Michael Wüstefeld

Nackt hinter der Schutzmaske

Erinnerungen

 

1990 im Aufbau-Verlag

 

 

NVA 1984

Der Autor hat noch 100 Stück im Keller,
schrieb er an detopia-2005.
michael_wuestefeld @ yahoo.de 

 

1990   129 Seiten

 

Wikipedia.Autor *1951 in Dresden 

DNB.Buch

Bing.Buch 

Goog.Buch

 

detopia:

Aschebuch 

W.htm

 


Verlagstext

Sechsundachtzig Tage war Michael Wüstefeld Reservist der Nationalen Volks­armee. Danach schrieb er auf, was mit ihm in dieser Zeit geschah: für die Schublade, denn das Thema verstieß gegen ein Tabu. 

Nun liegt das Buch vor. Eine bestürzende Aussage über die Not eines Menschen, der einem demütigenden Reglement von Disziplinierung und Entwürdigung ausgesetzt ist. Seine Überlebens­strategie: das System der Fremd­bestimmung durchschaubar zu machen, das mündige Menschen zu Instrumenten macht. 

Die kurzen Skizzen rekapitulieren die Anstrengung der Selbst­behauptung und der Abwehr autoritärer Strukturen, tabuisierter Feindbilder, vergewaltigter Sprache.

Einbandgestaltung und Typographie: Kristina Niklaus

Mohndruck, Graphische Betriebe, Gütersloh

 dnb.wuestefeld (36)   dnb.Nummer (27)   dnb.Person 


Diese Erinnerungen wurde 1986 geschrieben, 1989 überarbeitet. Die Ähnlichkeit zwischen Realität und Geschriebenem ist beabsichtigt. 
M.W. 1990

 

Dieses Buch widme ich Max Frisch.
Sein DIENSTBÜCHLEIN war mir Anlaß, mich zu erinnern.
Dieses Buch widme ich meinem Vater, meinen Neffen und meinem Sohn.
Sie sind es, die wissen oder wissen werden, woran ich mich erinnere.
Dieses Buch widme ich meiner Mutter, meiner Frau, meinen Schwestern, meiner Tochter und allen Frauen. Sie sind es, die den Traum für die Wirklichkeit träumen können, daß diese Art von Erinnerungen nicht mehr möglich sein wird.
Dieses Buch widme ich Jochen H. Seine Friedenshoffnung und Arbeit daran sind es, die mir und meiner Erinnerung eine Orientierung gegeben haben.    M.W.


 

 

7-31

Ist es zu früh, sich zu erinnern und zu beschreiben, was zwei Jahre zurückliegt? Kann man für Erinnerungen zu jung sein? Ich glaube, daß man früh damit beginnen muß, das Gedächtnis zu wecken, es am Dunkelwerden zu hindern, ehe noch jemand den Befehl geben kann, es für immer zu löschen.

Das Hoffnungsspiel: Kommt die Karte, die mich einberufen wird, oder kommt sie nicht, spielen wir in Mecklenburg. Entfernt zwar vom Dresdner Briefkasten, sind wir doch erreichbar geblieben. Nur ein paar hundert Kilometer Abstand haben wir zwischen die Orte gelegt und etwas Zeit, die einem Gewinn gleicht.

Das mecklenburgische Warnow setzt sich aus drei Ortsteilen zusammen. Seehagen, das Unterdorf, liegt direkt am Santower See. Häuserberg, das Oberdorf, endet am Technikstützpunkt der LPG. 

Bauerndorf, der mittlere Teil des Dorfes, ist der arme Teil, wo die letzte Behausung das Backhaus ist. Ein mehlweißes Haus, wohin die Dorfbewohner früher kamen, um ihr Brot zu backen. Ein stilles Haus, wohin wir Städter heute kommen, um ein paar Sommerwochen darin zu wohnen.

Die erste Nachricht, die uns am Nachmittag unserer Ankunft über das Kofferradio im Backhaus erreicht: Franz Fühmann ist in einem Berliner Krankenhaus verstorben.

Ich denke, das Haus müsse einstürzen oder die Erde drehe seitwärts weg. Ich krieche, wie ein Hund, ins Indianerzelt der Kinder und heule. Der Schmerz räumt die Schranken der Scham beiseite. Ich verfolge bis in die Nacht die Nachrichten verschiedener Sender und höre die Meldung nicht wieder. Wieviel Zeit muß vergehen, damit vom Sterben Notiz genommen wird? Keine Flasche Wein ist in unsrem Gepäck, die die Zweifel ein wenig betäuben könnte. Nur die Rudotel finde ich, diese Traumhilfe, diesen Glättungsstoff, der nicht einmal weiß ist.

In der Erinnerung verändert sich die Wirklichkeit der Ereignisse. Es ist Arbeit, unter den Erinnerungen die Wirklichkeit wiederzufinden:

Geräusche, Gerüche, Gespräche, Gefühle, Gedanken, Gefahren, Gebote, Gebärden, Gefluche, Gebete, Gelübde, Gesänge, Gesichter, Gewehre, Gewalt, Gebrüll, Gedröhn, Gedonner, Gefallene, Gefangene, Gefängnis, Gefechte, Gefreite, Gegenwehr, Gegner, Geheimnisse, Gehetze, Gehorsam, Gelände, Gemecker, Gemeinheiten, Gehetzte, Gemetzel, Gemurre, Generale, Genehmigungen, Genitalien, Genossen, Geplänkel, Gerüchte, Geschosse, Geschütze, Geschwader, Geschwätz, Gesetze, Gespött, Gesöff, Gesocks, Gestalten, Gestank, Gesuche, Getöse, Gewässer, Gewissen.

Sturm vor der Tür des Backhauses. Ein beständiges Rauschen in Bäumen und Sträuchern. Sturm in der Brust. Ein paar unbedachte Worte am Frühstückstisch: schon verkleckert sich die Eintracht, gleich dem Weißen der Milch. Es mag infantil sein: aber manchmal wünsche ich mich in die Zeit der Märchen zurück. Hier, im Gegenwärtigen, findet sich vieles, was uns bedroht.

Das erste Sonnenbad am Strand hat uns verbrannt.

Zeitig, noch vor der Nacht, werden wir müde. Vorsichtig legen wir unsere brennenden Körper auf die kühlen Laken. Berühren wollen wir uns nicht. Das schmerzt in seiner Vieldeutigkeit.

Erschrocken bemerke ich in meiner Erinnerung, wie schnell man ein anderer werden kann, auch wenn man sich mit Kraft dagegen stemmt. Wenn man denkt, diese Veränderung gar nicht beginnen zu lassen, hat es schon angefangen.

9


Warum habe ich nach unserer Ankunft zuerst das Radio ausgepackt und angeschaltet? Wieso kam auf dem wahllos eingestellten Sender schon nach wenigen Minuten diese Nachricht in unseren Sommer? Denke ich etwa, daß, wenn ich vom Tod Fühmanns später erfahren hätte, die Tage hier unverletzbar geblieben wären? Sind sie nicht schon gebrochen vom Warten auf die Karte Ja, die Karte Nein? Alles riecht betörend nach Backhaus. Woher kommen die Fragen? Weißt du es etwa, dort drüben, im nachtschwarzen Spiegel des Fensterglases? Ach, was!

 

Ein Traum:
    Ich bin Teilnehmer eines Podiumgespräches mit Wilhelm Pieck und Franz-Josef Strauß. Beide versuchen, mir einzureden, wie wichtig die Aufrüstung ist. Pieck entschuldigt sich andauernd damit, daß sie der Gegner dazu zwingen würde, obwohl die Mehrheit der Volkskammer dagegen ist. Ich wehre mich verzweifelt, das einzusehen, bis ich weine, weil mir die Argumente fehlen. Strauß und Pieck blicken mich stumm verständnisvoll, beinahe väterlich an. Hier endet der Traum.

10


Unverändert hält sich die Meinung der Bewohner des Dorfes, daß der flache Bungalow direkt am Ufer des Santower Sees, beinahe in den Schilfgürtel hinein gebaut, ein Ferienobjekt der Staatssicherheit ist. Kommt das Gespräch auf das Gebäude, ob im Konsum oder mit der Postfrau, wird niemals vergessen, beschwörend zu erwähnen: Der Bungalow gehört der Stasi.

  

Beim Schwimmen im Santower See sehe ich zwei Angler in einem Boot. Sie sind sehr weit entfernt, so daß ich kaum Einzelheiten erkennen kann. Die Bewegungen des einen spielen mir vor, er hebe ein Gewehr zum Zielen an die Augen.
     Eine ahnungsvolle Angst durchfährt mich.

 

Wenn ich nackt im Santower See schwimme, befürchte ich mitunter, es könnte eine Bisamratte oder sonst ein räuberisches Wassergetier kommen, um mir mein Glied wegzubeißen. Diese Vorstellung spiegelt ein unangenehmes Gefühl unter meine Bauchdecke.
    Heute bin ich mit Badehose geschwommen.

Vorm Fenster läuft der Einäugige vorbei. Er schleicht wie ein Pirat ums Haus auf der Suche nach Beute; der schwarze, einäugige Kater mit dem Dreieck im Kopf.

11


Mein letzter Brief an Fühmann ist einen halben Monat alt: »Ab August muß ich mit einem Reserveeinsatz zum <Schutz des Friedens> rechnen. Dabei habe ich kein gutes Gefühl; ich fühle keine Pflicht und keine Notwendigkeit. Ich weiß, daß ich gegen meine Natur handle. Aber ich will auch diese Schwierigkeit bestehn. Das dauert gewöhnlich drei Monate, in denen ich dann in meiner Anwesenheit sehr abwesend bin.«

Drei Tage vor unserer Abfahrt aus Dresden erreicht mich Fühmanns Antwort auf einer Karte: »... ich wollte Ihnen ausführlicher schreiben, aber ...« Es ist, als wendeten sich meine eigenen Worte gegen mich: In seiner Abwesenheit wird er anwesend sein. Das Leben im Dorf Warnow bleibt unbeeinträchtigt von seinem Tod, so, als wäre er hier spurlos vorüber gegangen.

 

Ein Traum:
   Ich spüre, er ist irgendwie da, im Raum, der Vorsitzende. Er sitzt am Kopfende eines großen, unendlich wirkenden Tisches, und ist gerade mit einem Referat zu Ende gekommen. Die vielen Zuhörer verlassen einer nach dem anderen und gesichtslos den Raum. Bis ich mit ihm allein bin. Viele Fragen wachsen mir in den Kopf und Vorwürfe, die ich ihm machen möchte. Gleichzeitig bemerke ich das ungehörige Maß der Zwecklosigkeit, und wir sehen uns nur an. Dann gehe auch ich aus dem Raum, ohne ein Wort gesprochen zu
haben. Beim Hinausgehen sehe ich einen leeren Bilderrahmen an der Wand. Das dazugehörige Bild sitzt noch immer am Kopfende des Tisches. Hier endet der Traum.

12


*

 

Das Gewitter.
   Die Birke neben dem Backhaus ist hoch und viele Jahre alt. Sie ist ein Zeichen für die Annäherung aus großer Entfernung. Sie fängt den Wind, bevor er das Schilfdach trifft, und den Blitz angeblich auch. Sie ist ein ruhiger Anhalt in der Nähe der Tür. Die Gefühle gleichen dem Wetterbericht: Hoch und Tief. Während die Nachrichten von außen vom Sterben reden und von dem Spiel: die Karte Ja, die Karte Nein, denkt sich der Körper leichte Erholung im Garten oder am Strand. Zwischen den Fronten dieser Wetter wohnen Gewitter, die in einer Nacht alle mit einem Mal über uns kommen. Ringsum jagen Blitze vom Himmel, der ein blaues Licht verströmt. Donner brüllen ohne Pause. Wir sitzen bei den Kindern, die trotz des unvorstellbaren Lärms weiter schlafen. Die gepackte Reisetasche steht neben der Tür. So ein Schilfdach soll in weniger als einer Minute abbrennen. Wir wünschen uns nach Hause und sehnen uns als Kinder in den Schutz unserer Eltern zurück. Wir haben unfaßbare Angst, wie wir sie noch nie zuvor gespürt haben. Eine Scheune in Warnow wird vom Blitz getroffen und brennt. Für Minuten ist die Umgebung in tiefrotes Licht getaucht. 

13


Entsetzt sehe ich aus dem Fenster und bange um das Dach über uns. Das Senffeld vorm Haus, das gelbe, wird rot unter blauen Blitzen. Ich stehe am Fenster und kann nicht glauben, daß es nur ein Gewitter ist, und ich denke, das ist die Front. Wir werden zwischen den Fronten aufgerieben.

 

Nach der Gewitternacht, auf dem Weg zum Dorfkonsum, komme ich an der vom Blitz getroffenen Scheune vorbei. Sie ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Ein angekohlter noch schwelender Rest ist geblieben. Der Anblick und der Geruch des Verbrannten erinnern mir etwas Kindheit. Die Ruinen in Dresden und die wild begrünten Fundamente rechts und links der Prager Straße sind nicht vergessen. Einmal brannte in der Technischen Hochschule vom Gebäude der anorganischen Chemie der Dachstuhl ab. Die Geschwister, die Eltern und ich standen an den Fenstern unserer Wohnung, die nur wenige hundert Meter vom Feuer entfernt war. Tagelang lagen die holzkohleschwarzen Dachbalken auf einer Wiese. Ihr Rauch und sein beißender Geruch sind auch Erinnerung. Drei Männer schieben mit langen Schaufeln den Schutt hin und her. Ein Traktorlader der LPG füllt einen Anhänger. Wie schnell das Fundament der Scheune beräumt und Platz geschaffen wird für Neues.

Es ist, als wäre der Himmel die Hölle, aus dem das Unglück kam für Dresden und auch für die Scheune in Warnow.

14


Jedem Ding, jedem Erleben kann ein tieferer Sinn unterstellt werden. Wer aber sagt mir, worin der Sinn liegt, daß ich die Zeit eines Vierteljahres verwarten werde, daß ich jetzt schon wünsche, er möge besser heute als morgen vorbei sein, dieser gute Stoff, den man mein Leben heißt.

 

Als ich den Rasen rings um das Haus kürze, gefallen Sascha, der fleißig hilft, die Muster, die der Rasenmäher in das Gras zeichnet.
  Sascha sagt, die Wiese habe einen gestreiften Pullover an.

 

In einer Nacht weckt uns das Weinen von Katharina. Sie hat Bauchschmerzen von unreifen Stachelbeeren und Limonade.
Der Unglaube an Warnungen wiederholt sich von Generation zu Generation. Nur das eigene Erleben lehrt uns, Genuß und Gefahr zu unterscheiden.

 

Mitunter steigt am Himmel ein unglaubliches Blau auf. Dagegen stehen die 22-Uhr-schwarzen Uferbäume am See wie eine Wand.

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Die Liste der Namen, an die wir von hier geschrieben haben, ist lang. Und doch sind einige ohne Post von uns geblieben. Ich wollte auch Franz Fühmann schreiben.

 

Lieber F. F., 
mir ist, als stünde ich »vor Feuerschlünden«.
    Denken Sie nicht, ich eigne mir einen Ihrer Buchtitel leichtfertig an. Die Einberufungskarte JA, die Karte NEIN, die Vorstellung, mich einer befehlenden Gewalt unterwerfen zu müssen, stellt mich an den Rand dieses Schlundes. Auf dessen Grund brennen seit Wochen Feuer, die mein Innerstes ausleuchten. Wie von Schlaglichtern getroffen, treten die Widersprüche hervor. Der Urlaub, aus dem ich Ihnen schreibe, gleicht in diesem Jahr einer Flucht. Als könnte ich den Entscheidungen fliehen, die andere und ich selbst für mich längst getroffen haben. Verwundert sehe ich ein natürliches Gleichgewicht rings um das alte Backhaus, in dem ich mit meiner Familie nicht das erste Mal wohne. Auf einmal ist es wie das letzte noch erhaltene Paradies auf Erden. Spinnen, die wir hier nicht jagen, danken es uns, indem sie Fliegen und Mücken verzehren. Mauersegler und Fledermäuse beteiligen sich an dem Mahl. Im Schilf, gleich neben den Haubentauchern, wohnt die Bisamratte. Junge, aufsässige Katzen sind wild auf die Milchreste aus den Tassen der Kinder. Nur gestern wurde die Idylle gestört. Die Mutterkatze biß im Garten ein Wildkaninchen tot.

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Vermutlich hatte sie gar keinen Hunger. Mit dem Raubtierinstinkt des Tötens mußte das Wehrlose gerissen werden. In diesem Vorgang finde ich mein Problem wieder. Wo eine Armee ist, wo Waffen sind, kann auch getötet werden. Was taugen all die Versprechungen, die Armee stünde in diesem Land zur Verteidigung, wenn auch das Verteidigen ein Töten sein wird?

Sehe ich ab von der Gewissensnot, die sich beim Nachdenken über das Töten einstellt, drängt sich die Frage auf, was ich verteidigen würde mit der Gewalt der Waffen. Worin besteht die Attraktivität dessen, was mich der einmal geleistete Eid zwingen wird, unter Einsatz meines Lebens zu verteidigen? Finde ich sie in der Geborgenheit, die das Wort Heimat verspricht? Kann nicht auch dort Heimat sein, wogegen sich Verteidigung richtet? Liegt sie vielleicht in dem Bergwerk begraben, welches Sie seit Jahren betreiben? Oder besteht sie etwa darin, daß auch meinen Kindern gelehrt werden wird, Wehrbereitschaft zu zeigen? Finde ich verbotene Erfahrungsbereiche, die ich nicht in freier Wahl ausschreiten kann, attraktiv?

Verzeihen Sie, wenn ich vor Ihnen diese Fragen auftürme, die womöglich läppisch sind. Aber ich denke, wir müssen viele Fragen dieser Art zulassen, und auch auf die läppischen wahrhaftige Antworten geben. Vielleicht kommen mir die Fragen gerade jetzt in den Sinn, da ich Ihnen schreibe, weil Ihre Bücher verraten, wie sehr Sie sich um Antworten bemühen.

17


Lieber Franz Fühmann, Sie könnten mein Vater sein, so verschieden voneinander sind unsere Erfahrungen. Es ist, als rede mein Land mir ein, dieses Jahrhundert hätte erst nach 1945 begonnen. Sie haben einen Teil der Geschichte erfahren, wovon ich aus Lehrbüchern weiß. So ist es immer gewesen. Die Väter haben durchlebt, wonach die Kinder irgendwann fragen werden. Auch wenn es Väter immer geben wird, vertrauen wir doch mehr auf die Suche nach einer eigenen Wahrheit. Darin will ich auch den Grund erkennen, weshalb ich mich in Dienst stellen lassen werde, wenn die Karte JA eingetroffen ist nach meinem Urlaub: Um ein Stück Wahrheit zu finden.

Ich wollte Ihnen nur einen Urlaubsbrief schreiben. Das ist mir gar nicht paradiesisch gelungen, obwohl uns der Zipfel unverbrauchtes Land hier so begegnet. Aber auch dessen Abbild kann ein Trugbild sein.

Gern vertraute ich der Hoffnung, Sie mögen bald wieder ganz und gar gesund und anwesend sein, obwohl ich weiß, daß es damit seine Schwierigkeiten hat.

Ihr M. W.

*

 

Wir sind zwei Wochen im Backhaus. Manchmal denke ich, wir sind zwei Monate hier; eigentlich aber sind es nur Stunden und Tage. Morgen noch ein Montag, und am Dienstag läuft der Film wieder zurück.

18


Noch einmal bei Sonne an den Strand zu kommen, hoffen wir nicht. Der Wetterbericht verkündet, es bliebe für die Jahreszeit zu kühl. Es bleiben uns nur noch zwei Tage.

Die Karte: Ja. 

 

 

An meinem letzten Abend in wohnlicher Gegend sehe ich den Film »Im Westen nichts Neues«. In ihm geht es von der Schulbank auf die Schlachtbank. Ich neige dazu, zu denken, so schlimm kann es nicht kommen.

 

Die Fahrt zum Ort eines militärischen Geschehens, ob Musterung, Überprüfung von Wehrunterlagen, Lehrgang, Einberufung zum Wehrdienst ist eine andere als die Fahrt ins Kino, zur Arbeit oder in den Urlaub. Zwar fahren wir in Zivil, jedoch mit einem Zeichen behaftet. Am Fahrkartenschalter legen wir einen Befehl vor, die Einberufungskarte, und erhalten eine Fahrpreisermäßigung. Aus Mitleid, aus Angst, aus Pflichtgefühl?

Im Zug sind wir Kandidaten bald zu erkennen: Auffällig kurze Haarmode und Pappkartons, die im Gepäcknetz liegen.

19


Am Tag der Einberufung ist das Stellen am Tor der Kaserne auf 12 Uhr befohlen. Schon vor der Tagesmitte sind wir in der kleinen Stadt M., wo wir stationiert werden sollen. Nach und nach finden wir uns auf dem Marktplatz, trinken Bier und Schnaps, rauchen Zigaretten.

Was uns erwartet, dieses unsichere Wissen, machen wir uns leicht. Zwölf Uhr Mittags, high noon, wird vielleicht Gary Cooper kommen, um seinen Sheriffstern am Kasernentor abzugeben. Manche von uns glaubten, sie würden in den nächsten Monaten, schwer bewaffnet, in der modernen Fassung eines Western mitspielen. Abenteuerlust, Waffengewalt, Körperbeherrschung.
    Das war es nicht, woran ich dachte.

 

 

Beim Betreten der Kaserne geben wir unsere zivile Identifikation, den Personalausweis, ab. Von diesem Moment an werden wir zur Masse.

Als ich die Kasernentreppe hinaufsteige und die mir zugewiesene Etage erreiche, setze ich mich dem prüfenden Blick eines diensthabenden Offiziers aus, der als erstes verfügt, daß ich mir die Oberlippe rasieren soll. Sofort! Wegtreten! Fort mit dem Rest meines wirren Kinngestrüpps. Weg mit der zivilen Erinnerung in den ersten Minuten.

20


Die Vorbereitung auf unsere Kasernenankunft ist nahezu perfekt. Kaum wieder wird in den kommenden Wochen irgendeine Aktion so geordnet verlaufen wie unsere Ankunft. Jedermann wurde längst nach einem ungeahnten Auswahlprinzip bestimmten Kompanien zugeteilt.

Die Stube ist bekannt, in die ich zu gehen habe. Das Bett ist mit einem kleinen Namensschild gekennzeichnet, in das ich mich nachts legen werde.

Das gleiche Schild finde ich am Spind, in dem die Sachen einzuordnen sind. So erfahre ich, wer ich von diesem Tag an bin. Mein Name ist nicht Michael oder Herr W. oder Dipl.-Ing. W., sondern Soldat W.

 

 

Ein Brief:
»Falls irgendmöglich sollten wir schreibend diskutieren, so kämst Du vielleicht schneller durch die Zeit, die nun schnell vergehen muß. Ein schrecklicher Hohn.«

 

 

Wieso wird dein und mein Leben uns aus der Hand genommen und in eine fremde Befehlsgewalt gegeben? Welche Mutter hat ihren Sohn als Soldat geboren? Es ist befremdend, wenn man bedenkt, daß ein jedweder Staat mit Macht, im vielfachen Sinne, über die in ihm Lebenden verfügt, die in ihn Hineingeborenen vereinnahmt, in Beschlag nimmt, sie zur Dienerschaft preßt. In allen Armeen werden mündige Menschen zu unmündigen Instrumenten. In einigen Ländern sind sie es bereits im Staat. In diesen Ländern ist der Staat eine einzige Armee.

21


 

Als das Vierteljahr für mich im August beginnt, gehen mir zwei Zeilen von Sascha A. durch den Kopf:
»alle dinge liegen klar in meinem herzen ...
ich habe angst daß er eines tages im august alles
zurückdreht ...«
Nichts ist mehr klar, und alles ist zurückgedreht auf eine Null als Stunde.

 

Wir stehen in buntem Zivil vor einem flachen Gebäude. Keine militärische Ordnung reiht uns aneinander. Wir erwarten die Entgegennahme der Uniformierung. In lockerer Reihe sind wir vielleicht einhundert Mann. Erst später lernen wir die zahlenmäßige Stärke von Gruppen, Zügen, Kompanien, Bataillonen, Regimentern, Truppenteilen, Armeen und so weiter.

 

Die Zivilsachen müssen nach Hause geschickt werden. Dafür sollten wir Kartons mitbringen. Wer keinen hat, geht zur Militärischen Handelsorganisation, MHO abgekürzt, um sich Verpackungsmaterial zu holen. 

22


Es ist eine eigenartige Form des Trostes, daß ich in meinem Spind einen Karton finde. Die scheinbar letzte Verbindung zur Außenwelt reißt, als ich Hose, Hemd, Jacke und Schuhe in dem Paket verschnüre, mit meiner Heimatadresse versehe und zu mir nach Hause schicke. Was fühlt meine Frau, wenn sie solch ein Paket zugestellt bekommt?

 

 

Wie oft habe ich gedacht, es reißt die letzte Verbindung mit der Welt, die auf einmal irgendwo draußen liegt, im Ungewissen?
    Als ich meine Kinder küßte zum Abschied. 
    Als ich meine Frau umarmte in der schon offenen Wohnungstür.
    Als die Tür sich schloß. 
    Als der Zug abfuhr. 
    Als meine Stadt hinterm Zug blieb. 
    Als ich bei der Einfahrt in den Stationierungsort das Schild »Herzlich willkommen in M.« las. 
    Als das große Tor sich hinter mir schloß. 
    Als ich mit all den Angekommenen zögernden Schritts durch die Kaserne ging. 
    Als ich mir die Oberlippe rasierte. 
    Als ich die anderen in der Stube begrüßte. 
    Als wir anfingen, uns zu uniformieren. 
    Als ich dem Feldwebel den Personalausweis gab. 
    Als ich in Uniform fotografiert wurde. 
    Als aus dem Wehrpaß die Seite mit dem Zivilfoto herausgetrennt wurde. 
    Als die erste Nacht kam.

23


Im Lehrbuch für den Soldaten steht geschrieben: Wir, die wir den Frieden wollen, müssen jederzeit mit dem Krieg rechnen.

In der Ansprache eines hohen Offiziers werden wir mit den Worten begrüßt: Wir sind nicht zum Spaß hier, sondern um uns auf einen Krieg vorzubereiten.
Schnell schränkt er ein, daß wir ihn nicht wollen, den Krieg. Beruhigt es noch, das zu hören?
Auch ist die Rede vom »Kriegsschauplatz Europa«.
Damit verweist er nicht auf die Vergangenheit. Sein Blick ist zukunftsorientiert und sein Denken berufsmäßige Geschäftigkeit, nüchternes Kalkül mit dem, was andere unser GEMEINSAMES HAUS heißen.

 

In den ersten Tagen stehe ich vor der schmalen Öffnung des Spindes, ungläubig, ich hätte damit irgend etwas zu tun.

 

Hinterm Kasernenzaun sehen wir Neubauhäuser von M. Die Menschen dort können die Soldaten hier bei ihren Verrichtungen beobachten.
  
Frühsport, Reinigung der Außenreviere, Exerzieren.
   Aus den oberen Etagen haben die Menschen einen tiefen Einblick ins Leben der Soldaten. Während der Paradeappelle können die Menschen die von Laut
sprechern übertragenen Reden der Kommandeure und Marschmusik hören. Wir sehen inzwischen über den Zaun ins Leben.

24


 

Jeder Soldat erhält eine Gepäckkarte, die er, mit der Heimatadresse beschriftet, an sein privates Gepäckstück anhängen soll. Wenn der Soldat auf dem Feld der Ehre fällt, hat er selbst das Notwendige getan, damit seine persönlichen Dinge an die Hinterbliebenen geschickt werden.
   Wir verzichten. Unausgefüllt liegen die Gepäckkarten im Müll.

 

 

Ich weiß, meine 86 Tage in der Armee sind wenig, gemessen an der Vielzahl der Tage des Grundwehrdienstes. Es ist nur jede Zahl von Tagen zu viel für einen Waffendienst, während alle Welt vom Frieden spricht.

 

Gegen Tetanus werden nach der Einberufung alle geimpft, die eine letzte Serumgabe vor allzu langer Zeit erhielten. Daß sich das Herz wie eine Wunde zusammenkrampft von Zeit zu Zeit, kann nicht der Anlaß medizinischer Fürsorge sein.

25


 

Vom ersten Tag an zählen wir die vergangenen und die uns bleibenden Tage in M. Immer wieder stellen wir uns dabei die Frage: Was ist anders im Gewahrsam der Justiz? Eigentlich dauert Gefängnis nur länger.

 

Lange bleibt die Bewegung meiner Hand, mir das Haar aus dem Nacken zu heben, obwohl es nicht da ist. Oder die Finger sind versucht, in den Bart zu fahren, und rutschen über das Glatteis des Kinns.

 

Von außerordentlicher sozialer Bedeutung im Leben eines Soldaten ist es, seine Fertigkeiten beim Päckchenbauen zu schulen. Päckchen auf dem Spind. Päckchen im Spind. Päckchen auf dem Hocker zur Nacht. Die Kanten der Ausrüstungsteile und Wäschestücke geordnet übereinander. Die Leibwäsche als Päckchen verbaut, riecht auf dem Hocker am Bett in der Nacht. Acht Mann gelüftet und gereinigt.

26


Acht Spinde, acht Betten, acht Hocker, ein Tisch, ein Besenschrank. Das ist eine Soldatenstube. Wenn acht Soldaten am Tisch sitzen, dringt die Enge ins Bewußtsein vor. Je drei an den breiten Seiten und zwei an der Schmalseite des Tisches. Die vierte Kante stößt an die Wand.

Auf dem Bett wird nicht gegessen, brüllt eine Stimme. Werden wir auf den Betten vor der Nacht überrascht, sind Strafarbeiten die Folge. Am Tisch aber, auf den Hockern ist es hart. Also liegen wir, wann immer es geht, auf den Betten und lernen, bevor Schritte auf dem Gang die Stube erreichen, wieder herauszuspringen.

 

Mit der Ordnung im Soldatenspind ist es so wie mit unseren Gedanken. Wichtig ist, daß die Sachen in den Fächern des Spinds mit der vorderen Kante übereinander liegen, in einer vorgeschriebenen, festgefügten Reihenfolge. Wie es dahinter aussieht, wird nicht kontrolliert.

 

Jedermann ist im Besitz eines Gewissens.
  Eine Frage ist nur, wie sehr der dafür erforderliche Apparat eine Degenerierung oder Deformation erfahren hat. Wenn es wahr ist, daß jeder über ein Gewissen verfügt, muß aber nicht jeder Gewissensnot kennen. Das heißt, mit seinem Gewissen in Konflikt zu geraten. 

27


Die Einberufung kann der Beginn eines Konfliktes sein. Denn nicht nur Wehrunterlagen und Tauglichkeit werden überprüft, sondern jeder Einberufene prüft sein Gewissen. Vielleicht ist das eine Frage des Überlebens.

Im Alter von dreiunddreißig Jahren sind die Konflikte größer als mit achtzehn. Man weiß jetzt, was das Leben alles kann, und was es verlangt. Erst ahnt man es nur. Mit achtzehn kann das Gewissen noch ungebrochen sein. Jahre später läßt man es sich bezahlen.

 

Der Wäschetausch.
  Ein hygienischer Plan sieht vor, daß jede Woche einmal Unterwäsche getauscht wird. Der Plan mißlingt. Von drei langbeinigen Unterhosen und lang-armigen Unterhemden habe ich nur noch je eines, und das trage ich am Leib. Das Weiß ist grau, an den Rändern schwarz.

Die Hocker am Abend bleiben leer. Die Unterwäschepäckchen liegen als schmutziges Bündel im Spind. Ein Soldat riecht immer nach Schweiß, ob mit sauberer oder dreckiger Wäsche.

 

 

Weiß ist unsere Waffenfarbe. Mucker werden wir genannt. Hingegeben einer Befehlsgewalt. Ausgeliefert unbestimmbarer Gewalt. Große Teile einzelner Gehirnpartien verarmen. Sie werden stundenweise abgeschaltet mit dem Schließen des letzten, des obersten Uniformknopfes. 
  Mucker sind wir und schuldhaft weiß die Ränder unserer Kragen.

28


 

Im Kindergarten werden vor dem Essen die Hände vorgezeigt.
In der Schule werden die Hausaufgaben vorgezeigt.
In den Betrieben werden den Pförtnern die Dienstausweise vorgezeigt.
In den Verkehrsmitteln werden die Fahrausweise vorgezeigt.
Im Himmel wird der Totenschein vorgezeigt.
In der Armee werden die Kragenbinden vorgezeigt.

 

Wehrdienstausweis vorzeigen! Kragenbinde vorzeigen! 
   Das sind die häufigsten Kontrollen bei Morgen- und anderen Appellen. Die Kunst besteht darin, zum Zeitpunkt der Kontrolle eine blütenweiße, eine reinweiße, eine schneeweiße Binde eingeknöpft zu haben oder den Kopf vor dem Kontrolleur so zu beugen, daß sein Blick nur auf den sauberen Teil der Binde fallen kann. Es ist die Kragenbinde, die den Charakter des Soldaten verrät. Es ist die Häufigkeit ihrer Kontrolle dem Soldaten ein Maß dafür, wessen
Geistes Kind der Kontrollierende ist.

29


 Zeige mir deine Kragenbinde, und ich sage dir, daß du ein Schwein bist. Frage nach meiner Kragenbinde, und ich sage dir, daß du nicht mein Genösse bist. Kleiner Protest mit Hilfe der Kragenbinde:

Solange es keine saubere Unterwäsche gibt, knöpfen wir uns keine frische Binde an den Kragen. Genösse Feldwebel sollten mal die Unterhosen kontrollieren.
   Wehrdienstausweis vorzeigen!

 

Zur Ausrüstung des Soldaten gehören drei Kragenbinden. 
   Es ist empfehlenswert, für einen größeren Vorrat zu sorgen. An jedem Morgen ist eine neue Binde dem Kragen anzuknöpfen. Am Abend wird die erste Binde gewaschen, eine zweite neu eingeknöpft, dann bleibt eine dritte in Reserve. Für eine Soldatenbinde zahlt man in der MHO eine Mark. Die Soldatenbinde ist hinten am Kragen grau und vorn am Hals weiß. Offiziersbinden sind etwas teurer und auf beiden Seiten weiß. Bei trainierbarer Fertigkeit kann jedoch auch eine Binde, grau auf beiden Seiten, für mehrere Tage nutzbar sein.

 

FeldBinde. KragenBinde. LeibBinde. KopfBinde. HelmBinde. AugenBinde. MundBinde. Trauer-Binde. FlorBinde. SchutzBinde. MonatsBinde. BartBinde. AderlaßBinde. MuskelBinde. HilfsBinde. SackBinde. BeinBinde. ArmBinde. GranatenBinde. AngeBinde. KriegsBinde. MullBinde. Weiße Binde. KapitulationsBinde. ParlamentärsBinde. HandelsBinde. OffiziersBinde. SoldatenBinde. HalsBinde. FeldBinde. KragenBinde.

Wird der Armeedienst noch immer als die einzige und notwendige Schule für Ordnung, Disziplin, Gehorsam und Pflichterfüllung anerkannt?
    Diesem Denken will ich in meinem Erinnern keinen Raum geben.

 

Die Befehle im Revier der Kompanie werden mit Pfiffen angekündigt. In den ersten Tagen geschieht es oft, daß Soldaten irrtümlich vor die Stubentür laufen, um nach einem Pfiff den Befehl zu empfangen. Aber der Pfiff kam aus der Etage unter oder über ihnen, aus dem Revier einer anderen Kompanie. Bald verstehen wir uns darauf, verschiedene Pfeifen und deren Pfiffe zu unterscheiden. 
   Ein Pfiff: Ein Soldat vor die Tür. 
   Zwei Pfiffe: Die Kompanie vor die Tür. 
   Aufstellung wird mit den Fußspitzen an der Kante genommen, die die dritte Fliesenreihe des Fußbodens zeichnet.
   Und wenn dabei keine Ruhe ist, wiederholen wir das Ganze! Wegtreten! Wie treten wir denn weg?

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