23-25    Start     Weiter

3. Bekenntnis zur Angst

Amery-1982

   04 Irrgarten     05 Feierabend 

116-133

Dieser Tage habe ich ein Wort von Bundeskanzler Schmidt gelesen, das mich doch sehr betroffen machte — zunächst in eigener Sache, aber dann auch für uns alle. Helmut Schmidt sagte: 

»Ich werde mich gegen jeden Sozialdemokraten wenden, der öffentlich seine Angst bekennt. Früher mal ist es tapfer gewesen, seine Angst zu bekämpfen. Heute gilt es als tapfer, sich zu seiner Angst zu bekennen.« 

Ich möchte unsere ernsten Überlegungen mit einer bissig-heiteren Anekdote beginnen; einer Anekdote aus Zeiten, in denen die Gründe für Angst und Tapferkeit noch offener zutage lagen als heute. Ein General, so wird erzählt, geriet bei der Routinebesichtigung eines Vorwerks unter feindlichen Beschuß. Beim Einschlag warf er sich sofort und instinktiv hinter einen der damals üblichen Sandkörbe. Sein Adjutant, ein frecher kleiner Aristokrat, blieb aufrecht stehen und ließ seine Verachtung für den Vorgesetzten deutlich erkennen. Der General erhob sich, klopfte den Sand von seinen Knien und fauchte den Untergebenen an: »Sie müssen noch viel mitmachen, ehe Sie wissen, wann man Angst haben muß!«

Nun ist der Bundeskanzler drei Jahre älter als ich, und es steht mir nicht zu, ihn mit einem aristokratischen Grünschnabel zu vergleichen. Aber vielleicht wäre es auch nützlich für ihn, zu erwägen, wovor die Leute eigentlich Angst haben, die sich zu ihrer Angst bekennen. 

Zu diesen Bekennern gehören die Leute der Friedensbewegung, aber auch die Besorgten der sogenannten Grünen Bewegung — und deshalb gehört diese Erwägung in die Zeitschrift <natur>. In einem durchaus wichtigen Punkt hat Helmut Schmidt natürlich recht: Es gibt keine Kultur, auch keine primitive Kultur, in der es nicht darauf ankäme, Formen der Angst zu kontrollieren und zu bekämpfen. Aus einer solchen Kultur ist auch der kleine freche Adjutant hervorgegangen — einer Kultur von ritterlichen Haudegen, die noch aus einem Zeitalter der unmittelbaren körperlichen Konfrontation auf dem Schlachtfeld stammte. 

Da war es für das Leben des Kämpfers schon von großer Bedeutung, daß er sich keinerlei Angst anmerken ließ, daß er nicht zurückwich und in Deckung ging, weil er damit den entscheidenden psychologischen Vorteil aus der Hand gab. Im Zeitalter der Kanonen war aber so ein Kodex unsinnig geworden: Eisernen oder mit Sprengstoff gefüllten Geschossen ist es gleichgültig, ob sich das mögliche Ziel ritterlich verhält oder nicht. 

Wesentlich ist, daß man seine Reflexe auf diesen neuen Tatbestand einrichtet.

Es ist zu fürchten, daß der Bundeskanzler eine Sorte von Sozialdemokraten, ja Staatsbürgern vorzieht, die sich noch nicht auf die Tatbestände des ausgehenden 20. Jahrhunderts eingerichtet haben.

Es ist zu fürchten, daß er und mit ihm die Mehrheit der sogenannten Entscheidungsträger, die sich unseres Schicksals annehmen, den historischen Umschwung noch nicht begriffen haben, der sich in der neuen Sorte von Angst zu sich selbst bekennt. 

Was die Friedensbewegung betrifft, so ist der historische Übergang klar: Es ist der Übergang vom TNT zur Wasserstoffbombe. Ob die rituelle Haltung von Kampfbahnen homerischer Art, die sich mit gesträubten Federbüschen auf dem Blachfeld gegenüberstehen, der richtige Kodex für das Nuklearzeitalter ist, soll hier nicht untersucht werden: es genüge die Anmerkung, daß die sogenannte Abschreckung auf nichts anderes hinausläuft.

Hier soll von einem allerdings eng verwandten Problem die Rede sein: der Zuträglichkeit unserer politischen und wirtschaftlichen Praxis für die künftige Bewohnbarkeit des Planeten. 

Und da habe ich eingestandenermaßen eine große, eine Himmel-, eine Heidenangst, zu der ich mich freimütig bekenne.

117


Diese meine Angst ist, das gebe ich zu, mit einer Art von Hochmut verbunden. Der Bundeskanzler mag in seinem Leben mehr erfahren haben als ich, aber ich unterstelle, daß er sich an einen Kodex hält, der mit unserer Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun hat. 

Die Angst um die künftige Bewohnbarkeit des Planeten stützt sich nämlich auf Einsichten und Informationen, die etwa dem Leser dieses Blattes, aber darüber hinaus jedem, der sich in eine halbwegs gutgeführte öffentliche Bücherei bewegt, ohne weiteres zugänglich sein müßten.

Die Angst hat tausend Begründungen. Unser eingangs zitierter Adjutant nun war der Ansicht, daß es eines Kriegers unwürdig sei, seine Angst zu zeigen, und daß es darauf ankomme, in jedem Fall der Gefahr eine gleichmütige Stirn zu bieten.

Das Problem, dem sich die von Helmut Schmidt getadelten Sozialdemokraten und Staatsbürger gegenübersehen, ist aber komplizierter als das Problem des Generals. Der Übergang vom Turnierroß zur Kanone, den er seinem Adjutanten beibringen will, indem er sich zu seiner Angst bekennt, ist ja wesentlich klarer zu durchschauen als der Übergang oder vielmehr die Serie von Übergängen, die wir heute zu bewältigen haben.

Ich gestehe gern, daß ich nicht in der Haut eines Politikers oder Staatmannes stecken möchte, der heute diese Übergänge zu bewältigen hat. Aber es muß festgestellt werden, daß es gänzlich unzweckmäßig ist, die Angst derjenigen zu denunzieren, welche sich über die Gefährlichkeit dieser Übergänge informiert haben und sich darüber Gedanken machen.

Angst zu bekämpfen hat nämlich nur dann einen Sinn, wenn sie, die Angst, den einzig beschreitbaren Weg in die Zukunft zu blockieren droht. Genau dies aber ist der Streitpunkt, den die Kritisierten dem Kanzler zurückgeben können. 

118


Seine Sorte von Mut ist nämlich, wenn die Angst der Kritiker stimmt, selbst nichts anderes als eine sublime Form von Feigheit; nämlich die Angst davor, neue Informationen zur Kenntnis zu nehmen. Und wie jeder weiß, der sich etwas mit Geschichte beschäftigt, ist diese Angst vor dem Neuen, insbesondere vor einer notwendigen radikalen Umstellung aller bisherigen Gewohnheiten der Theorie und Praxis, genau die Art Angst, die man am schwersten überwindet. Angesichts einer solchen Notwendigkeit beugt sich oft auch der Tapferste dem, was der Kanzler so gerne »Sachzwang« nennt, was aber oft genug nichts anderes ist als die Unfähigkeit, sich das notwendige Neue unerschrocken klarzumachen.

Das Bekenntnis zur Angst, so paradox das klingt, sollte also Mut machen. Es sollte Mut machen zur Information, Mut zur Einsicht in die eigenen Beschränkt­heiten und in die Beschränktheiten der eigenen oder der Gruppenüberlieferung. So mag es einst für Sozialdemokraten durchaus sinnvoll gewesen sein, ein Kriegerideal zu übernehmen, wenn es galt, einem wilhelminischen Polizeipräsidenten zu trotzen. (Ich nehme an, daß Helmut Schmidts historische Bemerkung auf dergleichen anspielt.) Gegenüber Atomraketen, aber auch technischen Großvorhaben ist solcher Mannesmut von vornherein im Zwielicht. Wer sich gegenüber solchen Problemen zur Angst bekennt, der hat vielleicht oder sogar wahrscheinlich eine rühmenswerte politische Absicht: die Absicht nämlich, seine Gruppe, seine Partei oder seine Republik und vielleicht sogar seinen Bundeskanzler auf Gefahren aufmerksam zu machen, die bisher unterdrückt, bagatellisiert oder ganz einfach ignoriert werden.

Darüber hinaus kann solche Angst aber auch ein Symptom sein — Symptom für eine Krise, so wie hohes Fieber das Vorhandensein einer ernsten Krankheit anzeigt. Wie uns gewissenhafte Ärzte belehren, hat es wenig Sinn, Fieber einfach mit brutalen Medikamentendosen herunterzudrücken, ohne etwas gegen die Krankheit selbst zu tun.

119


Angst zu bekämpfen, und selbst wenn dies eine gänzlich unwürdige oder illusorische Angst wäre, ist deshalb in jedem Fall eine höchst zweifelhafte Sache. Zuerst gilt es herauszufinden, ob diese Angst nicht günstigerweise dazu benützt werden könnte, eine etwas genauere Diagnose der Übel zu stellen, in denen wir leben oder denen wir entgegengehen. Man würde dann auf etwas tiefere Zusammenhänge stoßen als die, denen man bisher die politische Praxis untergeordnet hat.

Dabei würde es sich vielleicht herausstellen, daß die Bundesrepublik bisher mit der Angst ihrer Bürger gar nicht so schlecht gefahren ist. Was anderes als Angst war es, was etwa die Bürger von Wyhl dazu bewegte, sich gegen das geplante Kernkraftwerk zu engagieren? Und diese Angst war zunächst ziemlich nebelhaft, ziemlich uninformiert. Das gleiche gilt in vielen ja in fast allen anderen Fällen von Bürgerinitiativen gegen technische Großvorhaben. Entscheidend war dabei, daß sich diese Angst im Laufe weniger Monate sehr gut informiert hat, daß sie die gesamte Energiediskussion, ja die ganze Diskussion um Grundsatzfragen unserer Zukunft außerordentlich bereichert hat. Diese Angst hat also mindestens ebenso kräftig an der politischen Willensbildung unseres Volkes mitgewirkt, wie dies (wirklich oder angeblich) die institutionaliserten politischen Parteien tun. Hätte damals ein Appell an den sogenannten inneren Schweinehund, ein Appell etwa wie »Zusammenreißen und Angst bekämpfen!«, durchschlagenden Erfolg gehabt — wir wären um eine ganze Dimension unseres politischen Lebens ärmer.

Ein letzter, etwas delikater Punkt muß noch berührt werden. 

Helmut Schmidt versteht sich, wie aus vielen seiner Äußerungen hervorgeht, als gläubiger Christ, und es gibt keinen Grund, ihm hier die subjektive Ehrlichkeit abzusprechen. Man darf deshalb vermuten, daß der Kodex der Angstbekämpfung, zu dem er sich bekennt, auch eine christliche Komponente hat.

120


Das Vertrauen, daß letzten Endes alles in Gottes Hand liegt, aber auch eine uralte religiöse Tradition der Beschwörung des Zweifels als eines subtilen Teufelswerks mag hier eine Rolle spielen. Dem muß aber eine andere, ebenfalls sehr alte christliche Tradition gegenübergestellt werden. 

Jahrhunderte christlichen Bemühens um Gewissensbildung haben klargemacht, daß es zwar ein irriges Gewissen geben kann, daß jedoch jedes Gewissen der Pflicht unterliegt, sich durch Information zu entwickeln und gegebenenfalls zu modifizieren. Die conscientia informata, also das möglichst allseitig informierte und gebildete Gewissen, ist jedoch ohne die Hereinnahme ständig neuer Konflikte und Zweifel nicht zu erreichen. Die Geschichte zeigt, daß den Zeitaltern fast immer ein böses Erwachen beschieden war, die sich auf einem sogenannten guten, das heißt nicht mehr reflektierten, und das war oft genug ein sogenanntes christliches Gewissen, ausruhten. Für unbegründetes Vertrauen dieser Art, für zweifelfreies Beharren auf einer zunächst durchaus ehrlichen Gewissensposition gibt es ein hartes theologisches Wort: Vermessenheit. Es ist das Gegenstück zur Verzweiflung, und beide, Vermessenheit wie Verzweiflung, scheinen mir zu den nächstliegenden Versuchungen der Zeit zu gehören.

Zum Schluß möchte ich ein Bekenntnis zur Angst zitieren, das im Dezember 1981 die hervorragende Schrifstellerin Christa Wolf abgelegt hat — auf jenem Treffen der Schriftsteller in Ostberlin, an dem auch ich teilnehmen durfte: 

»Das Absurde ist die Wahrheit, das Phantastische ist realistisch, und das Denken des gesunden Menschenverstands ist wahnwitzig. Angesichts solcher Tatsachen und Zustände muß ich mich weigern, in meine Arbeit das Kalkül eines Atomkrieges hineinzunehmen. Ich kann nur arbeiten für diese Zeit, die nicht Kriegszeit ist, und für die Zeit danach, in der hoffentlich die Abrüstung beginnt ...« 

Dies ist auch ein Bekenntnis zur Angst, aber zu einer verarbeiteten Angst, dem sich heute jeder Denkende anschließen kann und anschließen muß. Dieses Bekenntnis ist nicht nur übertragbar auf das Bekenntnis der ökologischen Bewegung — es ist mit ihm identisch. Und es gilt, diese verarbeitete Angst politisch fruchtbar zu machen. Wie man es fertigbringen soll, ohne sich zu ihr zu bekennen, ist allerdings nicht einzusehen.

Wer hier obrigkeitlich Denk- und Gefühlsabstinenz verordnen wollte, der will letzten Endes nichts anderes, als daß die Weltgeschichte aufhört.

Nur aus Krisen, das heißt aus bekannter und bewältigter Angst, hat sie sich nämlich bisher etwas weiterentwickelt und wird sich weiterentwickeln.

121-122

#  


       4. Im ethischen Irrgarten     

(1982)

 

123

Wie vor einigen Monaten versprochen, möchte ich auf ein paar Fragen eingehen, die aktive, das heißt Briefe schreibende Leser aufgeworfen haben.

Es ist wohl nur logisch, daß sich die meisten dieser Briefe mit drängenden ethischen, mit Fragen künftiger oder gegenwärtiger Sittlichkeit befassen. Diese Fragen werden sozusagen den »Hauptgang« der heutigen Kolumne bilden. 

Zuvor aber noch Grundsätzlicheres. 

Leser T. verdächtigt mich, einen rigoros »ökologistischen« Standpunkt zu vertreten, einen Standpunkt, der den Menschen nicht mehr im Zentrum der Dinge und der Welt sieht. Und für ihn, den Christen, sei ein Standpunkt, der im Ende der Menschheit nichts Schlimmeres sieht als das Ende irgendeiner anderen Art, unerträglich.

Dies vermischt, so scheint mir, zwei Dinge, die nicht logisch zueinander gehören.

Was den »nicht-anthropozentrischen« Standpunkt der biologischen Wissenschaften von heute, also der Ökologie im strengeren Sinne, betrifft, so ist Leser T. allerdings nicht zu helfen. Die Einsicht, daß der Mensch als biologische Gattung kein Privileg genießt; daß er den gleichen Naturgesetzen unterworfen ist wie der Regenwurm oder das Karnickel, läßt sich nicht mehr bestreiten. Wer dagegen anrennt, als Christ anrennt, weil er es »unerträglich« findet —, der begibt sich in die Gefahr, in die sich (meist offizielle) Christen in den Fällen Galilei und Darwin begeben haben. Er macht nicht die Position der Wissenschaft, sondern nur die eigene Position unglaubwürdig — und dies völlig ohne theologische Notwendigkeit. Denn — und damit kommen wir zum zweiten Element dieser Behauptung: Das Ende der Menschheit als nichts »Schlimmeres« einzustufen als das Ende jeder anderen beliebigen Art, folgert aus der Anerkennung naturwissenschaftlicher Einsicht keineswegs. 

Im Gegenteil: Die Einsicht in die Verletzlichkeit unseres kollektiven Daseins, und vor allem die Einsicht in die blinde, machtbesessene Kurzsichtigkeit, mit der wir uns gegenüber diesem Tatbestand verhalten, sollte die ethischen Kräfte freisetzen, die wir so dringend brauchen. Sie sollte dem Christen und gerade dem Christen die Verantwortung auferlegen, seine »Erwählung« durch den einzig verantwortlichen Einsatz, den für das Leben, und zwar das Leben der Menschheit, unter Beweis zu stellen.

So paradox dies zunächst klingt: wer nicht an die Sonderstellung des Menschen glaubt (in einem religiösen, ethischen, philosophischen Sinne), der ist der — eigentlich objektive — Zyniker, der sich um den »Naturschutz« im weitesten Sinne nicht zu sorgen braucht. 

Die Natur, dafür spricht jede Wahrscheinlichkeit, kann für sich selber sorgen. Der Mensch als Art muß für sich selber sorgen. Und das kann er nur mit Hilfe des eigenen Willens, der eigenen Einsicht, der eigenen Bereitschaft zur Umkehr. Also mit Mitteln, die (soviel wir wissen) keiner anderen Spezies zur Verfügung stehen. Nur so, aber eben genau so, fügt sich ökologische Einsicht in die alte Anthropologie der jüdisch-christlichen Hochreligionen ein. Und so sah sie schon der jüdische Psalmist, der zwar die Menschen »wie Gras verdorren« sieht, aber auch nicht zögert festzustellen: »Nur ein Weniges hast du ihn unter die Engel gestellt.« Hiermit, so hoffe ich, habe ich auch die Zweifel von Frau S. aus H. beantwortet — sicherlich nicht ausgeräumt. 

Und damit betreten wir den ethischen Irrgarten. Vielmehr: Wir betreten ihn nicht, sondern stellen fest, daß wir uns darin befinden. Ganz präzis formuliert die entscheidende Frage Leser F. S. aus K.:

124


»Was ist Ausgangspunkt und letztliche Zielvorstellung ökologischen Handelns? Ist es die ethisch begründete Ehrfurcht vor der Schöpfung, der Respekt vor allen lebenden Kreaturen allein ob der Tatsache, daß es sie nun einmal gibt und daß wir uns als Menschen nicht anmaßen dürfen, in diese Schöpfung so einzugreifen, daß sie in ihrem Bestand gefährdet wird? Oder ist es die Meinung, humanistischer Denkweise entspringend, daß der Mensch der Mittelpunkt all dessen sei, was auf der Erde lebt, und daß alles menschliche Wirken sich in der letzten Konsequenz nur und ausschließlich um menschliches Wohlergehen zu sorgen habe?« 

In privaten Diskussionen, so Leser S., mußte er sich diese Frage öfters stellen lassen, und es nützt nichts zu sagen: Jeder Eingriff wirkt auf den Menschen zurück, was also soll die Frage?

Ich erkenne an, daß hier tatsächlich ein grundlegendes Problem vorliegt. Aber ich bitte den Leser, nochmals die Antwort zu überdenken, die ich eben dem christlichen Leser T. zu geben versucht habe. Darüberhinaus schlage ich ihm vor, das Problem noch etwas zu komplizieren. Ich schlage keinen Dualismus, sondern einen vierfachen Ansatz vor, vier verschiedene ethische Ziele, um die es bei einer »Umwelt-Ethik« gehen kann und letzten Endes gehen muß: 

1. der Schutz der Natur, »so wie sie ist«;

2. der Schutz der Natur als einer evolutionären Möglichkeit, Leben zu erhalten und zu vermehren;

3. der Schutz der menschlichen Interessen, »so wie sie sind«; und

4. der Schutz des Überlebens der Menschheit auf absehbare Zeit.

Schon ein erster Blick auf diese neue Liste macht uns klar, daß die Dinge noch viel komplizierter sind, als sie Leser S. in seiner Entweder-Oder-Frage darstellt. Nehmen wir uns Beispiele vor: Der Schutz der Natur, »so wie sie ist«, mag in vielem dem Punkt 3, den heute überwiegenden menschlichen Interessen, »so wie sie sind«, widersprechen. 

125


Er ist aber geeignet, die Forderung 4, also das Überleben der Menschheit auf absehbare Zeit, zu begünstigen. Ist dies der Fall (und es lassen sich viele gewichtige Gründe und Tatsachen anführen, die das bestätigen), dann verliert die rein dualistische Alternative des Leserbriefs an Schärfe. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch andersherum. In Basel wurde ich Vorjahren zufällig Zeuge eines Telefongesprächs, in dem mein privater Gastgeber mit einem Politiker über die Errichtung des Kernkraftwerks Kaiseraugst stritt. Der Politiker am anderen Ende war ein »konservativer« Mann, wie man das heute nennt — in Wahrheit also ein Fortschritts- und Industriegläubiger. Als der Gastgeber auflegte, sah er mich bleich an und sagte: »Wissen Sie, was er mir geantwortet hat, also ich ihn auf die Gefahren hinwies? >Na, da haben eben die Insekten ihre Chance!<« Und die Insekten, so scheint es, hätten sie tatsächlich. Ein Entomologe, also ein Insektenforscher, hat mir von einer Tagung erzählt, auf der von den Ergebnissen eines H-Bombentests berichtet wurde. Dabei hat sich herausgestellt, daß sich 40 Meter vom Kern der Explosion entfernt eine Chrysalis gefunden habe, die ein fortpflanzungsfähiges Insekt aus sich entließ. Zwar hätten starke Mutationen stattgefunden, aber das Insektenleben als Ganzes habe tatsächlich seine Chance.

In einem solchen Zusammenhang kann der hartgesottene »Ökologist«, der kalte Betrachter der Evolution, tatsächlich unsere ganze gegenwärtige Misere als einen notwendigen Schritt der Evolution interpretieren — ja, als einen Gewinn, weil eine radioaktive Verstrahlung des Planeten einen Mutationsschub auslösen könnte, der die zunehmende Artenverarmung zugunsten eines zwar grausamen, aber zukunftsträchtigen Entfaltungs­prozesses neuer Arten umkehren könnte.

126


Rein »wissenschaftlich« betrachtet, könnte sich ein solcher Beobachter durchaus mit den »Wachstums-Propheten« verbünden, die sich auf die Erhaltung unserer gegenwärtigen zerstörerischen Praxis versteifen. Unsere kollektiven Fehlhaltungen, unser blinder oder halbblinder Marsch in das Verderben der Spezies Mensch wären dann nichts anderes als die »List der Evolution«, die sich im Interesse der künftigen Biosphäre einer lästigen, als Entwicklungssackgasse erkannten Form eines intelligenten Warmblüters entledigt. Dann gehen tatsächlich Forderung 2 und Forderung 3 eine ethische beziehungsweise unethische Ehe ein. (Und bitte, betrachten Sie dies nicht als zynische Parodie: Solche Erwägungen sind heute in den Kreisen »harter« Naturwissenschaftler gang und gäbe.)

So oder so betreten wir also das rauhe Gelände der ethischen Wertwahl — doch nicht im Sinne eines blinden Entweder-Oder, sondern im Sinne eines tastenden, suchenden Fortschreitens. Tatsächlich (und, wie ich meine, glücklicherweise) lassen sich ethische Fragen nie vom Lehrstuhl aus, nie nach der Methode sauberer und wasserklarer Alternativen entscheiden. Die besten zeitgenössischen Denker, vor allem die neueren Franzosen, neigen dazu, die wirklichen Entwicklungsprozesse der Menschheit kulturell, aber biokulturell zu deuten: Wir sind Teil eines Stroms von Ideen, Körpern, Wünschen, eines Stroms, der ständig Strömungen und Wirbel bildet (fleuves et turbulences, wie dies französisch sehr schön heißt —), der reich ist an Stauungen, Blockaden und Widersprüchen. Nicht das Saubere, reinlich Geschiedene ist das Erstrebenswerte, sondern eine »Ökologie der Kultur« und damit auch der Ethik; ein Aushalten und Fruchtbarmachen der Widersprüche, die unser menschliches Schicksal sind und in denen wir, so oder so, navigieren müssen.

Und wir tun es ja ständig. Nehmen wir ein Beispiel, das den Tatbestand der Widersprüchlichkeit recht klar illustriert: unser Verhalten zu Tieren. Bekannt ist das »Entschuldigungsfest« der Urvölker nach der Tötung eines Bären. (Die »Bären-Religion« war wohl dereinst eine Religion, die sich über die ganze Erde erstreckte, ihre Reste haben sich bei den Ainus und den Stämmen des arktischen Sibirien erhalten.)

127


Der Jäger tötet den Bären, weil der Stamm leben muß; gleichzeitig aber ist man sich der magischen Gefährlichkeit, also des »Unrechts« solchen Tuns bewußt und richtet sich wieder, wie man hofft, versöhnlich, mit dem Geist des Bären, dem Geist seiner Spezies ein. Die Großmutter der Dakota-Indianer küßt unter Tränen das abgetrennte Haupt des Grizzly, oder der Samojede tanzt mehrere Nächte hintereinander unter beschwörenden Gebeten um die großartige Jagdbeute.

Bruchstücke solchen Verhaltens finden wir sogar noch bei den heutigen und hiesigen Sportjägern, wie die Verehrung des heiligen Hubertus und seines kreuztragenden Hirsches beweist. Mit dem Unterschied allerdings, daß sich aus der Haltung der Urjäger höchst praktische, ökologisch verträgliche Konsequenzen ergaben, während die Wichtigkeit des Hubertuskults in unserer Kultur wohl nicht mehr sehr hoch anzusetzen ist.

Die anbrechende Neuzeit hat mit ihrer Ethik des Gewerbefleißes, des Bedürfnis-Staus, des puritanischen Eifers der wirtschaftlichen Welteroberung eine ungeheuer mächtige Kultur begründet, nicht nur eine alte zerstört. In ihr schoß der Strom der Wünsche und Ideen, vor allem aber auch der konkreten »Körper«, also der Menschen in ihrer alltäglichen Befindlichkeit, in ein neues, machtvolles Bett; sein Gefälle hat genug Energie erzeugt, um die Welt zu erobern.

Jetzt aber treten Stockungen auf, Wirbel, Spaltungen des Bewußtseins und der Wünsche. Bisher Ohnmächtiges oder wenig Mächtiges drängt mit Macht in die Strömung: die Wünsche und Ideen der sogenannten Dritten Welt, die Widersprüche zwischen Produktions- und Konsumwelt, das Bewußtsein von den objektiven Gefahren unserer Lage. Diese Wirbel in der Strömung, diese Seitenarme eines bisher ungeteilten oder wenig geteilten Flusses sind die Anzeichen für grundsätzliche Veränderungen.

Aber in diesen Veränderungen spielt unsere ethische Entscheidung durchaus eine Rolle, wenn wir auch nicht wissen oder nicht genau wissen, welche. Auch dann, wenn wir glauben, uns zu glasklaren ethischen Postulaten durchgerungen zu haben, sind wir in Wahrheit immer noch Angehörige des kulturellen Stroms, müssen wir mit Widersprüchen und Unstimmigkeiten in uns selbst und in unserer Umgebung rechnen.

Eines steht fest: Eine Zukunft, die eindeutig von einem bestimmten ethischen Modell beherrscht würde, wäre uns Menschen so oder so schlechthin unerträglich.

128-129


         5. Charakterwechsel nach Feierabend      

(1983)

 

 

 

130

Wer, wie Ihr Kolumnist, die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hat, daß unsere Lebenswelt noch zu retten ist, der muß nach Anzeichen dafür spähen, daß unser gußeisernes Produktions- und Wegwerfsystem Brüche aufweist, die sein baldiges Ende ankündigen. Solche Anzeichen sind zum Beispiel die Widersprüche, die dem System von Produktion und Verteilung gewissermaßen eingebaut sind (»immanent« sagt man dazu in vornehmerer Sprache).

Einen solchen Widerspruch glaube ich ohne großes Widerlegungsrisiko heute besprechen zu dürfen. Es ist ein sehr ernster Widerspruch in unserem Tugend- und Lastersystem. 

 

Wer, wie ich, gelegentlich als grüner Bajazzo zu höheren Wirtschaftsseminaren eingeladen wird, der vernimmt dort meist dunkle Klagen von Unternehmern über den moralischen Zustand der Arbeitnehmer. Zwar wird der Klagende in der Regel beteuern, daß bei ihm, in seinem Betrieb, solche Zustände noch nicht eingerissen seien, daß dort vielmehr noch die alte deutsche Arbeitstugend herrsche — aber sonst gewahre man doch allenthalben Zersetzungserscheinungen: Schlendrian, Aufsässigkeit, mangelnder Respekt vor dem Material und dem Produktionsziel, mangelnder Sinn für innerbetriebliche Hierarchie und dergleichen mehr. 

Ist ein Soziologe anwesend, spricht dieser von der »amorphen« Gesellschaft. Die Ursachen, die man dafür verantwortlich macht, sind in erster Linie die sogenannte Bildungsreform, die den Leuten abstrakte, weit von der Produktionswirklichkeit abliegende Flausen in den Kopf setze (schlimmste Beschleunigung dieser Tendenz seit neuestem der bezahlte Bildungsurlaub, der auch noch gestandenen Arbeitern derartigen psychischen Tort antue). 

Nun muß ich gestehen, daß ich dem Jahrgang 22 angehöre und infolgedessen durch Jugendjahre geprägt hin, in denen uns Ehrfurcht vor Material und Energie durch die Zeitumstände einprogrammiert wurde. Deshalb stehe ich mit meinem Nachbarn, einem Hausherrn (und keinem reichen) meines Alters, ziemlich fassungslos vor Betonsäcken, die halbgeleert und offen im Regen liegenblieben, vor Ziegelpaletten, von denen ganze Stöße vergammeln und was der neueren Usancen mehr sein mögen. Dem Nachbar-Hausherrn geht das wie mir gegen den Generationenstrich: bei mir kommt noch der ökologische Groll vor so viel Verschwendung dazu. 

Aber das enthebt uns nicht der Aufgabe, nachzufragen, ob die in den Unternehmer-Seminaren vorgetragenen Gründe solches Aasen (oder Unordentlichkeiten im Betrieb) genügend erklären.

Ich nehme an, daß sie nicht genügen. Ich glaube vielmehr, daß sich unser Produktions- und Verteilungssystem selber ein Bein stellt. Seit dem sogenannten Wirtschaftswunder geschieht schließlich alles, dem Wirtschaftsbürger das abzugewöhnen, was früher einmal Tugenden dieses Wirtschaftsbürgers waren. Sparsamkeit, emotionale Anhänglichkeit an langlebige, gut gemachte Gegenstände, Sinn für Qualität, Respekt vor der Leistung fremder Arbeit, Respekt (vor allem) vor den Privilegien derer, die mehr als er verdienen oder deren Leistung auf einer höheren Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie mehr Respekt verdient. 

Und wer arbeitet daran, dies alles abzuschaffen? Die böse Linke? Keineswegs. Es ist die Wirtschaft selbst. Sie tut es, weil sie keine Konsumenten brauchen kann, die sich an die guten alten Verbrauchertugenden halten. 

Wohlgemerkt, hier geht es nicht darum, Noten für Tugend oder Laster zu verteilen. Es gibt zum Beispiel in dieser neuen »permissiven« Welt so manches, was uns wirklich humaner, erträglicher erscheinen mag als die alte Welt der Knappheit. 

131


Daß Kinder, die wirklich keine Ahnung haben, was sie anrichten, für winzige Schäden an Möbeln oder Gartenpflanzen verprügelt wurden, läßt uns nicht gerade der guten alten Zeit nachtrauern; wir sind schon froh, daß die zerbrochene Tasse, der verlorene Fäustling nicht mehr zu so barbarischem Liebesentzug führt. (Das geschieht, freilich, leider immer noch, gerade auch in sogenannten »besseren« Familien...) Wir sind, kurz gesagt, daran gewöhnt worden, Verlust und Verschleiß zu verschmerzen; jeden Verlust und jeden Verschleiß umgehend und preiswert (oft auch verschwenderisch) zu ersetzen.

Wir sind aber auch daran gewöhnt worden, Wohnungseinrichtungen so oft zu wechseln, wie man früher Anzüge gewechselt hat (von Autos ganz zu schweigen). Wir sind daran gewöhnt worden, kompliziertes Essen in Dosen zu kaufen, Reste leichter wegzuschütten als früher, auf den Tauschwert statt auf den Gebrauchswert zu achten, Reparaturen, und seien es so einfache wie das Stopfen von Socken, zu umgehen und statt dessen lieber Neues zu kaufen. Nicht mehr der einzelne kaputte Draht oder das kaputte Birnchen werden uns ersetzt, sondern immer gleich ganze Auswechselgarnituren; die Schrauben an Waschmaschinen oder Leuchten werden bewußt so kurz gehalten, daß sie gerade über die Garantiefristen kommen — wir kennen all das.

Wer erzeugt diese neue Psychologie des Wirtschaftsbürgers? Etwa tückische Subversive in Schulen oder Volkshochschulen, Agitatoren des gewerkschaftlichen Bildungsurlaubs? Keineswegs. Sie wurde und wird erzeugt von der Wirtschaft selbst, von ihren Markt- und Vermarktungsspezialisten. Sie müssen das tun, im Interesse der Wirtschaft selbst. Denn die Wirtschaft braucht Absatz, und sie braucht kalkulierbaren Absatz heute, morgen und übermorgen. Was nützen ihr die altmodischen Tugenden des Arbeiters in dem Augenblick, da dieser Arbeiter das Werkstor verläßt und zum Konsumenten wird? 

Mit anderen Worten: 

Die Wirtschaft braucht zwei verschiedene Arten von Menschen in einem Menschen vereint; zwei Arten, deren Tugend- und Lastersysteme einander gänzlich entgegengesetzt sind. In den acht Stunden an der Werkbank, am Fließband, auf dem Baugerüst braucht sie altmodische Leute mit altmodischen Tugenden; aber nach fünf und am Wochenende braucht sie ganz andere Leute: Verschwender, Verbraucher mit leichtfertigen Konsumallüren, Austauscher, Wegschmeißer. 

Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? 

Ich weiß es nicht — und ich bin sehr froh, daß ich es nicht weiß. Ich hoffe nämlich, daß er unauflösbar ist. 

Ich hoffe, daß der Widersinn einer Überproduktion, welche die Biosphäre zerstört, von seinen eigenen Widersprüchlichkeiten eingeholt wird. 

Ich hoffe, daß über kurz oder lang wenn nicht schon die ökologische, so doch die wirtschaftliche Vernunft unsere Maßgeblichen dazu zwingen wird, das System von Lohn und Strafe, das wir haben, umzukrempeln; daß mit ihm die steigende Besteuerung von Arbeitseinkommen verschwindet zugunsten einer Besteuerung der Rohstoffe und Energie. 

In dem Augenblick, da auf der Grundlage einer realistischen Kosten-Nutzen-Rechnung der Löwenanteil der öffentlichen Hand aus Energie- und Rohstoffsteuern bestritten würde, wären die Prioritäten in den Köpfen unserer Unternehmer wie unserer Arbeitnehmer mit einem Schlag zurechtgerückt. 

Und die Welt — besser: unsere Region der Welt, die Region der industrialisierten Überproduktion — hätte einen wenn auch kleinen Grund zur Hoffnung auf bewohnbare Zukunft.

132-133

#

 

 

 

 

^^^^

www.detopia.de