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11. Der Löwe und die Eidechse  

 

 

 

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Dieser kurze Überblick über fünf Erdteile führt uns — so verschieden und kompliziert sie sind — zu einem einzigen ganz einfachen und ermutigenden Schluß: Der Mensch ist durch langandauernde und unterschiedslose Verletzung gewisser Naturgesetze in eine unhaltbare Lage geraten. Um das wieder auszugleichen, braucht er nur seine Haltung in Einklang mit den natürlichen Beschränkungen und Grenzen zu bringen.

Die meisten dieser Grenzen sind bis zu einem gewissen Maße verständlich. In der ungeheuren Vielfälligkeit der Erde gibt es fast nichts, das, einmal nieder­gerissen, nicht wieder aufgebaut werden könnte. 

Zwar wird die Landschaft des Hwang Ho nicht mehr so aussehen wie ehedem, und wird wahrschein­lich auch keine so günstige Umwelt mehr für den Menschen bilden; aber es kann etwas Annäherndes erreicht werden. Das Lied des Eskimobrachvogels werden wir nie mehr hören — und mit diesem verklungenen Lied ist ein kleiner Mozart der Prärie verschwunden; nie wieder werden wir so reich sein wie vor seinem Aussterben. 

Aber der meiste Reichtum, der uns noch geblieben ist, kann wieder ungeheuer vermehrt werden — genügend um das Fortbestehen des Menschen zu sichern. Unser Wissen reicht fast aus für diesen Zweck — es reicht wenigstens so weit, daß wir uns zutrauen dürfen, die Lücken unseres Wissens noch auszufüllen.

Ich will die Bedeutung dieses Problems gewiß nicht übertreiben. Die Bodenkonservierung kann, ebensowenig wie die Bevölkerungs­beschränkung, unsere Welt retten. Auch ökonomische, politische, erzieherische und andere Maßnahmen sind dazu unentbehrlich. Wenn man aber Geburtenkontrolle und Boden­konservierung nicht mit einschließt, so müssen alle anderen Mittel fehlschlagen. Eine Weltorganisation, die eine Lösung für die politischen und ökonomischen Probleme sucht und dabei das ökologische nicht beachtet, ist hilflos wie ein Vogel mit einem Flügel. Im Gegenteil, sie brächte das Geschlecht der Menschen nur noch tiefer in den Staub.

 

   Die Uhr läuft ab  

Die furchtbarste Gefahr ist, daß wir uns nicht klarmachen, wie knapp wir an dem unersetzlichsten aller Hilfsmittel sind — wie knapp an Zeit! Wenn wir unser Forschen nach einer Lösung bis zum nächsten Jahr, bis zum nächsten Jahrzehnt hinauszögern, dürfte unser Schicksal wohl besiegelt sein.

"...Der Löwe und die Echse halten Hof,
wo einst Jamschit aus goldnen Bechern trank..."

So ist es vielen Völkern, vielen Kulturen ergangen. Es besteht kein Grund, daß es uns nicht auch so ergehen sollte. Nie zuvor in der Geschichte balancieren so viele hundert Millionen Menschen am Rande des Abgrunds. Die ökologische Gesundheit der Welt erfordert vor allem zwei Dinge: 

1. Die Hilfsmittel, die zu erneuern sind, müssen benutzt werden, um den größtmöglichen Reichtum auf einer gleichbleibenden Ertragsbasis zu produzieren. Wir müssen die Quellen weise nutzen, um einen höchstmöglichen Lebensstandard zu schaffen; wir dürfen sie nicht erschöpfen, denn es gibt keinen Ersatz für sie. 

2. Wir müssen unsere Forderungen den vorhandenen Vorräten anpassen, entweder indem wir pro Kopf niedrigere Ansprüche stellen (das heißt, unsern Lebensstandard senken) oder indem wir weniger Menschen zu ernähren haben. Nachdem aber eine drastische Herabsetzung unseres Standards für unsere Kultur untragbar ist, gibt es keine Möglichkeit, der Herabsetzung der Bevölkerungsmenge zu entgehen.

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    Vor der Behandlung die Diagnose   

 

Der erste Schritt zur Lösung unserer Probleme ist eine klare Aufstellung:

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Mit der über diese Fragen zugänglichen Information kann man natürlich nur zu allgemeinen Schlüssen kommen; um sie wirklich zu erschöpfen, ist fortgesetzte Forschungsarbeit erforderlich — eine Art ökologischer Buchführung.

Durch die Erkenntnis der nationalen Ertragsfähigkeiten können wir endlich zu einem Begriff der globalen Kapazität kommen — können wir wissen, wieviel aus ihren Überschüssen (natürlich auf der Basis gleichbleibender Ertragsfähigkeit) die Vereinigten Staaten, Kanada, Argentinien und Australien an die übervölkerten Länder Britannien, Deutschland, Belgien, Japan, Indien und China liefern können. Man kann die Notwendigkeit, aus den Improvisorien von einem Jahr zum andern herauszukommen, gar nicht genug betonen; was helfen die Gebete um gutes Wetter bei einer immer weiterlaufenden Zerstörung des Kapitals der Hilfsquellen, die die Welt besitzt! 

Wir haben bereits einen annähernden Begriff davon, was jedes Land braucht, und was es in Zukunft brauchen wird, bis die Bevölkerungszahl kontrolliert und verringert ist. Wir müssen auch wissen, wie viele dieser Nöte gestillt werden können. Alle Nationen können vernünftigerweise verlangen, daß wir unsere überschüssigen Produkte mit ihnen teilen; aber man darf von keiner Nation verlangen, daß sie ihr Hilfsquellenkapital — ihre Substanz — angreift, um anderswo die Überbevölkerung satt zu machen.

Hier in den Vereinigten Staaten müssen wir (bei klarer Definierung des Problems) den ökologischen Imperativ erkennen, müssen die Tatsache zugeben, daß unsere umgebungsmäßigen Widerstände rapid und andauernd steigen — durch übermäßige Holzgewinnung, Waldabbrennen, Überweidung, schlechte Landwirtschaftsmethoden, Raubbauernten, Einbruch in die Bodenstruktur, Senkung der Wasserspiegel, Ausrottung der Wildbestände usw. Solange wir nicht klar sehen, wie diese umgebungsmäßigen Widerstände zunehmen, werden wir wahrscheinlich nichts tun, um sie wieder zu kontrollieren.

Meiner Erfahrung nach steht ein Konservierungsprogramm wie ein Schemel auf drei Beinen: Forschung, Erziehung und Bodenbehandlung. Diese drei müssen gleichmäßig wirksam sein, wenn die Struktur nicht zusammenbrechen soll.

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   Es geht nicht ohne Wissenschaft!   

 

Ohne Forschung wissen wir nicht, was wir tun. Ohne Forschung würden wir Millionen vergeuden für schlecht geplante Forstwirtschaft und Terrassierung zur Erhaltung des Bodens, chemikalische Düngungsmittel, für die Bekämpfung von Insekten und anderen Tieren, die uns über den Kopf wachsen können, oder für Versuche — wie wir sie in der Vergangenheit bereits anstellten — fremde Arten einzuführen, die bei uns nicht fortbestehen können. Wir würden das Experiment machen, ein Boden­bewirt­schaftungs­system, das sich in einer Gegend bewährt hat, auf eine andere zu übertragen, wo es fehlschlagen muß. Wir würden unvernünftige Einwanderung fördern. Wir wären nicht klug genug, von unserm Boden den besten Gebrauch zu machen — beispielsweise Boden von Klasse VIII für Wasserscheiden und freie Wildbahn zu reservieren. Durch unsere Unwissenheit würden wir die ungeheuren Reichtümer übersehen, die wahrscheinlich noch im tropischen Wald eingeschlossen liegen. 

Kooperative Forschung ist besonders wichtig. Kostarika kann ganz offensichtlich mit seinem jährlichen Nationalbudget von elf Millionen Dollar keine landwirtschaftlichen Versuchsstationen unterhalten, geschweige denn Laboratorien für Holzprodukte, einen Bodenkonservierungsdienst und die dazu gehörigen Forschungsstationen, Sachverständige für das Leben in der Wildbahn usw. Die Länder und Staaten sollten ihre Erfahrungen in einen Topf werfen. 

Gemeinsame Forschungen und Versuche müßten beispielsweise gegen die Heuschreckenplagen gemacht werden, die alljährlich den Farmern von Dakota bis Argentinien viele Dollarmillionen kosten; in Gebieten, die sich klimatisch und kulturell ähnlich sind, liegt große Wahrscheinlichkeit vor, daß es ähnliche Faktoren sind, welche die Zahl dieser Insekten beeinflussen. 

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Vergleichende Forschungen über die Biologie der Nagetierplagen wären empfehlenswert. Die kürzlich begonnenen Studien über die Zucht verbesserter Baumarten für die nördliche Hemisphäre würden im Hinblick auf die riesigen Ausdehnungen des nördlichen Klimaxwaldes den Sowjetrepubliken, Skandinavien, Deutschland, Britannien, Kanada und den Vereinigten Staaten einen beträchtlichen Reichtum versprechen. Übervölkerte Gebiete wie Haiti und El Salvador, die fraglos wichtige Pflanzengemeinschaften ausgerottet haben, können keine ausreichenden primitiven Gebiete, die zu Forschungszwecken unerläßlich sind, zur Verfügung stellen. Die Nachbarstaaten dagegen, Kostarika und die Republik Dominik mit ihrer geringeren Bevölkerung können unbebautes Land hergeben, und es wäre zum Vorteil der ganzen Welt, wenn diese Studien international betrieben würden. Eine ganze Anzahl solcher Stationen — zum Beispiel die Barro Colorado-Insel in der Kanalzone und die Nationalparks in Nord- und Südamerika und Afrika — sind bereits für Studienzwecke eingerichtet.

Für die Wissenschaftler vieler Nationen sind die Hauptströmungen des Gedankens (sogar ihrer eigenen Jünger) durch die Schranken der Sprache und der Armut versperrt. Eine der denkbar nützlichsten und praktischsten Einrichtungen wäre die Gründung eines internationalen Rechenschaftshauses und Übersetzungszentrums, das die Resultate der Bodennutzungsforschung sichtet und zusammenstellt und sie in Englisch, Spanisch, Deutsch, Französisch und einigen asiatischen Sprachen zugänglich macht. Journale wie Biological Abstracts, Chemical Abstracts und Experiment Station Record (kürzlich im Namen der Ökonomie unterdrückt) sind für die Wissenschaftler, die sie in die Hand bekommen, buchstäblich unschätzbare Werkzeuge. Die Entwicklung der Mikro-Filmreproduktion in den letzten zehn Jahren hat die Verbreitung wissenschaftlicher Publikationen zu niedrigen Kosten tatsächlich zu einer einfachen Sache gemacht.

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Es ist von Wichtigkeit, daß ein wissenschaftlicher Beratungsdienst sowohl den internationalen Organisationen wie den nationalen Körperschaften der Regierungen zugänglich gemacht wird. Sie sind notwendig, um die Arbeit der wissenschaftlichen Bürokraten zu begutachten. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel wären zweifellos wissenschaftliche und andere sachverständige Gesellschaften bereit, mit dem Kongreß auf der Basis zeitweiliger Komitees mitzuarbeiten, die alle drei bis vier Jahre wechseln könnten. Es ist von Wichtigkeit, daß in solchen Komitees auch Männer unter Vierzig sitzen; die Berichte der Minderheiten sollten ermutigt werden. 

Ein großer Teil der Verantwortung solcher wissenschaftlichen Berater bestünde in der Begutachtung der Publikationen und praktischen Versuche ihrer Kollegen von der Regierung, wozu die kritische Besprechung in ausländischen und einheimischen Zeitschriften gehört. Solche Begutachtung, frei von politischer Kontrolle und dem Einfluß behördlicher Interessen, sollte ein offenes Wort sprechen dürfen zu so rückständigen und unzulänglichen Organisationen wie den US-Armeeingenieuren und dem Reclamation Service.1 Verschiedene wissenschaftliche Veröffentlichungen der Regierungsbüros waren von äußerst niedriger Qualität — tatsächlich so minderwertig, daß sie in wissenschaftlichen Zeitschriften nicht einmal erwähnt wurden. Zum Glück stellen Arbeiten dieser Art nur einen ziemlich geringen Prozentsatz der Gesamtausbeute dar.

Leider kann man dies nicht in bezug auf die sogenannten wissenschaftlichen Arbeiten behaupten, die in einigen der armen Länder geleistet werden. Dort sind viele Sachbearbeiter schlecht ausgebildet; sie leiden ernstlich unter dem Mangel an Kontakt mit ihren wissenschaftlichen Kollegen, und sie werden meistens, wie ich das schon ausführte, jämmerlich schlecht bezahlt. Eine der Hauptfunktionen jeder Konservierungsorganisation (von der lokalen Audubongesellschaft bis zu den Vereinten Nationen) sollte die Aufgabe sein, jeden Arbeitgeber zu der Erkenntnis zu erziehen, daß es keine billige Geistesarbeit gibt. 

Ein schlecht ausgebildeter Wissenschaftler von mittlerer Intelligenz wird nicht nur die Mittel vergeuden, mit denen er zu arbeiten hat, und dabei unersetzliche Zeit verlieren, sondern er wird wahrscheinlich auch zu gefährlich irreführenden Schlüssen kommen. 

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Um mit den komplizierten und kritischen Problemen fertig zu werden, denen die Welt sich heute gegenüber sieht, brauchen wir die beste Intelligenz, die wir finden können. Niemand kann mehr beitragen zu unserm Versuch, uns vor dem Untergang zu retten, als der Wissenschaftler. Nur wenige Wissenschaftler fragen viel nach Reichtum, aber sie verlangen eine angemessene Lebenssicherheit, erzieherische Möglichkeiten für ihre Kinder usw. Wenn man Menschen von besonderen Fähigkeiten für die wissenschaftliche Laufbahn gewinnen will, müssen sie angemessen bezahlt werden. Wenn wir Physiker, Biologen und Chemiker schlechter bezahlen als Autobusschaffner und Lastwagenschofföre — und das geschieht oft —, so haben wir keine Veranlassung, hochmütig auf Lateinamerika herabzublicken, weil die meisten seiner Länder ihre Geistesarbeiter hungern lassen.

In den Vereinigten Staaten müßte ein "Nationaler Wissenschaftsfond", sobald er gegründet ist, durch Universitäten, Landwirtschaftsschulen, Regierungsinstitute, Museen usw. der Landnutzungsforschung wirksame Hilfe angedeihen lassen.

Es ist unbedingt erforderlich, daß die Forschung von den Naturwissenschaften auch auf die Sozialwissenschaften ausgedehnt wird; sie sind untrennbar, wenn die Konservierung Erfolg haben soll. Es gibt fraglos gefährliche Klippen mitten auf unserem Wege — die Sozialwissenschaften sind der Radar, durch den wir verhängnisvolle Zusammenstöße vermeiden können. Nur durch anthropologische, psychologische, allgemein semantische und viele andere Forschungen können wir lernen, der Bevölkerung der Welt die ökologische Gesundheit so einleuchtend wichtig zu machen, daß sie sie nicht nur akzeptiert, sondern fordert. Der US.-Bodenkonservierungsdienst hat mit bezeichnendem Weitblick bereits äußerst bedeutende und vielversprechende Arbeit auf diesem Gebiet geleistet. Es ist zu erwarten, daß seine Befunde die Anwendung gesunder Methoden zur Landbewirtschaftung erheblich beschleunigen werden.

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Ökonomische Forschungsarbeiten sind unerläßlich, wenn man die Bodennutzungsmethoden den verschiedenen sozialen Gruppen in verschiedenen Totalumgebungen anpassen will, deren Ertragsfähigkeit immer begrenzt ist. Diese Forschungen müssen ökologisch ausgerichtet sein, da der nordamerikanische Maßstab nicht für die Kurden angewandt werden kann, und El Salvador nicht mit einem argentinischen Lebensstandard rechnen darf. Diese Forschungen dürfen mit einem Wort nicht aristotelisch sein! Soweit das möglich ist, müssen sie den ganzen Menschen mit der gesamten Umwelt verbinden, die Eigenart der Völker und Lebensumstände erkennen und von der Tatsache ausgehen, daß die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, zwischen der einen und der anderen Umwelt ständigem Wechsel unterliegen. Gesunde, angemessene Forschung ergibt ungeheure Ersparnisse an Zeit und Substanz. Jedes Vorgehen ohne Forschungsarbeit ist fast mit Bestimmtheit eine Verschwendung und kann leicht zur Katastrophe führen. 

 

   Klärt die Völker auf !   

 

Ebenso wichtig und notwendig wie die Forschung ist die Erziehung. Der Mangel an ausgebildeten und geschulten Männern zur Bewirtschaftung der Bodenhilfsmittel vereitelt zur Zeit den Erfolg. Die Vereinigten Staaten besitzen viele erstklassig geschulte Techniker, die alles andere als gebildet sind. Sie können auf ihrem eigenen beschränkten Feld arbeiten, und gut arbeiten, aber da sie unwissend sind in bezug auf Weltgeschichte, Literatur (als Schlüssel zur menschlichen Haltung), Volkswirtschaft, Geographie, Soziologie, Mathematik, Sprachen usw. sind sie absolut außerstande, ihr Spezialgebiet mit der Totalumwelt in Zusammenhang zu bringen. 

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Dr. Seras berichtet, daß 

"einer der be amteten Ingenieure einer großen amerikanischen Korporation, der vor dem Alumnenausschuß einer ausgezeichneten technischen Schule sprach, geradeheraus erklärte, seiner Erfahrung nach hätte er lieber Ingenieure, die in der Atmosphäre freier Geisteswissenschaft eines kleinen Colleges (er nannte den Namen) erzogen worden seien, als die Mordskerle von Fachleuten dieser brillanten technischen Schule. Er führte weiter aus, daß Menschen mit dem Hintergrund freier geistiger Bildung erfinderischer, beweglicher und phantasievoller an die Dinge herangingen, was ihren Mangel an spezialisierten technischen Kursen mehr als wettmachte".2

Sir Richard Livingstone definiert einen technischen Fachmann als einen Menschen, "der alles in seinem Berufe versteht, außer dem endlichen Zweck und Platz dieses Berufes in der Ordnung des Universums." Sobald ein <Fachmann> einer verwandelten Welt gegenübersteht oder in einer fremden Umwelt arbeiten muß, ist er oft verhängnisvoll unzulänglich.

Um mit dem Hilfsquellenproblem auf einer Weltbasis fertig zu werden, brauchen wir viele Zehntausende erzogener, gebildeter Männer und Frauen. Wohl gibt es Intelligenz in Überfülle, aber man muß sie einsetzen. Wir müssen unsere eigene Erziehung erweitern und verbessern, müssen Leute aus anderen Ländern erziehen, und müssen sie dann heimschicken, um zu arbeiten — theoretisch als Lehrer und praktisch auf ihrem eigenen Boden. Internationale, regionale Erziehung sollte einsetzen! Alles sollte mitmachen, von den Balkanländern bis zu den tropischen Nationen. Das "Interamerikanische Institut" für Agrikulturwissenschaft in Turrialba, Costarika, ist ein Schritt in der notwendigen Richtung. Es hat den Vorteil, lateinamerikanische Studenten in einer tropischen Umwelt auszubilden, wo das Sprachproblem viel weniger schwierig ist, als wenn sie in den Vereinigten Staaten oder Europa studieren müßten.

Ein großer Teil der erforderlichen Erziehung könnte auf praktischer Basis stattfinden, wie es die Landwirtschaftsschule der United Fruit Company in Honduras so vortrefflich durchführt. Die Studenten brauchen weniger Vorbereitung dazu, und wenn möglich, sollen sie in ihrem eigenen Lande lernen, oder mindestens in einer Umwelt, mit der sie absolut vertraut sind. 

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Robert Pendieton hat die Ausbildung eines jungen Menschen aus dem Orient in einer amerikanischen Landwirtschaftsschule damit verglichen, daß man einen Amerikaner nach Nordschottland schickt, um dort die Orangenzucht Südkaliforniens zu studieren.3. Auch hier kann man wieder nicht genug den nichtaristotelischen Ausgangspunkt betonen, damit der Gedanke einer einmaligen, dynamischen Umgebungswelt als Ganzes feste Form annimmt.

Die Menschen haben den Fehler gemacht, die Unentbehrlichkeit wissenschaftlicher Behandlung des Bodens nicht anzuerkennen — und haben dadurch in vielen Teilen der Welt die wirksame Konservierung von vornherein unmöglich gemacht. Wenn ein Mensch krank ist, geht er gewöhnlich zuerst zu einem vorzüglichen praktischen Arzt, der ihn dann wahrscheinlich zu einem Orthopäden, Psychiater, Augen-, Nasen- und Ohren- oder Kreislaufspezialisten usw. schickt. 

Ein krankes Flußtal ist unendlich viel komplizierter als ein kranker Mensch — sei es auch nur deshalb, weil der Mensch darin eine der wichtigsten Rollen spielt; Diagnose und Behandlung der Krankheit werden in vielen Fällen die Geschicklichkeit eines Spezialisten erfordern — eines Klimatologen, Entomologen, Hydrologen, Botanikers, Zoologen, Soziologen, Agronomen, Bodenspezialisten, Forstmannes, Weideexperten, Ökonomen usw. 

In vielen Teilen der Welt untersteht das kranke Flußtal aber einfach der gröblich falschen Verwaltung eines Juristen. In den Vereinigten Staaten übergeben wir es wahrscheinlich einem Armeeingenieur. Ist es dann ein Wunder, daß auf allen Kontinenten die Hochwasserquoten beständig steigen ?

Aber es genügt nicht, nur die Konservierungsarbeiter zu erziehen. Die führenden Männer aller Länder müssen den ökologischen Imperativ verstehen lernen, und in den Demokratien müßte dieses Verständnis sich auf das ganze Volk erstrecken. Vor vielen Jahren schrieb Thomas Henry Huxley:

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"Gesetzt den Fall, es wäre absolut sicher, daß Leben und Glück eines jeden von uns eines Tages davon abhinge, ob er eine Partie Schach gewinnt oder verliert: Meint ihr nicht auch, daß wir es dann alle für unsere erste Pflicht halten würden, wenigstens die Namen und Züge der einzelnen Figuren zu lernen? Einen Begriff von einem Gambit zu bekommen, ein scharfes Auge für alle Möglichkeiten, Schach zu bieten oder aus dem Schach herauszukommen? Meint ihr nicht, wir würden alle mit Mißbilligung, ja mit zorniger Verachtung auf den Vater blicken, der seinem Sohn, oder auf den Staat, der seinen Bürgern aufzuwachsen erlaubt, ohne daß er einen Bauern von einem Läufer unterscheiden kann?

Dennoch ist es eine sehr einfache und elementare Wahrheit, daß Leben, Wohlstand und Glück jedes einzelnen von uns, und mehr oder weniger aller Menschen, die mit ihm verbunden sind, davon abhängt, ob wir die Regeln eines Spiels kennen, das unendlich komplizierter und schwieriger ist als das Schachspiel. Es ist ein Spiel, das seit vielen Jahrhunderten gespielt wird, und jeder Mann und jede Frau sind einer der beiden Spieler in ihrem eigenen Spiel. Das Schachbrett ist die Welt, die Figuren sind die Naturerscheinungen des Universums, die Spielregeln sind die <Naturgesetze>, wie wir sie nennen.

Unser Gegenspieler ist uns verborgen. Wir wissen, daß sein Spiel immer fair ist, immer gerecht, immer langmütig. Aber wir haben auch auf unsere Kosten gelernt, daß er niemals einen falschen Schachzug übersieht, und daß er niemals auch nur die geringste Nachsicht mit Unwissenheit hat. Der Mensch, der gut spielt, erringt den höchsten Preis — der Gegenspieler zahlt mit der überströmenden Großmut, mit der der Starke die Kraft anerkennt. Und wer schlecht spielt, wird schachmatt — langsam, aber ohne Erbarmen." 

 

Eine nichttechnische Erziehung zur Erhaltung muß zwei Phasen haben, eine auf kurze, eine auf lange Sicht. Die erste ist dazu bestimmt, die Zerstörung zu vermindern und die Wiederherstellung zu beginnen, um damit einer bereits ausgesprochenen Seuche Einhalt zu gebieten. Sie muß lehren, die Waldbrände zu kontrollieren, Konturpflügung vorzunehmen, die Wildbestände zu schützen usw. 

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Um diese Ideen so schnell wie möglich populär zu machen, müssen alle verfügbaren Mittel angewendet werden: Plakate, Filme und Radio, Zeitungen, Flugschriften usw. Reklame und Publikationsverfahren, die für amerikanische Zahnpaste einen Gürtel um den Globus gezogen haben, sollten sich in den Dienst gesunder, vernünftiger Landnutzung und ökologischer Bewußtheit stellen; anstatt den "amerikanischen Lebensstandard" als Idealbild hinzustellen, sollten sie einen vernünftigen, nationalen Standard fördern. 

Soweit das möglich ist, sollten wichtige Verbände — Labor Unions, Kirchen, militärische Formationen, Gefängnisse, Militärkasinos, Konservierungs­organisationen, Eltern- und Lehrerverbände usw. Zielscheiben für das erzieherische Material sein. Institute wie das Audubon Nature Camp, wo die Lehrer nicht nur lernen, mit der Erde zu leben, sondern auch, es andere zu lehren, sollten verhundertfacht, ja vertausendfacht werden. Material für Jugendliche sollte an alle Schulen ausgegeben werden, an Jugendklubs, Pfadfinder usw.

Wenn die demokratische Weltanschauung wirklich eine Berechtigung auf lange Sicht hat, so muß sie beweisen, daß sie bleibenden Wert besitzt. Ich bin überzeugt, daß sie es kann. Besser als jede andere existierende Regierungsform kann sie allen Menschen begreiflich machen, daß ihr Leben und ihre Kultur zutiefst durch ihre Umwelt geformt wird. Die zusammengedrängten Städte und die abgelegenen Gehöfte, der Gartenklub, die Frauenverbände, der Boden­konservierungsbezirk — sie sind alle unvermeidlich durch den Aufprall der Umwelt beeinflußt. 

Wenn sie diese Beziehung anerkennen, wenn sie ein Programm entwickeln, das schneller zu einer günstigeren Beziehung führt, so kann die Demokratie jenen dauernden Wert gewinnen, der ihr sicherlich in den letzten hundertfünfzig Jahren fast immer gefehlt hat. Wir glitten wie auf einer Rutschbahn die Straße zum nationalen Selbstmord hinunter, indem wir die Umwelt zerstörten, die allein unser Fortbestehen sichert. Eine Umkehr ist nur in demokratischen Begriffen möglich. Und hier dürfte wohl die Demokratie die fruchtbarste Gelegenheit haben, die sich ihr jemals geboten hat.

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Die Erziehungsbestrebungen auf weite Sicht müßten dazu dienen, den Menschen eine vernünftige ökologische Orientierung zu geben. Sie sollten durch Lehrerseminare arbeiten, durch Colleges und Universitäten, und nach Möglichkeit durch alle Grund- und Oberschulen. Es müßten Kurse abgehalten werden in menschlicher Ökologie, einschließlich ökologischer Betrachtung der Weltgeschichte, der Ökonomie, Agrikultur, Literatur, Technik, Medizin, der internationalen Politik und der Künste, Es ist wichtiger, daß die amerikanischen Kinder lernen, was der unkontrollierte Regentropfen ihrem Lande angetan hat, als was auf einem Schlachtfeld der Freiheitskriege geschehen ist oder wie man in einem elisabethanischen Hause gelebt hat. Übrigens haben Kinder viel mehr Interesse dafür, die Umwelt verstehen zu lernen, als für die meisten anderen Dinge. Und Erwachsene — das habe ich bei Vorlesungen von Boston bis Osborno erfahren — wissen fast alle den Zauber und die Wichtigkeit der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt zu würdigen.

Wenn die Ärzte ihre Patienten am Leben erhalten wollen, müssen sie sich der Wirkung ihrer Behandlung bewußt sein. Wenn die Ingenieure Straßen bauen wollen, müssen sie lernen, an welchen Platz der Landschaft und im menschlichen Kultursystem diese Straßen gehören. Man müßte die Historiker und Literaten lehren, den Einfluß ihrer Arbeit auf Felder, auf Landnutzung und Landmißhandlung zu erkennen; sie müßten sich der Unwahrscheinlichkeit bewußt werden, daß in einem verarmten Land wie im modernen Griechenland ein perikleisches Zeitalter erblühen kann.

Es ist eine seltsame Erscheinung — aber sie ist, glaube ich, vorhanden — daß es in der ganzen Geschichte fast keine großen Landschaftsmaler gegeben hat. Ich meine damit: sie alle haben nicht das für die Landschaft getan, was Männer wie Rembrandt für das menschliche Porträt getan hat. Sie haben uns kein Bild geschenkt, das uns den wahren Charakter der Landschaft wiedergeben würde — ob der Boden gut oder schlecht, erschöpft oder üppig produktiv ist; sie verhalfen uns nicht zum Verständnis der Kräfte, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist.

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Ich möchte einmal ein Bild einer Farm sehen, das auch nur annähernd so aufschlußreich ist wie Franz Hals' <Lachender Kavalier>. Ebenso waren die Dichter unbegreiflich blind für die Erde, für die Beziehung des Menschen zur Erde. 

Hier sind Drama und Schönheit von tieferer Tragweite vorhanden, als Miltons tiefste Verse, hier ist viel mehr erschütternde Tragödie zu finden als Sophokles sie ersinnen konnte. 

Soll der Mensch sich seiner antäischen Abhängigkeit von der Erde bewußt werden, so brauchen wir die Hilfe der Künste, um diese Bewußtheit ins Leben zu rufen und lebendig zu erhalten. 

Eins der meistversprechenden erzieherischen Hilfsmittel, mit dem man aber bis heute noch wenig experimentiert hat, sind die nationalen und staatlichen Parks. Sie sollten ausgenutzt werden — und wo keine vorhanden sind, sollten sie geschaffen werden —, um die Würdigung der Natur zu pflegen und das Verständnis für die natürlichen Prozesse zu erweitern. Hier kann man sie in ihrer faszinierenden Vielfalt und ihrem ganzen Zauber zeigen — die großen Pflanzenhöchststufen, ihre Verbindungen, ihre Rivalität, die Bewegungen des hydrologischen Kreislaufs, den Aufbau des Bodens, von dem wir leben, die Umwelt und die Wechselwirkungen des Tierlebens. 

Jedes Jahr besuchen allein zwanzig bis fünfundzwanzig Millionen Menschen unsere Nationalparks. Hätte der Nationalparkfond die nötigen Mittel, so könnte jeder einzelne dieser vielen Millionen Menschen etwas Wichtiges über die Erde lernen, die ihn erhält — und gleichzeitig entdecken, wieviel Freude ihm das bereiten würde. Was die Parkverwaltung mit ihren kläglich beschränkten Mitteln getan hat, ist bewundernswert; in bezug auf die Notwendigkeit einer solchen Erziehung, und wenn man bedenkt, was wirklich getan werden könnte, sind die Resultate rührend.

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   Anwendung auf die Praxis   

 

Erziehung und Forschung sind müßig, wenn sie nicht ein Programm der Tat zeitigen, das wie Frühlingsregen bis in die tiefsten Graswurzeln sinkt. Überall in der Welt muß der hydrologische Kreislauf kontrolliert werden — durch Schutz der Wälder und Wiederaufforstung, durch Kontrolle der Weiden und durch verbesserte Anbaumethoden. 

Letztere müssen nicht nur, wie bisher, die herkömmliche Fruchtfolge, Brache, Düngung, Konturpflügung, Streifenanbau, Terrassierung usw. einschließen, sondern sollen eine ganz neue Inangriffnahme der Bewirtschaftung anbaufähigen Bodens bedeuten. Wenn der Reihenanbau von Hackfrüchten wie Mais und Sojabohnen die Erosion vertausendfacht, so muß es jedem einleuchten, daß das Behacken einer Art der Behandlung weichen muß, die genug Pflanzendecke zwischen den einzelnen Furchen übrig läßt, um den Boden auf seinem Platz zu halten. Man hat dieses Problem nach der Veröffentlichung von Faulkners "Die Torheit des Ackersmannes" zur Genüge diskutiert, aber ein Blick auf die Felder von Kanada bis Chile zeigt einem klar, daß die Wirkung verpufft ist. Die genetischen Verbesserungen der Landwirtschaft müssen auf viel weiterer Basis angewendet werden, um die Produktion pro Acker zu erhöhen; denn nur dadurch wird es möglich, Hunderte Millionen Acker ruhen zu lassen, die niemals unter den Pflug kommen dürften! Viele Millionen Menschen müssen — wir haben das schon ausgeführt — wieder von den erodierenden Hängen herunter. Man kann dieses erheblich fördern, wenn man Kleinindustrien entwickelt — und das müßte eins der Hauptziele der geplanten ökonomischen Reform sein.

Unentbehrlich ist auch die internationale Kontrolle der Hilfsquellennutzung, um die Nationen zu schützen, die technologisch unentwickelt sind. Die lateinamerikanischen Länder müßten vor der gewissenlosen Ausbeutung durch den nordamerikanischen Fisch- und Holzmann geschützt werden. Die kolonialen Länder gehörten ebenso unter eine ökologische Vormundschaft oder Treuhand, wie man Maßnahmen zum Schutze der Eingeborenen getroffen hat.

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 Internationale Körperschaften von Wissenschaftlern sollten periodisch die Bodennutzung kontrollieren und abschätzen, darauf dringen, daß nur auf der Basis gleichbleibender Erträge gewirtschaftet wird, und sollten Vertrauensmänner für die Zerstörung der Hilfsquellen verantwortlich halten. Die Vereinten Nationen und die damit verbundenen Gruppen sollten eine ökologische Kommission einsetzen, welche die Organisationslinien überschneidet, um den Einfluß aller Aktionen der UN auf die Beziehung zwischen den menschlichen Wesen und ihrer unentbehrlichen Umwelt nachzuprüfen.

Man müßte einen Feldzug über die ganze Welt beginnen, um der Verschwendung Einhalt zu gebieten, einschließlich der sogenannten "produktiven" Vergeudung. Daß eine Nation große Vorräte an Hilfsmitteln besitzt, ist durchaus keine Rechtfertigung dafür, daß sie sie für Arbeitsbeschaffung und Pseudoreichtum wegwirft. Die reicheren Länder sollten sich klar werden über die Unmoral jeder Vergeudung in einer Welt des Mangels, so klar, wie es die armen Völker sind, wo die Menschen eine weggeworfene Konservenbüchse mit einem Dutzend Eier bezahlen, die aufzuessen sie sich nicht leisten können. Ungemein wichtig ist auch die Vermeidung sanitärer Vergeudung, der Abfälle und des Sielwassers. Die Forderung nach der Wiederverwendung organischer Stoffe zur Düngung und nach der Nutzbarmachung anderer Abfälle wird alljährlich dringlicher. Würden die Sielwasser und die Industrieabfälle reklamiert, so würden gleichzeitig unsere Flüsse nicht mehr vergiftet.

Man müßte das Programm all dieser Aktionen natürlich — es ist kaum nötig, das zu betonen — innerhalb des Rahmens der Naturgesetze entwickeln. Die Behandlung des Bodens muß auf dem Berggipfel anfangen, nicht an der Flußmündung. Der oft wiederholte Vorschlag einer Welt, die mit TVA.s übersät ist, ignoriert die Schwächen der Original-TVA., und ignoriert die Tatsache, daß etwas, was in einigen Teilen Nordamerikas vernünftig und gegeben ist, unter veränderten Voraussetzungen nicht anwendbar ist. 

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Kann ein Land die hydroelektrischen Reservoire seines Kapitals nicht vor Feuer, Entwaldung, Raubbau, Erosion, Verschlammung und Gewitterüberschwemmungen schützen, so wäre der Versuch, sich an etwas so Kompliziertes wie eine TVA zu wagen, nichts anderes, als wenn spielende Kinder einen Wolkenkratzer bauen wollten. Wahrscheinlich ist nur Westeuropa, Palästina und Nordamerika technisch und sozial weit genug vorgeschritten, um die Entwicklung eines TVA zu erlauben; die übrigen Gebiete sollten einfachere Formen der Landbewirtschaftung als Ausgangspunkt wählen. Auf keinen Fall dürften Länder, deren Regierungen von Korruption und Nepotismus durchsetzt sind, ermutigt werden, sich mit einer so kostspieligen und — um das Wort zu gebrauchen — aufgepfropften Maschinerie zu befassen. Und vor allem — wir sollten sie nicht dabei finanzieren!

 

   Erotik und Fruchtbarkeit   

 

Alle erdenklichen Konservierungsmaßnahmen sind müßig, wenn nicht der übermäßigen Vermehrung des Menschen Einhalt geboten wird. Das ist sonnenklar. In fünfzig Jahren kann diese Erde drei Milliarden Menschen bestenfalls auf einem Kulistandard ernähren — wenigstens den überwiegend größten Teil dieser drei Milliarden. Ein drittel Acker kann niemals einen Menschen anständig ernähren — geschweige denn ihn kleiden, und es ermöglichen, den hydrologischen Kreislauf zu kontrollieren. Wenn die Menschenzahl anschwillt, so steigt damit — das haben wir gesehen — der Raubbau, die Mißhandlung des Bodens. Kann der Bevölkerungszuwachs nicht gehemmt werden, so müssen wir den Kampf aufgeben.

Eine primäre Notwendigkeit ist die völlig neue Auffassung der Empfängnisverhütung. 

Durch Charles Goodyears Gummiverwendung wurde eine unschätzbare Interimskontrolle geschaffen, und die Reduzierung, wenn nicht völlige Stabilisierung der Bevölkerungszunahme ist ein ungeheurer Beitrag zum Weltfrieden; wenn nicht aus anderen Gründen, so verdiente Goodyear schon deshalb einen Platz in der Ruhmeshalle.

* (d-2015:)    wikipedia  Charles_Goodyear  1800-1860, Chemiker

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Aber die alten Methoden reichen nicht mehr aus. 

In Gebieten wie Portoriko, wo 75% der Häuser nicht einmal fließendes Wasser haben, sind die landläufigen Methoden zur Empfängnisverhütung kaum wirksam. Die Hindus mit ihrem Jahreseinkommen von 19 Dollar benötigen die Geburtenkontrolle dringender als jedes andere Volk — aber die Verhütungsmittel sind für sie unerschwinglich. Es ist eine nicht zu umgehende Notwendigkeit, daß eine billigere und zuverlässige, von der Frau anzuwendende Methode gefunden wird. Hätten die Vereinigten Staaten zwei Milliarden Dollar zur Entwicklung eines solchen Mittels aufgewendet, anstatt für die Atombombe, so hätten sie mehr für unsere nationale Sicherheit getan, und zudem gleichzeitig den Lebensstandard der ganzen Welt gehoben. Und wenn es wirklich dieser Summe bedarf, um ein wirksames und in jeder Beziehung zufriedenstellendes Mittel zu finden, so wäre dies immer noch eine gesunde Kapitalanlage.

Wir müssen nochmals zu A = B : C zurückkehren. Wenn eine übermäßige Bevölkerung den umgebungsmäßigen Widerstand erhöht — und das geschieht unvermeidlich —, so fällt die Ertragsfähigkeit; und mit der Ertragsfähigkeit sinkt das Erziehungsniveau, das Gesundheitsniveau, das allgemeine kulturelle Niveau, die Möglichkeit zu sozialer Ordnung und Stabilität usw.

Eine wirksame Bevölkerungskontrolle muß mit Volkssitten rechnen, die in manchen Fällen, zum Beispiel in China, wahrscheinlich unendlich schwer zu ändern sind. Für die Völker, die von solchen Auffassungen ausgehen, birgt die Zukunft unsägliches Elend. Auch manche Religionen werden einschreiten wollen. Doch dieses Hindernis ist vielleicht nicht so unüberwindlich, wie man annahm.

Es ist nicht allgemein bekannt, nicht einmal bei den Katholiken, daß die Kirche den Prinzipien der Bevölkerungskontrolle beigepflichtet hat. In einem Buch, das mit der Imprimatur des Kardinals Hayes veröffentlicht wurde, kommt der Satz vor: 

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"Betreffs des Ziels der Ehe müssen wir unausgesetzt vor Augen haben, daß der Sinn dieser Institution nicht war, daß Kinder in jeder Familie geboren werden sollen oder gar müssen, sondern daß die Ehe lediglich dazu dienen soll, das Fortbestehen der Menschheit genügend sicher zustellen. Solange daher die Arterhaltung nicht gefährdet ist, kann man nicht darauf dringen, daß dieses oder jenes Ehepaar in den Zeiten, die der Befruchtung besonders günstig sind, Verkehr miteinander pflegt, noch daß es überhaupt die Zeugung bezwecken muß." 4)

Dasselbe Buch führt aus, daß "die übermäßige Bevölkerung von Japan jenen Teil des Ostens zu einem höchst unsicheren Gebiet gemacht hat, der wahrscheinlich der ganzen übrigen Welt gefährlich werden wird." Nachdem aber die Schwierigkeiten Japans sich auch auf die übrige Welt ausgedehnt haben und die Übervölkerung an sich zu einer Gefahr für das "Fort bestehen der Art" geworden ist, liegt geradezu ein logischer Zwang vor zur Kontrollierung der Fruchtbarkeit. Ein anderes Buch, "mit kirchlicher Genehmigung" veröffentlicht, enthält die These: "Offen gesagt: verheiratete Paare haben kein Recht, Kinder in die Welt zu setzen, die sie nicht unterhalten können, denn sie würden dadurch die menschliche Gesellschaft ernstlich schädigen."5) Es wäre gut, wenn die italienischen Zeitungen das abdrucken würden.

Vollkommene Billigung gibt die Kirche der sogenannten rhythmischen Methode der Geburtenkontrolle. Während ein Kreis sehr bedeutender medizinischer Autoritäten diese Methode unterstützt, bezweifeln viele nichtkatholische Physiker und Biologen ihre Verläßlichkeit. Immerhin besteht kein Zweifel daran, daß sie die Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit der Empfängnis verringert. In den zitierten Büchern befindet sich noch ein strenges Verbot chemischer und mechanischer Methoden der Empfängnisverhütung. Wie aber die Doktrin der Kirche auch lautet, und welche Mittel angewendet werden — die Katholiken der Vereinigten Staaten erzeugen weniger Kinder als die Katholiken in Frankreich und anderen europäischen Ländern. Dr. Latz' Buch berichtet, daß 36% aller Patientinnen der Kliniken für Geburtenkontrolle in Neuyork, Chikago, Newark und Cleveland Katholiken sind. Im katholischen Portoriko kamen Frauen, die bereits Kinder hatten, in großer Menge und ersuchten um Sterilisierung.

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Die Vereinigten Staaten müßten führend sein, allen Menschen auf der Welt die modernsten Informationen über Zeugungsverhütung verfügbar zu machen, ebenso die Dienste ihrer Gesundheits- und Erziehungsexperten beim Organisieren von Propagandafeldzügen zur Geburtenkontrolle. So weit das durchführbar ist, sollte diese Frage an gleicher, wenn nicht an bevorzugter Stelle stehen wie das übrige Gesundheitsprogramm der Weltgesund­heitsorganisation. Wo die FAO Übervölkerung findet, sollten ihre Programme zur Konservierung und Nahrungsproduktion unbedingt Programme zur Empfängnisverhütung einschließen. 

Es dürften keine Lebensmittelschiffe ausgesandt werden, um heute zehn Millionen Chinesen und Inder am Leben zu erhalten, damit in ein paar Jahren fünfzig Millionen zugrunde gehen.

 

Manche bevölkerungspolitischen "Sachverständigen" behaupten, im Laufe der Zeit würde sich die Bevölkerungsdichte ausgleichen und stabilisieren. Die klarste Antwort darauf ist: Dazu haben wir keine Zeit mehr. Die moderne Welt ist zweimal zusammengebrochen; nur außerordentliche Maßnahmen können sie davor bewahren, es ein drittes Mal zu tun.

Dieselben Sachverständigen versichern, man könne die Völker nicht dazu erziehen, selbst eine Geburtenkontrolle zu wünschen. Darauf gibt es wieder nur eine Antwort: wir haben es noch niemals wirklich versucht. Ich habe auf den Guanoinseln vor der peruanischen Küste Frauen aus den Anden beobachtet, die großenteils weder lesen noch schreiben konnten, sich aber andachtsvoll und gläubig jeden Tag zweimal die Zähne bürsteten. Viele Millionen Menschen haben es sich zur Gewohnheit gemacht, in Selbstverteidigung ihr bakterienhaltiges Wasser abzukochen. Diese Dinge sind begriffen worden — auf einem äußerst niedrigen Kulturniveau. 

Bei der großen Liebe zu Kindern und der hingebenden Sorge um ihr Wohlergehen, die bei diesen sogenannten rückständigen Menschen so stark entwickelt ist, könnte eine Familieneinschränkung im Interesse des Wohlergehens der Familie und vielleicht sogar des nationalen und allgemeinen Wohlergehens als zwingend notwendig und erstrebenswert hingestellt werden. 

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Daß die führenden Hinduintellektuellen die organisierte Geburtenkontrolle so stark befürworten, ist ein Beweis ihrer Überzeugung, daß diese Kontrolle bei ihrem Volke sehr wohl wirksam sein könnte.

Auch die einzelnen Länder sollten energische Propagandafeldzüge zu diesem Zweck unternehmen, und sich dabei aller verfügbaren Erziehungs- und Reklame­methoden bedienen. Natürlich sollte die Empfängnisverhütung freiwillig sein. Vor einigen Jahren machte Harry Mencken den nicht von der Hand zu weisenden Vorschlag einer "Sterilisierungsprämie": kleine aber ausreichende Geldbeträge sollten an jedermann — besonders an Männer — ausgezahlt werden, die sich einer einfachen Sterilisierungsoperation unterziehen wollen. Das würde weder die Erotik an sich noch die physische Befriedigung stören. Eine solche Prämie würde primär die Gestrandeten dieser Welt reizen und dadurch einen günstigen selektiven Einfluß haben.

Vom Gesichtspunkt der Gesellschaft aus wäre es bei weitem vorzuziehen, ständig mittellosen Menschen (von denen viele noch auf der physischen oder psychischen niedrigsten Grenze stehen) fünfzig oder hundert Dollar zu zahlen, als ihre zahlreichen Nachkommen zu erhalten, die durch genetische wie soziale Belastung vorbestimmt scheinen, Schwäche und Untauglichkeit immer weiter fortzupflanzen.

 

   Machen wir uns auf den Weg    

Diese Vorschläge sind keineswegs ein fertiger Plan oder ein vollständiges Programm. Um das eine oder andere auszuarbeiten habe ich weder den Raum noch die erforderlichen Kenntnisse. Man wird verschiedenartig vorgehen müssen, je nach der Verschiedenheit der Umwelt und der Zeit. Ich habe nur versucht, auf Grund meiner langen Kon-

servierungsarbeit in vielen Ländern allgemeine Richtlinien zu geben. Ich habe versucht, ganz bestimmte, wichtige und vor allem praktisch mögliche Schritte vorzuschlagen, die durchaus im Bereich der menschlichen Fähigkeiten liegen; sie sollten uns überzeugen, daß unsere Aufgabe alles andere als hoffnungslos ist! Schon wenn wir anfangen, unsere Pläne auszuführen, haben wir die ersten Schritte zur Lösung unseres Dilemmas getan.

Nun ist die Frage: Wer soll es tun? Die ideale Antwort wäre: Jedermann! Denn es sind Probleme, die mit dem ganzen menschlichen Leben zusammen­hängen; sie erfordern das Verständnis und die Beteiligung möglichst vieler Menschen, vom ärmsten Schafhirten und Kleinbauern bis zum mächtigsten Herrscher und fruchtbarsten Denker.

Aber jedes Vorgehen, das wahrhaft wirksam sein soll, muß organisiert sein. Die Vereinten Nationen und die ihnen verwandten Organisationen fänden hier nicht nur eine ungeheure einmalige Gelegenheit, sondern vielleicht ein sie alle vereinendes Prinzip, das ihnen zu Zeiten so betrüblich zu fehlen scheint. Selbstverständlich fällt die Verantwortlichkeit größtenteils auf die nationalen und staatlichen Regierungen. Aber auch Privatpersonen und private Organisationen müssen ihr Teil tun. 

Ehe nicht dem Trauerzug nach dem Abgrund Einhalt geboten und die Prozession in die umgekehrte Richtung gelenkt wird, kann es keine wirkliche Abhilfe geben.

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 William Vogt   Road to Survival   Die Erde rächt sich   1948