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1. Die Bergpredigt

   

Franz Alt 1983

 

 

Die Bergpredigt ist kein Heimatroman 

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Ist Frieden möglich? Welche Antwort gibt die Bergpredigt? Die Bergpredigt sagt, wie Christen sein sollten, wenn sie Christen sind. Mein Interesse an der Bergpredigt ist nicht akademisch, sondern existentiell. Es gibt keine größere Macht als die einer zeitgemäßen Idee. Mir scheint unsere Zeit reif für die Idee der Bergpredigt. In Zeiten größter Gewalt muß man Ausschau halten nach der Gewaltlosigkeit.

Ich weiß, daß viele Leser meinen politischen Überlegungen folgen, aber meine religiöse Argumentation gegen Atomrüstung ablehnen. Viele brauchen die Argumente der Bergpredigt gar nicht. Sie lehnen aus rein humanistischen Bedenken Atomrüstung ab. Andere folgen zwar meiner religiösen Interpretation der Bergpredigt, meinen aber, die politischen Konsequenzen seien gefährlich. Das hat mir Helmut Kohl einmal so geschrieben.

Für mich sind jedoch in den letzten Jahren Humanismus, Religion, Politik und psychische Entwicklung nicht mehr voneinander zu trennen; sie sind nicht dasselbe, aber sie gehören untrennbar zusammen. Unsere religiöse, private und politische Existenz ist eine Einheit. Menschsein heißt individuum (=unteilbar) sein im ganz wörtlichen Sinne. Das folgenschwerste Schisma des Christentums ist nicht Luthers Kirchenspaltung, sondern die Trennung von Religion und Politik. 

Dieses moderne Schisma spaltet den Menschen in religiös oder politisch, in fromm oder gescheit, in christlich fühlen oder materialistisch handeln, in theologisch oder philosophisch, in spirituell oder technisch. Die Konsequenz dieser Spaltung heißt liturgische Sonntagskirche auf der einen Seite und religionsloser Werktag auf der andern. So ist das Christentum in den Industriestaaten zu einer saft- und kraftlosen Mittel­stands­ideologie verkommen. Christentum als Seelenmassage, aber ohne Umkehr der Herzen — Religion privatisiert.

Dieses Christentum hat auf ganz unchristliche Weise Angst vor Parteilichkeit und Verbindlichkeit, vor Anstößigkeit und Provokation. Wo christliche Liebe nur noch privat erlebt wird, bleibt sie auch dort nicht lange erlebbar. Man kann vielleicht eine gewisse Zeit Religion und Politik, Politik und Privatleben und Beruf voneinander trennen, aber auf Dauer kann man nicht schizophren leben. Die heute in der Politik so beliebte Trennung von Gesinnungs- und Verantwortungs­ethik ist eine Schizophrenie mit bösen Folgen.

Diese Trennung ist eine Spaltung. Sie ermöglicht, daß sich viele Politiker in ihrem Privatleben als Christen verstehen, aber mit Jesus von Nazaret in der Politik nichts anzufangen wissen. Sie glauben sentimental an ihn, erklären ihn aber politisch zum Deppen. Er ist gut für Sonntagsreden und Weihnachts­ansprachen, im politischen Alltag sei er aber leider nicht zu gebrauchen, heißt es. So kommt es, daß manche Politiker den Meister der Gewaltlosigkeit im Munde führen und zugleich den atomaren Holocaust vorbereiten. Jesu Gewaltlosigkeit ist aber wie Gandhis »Ahinsa« nichts Passives, sondern etwas Aktives.

Ich habe vor allem über die Bücher C. G. Jungs einen neuen Zugang zu Jesus von Nazaret und zu seinen zentralen Aussagen in der Bergpredigt gefunden. Erst dadurch wurde ich zum Atom-Pazifisten. Mein Widerstand gegen das immer komplizierter und gefährlicher werdende »Gleichgewicht des Schreckens« kommt von innen - nach langer Meditation über die Bergpredigt und unsere heutige Situation. Meine Quelle ist Jesus von Nazaret, aber die Psychologie Jungs hat mir zu meiner Quelle neuen Zugang verschafft.

Die jetzt anstehende Nachrüstung der NATO habe ich 1981 noch für notwendig gehalten. Heute halte ich sie für lebensgefährlich. Die Gründe für meine Umkehr habe ich in diesem Buch beschrieben. Zum Lesen dieses Buches werden Sie etwa vier Stunden brauchen. Während dieser vier Stunden werden in der Welt etwa 500 Millionen Mark für Rüstung ausgegeben, zugleich jedoch 7000 Kinder verhungern. Wenn die Entwicklung so weitergeht wie in den letzten 20 Jahren, werden sich die Zahlen bis zum Jahr 2000 verdoppeln. Schon heute stirbt alle zwei Sekunden ein Kind an Hunger. Eine unerträgliche Sünde, mit der sich nicht abfinden darf, wer Mensch werden will oder wer sich gar auf Jesus beruft.

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Für viele Menschen ist Jesus von Nazaret der Held einer uralten Geschichte. Wer sich aber einmal wirklich ganzheitlich auf ihn eingelassen hat, also privat, gesellschaftlich, beruflich und politisch, dem ist klargeworden, daß die entscheidende Frage seines Lebens nicht heißt: Wer war Jesus, sonder wer ist Jesus? Um dies zu erkennen, braucht man wohl ein Schlüsselerlebnis, ein Damaskus-Erlebnis.

1978 hatte ich im »Spiegel« zur Diskussion des Grundsatzprogramms der CDU einen Essay geschrieben mit dem Titel »Die Bergpredigt ist kein Heimatroman«. Das brachte in mir einen Stein ins Rollen. Die »Bergpredigt« hatte mich erfaßt und wird mich wohl nie mehr loslassen. Ich habe heute manchmal den Eindruck, die Bergpredigt hat schon lange auf mich gewartet. Ich bin kein Theologe, aber als politischer Journalist ein theologisch interessierter Nichttheologe. Man muß nicht Theologe sein, um die Intention, den Geist der Bergpredigt zu begreifen. Und nur darauf kommt es an, nicht auf theologische Spitzfindigkeiten. Die Frage, wieviel Engel auf einer Nadelspitze Platz haben, war Jesus gleichgültig. Heute berufen sich auch Atheisten auf den Lehrer der Gewaltlosigkeit. Seine Bergpredigt halten Liberale für liberal, Revolutionäre für revolutionär und Konservative für konservativ. 

Ich bin ein Konservativer, der die Bergpredigt vor allem für ein menschliches Dokument hält. Jesus spricht uns nicht oberflächlich an, sondern an unseren Wurzeln, also innen und ganzheitlich. Privat und politisch das darf man bei Jesus nicht trennen. Die Trennung des Privaten vom Politischen ist das entscheidende Verhängnis des bisherigen Christentums. Jesus hat nicht nur zu Theologen gesprochen, sondern zum Volk. Alle sind gemeint in allen Lebensbereichen. Um die Bergpredigt kommt kein Christ herum. Das entscheidend Christliche steht in der Bergpredigt. Wer nur intensiv genug darüber meditiert, braucht keinen Exegeten mehr. Man muß diesen Text so nehmen, wie er dasteht: wörtlich! Nicht plötzlich, aber allmählich wird dann vieles heller, was vorher dunkel war. Die Bergpredigt ist ein Weg zur Selbsterkenntnis und zur Weltkenntnis.

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Die Welt ist heute ein atomares Pulverfaß. Für jeden Menschen liegen umgerechnet mehrere Tonnen Sprengstoff bereit. Es gibt pro Kopf mehr Sprengstoff als Nahrungsmittel. Das kann tödlich enden. Aber jede Gefahr birgt auch eine Chance in sich. Gerade wegen der globalen atomaren Bedrohung haben wir heute auch größere Chancen als frühere Generationen, die Friedensbotschaft des Bergpredigers zu begreifen. 

Seine Lehre ist nicht nur in einem vordergründigen Sinne aktuell. Ich bin davon überzeugt: Es gibt heute im Angesicht des atomaren Holocaust zur Bergpredigt nur noch eine Alternative: das Ende der Geschichte. Günther Anders: »Entweder gibt es Friedenszeit, oder es gibt überhaupt keine Zeit. Friedenszeit und Zeit sind identisch geworden.« 

Entweder gelingt es uns, angetrieben von der Idee der Feindesliebe, die Atombomben abzuschaffen, oder die Atombomben werden irgendwann uns abschaffen. So wie Himmler Europa »judenfrei« machen wollte, so können die Atombomben die Welt irgendwann »menschenfrei« machen. Und in diese Situation hinein sagt uns der Bergprediger heute: Frieden ist möglich. Ihr Menschen müßt ihn nur wirklich wollen. Jesus verheißt nichts Phantastisches, sondern das Mögliche. 

Wenn ich heute sage, daß ich gegen Nachrüstung bin, wofür ich 1981 noch war, dann gestehe ich zugleich, daß ich ein Suchender bin. Ich schreibe dieses Buch für die Suchenden und Zweifelnden — für die Fragenden, die wissen wollen, ob alles so weitergehen kann wie bisher — für diejenigen, die wissen wollen, wohin uns das Wettrüsten führt. Ich will nicht gegen andere recht behalten, sondern zusammen mit anderen einen besseren Weg zum Frieden suchen. Oder sollte es wirklich keine humane Alternative zum Rüstungswahn geben? Die bisherige westliche Weisheit »Lieber tot als rot« halte ich für ebenso inhuman wie die östliche Maxime: »Lieber tot als kapitalistisch«

Auch vielen Politikern dämmert es heute, daß die ewige Rüsterei keine Sicherheit mehr bietet. Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung im Oktober 1982: »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen das ist die Aufgabe unserer Zeit«. Und Erich Honecker seit Sommer 1982 mehrmals: »Mehr Rüstung bedeutet nicht mehr Sicherheit.« Die beiden deutschen Spitzenpolitiker müssen jetzt nur noch tun, was sie sagen. Jesus: Nicht an ihren Worten, »an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen«.

Über die Bergpredigt wird wieder gestritten. Sie ist endlich dort, wo sie hingehört: in der Öffentlichkeit. Zeitungen drucken den Text ab. Und manche Christen, die zwar zu Hause eine Bibel haben, aber nicht wissen, wo die Bergpredigt zu finden ist, haben die Zeitungsseite herausgerissen, um wenigstens auf diese Weise den biblischen Text zur Verfügung zu haben.

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