre lang bemüht, den Grundwasserspiegel zu senken. 

216


Dies verwandelte wiederum den die Stadt ehemals umgebenden Texcoco-See aus einem unschätzbaren Auffangbecken in eine dürre Ebene, deren alkalischer Staub während der ganzen trockenen Jahreszeit durch die Stadt wirbelt und überwiegend schuld ist an den vielen Erkrankungen der Lungen und Atmungsorgane. Als der Grundwasserspiegel fiel, senkten sich die Gebäude und wurden rissig. Selbst die prachtvollen Zypressen — Quetzalcoatl wußte sie mehr zu schätzen als seine modernen Nachkommen — sterben ab.

Die Wasserversorgung von Mexiko City ist in manchen Stadtteilen vom späten Nachmittag bis Sonnenaufgang vollkommen abgeschnitten. Nur die Gebäude mit privaten Vorratstanks haben nachts Wasser, und wenn ein Feuer ausbricht, läßt man es ruhig weiterbrennen, weil kein Wasser zu seiner Bekämpfung da ist.

Man berichtete optimistisch, die hydroelektrischen Reservoire, die in Necaxa gebaut wurden, würden die Schwierigkeiten des Wasserproblems für Mexiko City beheben. Aber es geschah nichts, um die Wasserscheiden zu schützen, und die Hänge sind größtenteils mit Mais bebaut. Wir besitzen keine zahlenmäßigen Angaben darüber, aber aus Photographien geht klar hervor, daß die Quote des Erdschwundes scharf gestiegen ist, und die Verschlammung schon eingesetzt hat. Die mexikanischen Zeitungen machten viel Geschrei über diese Zustände, als während der Regenzeit von 1947 eine Wasserknappheit die städtischen Behörden zwang, 40% der Wasserkraft abzuschneiden! Fabriken mußten schließen, einige Stadtteile waren viel länger als nur ein paar Nachtstunden ohne Licht — und die Maisfelder fraßen ruhig und ungestört weiterhin die Hänge fort!

Die Wasserknappheit kommt teilweise von dem rapiden Wachstum der Stadt, und man hat ehrgeizige und kostspielige Pläne zur Anzapfung des ziemlich entfernten Lerma-Flusses gemacht. Inzwischen aber werden die Quellwassergebiete des Lerma so rapide ihrer Wälder beraubt, wie die hungrigen Märkte und die moderne Technik es zulassen, und wahrscheinlich werden nur 50% der Wälder stehenbleiben, welche die Wasserscheide schützen.

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Wo die Waldungen des Oberlandes nicht auf gewissenloser Profitbasis abgeholzt werden, sind sie gewöhnlich überweidet. Statt daß man einen Normalbestand von Unterholz mit der dazugehörigen Pflanzendecke hat, unter der ein reicher, feuchtigkeitsaufsaugender Humus liegt, macht man sie ungefähr den offenen Parks der europäischen Länder gleich. Ihr Grasteppich kann oft nicht einmal das Vieh ernähren und wird gewöhnlich abgebrannt, um die zähen, ungenießbaren Gräser zu zerstören. Natürlich vernichtet das Feuer nicht nur die organischen Stoffe des Bodens, sondern die jungen Sämlinge, das Futter und die Bodendecke, die das Wild benötigt. 

(Eine der ersten Handlungen des Präsidenten Alemän war der Erlaß eines Gesetzes, das jede weitere Abholzung auf staatlichem Forstgebiet verbot, vor allem auf den Wasserscheiden. Mexikos erstes Forstgesetz wurde im Jahre 1550 verkündet! Seine Beachtung erinnert an den Ausruf von Manio Antonio Melendez: "Verhüte Gott, daß wir uns einbilden, dieses oder jenes vorzügliche Gesetz würde in spanischen Landen jemals befolgt!")

Solche Zerstörung der natürlichen Hilfsquellen ist für das Land allgemein charakteristisch, mit Ausnahme der Wälder von Yucatän und Tehuantepec. Diese sind so unzugänglich und vielfältig gemischt, daß sie mehr oder weniger immun gegen jede Schädigung sind. Nachdem aber ein so großer Teil der Welt jetzt der Holzknappheit gegenübersteht, schlagen die Holzleute diese tropischen Wälder nieder. Niemand hat die Ökologie dieser Gebiete genügend erforscht, um mit Sicherheit vorauszusagen, was für Resultate diese Entwaldung zeitigen wird. Es ist durchaus möglich, daß die intensive Hitze, die starken Winde, die äußerst schweren Regenfälle — besonders in Gebieten wie Yucatän mit seinem porösen Kalksteinboden — bei einer solchen Entforstung die tropischen Niederungen Mexikos in eine unfruchtbare Wüste verwandeln.

Die übermäßige und rasche Zunahme der mexikanischen Bevölkerung ist — zum Teil wenigstens — der relativ langen Zeitspanne ohne Revolution zuzuschreiben und ebenso den hygienischen Maßnahmen zur öffentlichen Gesundheitspflege.

218


Die wenigen Statistiken, die zugänglich sind, ergeben, daß die mutmaßliche Lebensdauer des Mexikaners um die Hälfte geringer ist, als die seines nordamerikanischen Nachbarn; die Bekämpfung der Kindersterblichkeit jedoch hat große Fortschritte gemacht. Man kann deshalb erwarten, daß die Bevölkerungskurve noch einige Jahrzehnte ansteigt. 1955 dürfte Mexiko ungefähr 28 Millionen Einwohner haben.

Währenddessen aber fällt die Kurve der Bodenertragsfähigkeit rapid. Wenn zur Zeit die Hälfte aller Mexikaner hungert, so werden beträchtlich mehr als die Hälfte am Ende dieses Jahrhunderts unterernährt sein — vorausgesetzt sie verfolgen den Weg weiter, den sie eingeschlagen haben. Der mexikanische Bauer, der einen großen Teil der Bevölkerung ausmacht, wird immer mehr Hungerqualen leiden, je mehr sein kleines Stückchen Land schwindet. Er wird dünner, und seine Kinder werden bei immer ärmerer Kost noch weniger für den Kampf ums Dasein ausgerüstet sein. Die sinkende Kurve der Kindersterblichkeit, die größtenteils auf Darmerkrankungen beruht, ist jedoch nicht ganz so bedeutungsvoll, wie man zuerst annimmt. Sie besagt lediglich, daß die Mexikaner der Zukunft nicht schon nach einer Lebensdauer von wenigen Monaten sterben, sondern erst ein paar Jahre später, nach einem immer elender werdenden Leben. Ihre nationale Nahrungsquelle vertrocknet.

Auch wenn sie in der Industrie eine Stellung finden, werden sie nicht viel besser dran sein, denn die Gebiete der Erde, die Nahrungsüberschüsse haben, wie Argentinien und die Vereinigten Staaten, haben auch einen viel höheren Lebensstandard. Die Mexikaner werden in Pesos produzieren und in Dollars zahlen — wie 1948 im Verhältnis von fünf zu eins. Außerdem hat die nationalistische Wirtschaft, wie wir schon ausführten, Schutzmauern gegen Güter zu niedrigen Preisen errichtet.

In jeder geschichtlichen Periode Mexikos haben immer nur wenige Männer erkannt, daß ihr Land arm ist. 

Selbst heute, nachdem der Mensch sich seiner Abhängigkeit vom Boden bewußt geworden ist wie nie zuvor, schwelgen die Mexikaner in ihrem nationalen Reichtum!

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Dennoch können sie keinen leeren Wasserhahn aufdrehen, der ihnen nicht ihre nationale Verarmung beweist. Wohin sie auch reisen, über welche Strecken sie ihr Weg führt — sie werden erodiertes Land, zerstörte Wälder, schrumpfende Maisfelder erblicken. Sie können nicht frühmorgens durch die Straßen von Mexiko City gehen, ohne Hunderte von Menschen in Schlangen nach Holzkohle stehen zu sehen, die jedes Jahr knapper und teurer wird. 

An den Hausmauern längs der Straßen sehen sie den blutigen Auswurf der unterernährten Schwindsüchtigen. In den trockenen Jahreszeiten verhüllt der Rauch ungelöschter Waldbrände ihnen den Blick über ihre Täler. Mexiko ist ein verarmtes Land. Unter dem Druck einer rapide zunehmenden Bevölkerung wird es ständig ärmer. Ehe man dieser Tatsache nicht das ihr gebührende Gewicht beilegt, sind Mexikos tapfere Kämpfe um soziale, wirtschaftliche und industrielle Fortschritte nutzlos und zeitigen nichts als wachsend bittere Enttäuschung.

 

    Das Gleichnis vom Elend - El Salvador   

 

Es gibt ein altes Sprichwort — die Salvadorianer finden es mit patriotischer Inbrunst schmackhaft —: daß in ihrem Lande "niemand Hungers stirbt". Sie haben diese nationale Prahlerei viele Jahrzehnte hingenommen — sie werden es gar nicht gewahr, daß es tatsächlich der Hunger ist, woran die meisten von ihnen sterben, und daß ihr einziger Überfluß in großen Worten liegt. In einem winzigen Lande, nicht größer als Vermont, sind zwei Millionen Menschen zusammengedrängt. Für jeden dieser zwei Millionen Menschen gibt es nur etwa einen Acker anbaufähiges Land — ein Fleckchen Erde von zweihundert Fuß im Quadrat — um darauf die Nahrung zu erzeugen, die sie essen, die Baumwolle, mit der sie sich bekleiden, und die Produkte, die sie ausführen. In diesem "anbaufähigen Lande" ist eine ganze Menge Boden zweiter und dritter Klasse eingeschlossen, der nur durch solche Ackerbaumethoden aussichtsreich zu bestellen ist, die für 90% der Salvadorianer unerreichbar sind. In den ländlichen Bezirken sind oft nahezu 100% Analphabeten.

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Sie besitzen weder Kohle noch Petroleum. Ihre hydroelektrischen Anlagen sind absolut unzulänglich, auch in den wenigen Städten, die überhaupt Elektrizität haben. "Selbst bei der höchsten Ausbeute während einer Regenzeit reichen die vorhandenen Anlagen gerade aus, um ein Minimum des Bedarfes zu befriedigen; für eine industrielle Expansion bleibt kein Spielraum. Auf der beschränkten Ebene der Ausbeute trockener Jahreszeiten genügen die Höchstleistungen nur für 60% der allerdringendsten Bedürfnisse10." 

Zum Kochen und für industrielle Zwecke sind die Salvadorianer fast völlig von Brennholz abhängig. Und sie nähern sich im Eiltempo dem Punkt, den die Indianer in manchen Gegenden Guatemalas schon vor Jahren erreicht haben: daß der Mangel an Brennstoff ihnen verbietet, Tortillas (Maiskuchen) zu essen — sie haben einfach keine Mittel, sie zu backen. Sie haben ihre Wälder nahezu gerodet und dabei noch nicht einmal Schritte für ein Forstprogramm eingeleitet. Das Land leidet unter der langen trockenen Jahreszeit, und der Grundwasserspiegel fällt ständig. Infolge der Entwaldung und der übermäßigen Kultivierung des Bodens sind die Flüsse voll schwerer Schlammassen, die eine Wasserspeicherung, wie sie die Vereinigten Staaten unter dem TV A. vorsehen, ganz ausschließen.

Die Durchschnittsdiät der Salvadorianer liegt bei 1500 Kalorien pro Tag. Da aber kleine Gruppen wohlhabender Leute mehr bekommen, haben viele Arme nicht einmal diese 1500 Kalorien. Die meisten essen Tortillas und schwarze Bohnen; eine Mahlzeit, die tierisches Protein enthält, ist geradezu ein Ereignis. Tuberkulose, Dysenterie, venerische Krankheiten und Malaria wüten in El Salvador. Die Lage dieser Menschen ist schlimmer als die der Einwohner von Porto Rico, die wenigstens ein paar Finger in den Taschen ihres Onkel Sam haben. In der ganzen westlichen Hemisphäre ist einzig Haiti noch schlechter gestellt als El Salvador. 

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Wie alle Länder oder Gebiete, die an eine Monokultur gebunden sind, ist auch El Salvador häufig in einer mehr als kritischen Lage. Es baut fast nur Kaffee, der sein einziger nennenswerter Exportartikel ist. Der Boden aber, der sich für Kaffee eignet, wird durch Reihenanbau von Mais oder Bohnen verdorben. Viele Kaffeepflanzungen erodieren jetzt so schnell, daß ihre Produktivität zusehends abnimmt.

Da die Salvadorianer durch akute Landknappheit gezwungen sind, von den Gebieten zu leben, die zu schützen sie nicht imstande sind, sinkt die Ertragsfähigkeit des Landes von Jahr zu Jahr merklich (1948). Betrüge die Bevölkerung nur 25% ihrer jetzigen Kopfzahl, so könnte El Salvador ihr einen auskömmlichen Lebensstandard bieten — obwohl auch dieser sich natürlich nicht mit dem eines reichen Landes wie die Vereinigten Staaten messen könnte. Mit seiner übermäßigen Bevölkerung — und übermäßig ist sie seit 1890 — könnte eine Besserung allenfalls äußerst langsam eintreten11. Der wenige Mutterboden, der übriggeblieben ist, könnte mit Hilfe einer landwirtschaftlichen Versuchsstation, deren Stab größtenteils aus Fachleuten der Vereinigten Staaten besteht, auf eine höhere Ertragsmenge pro Quadratfuß gebracht werden. Es bleibt aber auch dann zweifelhaft, wie weit diese Arbeit wirksam wäre, wenn nicht zugleich der Prozentsatz der Analphabeten stark reduziert würde. Im besten Falle kann angesichts des rapid zunehmenden Bevölkerungsdruckes eine solche Arbeit das Tempo der Bodenverschlechterung verlangsamen. Denn die Einwohnerzahl hat sich seit 1910 verdoppelt.

Das Bild dieser Zunahme (Tafel 8) ist wirklich eines genauen Studiums wert, da man es auf so viele Teile der Welt anwenden kann. Einer der führenden Männer unter den europäischen Ackerbau-Ökologen nennt es "die Parabel vom Elend". Leider haben wir keine Daten, um den Schwund der natürlichen Hilfsquellen graphisch wiederzugeben. Und während die Vereinigten Staaten durch ihre landwirtschaftlichen Fachleute und eine Ausbildungsmission unzulängliche Schritte unternehmen, um die Situation El Salvadors zu bessern, arbeitet Hand in Hand mit diesen Körperschaften eine Seuchenbekämpfung, um die Sterblichkeitsquote noch weiter herabzusetzen.

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Nichts geschieht, um die Geburtenziffer zu senken. Das ist, nicht anders als in China und Indien, eine brutal irregehende Wohltätigkeit!

Nur ein Faktor arbeitet stark zu El Salvadors Gunsten: die Ausdauer seines Volkes, besonders seiner führenden Männer. Sie ermahnen ihre Bürger, ihrer Lage ehrlich und mutig ins Gesicht zu sehen. Als eins der ärmsten Länder der Erde bildet El Salvador eine der ganz wenigen Ausnahmen — seine Bürger winseln nicht, sie seien zu arm, um sich selbst zu helfen. Sie krempeln ihre Ärmel auf und machen sich an die Arbeit —, und die Salvadorianer sind als Arbeiter geradezu berühmt.

Ächzte El Salvador nicht in seinem vielleicht letzten Wettlauf mit der Zeit, so gäbe sein Volk wirklich Ursache zum Optimismus. Und hätten seine Reichtümer nur so viel Spielraum, um ihm eine Atempause von fünfzig Jahren zu geben, so könnte dieses kleine Land dem ganzen Lateinamerika einen Ausweg zeigen. Aber es ist sozial nicht stabil, wie man das ja nicht anders erwarten kann, wenn ein überwiegender Teil des Volkes sowohl hungrig wie unwissend ist. Es hat schwer gelitten unter einer Reihe von Versuchen der Faschisten wie der Kommunisten, ans Ruder der Regierung zu kommen. Der Verhungernde greift nach jeder Brotkruste. Und nur durch die langanhaltende, sehr weise und geschickt geleitete Tätigkeit einer Regierung von größerer Stabilität, als die, deren sich das Land bisher erfreuen konnte, wäreesmöglich, die Probleme El Salvadors zu lösen. 

 

    Reichtümer und Zeit!  -  Costa Rica  

 

Wendet man sich von El Salvador nach Costa Rica, so hat man das befreiende Gefühl, eine Region bitteren, erschöpften Ringens zu verlassen und auf die reiche Farm eines starken, gesunden jungen Mannes zu kommen. Hier findet man teilweise die besten Bodensorten der Welt und gleichzeitig in lokalen Gebieten den größten Erosionswiderstand. 

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Costa Rica hat 800.000 Einwohner und dazu ein Gebiet von 23.000 Quadratmeilen; deshalb ist es in bezug auf den potentiellen, ja sogar auf den tatsächlichen Lebensstandard eins der bestsituierten Länder der Hemisphäre. Es besitzt sogar noch gutes, unbesiedeltes Agrikulturland. Es hat beträchtliche Waldgebiete. Es hat unentwickelte hydroelektrische Kraft. Wäre sein allgemeines Niveau des Landnutzungssystems nicht noch das spanische des 16. Jahrhunderts, so dürfte es einer ähnlichen Zukunft entgegensehen wie die Schweiz, der es in mancher Beziehung gleicht. Leider aber ist unser "gesunder junger Farmer" — in seiner Haltung gegen den Boden — ein ungewöhnlich unwissender und provinzieller Mensch. Er hält es für eine ausgemachte Sache, wie es die Völker der ganzen Erde taten, daß seine Schätze unbegrenzt und unerschöpflich seien. Er nutzt sie leichtsinnig aus und nimmt dabei den Standpunkt ein, daß er es sich nicht leisten kann, irgend etwas zum Schutze seines Reichtums aufzuwenden.

Costa Rica ist durch seine geringe Einwohnerzahl gerettet. Wo immer die Bevölkerung sich nennenswert verdichtete, wie auf der Meseta Central, sind die natürlichen Hilfsquellen zerstört. Fast überall ist der vulkanische Boden tief, reich und dabei so durchlässig, daß zwölf oder vierzehn Fuß jährlicher Niederschläge in die Unterschicht sinken, ohne die klaffenden Risse der Rinnenerosion, die wir in den Vereinigten Staaten nur zu gut kennen. Und dennoch ist der organische Stoff sogar vom besten Boden weggewaschen, und die Minerale, die nötig sind, um Pflanzen zu erzeugen, werden schnell ausgelaugt. Die Kaffeeproduktion ist in weiten Gebieten gefallen, teilweise bis zu 80%. Hierfür ist größtenteils die Erosion verantwortlich.

Die erosionsharten Böden haben nur eine beschränkte Ausdehnung. In vielen Teilen des Landes wird schon bei 2% Gefälle die gute Erde durch den Regen weggespült. An den pazifischen Hängen Costa Ricas, die unter brennender Sonne und einer entwässernden trockenen Jahreszeit leiden, setzt die Kettenwirkung der Erosion sofort ein, sobald die Wäldergerodet werden. Das Land verwandelt sich aus jungfräulichem Wald in geringwertige Weide oder nutzlosen Waldnachwuchs, und zwar innerhalb von fünfundzwanzig Jahren.

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Hier ist der wirksamste Einschränkungsfaktor die sengende Hitze einiger regenloser Monate. Die Unterschiede bei den Flüssen sind gewöhnlich 1:100, ein besorgnis­erregender Umstand für jeden, der an der hydroelektrischen Entwicklung interessiert ist. Die Flüsse tragen Schlammlasten bis zu 20% fort.

Im Kanton Guanacaste, wo das meiste Weideland Costa Ricas liegt, sind die Überschwemmungen ein ernstes Problem, das sich zusehends mit der Entwaldung verschlimmert. Vieltausendköpfige Herden müssen aus den Niederungen abgetrieben werden, um dem Ertrinken zu entgehen. Während des brennend heißen Sommers kann das verdorrte Gras die Tiere nicht ernähren, und sie finden zudem nirgends Trinkwasser — auch dieses Problem wird von Jahr zu Jahr ernster. Ein großer Teil von Guanacaste war früher bewaldet und Viehzüchter, die ihren nachwachsenden Waldbusch pflegen (der immerhin dazu hilft, den Grundwasserspiegel zu erhalten), bringen ihre Herden weit erfolgreicher durch die heiße Jahreszeit als andere. Die meisten Viehzüchter jedoch ersetzen ihre Wälder durch Grasanbau, und es ist damit zu rechnen, daß Guanacaste in wenigen Jahren dem sehr ernsten Problem der Winderosion gegenübersteht.

Nirgends im ganzen Lande sind die Quellgebiete der Bäche und Flüsse geschützt. Im normalen Verlauf der Ereignisse steigt dadurch die Überschwemmungs­gefahr, die vielleicht ganze Gebiete unbewohnbar machen kann, zum Beispiel das El General Valley, in dem sich die Bewohner Costa Ricas auszubreiten hoffen. Mit der Vernachlässigung der Hochwasserbekämpfung im Oberland dehnen sich die Malariagebiete durch die Hochwasser und die durch den Schlamm wachsenden Sümpfe weiter aus.

Die Waldländer Costa Ricas sind verstreut und in unzugänglicher Lage, so daß sie zur Zeit noch nicht ausgenutzt werden können. Dei größte Teil des übrig­gebliebenen bewaldeten Hochlands fällt wahrscheinlich in die Bodenklassen VII und VIII, und wenn die Bäume dort gefällt werden, so muß das mit der völligen Zerstörung des Bodens enden, wenn nicht sehr gesunde und maßvolle Einschlagmethoden in Anwendung kommen. 

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Die Nutzung der Wälder Costa Ricas geschieht aber auf rein extraktiver Basis. Man kennt keine Verwaltungsmaßnahmen, und die Regierung hat kein Forstdepartement; und selbst wenn die Holzleute geneigt wären, ihre Wälder auf der Grundlage gleichbleibenden Ertrags zu bewirtschaften, wären sie wenig erfolgreich damit, denn sie besitzen so gut wie gar keine Kenntnisse der Forstökologie, und außerdem haben zu viele Besitzer zu kleine Gebiete. Wo das Waldland dem Siedler erschlossen wird, verlangt man von ihm, daß er seine Bäume rodet, ohne daß man dabei überhaupt der Bodenklasse Beachtung schenkt, geschweige denn der Ökonomie des Landes oder den Auswirkungen auf den Boden selbst und auf die hydrologischen Gegebenheiten.

Costa Rica hat so niedrige Steuern, daß es dem Briten und dem Amerikaner geradezu wie ein Paradies vorkommt. Seine Einkommensteuer ist rein nominell, und es heißt allgemein, daß man sie mit Hilfe eines geschickten Rechtsanwaltes überhaupt nicht zu zahlen braucht. Costa Rica verwendet beträchtliche Geldsummen für Straßenbau (es ist eins der Hauptopfer der interamerikanischen Straße) und für eine außerordentliche Menge von Gesundheits- und Sozialmaßnahmen. Viele Großgrundbesitzer sind sehr reiche Leute, und in ihren Automobilen, ihren schönen Landsitzen und ihren Landklubs sieht man den Beweis großer Wohlhabenheit. Aber Costa Rica hat sich sehr hohe Summen von den Vereinigten Staaten geborgt und versucht (1946) diese Darlehen noch zu vergrößern, um ein Programm für öffentliche Arbeiten zu entwickeln. Theoretisch müssen diese Anleihen zurückgezahlt werden. Das Jahresbudget von 1946 betrug über n Millionen Dollar — und davon ist nicht ein Cent auf Konservierung verwendet worden12.

Man hört in Costa Rica von allen Seiten, wie arm das Land sei. Wenige seiner Bürger aber machen sich klar, daß es zusehends ärmer wird, und es ist auch kein Anzeichen für den guten Willen vorhanden, die jetzigen Einkünfte zu kürzen, um die Einkünfte von morgen zu schützen.

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Costa Rica ist eins der wenigen kleinen Länder dieser Welt, die eine Möglichkeit haben, der erschöpften Armut zu entgehen, die zum Beispiel in Haiti und El Salvador herrscht. In seinem relativ hohen Prozentsatz studierter Leute, seinem wohlgeordneten Schulsystem, und in dem betonten guten Willen seiner Farmer, ihre agrikulturellen Methoden zu verbessern, besitzt es so ungeheure Vorteile wie nur wenige seiner Schwesterrepubliken. Aber offenbar tut eine unwissende und untätige Politik nichts zu seiner Rettung.

 

   Peru ist führend  

 

Ein peruanischer Präsident nannte beredt, wenn auch ungenau, sein Land "einen Bettler, der auf einer goldenen Bank sitzt". Diese Phrase hat die Phantasie der Peruaner so angefeuert, daß die meisten noch immer in ihrem semantischen Bann gefangen sind. Sie sehen ihr Land selten wie es ist.

Das an der Küste gelegene Drittel Perus ist Wüste, größtenteils sogar so dürr, daß nicht einmal Kakteen gedeihen. Das einzige Lebenszeichen ist der Flügelschatten der Geier und Kondore, wenn diese großen Vögel seewärts fliegen, um an der Küste Aas zu suchen. Ab und zu wird das Land von einem kurzen Fluß durchkreuzt, der aus dem Scjinee der Anden kommt. Schon in den Tagen der Urzeit wurden diese Flüsse für örtliche Bewässerung genutzt. Seit mindestens dreitausend Jahren intensiv bebaut, behalten die so bewässerten Niederungen ihre Fruchtbarkeit nur durch die Verwendung des Guano, den ein glückliches Spiel der Natur ihnen auf den Inseln vor der Küste geschenkt hat.

Das in der Mitte gelegene Drittel Perus besteht aus Bergen und kleinen Hochebenen, von denen manche bis zu zwölftausend Fuß und noch höher liegen; dort halten der knappe und schlecht verteilte Regen zusammen mit der Kälte dieser Höhenlage die Produktion in niedrigen Grenzen. Dieses Land ist so unzugänglich, daß Städte und Dörfer, die per Flugzeug ihre Zeitungen aus Lima erhalten, noch niemals ein Automobil gesehen haben.

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Ein großer Teil dieses Hochlandes kann keine nahrhafteren Pflanzen als Büschelgras produzieren, das nur für eine kleine Anzahl von Schafen und Lamas ausreicht. Die Indianer, die auf diesem schönen Dach der Welt leben, führen ein kümmerliches Dasein, das an Härte nur von Gebieten wie Patagonien und Tibet übertroffen wird.

Das dritte Gebiet Perus an der Ostseite der Anden erhält den vollen Aufprall der südöstlichen Passatwinde und hat nicht nur Reichtum, sondern Überfluß an Niederschlägen. Es ist bekannt als ein Land der tropischen Urwälder. Wenn die Bäume von dem sandigen Boden der Niederungen abgeschlagen werden, laugen die Regengüsse die Minerale der oberen Schichten aus, und die Sonne des Äquators verbrennt zusehends die organischen Stoffe. Da es eine Region ist, in welcher der Dschungel seine idealen Daseinsbedingungen findet, sind alle Versuche, das östliche Peru zu kolonisieren, in der zurückflutenden Welle tropischer Wälder ertrunken. 

Überall, wo in Peru Menschen leben, wird der Boden weggewaschen. Die Wassergräben tragen ihn längs der Küsten mit fort; Hochlandfarmen, so steil, wie man sie kaum irgendwo in der Welt findet, verlieren ihn im Oberland; holzgetriebene Eisenbahnen, wie die Linie nördlich von Cuzco, verschlingen die Bäume und ziehen den Boden nach; die Hochwasser sind unkontrolliert und ganze Farmen werden in den Vilcanotafluß gespült. Kaum einen Flintenschuß von der Landwirtschaftsschule bei Cuzco kann man eine so schreckliche Rinnenerosion sehen, wie sie vor ein paar Jahren im Staate Georgia vorgekommen ist.

Peru ist ein unwirtliches Land. Acker um Acker hat es die niedrigsten Ertragskapazitäten, die man auf dem amerikanischen Kontinent finden kann. Bis vor zwei oder drei Jahren, als man eine Straße über die Anden baute, war es in Lima billiger, Holz aus Oregon zu kaufen, als die Harthölzer, die in den peruanischen Wäldern keine zweihundert Meilen von Lima wachsen. Vielleicht ist es noch heute so — und wenn es nicht der Fall ist, so wird es bestimmt wieder wahr werden, denn Peru treibt Raubbau an seinen Wäldern und hat sich bis jetzt noch nicht um Aufforstung gekümmert.

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Das Problem der Konservierung ist hier besonders interessant durch Perus hervorragende Geschicklichkeit, die Guanovogelscharen zu erhalten. In der Gesundheit und Unangreifbarkeit dieses Projektes hat esderganzen Welt, nicht nur den Amerikanern, ein leuchtendes Beispiel gegeben. Würden die natürlichen Hilfsquellen der Welt so weise und geschickt bewirtschaftet, wie die Peruaner — in diesem Jahrhundert — ihren Guano bewirtschaften, so könnte man der Zukunft des ganzen Menschengeschlechtes gefaßter entgegensehen.

Ohne Guano sinkt die Ertragsfähigkeit der Küstenstriche rapide auf ein Nichts herab. Mit Guano hat sie kaum ihresgleichen.

Der Guano an den Küsten Perus verdankt sein Dasein einem ungewöhnlichen und äußerst interessanten Zusammenwirken der Umstände. Am wichtigsten ist die von der Küste abtreibende Wasserströmung, die zum Teil von den Passatwinden (welche die Wasseroberfläche berühren, nachdem sie die Anden überquert haben), zum Teil von der Erdumdrehung kommt. Wie an den Küsten Kaliforniens ergibt sich daraus ein Aufwellen des kalten Wassers aus den Tiefen — Wasser, das reich an den Mineralen ist, welche die Wasserpflanzen brauchen. Die Anden trocknen die Passatwinde durch adiabatische Abkühlung aus und schützen die Guanolager vor dem Weggewaschenwerden, das ohne den WTall der Anden ihr Schicksal wäre. Der kalte Humboldt-Meeresstrom hat in den Tropenzonen-Gewässern Perus die Invasion der weißbrüstigen Kormorane möglich gemacht, dieser hauptsächlichsten Guanoproduzenten, die aus subantarktischen Regionen kommen. Diese Vögel leben auf den peruanischen Inseln buchstäblich zu Millionen und bilden eine der dichtesten Konzentrationen von Wirbeltieren der ganzen Welt.

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Der Guano wurde schon von den präkolumbianischen Indianern benutzt, ebenso wie der Maifisch im frühen Neuengland zur Maisdüngung verwendet wurde. Die Inkas beschützten die Guanoinseln, und jeder Eindringling, der sie störte, wurde mit dem Tode bestraft.

Mit der Ankunft der Spanier, deren primitives Ziel es war, alles Gold und Silber zu stehlen, dessen sie habhaft werden konnten, wurden sowohl die eingeborene Bevölkerung wie die peruanische Agrikultur nahezu vernichtet. Die Guanoinseln waren gröblich vernachlässigt, und die Exkremente der Vögel häuften sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts immer höher auf, da nur kleine Ladungen weggeholt wurden. Dann stieg — angeregt durch den Geographen Humboldt — das Interesse am Guano rapide wieder an, bis die Segler aus allen Weltteilen kamen und Peru einen Guanorausch erlebte, nicht anders als der Goldrausch Kaliforniens. Wie die meisten Menschen in allen Teilen der Welt, glaubten auch die "Entdecker" des Guano, daß dieser Schatz unerschöpflich sei. Der Naturforscher von Tschudi schätzte im 19. Jahrhundert die Guanovorräte Perus auf über 23 Millionen Tonnen. Während einer langen Reihe von Jahren — die Peruaner nannten sie die "Saturnalia" — begründeten die Guanoansammlungen viele große Vermögen und trugen alle Kosten der Operationen der Regierung. Aber die Vögel, die den Guano produzierten, wurden als lästige Störenfriede betrachtet, und man bezahlte kleine Jungen dafür, sie von ihren Nestern zu vertreiben, weil sie beim Abtransport des Guano hinderlich waren! Ende des 19. Jahrhunderts waren die Guanoausbeuter so weit, daß sie auf den meisten Inseln den nackten Boden hervorkratzten, und 1911 produzierte die peruanische Küste nur 30.000 Tonnen dieses Düngemittels.

Nach vielen Diskussionen, mit allerlei Pro und Kontra, wurde 1909 eine vollkommen neue Schutzorganisation eingerichtet, die peruanische Guanoverwaltung oder "Compania Administradora del Guano". Das war eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Aktien heute noch garantierte 10% abwerfen, in der die peruanische Regierung eine Mehrheit von 51% hält. 

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Alle Operationen der Kompanie waren ganz und gar in Händen der Geschäftsorganisation, die ein vollkommenes Monopol über die gesamten Guanoinseln bekam. Mehr als dreißig Jahre war die Guano-Adminstration unter der Leitung von Don Francisco Ballen, dem der Löwenanteil des Erfolges zuzuschreiben ist. Auf allen Inseln wurde die strengste Kontrolle eingeführt, Tag- und Nachtaufseher wurden angestellt, um die Vögel zu schützen, die bald anfingen, sich wieder so zu vermehren, daß man mit einer vollen Herstellung ihrer alten Mengen rechnen kann. Der Erfolg dieses peruanischen Unternehmens zeigt sich deutlich aus der Zunahme von 30.000 Tonnen Guano 1911 auf 168.000 Tonnen 1938. Peru hat sich auf diese Weise einen Kreislauf zunutze gemacht, durch den in den meisten Ländern die Reichtümer des Bodens im Meer verlorengehen. Peru hat den Strom umgekehrt, und durch die Vögel werden die wirklich unerschöpflichen Reichtümer des Meeres wieder auf die bebauten Felder gebracht13!

Peru wäre in einem beklagenswerten Zustande, wenn es nicht seinen Guano hätte. Es ist leider nicht wenig Wahrheit in dem zynischen Ausspruch eines nordamerikanischen Mineningenieurs, der nach etwa fünfundzwanzig Jahren in der Nähe von Trujillo sagte: "Der Hauptreichtum dieses Landes liegt in seiner billigen Herstellungsweise."

 

    Das unstabile Land - Chile   

 

Eines der größten Aktiva Chiles — vielleicht überhaupt die größte — ist seine hohe Sterblichkeitsziffer. Das ist eine brutale und erschreckende Behauptung. Trotzdem ist dieser Schluß unvermeidlich, wenn man nicht glaubt, daß es eine besondere Tugend ist, immer mehr Menschen immer elender leben, ihr Land mit immer wachsender Geschwindigkeit zerstören zu lassen.

Das nördliche Drittel von Chile besteht aus einer der unfruchtbarsten Wüsten der Welt. Sie ist reich an Stickstoff, der in manchen Ländern so verzweifelt nötig wäre — leider aber in Ländern, die nicht in der Lage sind, dafür zu bezahlen oder die sich wenigstens einbilden, es nicht zu können. Es hat nicht den Vorteil der eingestreuten Flußniederungen, wo man auf bewässertem Land reiche Ernten anbauen kann, wie das in Peru der Fall ist.

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Manche Teile des mittleren Chile aber sind Acker für Acker eins der reichsten Gebiete der Welt. Das Berieselungswasser aus dem Schnee der Anden ist reichlich und verläßlich. Die Ertragsfähigkeit dieses Landes wäre noch höher ohne sein System des Grundbesitzes.

Enorme Landstriche, die nur gelegentlich von ihren reichen Besitzern besucht werden, sind unkultiviert. Südlich von Santiago kommt es nicht selten vor, daß man reiche, gut bewässerte Felder der Bodenklasse I als Viehweiden benutzt. In den zentralen Provinzen nehmen 5396 Haziendas von über 500 Ackern mehr als 80% des gesamten Farmlandes ein; 69761 kleine Gehöfte bilden zusammen nicht ganz 5% des gesamten bebauten Landes — jedes mit durchschnittlich 16 Ackern. Etwa 400.000 Menschen fristen ihr Leben auf nicht einmal vier Ackern. Und dagegen stehen 375 Farmen mit mehr als 12.250 Ackern!14. Man hat schon die verschiedensten Ansätze gemacht, das Land besser zu verteilen — aber die Hazendados sind so mächtig, daß jeder Versuch mißlang. Die Regierung nimmt Befehle von ihnen entgegen, statt eine Kontrolle entgegengesetzter Richtung auszuüben (1946).

Die mittelchilenischen Anden sind Waldland. Das zentrale Tal ist außerdem durch die Küstengebirge abgeschlossen; seine halbtrockenen Weiden sind schwer überweidet und überall erodiert. Auf einer Bahnfahrt von Llo-Lleo nach Santiago zählte ich von ungefähr die Erosionsrinnen auf solchem Land und fand etwa alle 1300 Fuß eine neue. Das südliche mittlere Chile besitzt ausgezeichnete Weidegebiete, aber viele davon sind so steil, daß sie einem starken Regen nicht widerstehen können, sobald sie einmal kultivert sind. Es gibt zahlreiche Strecken, die in zwanzig Jahren von jungfräulichem Waldland zu unfruchtbarer Brache wurden. In den Provinzen Arauco, Bio-Bio, Malleco und Cautin, die früher der Brotkorb Chiles waren, hat die Erosion ungefähr den dritten Teil des Bodens ebenso schwer verletzt wie in den acht nördlichen Provinzen.

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 Das Absinken der Weizenerträge (in Zentnern per Hektar gerechnet) in acht zentralchilenischen Departements erzählt eine beredte Geschichte:

1911-1917   10,4 
1918-1924   9,9 
1925-1931   8,4 
1932-1939   7-1

Südchile, das Darwin in seiner <Voyage of the Beagle>* so glänzend schildert, ist mit dichtem Urwald bedeckt, außer einem kleinen Abschnitt von halbtrockenem Grasland in Patagonien. Als Darwins Matrosen auf der Insel Chiloe an Land gingen, mußten sie auf allen vieren über die üppige, eine feste Decke bildende Vegetation kriechen, und sie machten Lotungen durch die Zweige, um festzustellen, wie tief unter ihnen der Erdboden war. Viel von Chiloes saurem Boden ist jetzt seiner Walddecke beraubt, und in den hundert Jahren, die vergangen sind, seit Darwin diese Küste bereiste, ist ein wesentlicher Prozentsatz dieses Mutterbodens bereits ins Meer gespült.

Das südliche Chile muß in den landwirtschaftlichen Büchern fast vollständig abgeschrieben werden. Es ist vorwiegend ein Gebiet mit so niederen Temperaturen, daß sie die Entwicklung des Bodens zurückhalten; auf den überall vorhandenen Steilhängen würde das Fällen eines einzigen Baumes eine verhängnisvolle Erosion auslösen.

Chile teilt trotz seiner relativ stabilen Einwohnerzahl den Landhunger der meisten amerikanischen Länder. Es wendet sich zu den inneren Tälern im Süden, wie vor hundert Jahren die Vereinigten Staaten sich nach dem Wilden Westen wandten. Längs des Sipsonflusses in der Provinz Aysen versucht es Weide- und Ackerbaugebiete zu entwickeln und wiederholt in kleinem Maßstabe viele Fehler, die wir in Nordamerika gemacht haben.

*) Reise eines Naturforschers um die Welt.

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Dörfer und Farmhäuser werden in Überschwemmungsgebieten errichtet, wie unsere Farmen und Dörfer in den Niederungen des Mississippi und Missouri, und auch hier sind sie in hohem Maße vom Hochwasser bedroht. Auch Chile schlägt und brennt die Steilhänge kahl und verliert nicht nur den Mutterboden, sondern den ganzen Boden bei diesem Prozeß. Längs des Binnenland-Wasserweges nach Aysen kann man Farmen sehen, die innerhalb von zwei Jahrzehnten aufgebaut und verlassen wurden. Der Eingang in das Simpson-Flußtal ist bereits so voll Schlamm, daß die kleinen Dampfer, die Aysen mit Mittelchile verbinden, nur beim höchsten Flußstande passieren können. 

Die Vereinigten Staaten, die nicht genügende Anlagen zum Schutz des Oberlandes ausgebaut hatten, haben Hunderte von Dollarmillionen für ihre Strom- und Hafenkomitees verbraucht; aber Chile kann niemals den Reichtum aufbringen, um seine Flüsse auszubaggern und Uferdämme zu bauen. Früher konnte man Oborno, eine der größten Städte Südchiles, durch einen schiffbaren Fluß erreichen; jetzt hat ihn der Schlamm aus dem Oberland unpassierbar gemacht. Corral, der Haupthafen des Südens, wird zusehends durch die Verschlammung abgeschnitten. Mit der Mißverwaltung seines schwierigen Landes begeht Chile im buchstäblichsten Sinne des Wortes Selbstmord.

Einer der größten Reichtümer Chiles ist die unübertroffene Schönheit seiner Landschaft. Viele hundert Meilen weit erheben sich von der peruanischen Grenze bis Kap Hörn schneebedeckte Gipfel. Im südlichen Mittelchile spiegeln sich viele dieser Gipfel in lieblichen Seen, wie wir sie nur in unseren Nationalparks bewahren konnten. Diese Schönheit zieht Besucher aus der ganzen Welt nach Chile. Wenn sie geschützt würde, könnte Chile ein Touristenland werden wie die Schweiz. Statt seine Naturschönheiten zu behüten, verwüstet Chile sie und verkauft sie meistbietend für ein paar Pesos. Die meisten Wälder um die Seen liegen in den Bodenklassen VII und VIII. Sie werden jedoch ausgenutzt, als wären sie Bodenklasse I. Die Wälder werden niedergebrannt und sinnlos abgeholzt. Farmer siedeln sich auf Hängen an, die sie in ein paar Jahren zu unfruchtbaren Wüsten machen. 

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Als ich 1945 Südchile besuchte, bedeckte so dichter Rauch von den Waldbränden das Land, daß es unmöglich war, nachts die Fenster zu öffnen. Reisende, die von Argentinien und Santiago hierher "aufs Land" gekommen waren, fuhren mit dem ersten greifbaren Zuge wieder ab. Die Brände versengten die Seeufer und kamen bis vor die Türen der Hotels. Wenn Chile nicht unverzügliche und weise berechnete Maßnahmen ergreift, um die erlesene Lieblichkeit seiner südlichen Landschaft zu bewahren, so wird sie bald niemanden mehr anlocken als den Naturforscher, der sich dafür interessiert, das zerstörte Land langsam wieder zur Produktivität zurückzuführen.

 

   Das neue Atlantis - Zusammenfassung   

 

Nicht alle lateinamerikanischen Länder sind aus dem ökologischen Gleichgewicht geraten, und in manchen verspricht die Veränderung der landwirtschaft­lichen Methoden eine günstige Prognose. Ostbolivien besitzt noch reichen, unerschlossenen Boden. Auch in Paraguay findet man noch etwas vom feinsten unbebauten Boden der Welt. Die dominikanische Republik hat noch Raum für eine größere Bevölkerung, hauptsächlich weil sie sich vor den haitischen Horden geschützt hat. 

Das weite Brasilien, das seine Hilfsquellen wissenschaftlich bewirtschaftet, könnte mehrere Millionen Menschen aufnehmen — freilich ist das nur ein kleiner Bruchteil der riesigen Zahl, welche die Fürsprecher der Einwanderung vorschlagen; für Brasilien ist die Notwendigkeit, Millionen seiner eigenen Bürger wieder anzusiedeln und die Hänge zu stabilisieren, die sie zerstören, weit wichtiger als die Einwanderungsfrage. 

Weiterhin bleibt immer noch Argentinien, mit dem tiefen, reichen Boden seiner Pampas, der unempfindlicher gegen schlechte Behandlung ist als jede andere Bodenart der Welt. Alle übrigen Völker können nur mit Neid auf diese üppigen natürlichen Bedingungen blicken.

Das Dilemma Lateinamerikas ist ökologisch unentwirrbar.

Infolge seines Klimas haben sich viele Millionen Menschen in einer Höhenlage zwischen 2000 und 8000 Fuß konzentriert, um den Krankheiten und den agrikulturellen Begrenzungen der Niederungen zu entgehen. Aus diesem Grunde leben die meisten von ihnen auf Berghängen. Das Resultat hiervon ist eine so dynamische und weitgreifende Zerstörung des Bodens, wie man sie höchstens noch in China findet. Millionen von Ackern sind schon erodiert, und die Erosionsrate wächst von Jahr zu Jahr unter den zunehmend zerstörerischen Agrikulturmethoden.

Das Hauptübel in der Bodenbewirtschaftung Lateinamerikas ist das Vorhandensein von etwa zwanzig bis vierzig Millionen ökologischer DPs. Sie leben auf einem Boden, sie bebauen einen Boden, der meistens in Bodenklasse V-VIII liegt, und es ist eine Existenzfrage für Lateinamerika, sie von den Hängen herunterzuholen, wenn sie nicht die Lebensmöglichkeiten ihres Landes vernichten sollen. Die Rücksiedlung wird schwierig und kostspielig sein. Aber Lateinamerika hat keine Wahl. Es muß seine DPs in Bewegung setzen — oder selbst auf die elendste Daseinsebene kommen.

Ein Indianer aus Guatemala — er war ein gebildeter Mann — hat diese Probleme in ein paar kurzen Worten treffend zusammengefaßt. Ich hatte ihm zum erstenmal die Bedeutung der Furchen gezeigt, die sich durch die Weizen- und Maisfelder zogen, und wies nun auf die schokoladenbraunen Wasser des Flusses, der unter uns vorbeirauschte. Er sah ihn lange an — wir standen zusammen im Regen; dann sagte er: "Ach, mein Land ist ein neues Atlantis. Es verschwindet im Ozean."16

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 William Vogt   Road to Survival   Die Erde rächt sich   1948

   www.detopia.de