Start    Literatur

Die gesamtdeutsche Friedensbewegung

 

 

 

98-117

Zum erstenmal seit der deutschen Spaltung nach 1945 gibt es heute in Deutschland wieder eine wirklich gesamtdeutsche Idee: Die Friedensbewegung hat hier und drüben Hunderttausende erfaßt und wirkt hier wie drüben auf die Politik ein. Die gesamtdeutsche Friedensbewegung braucht merkwürdigerweise gar keine gesamtdeutsche Phraseologie. Die Idee des Friedens verbindet — das ist viel, weil der gemeinsame Ansatz ein moralischer ist.

Der bisher zwischen Ost- und Westdeutschland für so wichtig gehaltene Systemgegensatz ist unwichtig geworden. Hauptfeind ist nicht der »Sozialismus« oder der »Kapitalismus«. Hauptfeinde diesseits und jenseits der Blockideologien sind die alle gemeinsam bedrohenden Vernichtungswaffen. Es gibt »diesseits und jenseits der Mauer Oppositionsbewegungen, die in ihren Antrieben und Zielen eins sind« (Rudolf Bahro, der für seine pazifistische Haltung in der DDR im Gefängnis war).

Vielleicht schafft die gesamtdeutsche Friedensbewegung tatsächlich die Voraussetzung für das, was bisher Wiedervereinigung genannt wurde. Es könnte ja sein, daß wie Bahro vermutet der Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage weniger die Wiedervereinigung im klassischen Sinne ist, sondern eher die »Entmilitarisierung beider deutscher Staaten«. Ein atomwaffenfreies und weitgehend entmilitarisiertes Deutschland hätte auch für die Verbündeten beider deutscher Staaten weitgehend seinen Schrecken verloren.

Von Deutschland aus wurden in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege vorbereitet warum soll jetzt von hier aus nicht der Dritte Weltkrieg verhindert werden? Die Voraussetzung dafür ist gegeben, denn in Deutschland-Ost und -West wird immer mehr Menschen klar, daß Atomwaffen eine Gefahr und kein Schutz sind. Viele Bürger in Deutschland fühlen sich von Atomwaffen nicht mehr geschützt. Die Politiker müssen viel mehr zunehmend die Waffen vor den Bürgern schützen. 1982 gingen in Bonn 300.000, in Rom 500.000, in New York 700.000 Menschen zu Friedensdemonstrationen. 

In der DDR gibt es Hunderte von Friedensgruppen, ebenso in Polen und in der Sowjetunion. Die Friedensbewegung ist der Beweis dafür, daß wir jahrzehntelang unsere Ängste vor den Atomwaffen verdrängt hatten. Jetzt aber haben Millionen keine Angst mehr vor ihrer Angst. Sie verlieren ihre Angst vor Widerstand und werden widerstandsfähig. Die Voraussetzung hierfür war aber das Erkennen der Angst vor Atomwaffen und das Annehmen dieser Angst. Wer zwischen richtiger und falscher Angst, zwischen begründeter und unbegründeter Angst zu unterscheiden lernt, kann frei und widerstandsfähig werden. 

99


Die wichtigste Frage, die uns die Friedensbewegung stellt, heißt: Wie entkommen wir der Atomfalle? Beide Friedensbewegungen in Deutschland leben und lernen voneinander. Die eine ist Voraussetzung und Hilfe für die andere. Vor allem in den Augen der Bevölkerung und der Politiker legitimiert die östliche Friedensbewegung die westliche und umgekehrt.

Die gesamtdeutsche Friedensbewegung stellt heute am intensivsten die Frage nach der nationalen Identität der Deutschen. Georg Leber (SPD) und Alois Mertes (CDU) sagten auf dem Düsseldorfer Katholikentag, sie hätten gegen eine Friedensbewegung bei uns nichts einzuwenden, wenn es eine solche auch in der DDR gäbe. Es gibt sie unter dem Dach der Kirche. Bei SED-internen Schulungsveranstaltungen heißt es bereits: Was in der CSSR 1968 die Intellektuellen und in Polen 1980 die Arbeiter waren, das könnte morgen bei uns die Jugend sein, die Jugend in der DDR-Friedensbewegung. 

Die evangelische Kirche in der DDR ist bisher den pazifistischen Positionen der Bergpredigt näher als die EKD der Bundesrepublik. Man kann jedoch die Hoffnung haben, daß die evangelische Kirche der DDR in der EKD wie Sauerteig wirkt, so ähnlich, wie die katholische Kirche der USA in ihrem Friedenskampf wie Sauerteig auf die katholische Kirche in der Bundesrepublik wirken könnte. Es ist kein Zufall, daß die Friedensbewegung der Bundesrepublik vom Hamburger Kirchentag 1981 entscheidende Impulse bekam. 

»Der Widerstand der Bekennenden Kirche gegen das Nazi-Regime erweist sich als zinsbringendes Kapital. Bonhoeffer ist die Leitgestalt dieser Auferstehung« (Bahro) hüben und drüben. Der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer in einer Notiz, die er um die Jahreswende 1942/43 zwischen Dachziegeln vor der Gestapo versteckte: »Mag sein, daß der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.« Die Friedensbewegung zeigt: Wir sind nicht ohnmächtig. Es gibt noch Möglichkeiten, sich zu wehren gegen Brutalisierung und Militarisierung unseres Lebens. Die Neutronenwaffe hat die Eigenschaft, »nur« Menschen zu töten, aber die Sachen unbeschädigt zu lassen. 

100


Jetzt gibt es eine Waffe mit umgekehrter Wirkung: Die Friedensbewegung — sie läßt die Menschen leben und zerstört nur das Kriegsgerät. An der offiziellen Politik ist die Friedensbewegung nicht spurlos vorübergegangen. Nicht nur Helmut Schmidt und Helmut Kohl reden heute anders über die Friedensbewegung. Bei der ersten großen Bonner Friedensdemonstration sprach Helmut Schmidt noch von »zwielichtigen Gestalten«, und Helmut Kohl fühlte sich an »Volksfront« erinnert. Henry Kissinger sagte 1980 noch: »Erst aufrüsten, damit wir abrüsten können.« 1982 sagte er: »Die Argumente der Strategen werden heute immer irrationaler; die Argumente der Friedensbewegung immer rationaler.« 

Und Lord Soper, der Expräsident der britischen Methodisten: »Früher erschien der Pazifist als ein verrückter Idealist in einer realen Welt; jetzt ist er Realist in einer verrückten Welt.« Die Friedensbewegung kann eine Befreiungsbewegung werden. Befreit werden müssen wir allerdings nicht von Leid, sondern eher von unserer Unfähigkeit zum Leiden; nicht von Trauer, sondern eher von unserer Unfähigkeit zur Trauer; nicht von Ohnmacht, sondern eher von unserer Übermacht; nicht von Armut, sondern eher von unserem Reichtum; nicht von Unsicherheit, sondern von unserem Sicherheitskomplex; und auch nicht von unserem Realismus, sondern von unserer Blindheit gegenüber den Realitäten. Befreit aber wird nur, wer sich selbst befreit.

Die heutigen Friedensbewegungen in Ost und West bieten eine Chance dafür, daß aus dem bisherigen Frieden für die Völker, für den die Politiker verantwortlich waren, endlich ein Frieden der Völker wird, für den wir alle verantwortlich sind.

 

       Die Politik der Bergpredigt    

 

Die Politik der Bergpredigt ist Friedenspolitik. Friedenspolitik ist mehr als Sicherheitspolitik. Frieden ist mehr als Nichttöten. Frieden ist ein Tun. Frieden und Entwicklung hier und in der Dritten Welt sind untrennbar. Frieden und Ausbeutung der Natur sind unvereinbar. Es könnte ja sein, daß wir das Ende lebenswerten Lebens auf dem blauen Plane ten auch ohne Atomwaffen schaffen.

101


Jesu Friedensprädikate sind: sanftmütig und demütig. Sanftmut, Demut und Güte sind mehr als passive Gewaltlosigkeit. Frieden ist nicht, wenn wir Arbeitsplätze durch Waffenexporte zu sichern suchen. Waffenexport tötet. Für viele in der Dritten Welt hat der Dritte-Welt-Krieg längst begonnen. Frieden erfordert generelle Umkehr. Frieden beginnt, wenn wir begreifen, daß wir anders leben müssen, damit andere überhaupt leben können. Nicht nur unsere Waffen töten, auch unser Lebensstil tötet.

Paulus: Man kann nicht Frieden haben mit Gott, wenn man nicht auch Frieden unter Menschen schafft. Frieden ist mehr als Nichtkrieg. Der Frieden der Bergpredigt ist das Gegenteil von Gewalt, nicht nur das Gegenteil von Krieg. Dieser Frieden ist auch mehr als Entspannung. Entspannung - das beweist die ängstliche Reaktion mancher linker Entspannungspolitiker auf die Unterdrückung von Solidarnosc in Polen - kann auch Kirchhofsfrieden sein. Es gibt Kriege mitten im Frieden. »Das große Schlachtfeld ist der gesellschaftliche Alltag«, sagte der italienische Antipsychiater Franco Basaglia. 

102


Die Bergpredigt schlägt vor, Angst durch Vertrauen zu überwinden, mit allen Mitteln Vertrauen zu schaffen. Die Bergpredigt eröffnet Perspektiven, an die wir Kleinbürger kaum zu. glauben vermögen. Mitten in der Bergpredigt steht das »Vater-Unser«. Jesus betet in diesem Gebet gegen die Wertskala unserer Zeit an: Gegen Gewalt und Ruhm, Macht und Geld, Sicherheit und Feindschaft. Wer beten möchte und nicht mehr beten kann, bete langsam dieses Gebet, und er wird anfangen, den Bergprediger zu begreifen. Der Frieden der Bergpredigt ist an Werten orientiert: An radikaler Freiheit und an radikaler Verantwortung. Der Frieden bei Jesus hat seinen Preis: den Einsatz für die Leidenden, Hungernden, Geschundenen und Rechtlosen. Solidarnosc in Polen - das war eine Friedensbewegung, weil ein gewaltloser Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit. 

Das Komitee »Cap Anamur«, das mit seinem Rettungsschiff 9508 vietnamesische Flüchtlinge aus dem Meer rettete - das war eine Friedensbewegung. Die Helsinki-Gruppen in Moskau und die »Charta 77« in Prag sind Friedensbewegungen. Jesus preist nicht die Friedensredner selig, sondern die Friedenstäter. Wer mithilft, daß ein Kind weniger in der Dritten Welt verhungert, ist ein Pazifist, ein Friedensstifter im Geist Jesu. Der Pazifismus der Bergpredigt ist nicht identisch mit Wehrdienstverweigerung. (Zur Verblüffung vieler kommen Soldaten im Neuen Testament bei Jesus sehr gut weg: der Hauptmann von Kafarnaum, der Hauptmann unter dem Kreuz u. a.) Pax Christi ist mehr. Edward Schille-beeckx: »Schließlich geht es um das letzte Ziel: Frieden verstanden als Werk weltweiter Gerechtigkeit.« Daran kann jeder mitarbeiten, nicht nur Politiker.

Damit aber die ganz große unwiderrufliche Katastrophe vermieden wird, müssen zunächst alle Atomraketen weg. Dann ist immer noch kein Frieden, aber die Voraussetzung, um wenigstens für Frieden kämpfen zu können. Frieden ist zwar nicht alles, aber im Atomzeitalter ist ohne Frieden alles nichts. Bergpredigt und Atomraketen sind unvereinbar. 

103


Helmut Gollwitzer definiert das erste Ziel der Bergpredigt heute so: »Entfernung aller Atomwaffen von deutschem Boden auf beiden Seiten - atomwaffenfreie Zone Europa - eine atomwaffenfreie Welt und Verwendung der Rüstungsmilliarden für eine bewohnbare Erde.«

Atombombenpolitik halte ich als Christ für nicht akzeptabel. Eine Welt ohne Atombomben ist noch keine heile Welt, aber eine Welt voller Atombomben ist auf Dauer überhaupt keine Welt.

Das Christentum des Jesus von Nazaret hat mit dazu beigetragen , Menschenopfer und Sklaverei zu überwinden. Warum sollte es heute - zusammen mit anderen Religionen - nicht den entscheidenden Beitrag zu einer Friedensethik als Voraussetzung für Frieden leisten? Wo sonst - wenn nicht im Buddhismus und Hinduismus, im Judentum und Christentum, im Islam und Shin-toismus - liegen die ethischen Kraftreserven für Humanität? Die Bergpredigt ist die geistige Energiereserve für die Menschheit. Sie wartet auf ihre Entdeckung. Das aber kann nur von jedem einzelnen selbst geleistet werden. Und zu diesen einzelnen, welche die Bergpredigt zu entdecken haben, gehören auch die Politiker. 

Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren? 

Man kann heute nur noch mit der Bergpredigt regieren. Wer sich auf die Bergpredigt einläßt, beginnt zu ahnen, daß hier das Ende der Angst und der Anfang der Freiheit auf ihn warten. Helmut Kohl hat mich einmal darin bestärkt, daß diese private Erfahrung auch in der Politik gilt. Im Wahlkampf 1976 sagte der damalige Kanzlerkandidat in vielen Reden: »Alles was privat gut und richtig ist, ist auch in der Politik gut und richtig.« Dieser Satz hat mich nicht mehr losgelassen. Er war eine wichtige Station auf meinem Weg zur Entdeckung der Politik der Bergpredigt. Gandhi, der viel von der Bergpredigt wußte: »Wir sind heutzutage dauernd über die Entdeckungen erstaunt, die auf dem Felde der Gewalt gemacht werden. Ich halte dafür, daß noch weit traumhaftere und unmöglich erscheinende Entdeckungen gemacht werden können, auf dem Felde der Ge-waltlosigkeit nämlich.«

Wer die Feindesliebe der Bergpredigt als irreal abtut, der bedenke einen Augenblick die realen Folgen von Feindeshaß. Die Welt in ihrer heutigen politischen Struktur ist das Ergebnis von etwa 6000 Jahren organisierter Kriegführung.

104


Allein in diesem Jahrhundert sind durch Kriege, also Feindeshaß, mindestens 200 Millionen Menschen umgekommen. Unsere Aufgabe ist nicht, dies zu vergessen, sondern sich dessen zu erinnern. In einem Dritten Weltkrieg gibt es wahrscheinlich Milliarden Tote, und keiner könnte sich mehr ihrer erinnern. Die Bergpredigt ist die Magna Charta eines ganzheitlichen Friedens für alle Menschen aller Zeiten. Sie könnte auch Politiker zu einer Friedenspolitik , die diesen Namen verdient, inspirieren und motivieren. Papst Paul VI. vor der UN-Vollversammlung 1965: »Wenn Sie Brüder sein wollen, dann legen Sie die Waffen nieder! Man kann nicht lieben mit Angriffswaffen in den Händen.« 

Viele Christen glauben heute eher an die Kraft der Atombombe als an die Kraft der Bergpredigt. Atombombenpolitik dokumentiert eine Gott-ist-tot-Politik. Atombombenpolitik ist praktizierte Gottvergessenheit. Dieser Atheismus offenbart sich nicht so sehr in atheistischer Ideologie, sondern in der Mißachtung des Lebens. Wer im Leben einen Sinn sieht, darf als verantwortlicher Politiker nicht den biologischen Nihilismus herausfordern.

Die Bergpredigt ist ein Protest gegen Nihilismus. Die Bergpredigt setzt Hoffnung gegen Verzweiflung. Die Bergpredigt hält Liebe für stärker als Haß. Die Bergpredigt ist Medizin gegen unsere emotionale Zurückgebliebenheit.

Gandhi wurde einmal von christlichen Missionaren gefragt, was sie tun müßten, damit die Hindus die Bergpredigt annehmen. Seine Antwort: »Denken Sie an das Geheimnis der Rose. Alle mögen sie, weil sie duftet. Also duften Sie, meine Herren!« Christen müßten duften nach der Bergpredigt.

 

      Die Bergpredigt oder das Ende der Geschichte     

 

Die Bedrohung aus dem Osten ist für den Westen so real, wie die Bedrohung aus dem Westen für den Osten real ist. In dieser Situation ist die Gefahr einer irrationalen Handlung in Moskau so groß wie in Washington. Die FAZ verteidigte in einem Leitartikel die Nachrüstung mit dem Argument, sie sei »in gewissem Sinne eine Verzweiflungstat«.

105


Selten wurde so exakt definiert, was Nachrüstung wirklich bedeutet. Verzweiflungstaten sind immer irrational. Bei Verzweiflungstaten läßt man sich zu etwas zwingen, was man eigentlich gar nicht will. Aber: Warum lassen wir uns denn zwingen? Kann man ernsthaft hoffen, so dem Teufelskreis der Rüstung zu entkommen? Muß man dann nicht vielmehr die nächste »Verzweiflungstat« der Sowjets befürchten? Wird so nicht eine »Verzweiflungstat« an die andere gereiht, bis es knallt? War es nicht immer so in der Geschichte? Werden die östlichen SS-20 vielleicht dadurch harmloser, daß wir ihnen Cruise Missi-les und Pershings entgegensetzen? Zumindest in Europa wird es nach einem Atomkrieg kein Leben mehr geben. Da wir alle dies eigentlich nicht wollen, dürfen wir uns eigentlich auch nicht zur »Verzweiflungstat« der Nachrüstung zwingen lassen. Niemand kann uns dazu zwingen, außer wir selbst. 

1957 polemisierte die BILD-Zeitung gegen Abschußrampen für Atomraketen in der Bundesrepublik. Die Begründung: »Keine Macht der Welt, auch nicht die NATO, kann uns gegen unseren Willen dazu zwingen.« Ich bewundere die Weitsichtigkeit der Kollegen. Ich war damals noch nicht so weit. Eine vernünftige Politik versucht nicht, durch Nachrüstung die gefährliche Situation noch gefährlicher zu machen. Die einzig rationale Entscheidung heute ist: die Gefahr behutsam abzubauen versuchen. Wer jetzt noch weiterrüstet, hat die Lehre der Geschichte nicht begriffen: Es hat noch immer geknallt, wenn es zuviele Gewehre gab. Warum aber sind wir selbst im Atomzeitalter zu überheblich, um aus der Geschichte zu lernen? Die Hoffnung, man könne Offensivwaffen entwickeln, die nie eingesetzt werden, ist eine gefährliche Träumerei.

Die Atempause, die wir seit 1945 in Europa haben, ist noch nicht der Weltfrieden. Während hier die Waffen schwiegen, gab es - in der Dritten Welt vor allem - 130 Kriege. Ergebnis: 50 Millionen Tote - soviel wie im Zweiten Weltkrieg. Die Regierungen werden ihre Politik nur ändern, wenn sich vorher die Bürger ändern. Bürger müssen ihre Regierungen verändern.

106


Nachrüstung ist eine Geisteskrankheit.

Wenn wir fortfahren, viel mehr Geld für Rüstung als zur Bekämpfung des Hungers auszugeben, dann bereiten wir zuerst unseren seelischen und schließlich auch noch unseren körperlichen Tod vor. 2000 Jahre danach ist immer noch Gethsemane: Jesus verkannt, in Gefahr, gekreuzigt zu werden - und seine Anhänger schlafen. Ja, wir kreuzigen ihn permanent selbst: in jedem Kind, das verhungert, mit jeder auch ganz privaten Gewalttat, für die wir verantwortlich sind, und mit den Milliarden, die wir für Rüstung ausgeben.

Schlimmer noch als unsere sittliche Unreife zur Bergpredigt ist wohl das gute Gewissen, das wir dabei haben. Das Christentum ist in Gefahr, eine »Wunschkuh-Religion« (Hanna Wolff) zu werden, jederzeit siah melken und sich für alles in Anspruch nehmen zu lassen, sogar für sogenannte gerechte Kriege.

Das permanente Einlullen der menschlichen Verantwortung, das ständige Abschieben der Dinge, die wir selbst tun müssen, auf Gott, ist vielleicht das eigentliche Versagen von uns heutigen Christen. Jesus will uns als »Mitarbeiter«, nicht als »Knechte Gottes«. Ein knechtisches Menschenbild lehnt Jesus so sehr ab wie ein patriarchisches Gottesbild. Bei Jesus sind die selig, die keine Gewalt anwenden, die Frieden stiften, die ihre Feinde lieben. Das alles soll nicht irgendwann geschehen, sondern hier und jetzt. Der in der kirchlichen Praxis hinter die Wolke projizierte Gott ist zu großer Belanglosigkeit überhöht. Der Vater-Gott, von dem Jesus spricht, ist ein Gott der Liebe. Jesus ist ganz eindeutig: »Wer sucht, der findet.« »Wer meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Felsen baute.« Allerdings auch: Wer anders handelt, ist ein Dummkopf.

Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren? Ohne die Bergpredigt gibt es bald weder Regierende noch Regierte. Dem radikalen Wandel in Wissenschaft und Waffentechnologie muß ein ebenso radikaler Wandel unserer politischen Institutionen und vor allem unseres Bewußtseins folgen. 

107


Die Wegscheide, an der wir heute stehen, bezeichnet Jesus im »Friedensevangelium der Essener«1) so: »Kein Mensch kann zwei Herren dienen. Entweder dient er dem Tode oder dem Leben.« Ohne die Bergpredigt nähern wir uns dem Ende der Geschichte. Augustinus: »Man soll die Feinde lieben, nicht weil sie schon Brüder wären, sondern damit sie Brüder werden.« Mit Jesus begann eine neue Zeitrechnung. Es liegt nun an uns, ob jetzt, 2000 Jahre danach, auch endlich eine neue Zeit, eine Zeit ohne Krieg beginnt. Der Weg der Bergpredigt verspricht zwar nicht, ein Spaziergang zu werden, aber er ist trotzdem ein Weg in die Befreiung. Jesus: »Meine Last ist leicht.« Der Gott Jesu will befreien, nicht belasten.

 

       Frieden ist möglich      

 

Ist Frieden möglich? Schon immer wollte die Menschheit Frieden, und schon immer haben Politiker und Militärs Krieg geführt. Wann gab es bisher in der Geschichte Frieden, der diesen Namen verdient? 

Sind Menschen nicht von Natur aus gewalttätig und unfriedlich? Ist unter diesen anthropologischen Voraussetzungen Frieden wirklich möglich? Ist der Mensch nicht doch des Menschen Wolf? Zweifellos laufen in unserer Gesellschaft und in der internationalen Politik eine Menge böser Wölfe herum. Aber Thomas Hobbes' Überzeugung »homo homini lupus« (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) haben wir nur allzu gerne und allzu lange auf die anderen übertragen: auf die Gesellschaft oder auf die Feinde. Doch inzwischen dämmert es vielen: Der eigentliche böse Wolf sitzt in uns.

1)  Edmont B. Szekely hat in den Geheimarchiven des Vatikan schon in den 20er Jahren die aramäischen Schriften der Essener Sekte entdeckt und übersetzt. Seine Arbeit wurde 1947 durch die Qumran-Funde am Toten Meer weitgehend bestätigt. Vieles vom Geist der Bergpredigt wird verständlich, wenn man das »Friedensevangelium der Essener« gelesen hat. Es hatte in den USA seit 1934 5 Millionen Leser. Arnold Toynbee hat die Essener die »einzigen praktischen Mystiker der Geschichte« genannt.

108


Ihn erkennen und beherrschen wir nur durch Selbsterkenntnis im Sinne der Inschrift »Erkenne dich selbst« am Apollotempel zu Delphi. Apollo war der Gott des Maßes, der Ordnung und der Klarheit. Aber: Apollo hatte einen Stellvertreter und Gegenspieler, Dionysos.

Er verkörperte die Unordnung, die Unterwelt, das Chaos. Selbsterkenntnis ist zunächst die schmerzliche Einsicht, daß wir stets zwischen Apollo und Dionysos, zwischen Gut und Böse hin- und hergerissen sind. In jedem von uns steckt auch ein Dionysos, ein Wolf, eine Portion Böses. Selbsterkenntnis ist jedoch auch die Erkenntnis des Guten in uns, die Erkenntnis des göttlichen Kerns unserer Seele. Selbsterkenntnis heißt, sich daran zu erinnern, daß wir Gottes Abbild sind, von Gott kommen und zu Gott zurückkehren. Selbsterkenntnis ist der Kampf gegen die Materialisierung des Menschenbildes und des Menschen. Wir sind nicht die Herrscher über die Natur, sondern Kinder der Natur. 

Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter: »Ohne jeden Zweifel verfügt jeder von uns über eine aggressive Triebkomponente. Aber ebenso unbestreitbar kann der Mensch im Gegensatz zum Tier seine aggressiven Impulse in sozial unschädliche Bahnen lenken. Noch kein Historiker der Welt hat jemals einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen aggressiven Instinkten und der Anzettelung von Kriegen gefunden.« Die Vorstellung, wonach die Menschheit von Natur aus zum Krieg verurteilt sei, nannte Erich Fromm »absurd«.

Schweden und die Schweiz haben seit 170 Jahren keinen Krieg geführt. Ich habe nicht den Eindruck, daß den Schweden und Schweizern deshalb etwas fehlt.

Wer den Krieg als »Sachzwang« versteht, den nennen Papst und UN-Generalsekretär übereinstimmend »wahnsinnig«. Ich halte es für bemerkenswert, daß auch der ehemalige sowjetische Botschafter in Bonn, Valentin Falin, 1982 erklärt hat: Wer Krieg als Schicksal begreife, schaffe die »psychologische Infrastruktur« für Kriege.

Daß Frieden möglich ist, zeigt die Politik Westeuropas nach 1945. Meinem Vater und meiner Mutter wurde noch eingetrichtert, daß Frankreich unser Erbfeind sei. Heute wissen wir durch Erfahrung, wie lächerlich das war. 

109


Im Mittelalter galten Städte ohne Stadtmauern als etwas Utopisches. Vor 130 Jahren noch hielten viele Leser das Buch »Onkel Toms Hütte« von Harriet Beecher-Stowe, das die Abschaffung der Sklaverei forderte, für so utopisch, wie heute die Überwindung von atomarer Abschreckung für utopisch gilt. Politischer Aberglaube kann gelegentlich überwunden werden. Voraussetzung ist die Einsicht wenigstens bei einer Minderheit, daß sie selbst im argen liegen, wenn die Welt im argen liegt. Innere Umkehr ist sicher die schwierigste, aber sie ist nicht unmöglich. »Kehrt um« heißt bei Jesus: Werdet aktiv, verwandelt eure Angst in Vertrauen.

Wenn wir heute das Duell zum Austragen privater Zwistigkeiten für anachronistisch halten, warum sollten dann nicht auch immer mehr Menschen die Vorbereitung des atomaren Holocaust für anachronistisch halten? Nein, der Atomkrieg muß nicht sein, Frieden kann und muß sein, gerade im Atomzeitalter.

Mord- und Selbstmordbesessene Irre wird es immer geben, aber sie müssen ja nicht an die Schalthebel der Politik kommen. Bis 1972 glaubten China und die USA, sich auch militärisch voreinander schützen zu müssen. Heute muß man keinen Krieg mehr zwischen der kapitalistischen Vormacht und dem kommunistischen Riesenreich befürchten. Warum sollte eine ähnliche Entwicklung zwischen der Sowjetunion und den USA und zwischen Osteuropa und Westeuropa unmöglich sein? Wenn Verteidigung nur noch um den Preis der Vernichtung möglich ist, dann ist nur noch das »Nein« zu dieser »Verteidigung« rational. Vernünftig ist dann nicht Nachrüstung, sondern nur noch das Nein zur Nachrüstung.

Albert Einstein hielt ein Überleben der Menschheit ohne fundamentale Umbesinnung für unmöglich. Neue Sicherheitspolitik erfordert ein neues Denken. Vernichtungswaffen sind nicht die Ursachen, sondern die Folge von Vernichtungsdenken. Vernichtungsdenken muß durch Sicherheitsdenken und Vertrauensdenken ersetzt werden. Sicherheit ist die Fähigkeit, sich zu verteidigen, und nicht die Fähigkeit, den anderen zu vernichten. Aus legitimem Sicherheitsdenken wurde ein Sicherheitskomplex, ein krankhaftes Sicherheitsdenken.

110


Wie krank unser offizielles Sicherheitsdenken ist, bewies Helmut Schmidt, als er das MRCA-Tornado-Programm glorifizierend als das »größte Waffensystem seit Christi Geburt« bezeichnete. Wir haben uns im atomaren Felsen verstiegen und stehen am Abgrund: Jetzt müssen wir absteigen und dürfen nicht - durch Nachrüstung - noch weiter auf den Abgrund zugehen. Spätestens jetzt müssen wir die Bergpredigt beherzigen. Wir müssen umkehren kurz vor dem Sturz in den Abgrund. Am Abgrund stehen und vollmundig pfeifen nach dem Motto: »Es wird schon irgendwie gutgehen«, ist ein Zeichen von Schwachsinn. Aber konsequent stoppen und Schritt für Schritt auch dann absteigen, wenn sich der andere noch einen Schritt weiter dem Abgrund nähern sollte, ist die einzig humane Entscheidung. Stopp und Umkehr bieten keine Gewißheit dafür, daß der andere auch stoppt und umkehrt, aber die beste Voraussetzung.

Im »Friedensevangelium der Essener« sagt Jesus, der wahrscheinlich selbst ein Essener war, zu einem kleinen Kreis von Schülern über den Frieden: »Sucht den Engel des Friedens in allem, was lebt, in allem, was ihr tut, in jedem Wort, das ihr sprecht. Denn Frieden ist der Schlüssel zu allem Wissen, zu jedem Geheimnis, zu allem Leben.« Die seine Worte hören und danach versuchen zu leben, nennt Jesus »Kinder des Lichts«.

Gegenüber allen offenen oder versteckten Gewalttheorien, die auch heute noch Theologen und Kirchenfürsten gelegentlich in Jesu Lehre hineininterpretieren, muß ohne Wenn und Aber festgehalten werden: Jesus lehnt Gewalt ab, er ist der Mensch des Friedens. Seine Lehre ist eindeutig: eine Froh- und keine Drohbotschaft. Schafft Frieden, indem ihr zuerst selbst friedlich werdet; schafft Frieden, indem ihr Feindbilder abbaut. Die Bergpredigt stellt sich nicht mit außerordentlichen Forderungen außerhalb der Politik. Aber sie fordert auch von Politikern Außerordentliches. Die Bergpredigt denkt Politik von Anfang an und zu Ende. Die Bergpredigt fordert, immer auch an die Folgen des politischen Tuns, an die Folgen von Nachrüstung zu denken. Die Bergpredigt zeigt Christen ihre Verantwortung für das, was sie tun. »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.«

111


Die Bergpredigt stellt heute die Alternative: Gott oder die Bombe? »Ihr könnt nicht zwei Herren dienen«: Gott und der Bombe, dem Frieden und der Kriegsvorbereitung. Jesus stellt Erwachsenen Kinder als Vorbild hin: Kinder streiten zwar, aber sie bringen sich nicht gegenseitig um. Die Bergpredigt wurde immer irgendwie verstanden: exegetisch, wissenschaftlich, historisch, eschatologisch, messia-nisch, utopisch, theologisch, aber fast nie wirklich: ganzheitlich. Wir müssen die Bergpredigt so lesen, wie sie dasteht und so auch zu leben versuchen. Die Bergpredigt kann den Baum des Friedens zum Erblühen bringen, vorausgesetzt, wir hegen ihn.

Die Bergpredigt ist eine Sammlung wesentlicher Worte Jesu.

Diese Worte sind verläßlich. Jesus war kein Opportunist. Er hat nie übertrieben. Das kann jeder an sich selbst erfahren, der sich auf Jesus einläßt. Und wer es erfährt, braucht nicht mehr zu glauben, er weiß. Er weiß, daß Jesu Lehre die Brücke ist zwischen Menschen und Gott. Die Entfernung zwischen Mensch und Gott ist heute riesig. Um so notwendiger sind Brücken. Die Brücke zu einem Leben im Sinne des Schöpfers ist die Bergpredigt. Auch Politiker können diese Brücke betreten, wenn sie wollen. Woher wissen denn Politiker, daß man mit der Bergpredigt nicht regieren kann, wenn sie es nicht versuchen? Heinrich Albertz an Helmut Schmidt: »Ich habe immer mehr den Eindruck, daß die Grundregeln von Jesu Leben und Lehre die einzige Chance sind, auch als Nation zu überleben.« Das möchte ich heute Helmut Kohl sagen.

Wir haben die Bergpredigt begriffen, wenn wir anfangen, so zu leben, als hinge der Frieden ausschließlich von uns selbst ab. Alles andere ist ein Ausweichen vor unserer Verantwortung, das zu Passivität, Resignation und Fatalismus führt. Bonhoeffers Erkenntnis: »Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen«, heißt heute: Nur wer für den Frieden arbeitet, darf auch beten. Ein Christ darf politisches und religiöses Handeln nicht trennen. Die Bergpredigt tröstet nicht nach dem Motto: Es wird schon irgendwie gutgehen, sondern nach der Erkenntnis: Es kann nur durch uns gutgehen.

112


Auf dem Querbalken eines Kruzifixes bei der Andheri-Hilfe sah ich anstelle der gekreuzigten Hände diese Inschrift: »Ich habe keine anderen Hände als die euren.«1) Dieser Satz hat mich wie eine Erleuchtung getroffen: Alles hängt von uns ab. In der bisherigen Geschichte war Krieg immer Realität. Die neue Realität ist, daß es in Europa im Zeitalter »wechselseitig gewährleisteter Vernichtung« keine Kriege mit Überlebenschance mehr geben kann. Es ist historische Wahrheit, daß Krieg immer ein Mittel der Politik war. Die neue Wahrheit ist, daß Krieg nie mehr ein Mittel der Politik werden kann. In der alten Politik mag es auch »gerechte Kriege« gegeben haben. In der neuen Politik gibt es weder gerechte noch ungerechte Kriege, sondern nur noch Vernichtung, wenn nicht eine Relativierung dessen gelingt, was bisher »nationale Souveränität« war.

Atomkrieg ist gegen die Schöpfung und damit gegen den Schöpfer. Die neue Politik heißt Abrüstung. Die neue Religion heißt, die Bergpredigt endlich ernst zu nehmen. Der indische Religionsphilosoph Sri Aurobindo ging schon vor Erich Fromm über dessen berühmte Alternative »Haben oder Sein« hinaus: »Wissen oder Sein.« Unser Wissen, unsere banalen Fortschrittsphilosophien, die uns alles machen lassen, was wir machen können, hindern uns noch mehr am Mensch-Sein als die Äußerlichkeiten heutigen Lebens. Unsere Abhängigkeit von der Wissenschaft ist noch gefährlicher als unsere Abhängigkeit von der Ökonomie. Nicht zu wissen, zu sein ist unsere Aufgabe. Die Bergpredigt durchkreuzt nicht nur den Sinn des Habens, sondern auch den Sinn unseres Wissens durch den Sinn der Liebe. Wissen ohne Gewissen, das ist der Ruin unserer Seelen, so wie Freiheit ohne Verantwortung den Ruin der Freiheit bedeutet. Die Freiheit der Bergpredigt ist verantwortete Freiheit. 

1)  Andheri-Hilfe: Private Hilfsorganisation, die für 26 DM einem Blinden in Bangladesh durch eine einfache Operation das Augenlicht wieder schenken kann. Andheri-Hilfe Bonn, Mackestr. 53,5300 Bonn.

113


Der US-Dramatiker Arthur Miller flog Anfang der 50er Jahre von New York nach Kalifornien. Neben ihm im Flugzeug der Chefingenieur einer großen Petroleumfirma. Beim Überqueren der großen amerikanischen Wüste von Nevada meinte Miller zu seinem Nachbarn: »Na, das da unten werden die Menschen niemals ändern können, nicht wahr?« »Aber ja«, meinte sein Nachbar, der Chefingenieur, »wir könnten da unten 30 Millionen Menschen ansiedeln in der Wüste.« »Aber da ist doch kein Wasser«, warf Miller ein. Doch, unter der Wüste läge ein riesiger Ozean. Mit drei präzisen atomaren Explosionen käme Wasser nach oben, erfuhr der Dramatiker. »Aber würde denn das Wasser dann nicht radioaktiv vergiftet sein?« wollte Miller wissen. Und der Ingenieur antwortete: »Das ist nicht mein Gebiet.«

Wir wissen nicht zuwenig, wir wissen heute eher zuviel. Es fehlt uns nicht an Informationen, wohl aber an Orientierung. Die Bergpredigt geht nicht gegen die Vernunft an, aber gegen das, was manche als vernünftig und normal bezeichnen. Sie ist kein Ersatz fürs Denken oder für wissenschaftliche Friedensforschung. Wenn wir aus der heutigen ökologischen Krise wieder herausfinden wollen, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Rationalität, verantwortbare Rationalität, eine Rationalität, die ihre Grenzen kennt. Die Bergpredigt ist eine Schule für menschliche Vernunft. Ich bin überzeugt von der Lernfähigkeit des Menschen, ich glaube an die verschütteten und unentdeckten Intelligenz- und Liebesreserven in uns. Jeder, der will, kann sie erschließen.

An der Schwelle zum Dritten Jahrtausend nach Christus bleibt uns keine andere Wahl. Ob wir Sozialisten oder Kapitalisten sind, ist eher zufällig. Unser Überleben dürfen wir aber nicht weiter dem Zufall überlassen. So wie die heutigen globalen Gefahren aus uns erwachsen sind, aus unserem alten Handeln, so können wir die Gefahren in uns besiegen, durch neues Handeln.

Am 11. Juni 1982 betete ein Rabbi vor 10.000 Menschen während der UN-Abrüstungskonferenz:

»Du hast nicht Hiroshima zerstört -
 wir waren es.
Du hast nicht die Kinder ins KZ geschickt -
wir waren es.

114


Du hast nicht unsere Welt vergiftet -
wir waren es.
Aber heute erklären wir,
daß wir das Leben wählen,
damit unsere Kinder leben werden.« 

Eine Politik ohne atomare Bedrohung wäre nicht der Himmel auf Erden, aber der Hölle auf Erden könnten wir wahrscheinlich entkommen. Unser Ziel muß sein: »Frieden schaffen ohne Waffen.« Der realistische Weg dorthin: »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.« Vielen scheint dieser Weg und dieses Ziel unrealistisch. Aber was ist ihre Alternative? Wenn es bisher keinen Frieden gab, ist doch nicht bewiesen, daß es auch im Atomzeitalter keinen Frieden geben kann. Was gestern nicht möglich war, kann morgen möglich sein. 

Albert Schweizer, als er 1954 den Nobelpreis erhielt: »So manche Wahrheit ist lange oder ganz unwirksam geblieben, allein deshalb, weil die Möglichkeit, daß sie Tatsache werden könne, nicht in Betracht gezogen wurde.« Für viele ist Frieden heute noch eine Häresie. Aber ich erinnere daran, daß fast jede neue Wahrheit zuerst in Gestalt einer Häresie daherkam und bekämpft wurde. Was schwierig scheint, ist nicht unmöglich. Am 1. Januar 1983 fragten die katholischen Bischöfe der DDR in einem Hirtenbrief: »Gewinnt hier nicht das häufig belächelte Ideal der Gewaltlosigkeit, wie es uns Jesus in der Bergpredigt verkündet, eine bisher ungeahnte rationale Aussagekraft?« Ratio und Ethik: keine Gegensätze mehr — wann sagen so etwas die westdeutschen katholischen Bischöfe? Oder haben die westdeutschen Bischöfe gegenüber der CDU/CSU weniger Mut als die ostdeutschen Bischöfe gegenüber der SED? 

Wer vor 100 Jahren davon gesprochen hat, daß die Kinderarbeit abgeschafft wird, wer vor 300 Jahren davon gesprochen hat, daß die Sklaverei überwunden wird, wer vor 500 Jahren davon gesprochen hat, daß sich die Erde um die Sonne dreht, und wer vor 800 Jahren davon gesprochen hat, daß die Pest besiegt werden kann, wurde ausgelacht. Wir müssen die Pest unserer Tage, den Atomkrieg, verhindern, indem wir die Atombomben abschaffen. Wir haben keine andere Wahl.

115/116


»Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt wurde, ich aber sage euch ...« Das ist die neue Wirklichkeit und die neue Autorität. »Er lehrte sie, wie einer, der göttliche Vollmacht hat.« Matthäus schreibt am Schluß der Bergpredigt, daß »die Menge sehr betroffen von seiner Lehre war«. Man kann sich gut vorstellen, wie die »Realisten« schon damals den Kopf geschüttelt haben über soviel »Blauäugigkeit« und »Unsinn«. 

Und nochmal stelle ich die Frage, die man heute den »Realpolitikern« immer wieder stellen muß: Was ist eure Alternative zum Rüstungswahn und der Vernichtungspolitik, wenn nicht Jesu Feindesliebe? Nicht jeder muß ein Pazifist sein. Dem Frieden wären wir schon viel näher, wenn jeder ein Pazifist sein wollte. Die Bergpredigt ist nicht wirkliche Wirklichkeit, aber eine mögliche Wirklichkeit. Weil wir so handeln können, sollen wir so handeln. Die Bergpredigt ist die konkrete Utopie. Alles hängt von unserem Willen ab. 

Jesu Elementarfrage an die, die er heilte: »Willst du gesund werden?« Viele sagen ja, aber mit Vorbehalt. Frieden ohne Vorbehalt: das ist die Voraussetzung für Frieden. Wenn Frieden bisher »nur« ein Traum war. wird es höchste Zeit, im Atomzeitalter dieses Traumverbot zu übertreten. Frieden ist kein Problem, das man ein für allemal lösen kann, aber eine Wirklichkeit, an der man arbeiten muß. Frieden schaffen kann auch in der Politik nur, wer an sich selbst arbeitet. Es gibt in der Friedensfrage keine Neutralität. Der Frieden der Bergpredigt ist kein unverbindlicher Friedenswunsch, sondern konsequente Friedenspraxis.

Mit dem Frieden ist es wie mit der Liebe. Sie flieht aus jeder Partnerschaft, wenn nicht wenigstens einer was für sie tut. Es gibt keine Liebe ohne Liebesarbeit — es gibt keinen Frieden ohne Friedensarbeit. Im »Friedensevangelium der Essener« sagt Jesus: »Glücklich sind jene, die um Frieden ringen.« Frieden schaffen können wir, indem wir über Selbsterkenntnis nach Selbstverwirklichung streben. Selbst-Verwirklichung ist nicht Egoismus. Selbstverwirklichung befreit uns erst zu wirklicher Solidarität.

Selbstverwirklichung ist letztlich religiöses Streben. Religiöses Streben ist Streben nach einem wahrhaft humanen Leben, »das sowohl die Ich-Befangenheit des Menschen als auch die angebliche absolute Jenseitigkeit Gottes zu überwinden trachtet, so daß Selbstverwirklichung die endliche Antwort des Menschen auf die Menschwerdung Gottes sein kann.« (Helmut Barz)

In diesem Buch konnte es nicht um eine Theologie der Bergpredigt gehen; es ging mir um meine persönliche Erfahrung mit der Bergpredigt. Und daraus leite ich Überlegungen und Vorschläge für eine Politik der Bergpredigt ab. Ich möchte anstiften zur Bergpredigt.

Das neue, 2000 Jahre alte Menschenbild der Bergpredigt ist ein Aufruf: Entscheidet euch gegen das Gesetz der Gewalt und Vergeltung für das Gesetz der Liebe und Vergebung! — Bedenkt, daß ihr Menschen seid, und vergeßt alles andere! Arbeitet an der Überwindung des unmenschlichsten aller Dogmen: daß der Mensch unverbesserlich sei! Die Kirchen lehrten bisher entweder eine heillose Welt oder ein weltloses Heil. Doch seit der Bergpredigt könnten wir wissen: Das Heil ist nicht weltlos, und die Welt ist nicht heillos. Wenn wir mitarbeiten an der Heilung der Welt — dann werden wir verstehen und erfahren: Frieden ist möglich.

117

 

 Ende

 

 

  ^^^^ 

www.detopia.de