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Kommission für Grundwerte: Vom Wert der Natur
Dieser Vortrag wurde auf Einladung des
Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing
im Sommer 1982 gehalten. Die Diskussion kreiste damals um Neue Werte bzw. Grundwerte.
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Schon der Titel dieses Referats, meine Damen und Herren, ist hervorragend geeignet, positive, d.h. Wert-Gefühle auszulösen; und wir werden versuchen, diese positive Grundstimmung für die Dauer unserer Überlegungen beizubehalten - auch wenn dies nicht ganz den Richtlinien der kulturkritischen Mode entspricht, die zur Zeit herrscht.
Wem von uns geht nicht das Herz auf, wenn er etwa an einem sonnigen Wochenende durch Gottes freie Natur fährt? Schon der wackere Fußwanderer von einst hat, wenn auch in »leichtem Wanderschweiße« (Mörike), dieses Erlebnis genießen können; dem Radwanderer, einem Zwischen-Ergebnis der gesellschaftlichen Evolution, war bei geringerem Kraftaufwand schon eine größere Fülle der Prospekte beschieden; aber erst der Autowanderer vermag so recht Trakls Aufruf nachzuempfinden: »Wie lieb sich Bild an Bildchen reiht!«
Wiesen, Wälder, Flußauen, Berghänge; die Reihen schmucker Dörfer; das Wechselspiel von Licht und Wolken: wir wissen einfach, daß solche Schönheit in uns, in unserem humanen Instrumentarium, auf Antwort angelegt ist und auf Antwort wartet. Etwas in uns wartet auf solche Schönheit, gewiß, in einer Art von prästabilierter Harmonie, wartet und zieht immer neue Sättigung aus ihr - so wie der Hunger des Menschen nie des guten Brotes müde wird.
Aber dies ist eine Stunde der Reflexion, nicht so sehr der gefühlsmäßigen Einstimmung und Übereinstimmung. Natur als Wert: wir wollen uns über einige der Voraussetzungen klar werden, ohne die solche Wert-Setzung kaum zustandegekommen wäre. Mit anderen Worten: unsere Wert-Schätzung der Natur steht vor einem historischen Hintergrund, und erst vor diesem Hintergrund vermögen wir Inhalte und Grenzen dieses Wertes einigermaßen zu erfassen.
Dem Menschen der Vor- und Frühzeit, meine Damen und Herren, war ja die Natur keineswegs ein wert in dem Sinne, in dem wir sie heute reflektieren. »Dornen und Disteln soll sie dir tragen«: in dem bekannten Bannfluch, bei der Paradiesvertreibung über Adam und Eva verhängt, steckt ein Natur-Bild, das unseren Vorfahren wohl vertrauter und geläufiger war als unsere zivilisierte Naturliebe. Natur, also die uns umgebende lebendige Schöpfung, wurde wohl zunächst als »Unwert« empfunden - und zwar empfunden auf eine höchst existenzielle, ja brutale Weise. Der »Geiz der Natur«, den Friedrich Engels beklagt; ihre Grausamkeit, ihre Gleichgültigkeit und Fremdheit im Schweigen der Wälder, in der Hartnäckigkeit von Unkraut und Wetter, in der Unerbittlichkeit der Wüste: da blieb wenig oder kein Platz für das positive Naturerlebnis, das uns heute fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
Gewisse Hypothesen der modernen Anthropologie nehmen zwar an, daß das Naturgefühl der Jäger und Sammler, also der bislang ökologisch »erfolgreichsten« Kultur der Menschheit, von anderen Voraussetzungen geprägt wurde; daß der Kampf gegen die Natur als eine Feindin an die Bedingungen der Ackerbaukulturen gebunden ist; daß nur in ihnen die langen Arbeitszeiten nötig wurden, noch dazu für eine Arbeit, auf welche der nach ganz anderen Eignungskriterien selektierte Jäger sehr schlecht eingerichtet war.
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Aber wie dem auch sei - dies heute zu rekonstruieren, ist nicht nur dem Durchschnittsmenschen unmöglich. Die Älteren unter uns können sich jedenfalls noch an die Zeit erinnern, da das schmetternde Lied der Lerche im Frühling vermischt und gestört war durch die endlosen Flüche der Pflüger, welche etwas weiter unten über die Fluren hallten. Das Pathos des »Kampfes gegen die Natur« blieb in gewisser Weise bis in unsere Tage gewahrt.
Wie wesentlich solches Pathos für unser modernes Selbstverständnis war und ist, erhellt etwa aus der Rede Gustav Stresemanns anläßlich der Aufnahme des Deutschen Reiches (der Weimarer Republik) in den Völkerbund. In dieser Rede wies der Reichskanzler diesem »Kampf gegen die Natur« diejenige Rolle zu, die bis dahin von konservativen Kreisen dem Krieg zugedacht war: die Rolle eines Kampffeldes, eines Bewährungsspielraums für die Jugend der Welt unter härtesten Bedingungen. Der Natur ihre Geheimnisse und ihre Schätze zu entreißen - dies war schließlich das Programm auch der modernen Naturwissenschaft und Technik, und es ist ihr Programm bis in unsere Tage geblieben.
Ja, wir können feststellen, daß modernes Naturgefühl - eben jenes Naturgefühl, das den alten schrecklichen Kampf gegen Dornen und Disteln, gegen Dürre und Seuchen abgelöst hat - überhaupt erst auf dem Triumph der Zivilisation über die Natur errichtet und entwickelt werden konnte. Es dauerte Generationen, ehe sich etwa das italienische und französische Gartengefühl, im Bewußtsein der neuentdeckten Souveränität des geometrischen Geistes, von den Zylindern, Kegeln, Kugeln und Quadern seiner extrem gedrillten Anlagen lösen konnte; und es blieb lange in Konkurrenz zu dem schon mächtigeren, da selbstbewußteren englischen Park-Design, das seinerseits auf jahrtausendalte chinesische Natur-Ästhetik zurückgriff.
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Im 19. Jahrhundert vollends gelang es erst dem Bürgertum, den Ruf Rousseaus »Zurück zur Natur!« programmatisch aufzunehmen; romantisches Szenarium wurde zur Wüsten- oder Wald- oder Steppen-Kulisse für Stimmungen, die zwar in sich erhaben waren, aber doch viel Freizeit, d. h. von Anderen angehäuften und disponiblen Mehrwert voraussetzten.
Mit welchem Stichwort läßt sich diese neuzeitliche europäische Entwicklung zusammenfassen? Ich meine: mit dem Stichwort Toleranz. Dies ist auch entwicklungsgeschichtlich stichhaltig. Solange ein Konflikt auf Leben und Tod angelegt ist, wird Toleranz nur schwer, meist überhaupt nicht erreicht - siehe die Religionskriege, die erst in dem Augenblick beendet werden konnten, als andere Konfliktstoffe in den Mittelpunkt des Daseins der Völker traten.
Ähnlich konnte unsere Toleranz, ja unser Wohlwollen gegenüber der Natur erst dann Platz greifen, als (wenigstens für die führenden, zumindest die artikulierenden Schichten) der alte Fluch der Dornen und Disteln nicht mehr unmittelbar erlebt werden konnte und mußte. Dies war dann die Weltstunde, in der der Naturschutz in seiner heutigen Ausprägung geboren werden konnte. Halten wir an diesem Kreuzweg der Geistesgeschichte einen Augenblick inne. Die Natur, außerhalb der fürstlichen und öffentlichen Parks und Gärten eine abgewandte, geheimnisreiche, aber gerade deshalb immer bedrohliche Welt, wird zumJunior-Partner des Menschen - ja, wird zu seinem Mündel, das er schützen muß. Schützen wovor? Vor den Auswirkungen eben jener Zivilisation, die ursprünglich darauf angelegt war, sich der Unmündigkeit gegenüber der Natur zu entwinden. Natürlich konnte es zunächst nicht die Natur schlechthin sein, die man dem Schutz des Mitmenschen anempfahl - etwa ihre Wüsten, ihre Gletscher, ihre Urwälder.
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Es waren diejenigen Elemente und Bestandteile der Natur, die unser ästhetisches Empfinden und, vor allem, unsere Großmut am ehesten ansprechen: Singvögel, Schmetterlinge, andere seltene, aber liebe Tierarten, aber auch die stolzen Wappen-Freunde unserer feudalen Vergangenheit; Blumen in ihrer Vielfalt und Pracht; anmutige Waldränder, Teiche, kleine Moore, die keine Drohung für Entwicklung und Gesundheit mehr darstellten. Darüber neigte sich der zum Riesen gewordene Mensch, hegte und pflegte sie und versuchte ihr Weiterleben zu sichern. Seinen Mitmenschen aber, die noch immer (und wohl im unaufkündbaren Auftrag des Fortschritts) dem alten trotzigen Ethos des Kampfes mit der Natur verbunden waren, versuchte und versucht er in mühsamen Schritten jene Konzessionen abzuringen, die er im Interesse des Naturschutzes für notwendig hielt und hält.
Dies führte zwingend zum nächsten Etappenziel: zum Umweltschutz. Das Wort, meine Damen und Herren, setzt natürlich ein zivilisatorisch gewachsenes Selbstverständnis des Menschen voraus. Welt - Umwelt: darin ist die gesamte Dialektik dieses Welt- und Selbstverständnisses enthalten. Der Mensch sieht sich letzten Endes als welt, subsumiert sie in sich und seinen Kollektiven - wir können dies auch philologisch erhärten, wenn wir von Welt-Krise, Welt-Wirtschaft und so weiter reden. Gemeint ist damit immer und ohne viel Reflexion oder Umschweife die Welt des Menschen. Zu der umwelt gehört alles andere - vom anthropoiden Säuger bis zum Urgestein der Berge. Der Begriff Umweltschutz ist zwar exakter als der Naturschutz, dessen Begrenzungen er sprengt, hält jedoch fest, daß der Mensch mit seinen Natur-Eigenschaften und natürlich gegebenen Begrenzungen nicht dazu gehört.
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Das Begriffspaar Mensch-Umwelt festigt unser überkommenes Art-Gefühl als Krone der Schöpfung, es enthält implicite unser Bewußtsein von dem notwendigen und notwendig steilen Gefälle zwischen uns und eben dieser Umwelt - ein Gefälle, wie es zur Errichtung und Erhaltung einer Hochzivilisation unentbehrlich ist.
Nun wäre die anhebende Umweltdebatte sicherlich um vieles schwieriger angelaufen, wäre ihr nicht vor etwa einer halben Generation ein weiterer Begriff zuhilfe gekommen - der Begriff der lebens-qualität. Dieser Begriff ist in erster Linie funktional zu sehen, das heißt insbesondere in einer nationalen Funktion. Gerade für uns Deutsche kam er sozusagen gerade rechtzeitig. Nach den Erschütterungen des letzten Weltkriegs, der unser nationales Selbstgefühl in so beklagenswerte Unsicherheiten stürzte, kam mit der Währungsreform, die ja in erster Linie ein religiöses Datum war, eine höchst konkrete Eschatologie ins Spiel: das Streben nach einem Reich des Glücks, und zwar eines von jedermann konkret erfahrbaren, da materiellen Glücks. Dies führte zum bekannten und international anerkannten Wirtschaftswunder.
Das Selbstgefühl der Deutschen (der Westdeutschen zunächst, aber, auf eine bescheidenere und nicht ganz so konfliktfreie Weise, auch das der Bewohner der DDR) wurde damals, d.h. im Laufe von etwa zwanzig Jahren, entscheidend geprägt, modifiziert und gefestigt. Es wurde etwa seit Ende der sechziger Jahre zunehmend klar, daß diese stürmische Aufwärtsentwicklung aus materiellen und weltpolitischen Gründen nicht ungebremst weitergehen konnte und weitergehen würde. Im Ausblick auf neue Wegweisungen aber war man zunächst ziemlich ratlos, bis (eigentlich eher aus oppositionellen Kreisen) das Wort, der Wert Lebensqualität in die Debatte geworfen wurde.
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Heute wissen wir, daß dies, um unseren Altmeister zu bemühen, Teil jener Kraft war, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Zweifelsohne kam es etwa Männern wie Erhard Eppler nicht drauf an, unserem bundesdeutschen Selbstverständnis positiv weiterzuhelfen - vielmehr war ihre Agitation darauf angelegt, die Lebensqualität als trojanisches Pferd ins Innere unserer freiheitlichdemokratischen Grundordnung zu schmuggeln, um dann aus seinem Inneren die sattsam vermuteten Systemveränderungen durchführen zu können.
Die Rechnung ging nicht auf, unsere Grundordnung war viel zu stabil, um sich nicht auf ihre organische Weise den neuen Begriff zu assimilieren. Ja, der Begriff mußte, zeitgeschichtlich gesehen, das ideale Nachfolge-Instrument nach dem Instrument des Wiederaufbaus werden. Lebensqualität - das verhielt sich zum Wiederaufbau etwa wie die Nouvelle Cuisine zur Schweinshaxe, wie Chivas Regal zum Doppelkorn, wie der Rolls Royce zum Opel Rekord.
Nach dem Steilwand-Auf- und Einstieg des eigentlichen Wirtschaftswunders war man auf einem gewissen Plateau angelangt, die Quantität interessierte als Status-Symbol ohnehin nicht mehr, oder doch nur in den weniger maßgebenden Kreisen. Und so begriff man ohne größere Schwierigkeit, daß wirkliche Lebensqualität eben nicht nur den Wagen in der eigenen Garage, den Swimming-Pool im eigenen Garten, sondern auch die reine Luft und das klare Wasser umfassen mußte, um wirklich stilgerecht und allgemein akzeptabel zu sein. Gerade das Zweckfreie (oder als zweckfrei Empfundene) an solch neuem Streben wies es als qualitativ wertvolles Streben aus; und nach den Schlachtfeldern des Konkurrenzkampfes sehnte man sich nach möglichen Formen der Kooperation mit der Natur.
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Ohne Zögern dürfen wir behaupten, daß mit dieser Konstellation die seit langer Zeit beste Chance gegeben war, den Wert der Natur, die Natur als Wert, ja als Grundwert anzuerkennen. Alle die Prinzipien, welche die soziale Marktwirtschaft groß gemacht hatten (nicht zuletzt das sensible Eingehen auf den Sozialpartner!) konnten nun, unter dem Zeichen des Umweltschutzes und der Lebensqualität, auf den Umgang mit der Natur übertragen werden. Nachdem sie sich, nicht ohne unser Zutun, der Dornen und Disteln entledigt hat; nachdem sie, mit anderen Worten, nach der These der Natur-Herrschaft und der Antithese der Zivilisation und ihrer naturerschließenden Methoden in die Synthese der Kooperation eingetreten ist, hat die Epoche eines aufgeklärten Umgangs mit der Natur eigentlich erst begonnen. Damit sind alle jene Kulturpessimisten widerlegt, die seitj. J. Rousseau den zivilisatorischen Prozeß als solchen verdächtigen - er war vielmehr die notwendige Durchgangs-Phase zur erwähnten Kooperation.
So weit, so gut, sind wir versucht zu sagen. Die Definition der Natur als eines Grundwerts scheint geglückt, nach zahlreichen Schwankungen und Übersteuerungen hat sich der zivilisatorische Prozeß als »natur«-notwendiger Prozeß enthüllt, und wir können auch in dieser Hinsicht in die eigentlich menschliche Geschichte eintreten. Leider tritt jedoch mit der Erreichung dieses Zustandes ein neues Problem hervor; ein Problem, das aus einem ganz anderen Aspekt der Natur entspringt - und es wäre höchst unredlich, diesen Aspekt beiseite zu lassen. Denn erst dieser Aspekt enthält die eigentlichen Schwierigkeiten, mit denen wir uns heute befassen müssen. Es handelt sich um jenen Aspekt der Natur, der etwa im Begriff des »Naturgesetzes« auftaucht. Jenen Aspekt also, der zunächst (und jedenfalls für den Laien) wenig oder nichts mit Trauerfaltern, Rotkehlchen und Frauenschuh zu tun hat.
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Ja, wenn es nur darum, um das Lebensrecht so liebenswürdiger Arten ginge, wäre das neue Programm der toleranten Kooperation leicht zu verwirklichen. Aber leider hat die »Natur« selbst (wir gebrauchen den Ausdruck jetzt im umfassenden naturwissenschaftlichen Sinn) Verknüpfungen hergestellt, die es uns nicht erlauben, jene Arten isoliert zu betrachten oder ihr Weiterexistieren als den geglückten Test unseres neuen Naturverhältnisses. Vielmehr hat die Natur die Existenz beziehungsweise den Untergang dieser Arten und darüber hinaus ganzer Lebens-Systeme an Gesetze gebunden, die sich nur schwer mit unserem zivilisatorischen Streben in Einklang bringen lassen -ja, die ihm gerade im Grundsätzlichen widersprechen.
Ideologisch läßt sich das so formulieren: die umwelt besteht darauf, welt zu sein; welt in jenem ärgerlichen Sinn, der uns, als der doch offensichtlich zur Herrschaft berufenen Spezies, nach wie vor eine Art Untertanenverhältnis aufzudrängen sucht.
Das zentrale Problem, so scheint es, basiert darauf, daß auch im Reich der Natur, um nochmals Goethe zu bemühen, Vernunft, Unsinn und Wohltat Plage geworden ist. Die gesamte Evolution ruht auf den sogenannten thermo-dynamischen Gesetzen auf: dem Gesetz von der Erhaltung der Energie - und dem Gesetz von ihrer Umwandlung in immer diffusere Formen, also dem Entropie-Gesetz. Die Natur, erfindungsreich wie sie war (und vermutlich immer noch ist), hat sich diese beiden Gesetze durchjahrmilliarden zunutze gemacht, um scheinbar neg-entropisch das Leben aufzubauen. Wir werden sofort darauf zurückkommen, welche Methoden dabei im einzelnen verwendet wurden. Dabei hat sie jedoch nicht bedacht, daß sie eines Tages mit der Logik unseres Zivilisations-Entwurfs zusammenstoßen könnte.
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Begnügen wir uns mit Stichworten!
Das Leben operiert dezentral, das heißt in Netzen von vielfältigen Beziehungen ohne hierarchischen Mittelpunkt; unser Zivilisationsentwurf drängt dagegen immer mehr zur Zentralisierung und Vereinheitlichung hin.
Das Leben bezieht seine Anstöße zur Weiterentwicklung aus Fehl schlagen, ja aus Katastrophen, nach dem Versuch- und Irrtum-Verfahren - während wir (besonders bei Anwendung hochkomplizierter Technologien) auf Risiko-Ausschaltung durch redundante Sicherungen bestehen müssen.
Leben verläuft in Regelkreisen, welche die merkwürdigsten Zweit-, Dritt- und weiteren Folgen ebenso hervorrufen wie verarbeiten - während wir, um den Fortschritt weitertragen zu können, Probleme isolieren und monokausal behandeln müssen.
Mit diesen Methoden nun hat es das Leben geschafft, das bisher einzig bekannte System zu sein, in dem die Entropie, also der Prozeß der Umwandlung aller Energie und aller Ordnungs- bzw. Informationssysteme in immer weniger nützliche Formen wenn nicht aufgehoben, so doch suspendiert erscheint. Und da dieses System über ein laufendes Energie-Einkommen in Form der ständig einströmenden Sonnenenergie verfügt, erreicht es wenigstens in der Praxis die Wirksamkeit eines Perpetuum Mobile zweiten Grades - also einer Maschine, die sich nicht nur selbst endlos mit Energie versorgt, sondern dabei auch noch Arbeit leistet, ja fähig ist, Energie zu speichern. (Dies ist der Anschein der Neg-Entropie, von der wir sprachen.)
Damit gelangen wir an die Kernfrage, in die uns das Thema hineinzwingt.
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Die Natur (um ihr gegenüber fair zu sein) hat sich vermutlich wenig dabei gedacht, als sie den unzähligen Varianten beweglichen Lebens zunächst den Pitecanthropus, dann den Homo Habilis und schließlich den Homo Sapiens Sapiens hinzufugte. Sie rechnete (um den Anthropomorphismus weiterzuführen) damit, daß diese neue Spezies den gleichen Gleichgewichtskontrollen unterworfen sein würde wie alle anderen Arten: Hunger, natürliche Feinde, Krankheit, intraspezifische Aggressionen und Vermehrungskontrollen. Daß dabei das Großhirn zum ein- und erstmaligen Problem werden könnte, war in diese Rechnung nicht einbezogen.
Andererseits trat der Mensch seinen Weg an - von vornherein von dem Streben beherrscht, diese Kontrollen abzuschütteln. Und er war darin so erfolgreich, daß er schließlich den beschriebenen Punkt der möglichen Kooperation erreichte - den Punkt des natur- bzw. Umweltschutzes, der unserer Spezies von vornherein den übergeordneten Platz in der Hierarchie des Lebens zuweist. (Andere Kulturentwürfe, die dem Fortschritt im Wege standen und stehen, wie etwa die alten Jäger- und Sammler-Kulturen oder asiatische Hochreligionen mit starken Verzicht-Komponenten, können wir hier übersehen - sie haben die Probe der Geschichte nicht bestanden.) Aber nun, am Punkt der möglichen Kooperation, stellt sich heraus, daß die Natur (strikt als nichts anderes definiert als ein komplexes System der Energie-Optimierung!) nach wie vor darauf besteht, ihre Prinzipien gegen uns durchzusetzen - schlimmstenfalls durch Eliminierung unserer Art als eines evolutionären Irrtums. Hier wird's ernst. Wie schon erwähnt, ist unser Verhältnis zur Natur von Toleranz geprägt - einer Toleranz, die sogar Vorleistungen wie natur- und Umweltschutz zu erbringen bereit ist. Wir strecken der Natur wie einem
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Sozialpartner oder einer benachbarten Macht die Hand zur Zusammenarbeit entgegen. Wir sind bereit, ihr ein gewisses Maß an Eigenentfaltung zuzuerkennen —vorausgesetzt natürlich, daß sie daraus kein Herrschafts-Recht ableitet. Nichts könnte fairer sein.
Aber was tut die Natur?
Sie besteht auf Herrschaft. Das heißt, sie besteht auf der strikten Beibehaltung der thermodynamischen Gesetze, mit denen ihre Arbeit begonnen hat, und diese Gesetze haben, wie die Dinge liegen, einen bedauerlichen Zug ins Totalitäre. Bisher lassen sich noch nirgends Anzeichen für einen Kompromiß erkennen, der doch das A und O unserer politischen Kultur und unseres Gesellschaftsvertrages ist. Diese Umwelt, diese natur besteht darauf, bis zum I-Tüpfelchen an den genannten Gesetzen festzuhalten - und zwar auf unsere Kosten!
Sie wird, wie das alten, schon etwas unbeweglich gewordenen totalitären Systemen eignet, zunächst nicht frontal vorgehen, aber sie wird uns auf die verschiedenste Weise zu erpressen versuchen; sei es durch Verschlechterung der Umwelt-Bedingungen (siehe Waldsterben!), sei es durch rigorose Anwendung der Thermodynamik oder was ihr sonst an Waffen zur Verfügung steht. Dahinter aber steht absoluter Herrschaftswille; wer das anders sieht, wer in ein romantisch-harmonisches »Natur«-Gefühl flüchtet, macht sich der Traumtänzerei schuldig. Dieser Herrschaftswille kennt, wenigstens im Prinzip, nur die Alternative Vernichtung oder Unterwerfung. Stete Wachsamkeit ist also geboten. Wir sind, wie schon erwähnt, durchaus bereit, den Wert der Natur anzuerkennen. Wir sind sogar ständig zur Diskussion mit ihr bereit. Wir könnten zum Beispiel darauf verweisen, daß wir ja letzten Endes nichts anderes wollen als den Art-Auftrag erfüllen, der uns mit dem Großhirn, dem gegengestellten Daumen, der befreiten, nicht mehr an Oestrus-Zeiten gebundenen sexuellen Appetenz mitgegeben worden ist - mitgegeben von wem anders als von ihr, der Natur, selber!
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Aber leider würde sie sich diesem Argument ebenso verschließen, wie sie seinerzeit die Argumente der Saurier und der Trilobiten übergangen hat. Ja, sie könnte sophistisch zurückfragen, was wir selbst etwa mit zurückgebliebenen Gruppen von Homo Sapiens angestellt haben, für die wir unsererseits infolge bedauerlicher historischer Sachzwänge zum Werkzeug wenn nicht der biologischen, so doch der artgeschichtlichen Selektion geworden sind. (»Selektion« ist hier rein biologisch zu verstehen, nicht etwa im Sinne der Rampe von Auschwitz-Birkenau.)
Kurz, wir müssen davon ausgehen, daß ein argumentativer Appell an die »höhere Moral« der Natur, an ihr »Mitleid« ungefähr so viel Sinn hat wie der kürzliche Appell der Amazonas-Indianer an den Papst. Hier kann nur eine Politik sinnvoll sein: eine Politik des Gleichgewichts und der Abschreckung aus einer Position der Stärke heraus. Nur aus einer solchen Position der Stärke können wir den Vorschlag wenn nicht zur Zusammenarbeit, so doch zur Entspannung des gegenseitigen Verhältnisses wiederholen. Wie könnte, unter heutigen Umständen, ein solcher Vorschlag aussehen? Er würde, so meine ich, zunächst einige Zeichen guten Willens von Seiten der Natur voraussetzen: jenes guten Willens, zu dessen Erzeugung wir durch natur- und Umweltschutz schon so beträchtliche Vorleistungen erbracht haben. Dabei gilt es, nach den Gesetzen der Konfliktforschung die spezielle Lage des Gegners zu beachten. Noch keinem totalitären System ist es eingefallen, grundsätzliche Positionen öffentlich zu widerrufen. Wohl aber kann es sie im Zeichen einer anzustrebenden Koexistenz pragmatisch zurückstellen.
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Was wir heute, im ausgehenden jahrtausend, der Natur vorschlagen können, ist ein Moratorium; eine Politik des do ut des, des Gebens und Nehmens. Einzelheiten dieses Moratoriums wären »vertrauensbildende Maßnahmen«. Unsererseits haben wir solche Maßnahmen bereits vorgenommen, siehe oben. Wir können sie also mit Fug und Recht auch von der Gegenseite erwarten.
Im Folgenden sollen (ohne jede Gewichtung und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit) einige solche möglichen Maßnahmen aufgelistet werden. Es geht in diesem frühen Stadium nicht um formalisierte Paragraphen, sondern um Explorationen im Vorfeld, um lockere Kontaktaufnahme, um informelle Signale. Als Zeichen guten Willens der Natur, als vertrauensbildende Maßnahmen im Sinne dieses Vorschlags, würden wir etwa anerkennen:
1. Verzicht auf die Anreicherung und Konzentration von Giften in der Nahrungskette.
Es ist schlechthin tückisch, unsere winzigen Dosen an Chlorwasserstoffen oder Cadmium, die wir zur Bewältigung unserer Wirtschaftsprobleme unbedingt benötigen, derart zusammenzuballen, daß sie zur Gefährdung von Mensch und Umwelt werden. Wenn die Natur nicht wünscht, daß wir Champignons oder tierische Innereien essen, dann hätte sie von vornherein unseren Nahrungs-Apparat anders einrichten müssen. Wenn sie nicht wünscht, daß wir in Afrika noch Chlorwasserstoffe zur Bekämpfung der Tsetse-Fliege einsetzen, dann hätte sie eben diese wertvollen Gebiete ohne eine solche gefährliche Spezies auslegen sollen. Die bisherige Gewohnheit der Natur, solche Gifte in der Nahrungskette zu konzentrieren und anzureichern, stellt also eine permanente Aggression dar. Sie muß künftig unbedingt unterbleiben, wenn Vertrauen entstehen soll.
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2. Verkürzung der Halbwertzeiten radioaktiver Stoffe.
Die Belastung ungezählter künftiger Generationen mit den Entsorgungsproblemen der Radioaktivität, die als Folge unserer unabweisbaren Energiebedürfnisse bisher unvermeidlich ist, muß so oder so aufhören. Die Natur kann auch nicht erwarten, daß wir heute schon die Planstellen für die Gesamtdauer dieser Problematik in unsere öffentlichen Haushalte oder die Haushalte unserer Versorgungsunternehmen einsetzen.
3. Anpassung bestimmter Biozönosen an den Sauren Regen.
Wir können und dürfen guten Gewissens behaupten, daß es nie unsere Absicht war, norwegischen Fischern oder deutschen Wäldern die Risiken unserer Produktion aufzuerlegen; aber diese Produktion ist nun einmal notwendig, um unsere Wirtschaft aufrechtzuerhalten und international nicht der Konkurrenz zu unterliegen. Auch hier müßte die Natur von ihrer drakonischen und völlig unlogischen Systematik abgehen.
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4- Gleichmäßigere Verteilung der Bodenschätze und fossilen Energiereserven.
Es gibt keinen rationalen Grund, die Lebensadern unserer Zivilisation, vor allem ihre Ölreserven, ausgerechnet in ödeste Weltgegenden zu installieren, in denen noch dazu höchst ungünstige politische Verhältnisse herrschen. Etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit ist dringend geboten.
Und so weiter. Die Liste ließe sich natürlich fortsetzen.
Wir könnten sogar einem Stufenprogramm zustimmen, welches die beiderseitigen Sachzwänge gebührend berücksichtigt. Aber an der grundsätzlichen Notwendigkeit vertrauensbildender Maßnahmen von sehen der Natur aufgrund unserer beträchtlichen umweltschützeri-schen Vorleistungen kann kein Zweifel bestehen. Solche Vertrauensbildung wäre schließlich nur im Interesse der Natur selbst. Denn eines sollte sich die Natur immer vor Augen halten: wir können auch anders! Wie die Menschheitsgeschichte zeigt, haben wir noch immer anders gekonnt. Notfalls sind wir durchaus bereit, für unsere Würde, unsere Souveränität, für den Primat des Menschen über die unvernünftige Kreatur schwerste Opfer, ja das Opfer des eigenen Lebens auf uns zu nehmen - auch heute noch. Die Natur sollte aus unserem Friedenswillen nicht den falschen Schluß ziehen, daß wir zu einem »Appeasement« um jeden Preis bereit seien. Uns geht es nicht um ein Feindbild, uns geht es vielmehr - wiederholen wir es wegen der Dringlichkeit unseres Anliegens! - gerade darum, ein versöhnliches, ein positives Verhältnis zur Natur zu entwickeln.
Wir bedauern es aufrichtig, daß die Natur es für nötig gehalten hat und hält, Hunderte von Arten einfach aus dem Verkehr zu ziehen, weil wir nicht alle ihre überzogenen Vorstellungen von Vielfalt, Komplexität usw. honorieren können. Wir bedauern aufrichtig, daß wir kaum mehr oder doch nur ganz selten das Flöten des Pirols, das Schluchzen der Nachtigall, das erregende Licht der Glühwürmchen erleben dürfen - aber wir müssen es energisch ablehnen, daß man die Verantwortung dafür uns aufbürdet. »Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht«: das Wort des Dichters erkennen wir auch heute noch rückhaltlos an, aber wenn die Natur solche Verarmung durch ihre eigene Rigorosität hervorruft, die sie unseren legitimen Ansprüchen auf Entfaltung entgegensetzt, dürfte klar sein, wo die Verantwortung festzumachen ist...
Ja, dies ist der entscheidende Punkt: von der Linie des historischen Fortschritts können wir ohne Selbstaufgabe nicht zurückweichen, das haben die politischen Entwicklungen gerade auch in der BRD zwingend aufgezeigt. (Nicht zuletzt die entscheidende Wende von 1982/83 hat hier ihre Ursachen!) Wird die Verständigung entlang dieser Linie abgelehnt, wird uns von der Natur sozusagen die »Finnlandisierung« unserer politisch-gesellschaftlichen Optionen zugemutet, dann können wir nicht nur anders, dann müssen wir anders.
Dann müssen wir eben zurückschlagen. Wir müssen dann das Altmühltal modernisieren, die Wälder am Amazonas abholzen, die Weltmeere und die Binnengewässer mit Produktionsrückständen anreichern, die nicht immer zuträglich sind und sein können. Wir können und müssen uns dann gegebenenfalls selbst zur Disposition stellen, in einem letzten gewaltigen strategischen Schachzug - denn es geht um's Prinzip. Wenn die letzte Alternative lautet: blinde, steinerne Gesetze gegen unser menschliches Prinzip Hoffnung - dann, so meine ich, wird die Verteidigung dieser Verheißung auch bis zur Selbstaufgabe vom Herrn der Geschichte nicht als Schuld, sondern als heroische Tugend gewertet werden.
Aber noch geben wir nicht auf. Die Hand zur Versöhnung bleibt ausgestreckt - wenn auch aus einer Position der Stärke heraus. Die Natur hat die Wahl.
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