Über einen Erasmianer
Vorwort 1991 von Walter Jens
Einleitung (8-11)
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Der Mann, dessen Essays, Pamphlete, Kolumnen, Reden, Hymnen und Flüche ich in knapper Antizipation vorzustellen habe, Carl Amery, ist — wie sein geheimes Vorbild, der Humanist Erasmus von Rotterdam — ein <Mensch für sich>:
Ein Einzelkämpfer, der auf Solidarität vertraut;
ein Rufer in belebter Gartenwelt (nicht in der künftigen Wüste, noch nicht);
ein Bayer und Kosmopolit, im Bund mit seinem geliebten Montegelas (und nicht, trotz gemeinsamer altphilologischer Bildung, mit Franz Josef Strauß);
ein Aufklärer, der aufs Bewahren und Behüten ausgeht (sofern es sich lohnt);
ein konservativer Rebell, der zugleich radikal und behutsam, zornig und sanft ist.
Ein echter Erasmianer also; der Tonfall, den der Humanist in der »Klage des Friedens« anstimmt, wird von Amery ins Ökologische gekehrt: Hier wie dort sieht sich das letzte Stündlein beschworen, hüben das Stündlein der christlichen Ritter, die mit dem Frieden auch jenen Jesus vertrieben, der nicht der ihre ist; drüben das Stündlein der Ausbeuter, Wachstums-Fetischisten, Naturzerstörer und Lebensverneiner, die mit Vernichtung der dritten auch die Verwüstung der ersten Welt befördern, weil sie "gegen ein System auflaufen, das unerbittlicher ist als alle Stalinismen: die Gesetze der Biosphäre."
Ja, ich habe bei der Lektüre der Amery'schen Thesen (Das Ende des Kapitalismus: der Suizid) immer wieder an Erasmus denken müssen: Die Schärfe der Sanftmut, das Bodenständige beim Überblicken der Welt (Erasmus, des großen Latinisten, letztes Wort: "Lieve God"), das Bekenntnis, in widrigen Zeiten die Rolle einer Frau zu spielen, der einzig wissenden Kassandra, schließlich der Wille zu entschiedener Grenz-Überschreitung (das ganze Universum! Kein leerer Fleck!)... dies alles verbindet die Humanisten von gestern und heute — ungeachtet der Tatsache, daß der Niederländer auf den folgenden Seiten keine Rolle spielt.
Und doch: welch ein Vorbild! Welche Verwandtschaft — einerlei, ob es um den Pakt mit den kleinen Leuten geht, den Winzern und Schiffern, um die Entschlossenheit, Rationalität und Demut miteinander zu vereinen, um redliche Stetigkeit über die Jahre hinweg, um das Belächeln der Großen Hanse aus der Froschperspektive.
Und so habe ich denn Carl Amerys gescheite und aufsässige, von eigenwilliger eschatologischer Hoffnung bestimmte Essays — Studien, über die man bisweilen in Zorn gerät, bei der Überschätzung der liberalitas Bavariae zum Beispiel im Angesicht Kant'schen Rigorismus, die aber niemals langweilen, niemals gleichgültig lassen... und so habe ich Amerys, meines Kombattanten aus Tagen der Gruppe 47, gesammelte Studien aus der Perspektive eines Menschen gelesen, der wie sein Nachfahr zwischen allen Fronten stand: Luther verdächtig und den Papst aus dem Himmel verweisend, den Frieden als das höchste aller Güter verteidigend und voll Ehrfurcht gegenüber jenem Reichtum der Natur, den der Mensch ausplündern wolle.
Und dann noch eine Parallele, die wichtigste vielleicht: Hüben wie drüben wird, über die Jahrhundertwende hinweg, der Verfall des Ästhetischen in widrigen Zeiten beklagt — Uniformität statt Schönheit; Mache statt gestufter Historizität: Wo Effizienz oberster Wert ist, verkümmern die Künste, heißt die Devise, und mit ihnen die Humanität.
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Und schließlich ein letztes, das mutatis mutandis (dramatische Unterschiede wollen nicht geleugnet sein) die Humanisten miteinander verbindet: Das Bekenntnis zur Angst als der Tugend, die, verwegener Überheblichkeit steuernd, dem Menschen seine Endlichkeit verdeutlicht, die Gefahr des Scheiterns, das Risiko allzu selbstgewisser Anspannung.
Ohne Angst, dies macht Carl Amery deutlich, in entschiedener Absage an Machbarkeits-Vorstellungen rechter und linker Couleur ... ohne Angst verfällt die Spezies homo sapiens der baren Amoralität, weil sie sich über alles Mitgeschaffene hinwegsetzt und damit, die Genesis widerrufend, am Ende nicht nur gegen die Schöpfung, sondern auch gegen den Schöpfer ins Feld zieht.
Gleichwohl, so umfassend Amerys Thesen auch sind, so düster seine Perspektive, so verwegen das Herbeizitieren der docta spes zur Beförderung der großen humanen Gegen-Vision (»himmlische Zeichen als Aufforderung der Umkehr«): Der Duktus seiner von Witz und Gelehrsamkeit zeugenden Untersuchungen (und der Freundes-Reden erst recht) ist zu gelehrt, um fanatisch zu sein. (Höchste Zeit, denkt der Leser, endlich einmal wieder Schindler und Döllinger zu lesen und dann, mit einem kühnen Sprung nach Oxford und Cambridge, Huxley und C. P. Snow!)
Mag der von kontinuierlichem Weiterdenken, nie von Brüchen und plötzlichen Neu-Erkenntnissen zeugende Stil von überraschenden Bildern geprägt sein (das einleuchtendste: Der hoffnungslose Chirurg) — er brilliert nie, sondern bleibt, dem Thema angemessen, ruhig, konzentriert und gefaßt. Ein Hauch von Serenität ist unverkennbar, wenn Amery, aus verfremdender Perspektive (nicht dröhnend-tautologisch also), die planetarischen Gefahren beschwört, und, wenn's ihm auch das Herz zerreißt beim Bedenken der Konsequenzen: Es macht ihm gleichwohl Spaß, jene Herren der Welt ins Licht zu rücken, die Menschen mit zwei verschiedenen Tugend- und Laster-Systemen brauchen, um sich den Planeten untertänig zu machen: Puritaner während der Woche und wild konsumierende Brüder und Schwestern Leichtfüße am Weekend.
Dieses Buch, denke ich, hat ein Schriftsteller komponiert, der, gut erasmianisch, über zwei Tugenden verfügt, die rar zu werden beginnen: Bildung und zitatgesättigte Freude an heiterer Präsentation einer tristesse, die harmlos erschiene, würde sie mit grimmigem Sendungsbewußtsein beschrieben.
Nein, kein Fanatiker, sondern ein friedlicher Aufklärer und störrischer Konservativer ist Pate der Essays: Erasmus, der die klugen Frauen in gleicher Weise für intelligenter hielt als die Vertreter der Kirchenhierarchie, wie Carl Amery die Winzer von Wyhl für einsichtiger erachtet als die Wachstumsberechner in Bonner Büros.
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Einleitung von Carl Amery (1991)
8-11
Der vorliegende Band umfaßt Aufsätze, die im Laufe der letzten fünfzehn Jahre entstanden sind — der eine oder andere mag älter sein, erhält aber seinen Stellenwert durch den inneren Zusammenhang mit dieser Zeit, die für den Autor spannend und spannungsreich gewesen ist.
Der Band gehört in eine Edition <Gesammelte Werke in Einzelausgaben>. Eine solche Edition braucht nicht vollständig zu sein, stellt sich schon gar nicht den Kriterien einer Werkausgabe. Dennoch gibt es gute Gründe dafür, diese Aufsätze innerhalb der Edition vorzulegen.
Der erste ist methodischer Natur.
Der Autor gehört zu den Langsamen, trägt größere Arbeiten (essayistische Monographien und Romane) in Mehrjahresabständen aus. Dazwischen liegt viel: Vor- und Nacharbeit, Überprüfung alter und Prüfung neuer Perspektiven, Umwege und Exkurse in die Gefilde des sogenannten Zeitgeistes. Der Leser, der sich auf die Bewältigung einer Gesamt-Edition einläßt, hat, so scheint mir, ein prinzipielles Recht darauf, nicht nur die Profile von ein paar Berg- und Hügelspitzen, sondern auch die dazwischenliegende Geographie zu erblicken — eine Geographie, in der doch wohl die entscheidende Pilgerfahrt des Autors stattfindet.
Solche Geographie ist heute schwieriger zu vermitteln als in den hohen Zeiten des Bildungsbürgertums.
Die Medien antworten einander nicht mehr oder kaum mehr, und es ist reine Glückssache (selbst für den hypothetischen Amery-Gesamtleser), ob er mitbekommt oder mitbekommen hat, was im Abstand von vier oder fünf Jahren, zwischen (sagen wir) einem Essay und einem Roman, aus dem Autor und seiner Arbeit geworden ist.
Nun, er kann sich damit trösten, daß es der sogenannte Kulturbetrieb auch nicht — oder nur sehr unvollkommen weiß. Man begnügt sich damit, aus Klappentexten und Standard-Rezensionen das eine oder andere Stichwort zu entnehmen und es dem Autor aufzukleben, was seinen Wert an der literarischen Supermarktkasse ablesbar macht.
Der Autor muß sich das (was bleibt ihm übrig) mehr oder weniger zähneknirschend gefallen lassen; es blieb und bleibt ihm vom Linkskatholiken bis zum Ökologen (was Öko-logisten heißen müßte), vom Querdenker (wenns schlimmer kommt, verschmitzten Querdenker) bis zum bayerischen Patrioten so gut wie nichts erspart.
Vielleicht ist die Hoffnung erlaubt, daß in der Aufsatz-Girlande des vorliegenden Bandes Kontinuität sichtbar wird, Stetigkeit: Stetigkeit der Entwicklung und Bemühung. Dem Autor selber erscheint diese Kontinuität klar und einsichtig genug; und der geistige Ertrag dieses Bandes hängt wohl davon ab, wie hoch der Prozentsatz der Leser sein wird, dem er solche Einsicht vermittelt.
Dabei geht es natürlich nie und nimmer um persönliche Rechtfertigung, sondern um die Sache. Und die Sache ist im Untertitel angesprochen — es ist die Sache des Konservativen.
An dem Adjektiv hängt keine Verschmitztheit — es ist völlig ernst gemeint. Kaum etwas ist erstaunlicher als das Schicksal, das die Vokabel konservativ in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Ein klassischer Fall vielleicht von Relativität: in Momenten des Rückblicks scheint es mir, als ob nicht ich mich durch die Zeitgeschichte bewegt hätte (von rechts nach links, vom Konformismus in den Radikalismus, von der Orthodoxie in die Häresie, gleichviel), — als ob vielmehr die Welt ringsum, die seufzenden und hysterischen, die selbstsicheren und gerade auch die elitär-geistreichen Bataillone des Zeitgeistes in ständiger, in rat- und rastloser, in hektischer und vertrackter Bewegung begriffen sind.
Da wurden und werden Kennmarken vertauscht und Wegweiser versetzt, die Kommandorufe kreuzen und widersprechen sich, und die Lanzenwimpel der wirbelnden Reiterschlacht sind vom Staub der platten Ebenen und den Sturzbächen der Meinungsgewitter verschmiert und ausgebleicht.
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(Sicher, der Konservative weiß, daß er sich selbst bewegt: das Konservativste, das er kennt und verehrt, nämlich das Ensemble der Lebenswelt, verharrt ja nicht in Starre, sondern in einem Flußgleichgewicht, das allein die Beständigkeit der GAIA zu sichern vermag. Vielleicht wird sich noch herausstellen, wer der Kopernikaner und wer der Ptolemäer ist...)
Kontinuität und Konservativismus: diese beiden Prinzipien (eines der Anordnung, eines der Auswahl) haben die Gliederung des Bandes schwierig gemacht. Denn in solcher Ordnung und Anordnung sind die Kategorien und Wirkungsfelder, die man etwa Politik, Ökologie, Kulturkritik, Literatur nennt, unwiderruflich ineinander verschränkt, was oft überraschende Gegner- und Bundesgenossenschaften ergibt. Einige der letzteren (etwa mit Heinrich Böll) sind richtige Freundschaften; das kommt hoffentlich zu deutlichem Ausdruck. Aber es ist durchaus auch möglich, daß Einige, die sich der Bundesgenossenschaft des Autors sicher zu sein glaubten, nach der Lektüre erhebliche Zweifel haben. Nun, diese Probe muß gewagt werden.
Zwei weitere Risiken müssen eingegangen werden: die Evidenz falscher Voraussage — und die faktische Wiederholung. Was die erstere betrifft, so ist sie die notwendige Folge des Editionsprinzips: die Aufsätze sind unverändert in ihrem geschichtlichen Kontext belassen, so altmodische Dinge wie etwa der kalte Krieg haben ihre Themen wie ihre Argumentation beeinflußt. Es scheint, daß der Fehlerdurchschnitt der Voraussagen tröstlicher ist als bei den meisten polit-kulturellen Meteorologen der dokumentierten Klimaspanne. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß dieser kalte Krieg für die von mir seit etwa 1970 bevorzugte Perspektive wesentlich unwichtiger war als für die Perspektive der Mehrheiten.
Und was die Wiederholung eines Gedankengangs, eines Beweisstücks, einer Illustration betrifft: sie kann nicht schaden in einer Welt fataler, ja letaler Vergeßlichkeit; sie war, bei der erwähnten Verschränkung der Kategorien, auch gar nicht zu vermeiden.
Es verbleibt eine letzte Frage: die nach Bileams Esel. Wie hat er sich in den Haupttitel verirrt? Der Bezug ist mehrdeutig — auch für mich selbst.
Der Propheten-Esel war klarsichtiger als sein Prophet, man erinnere sich an das Buch Numeri. (Bileam war ein Verfluchungs-Spezialist, zur wirksamen Verdammung des Volkes Israel angeheuert.) Er war ein demütiger, treuer Diener, der den Engel des Herrn zuerst gewahrte — den Engel, der das Vordringen in die magische Frontlinie verhinderte.
Ich könnte, so scheint mir, der Reiter sein, der überzeugt ist von der Verdammungswürdigkeit des lebenden Geschlechts, und der (hoffentlich) von der kreatürlichen Barmherzigkeit in und um uns eines Besseren belehrt wird.
Andererseits aber könnte ich auch der Esel selbst sein, der von seinem Reiter, einer unbarmherzig galoppierenden Zivilisation, vorwärts gehetzt wird und die Aussichtslosigkeit solchen Galopps erkennt: weil er den Engel der Geschichte sieht (den von Walter Benjamin beschriebenen), in dessen weiten Augen das Entsetzen über diese Geschichte geschrieben steht.
Ich werde mir beide Möglichkeiten noch überlegen und warte auf hilfreiche Leserbriefe.
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München, Juni 1991, Carl Amery
Vorwort und Einleitung (1991) Amery, Carl, Bileams Esel