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Teil 6   - Letzte Dinge - Deutschland und Tod 

1 Bismarck    2 1989   3 Tod  

329-349

Die stürmischen Entwicklungen der letzten paar Jahre ließen es geraten erscheinen, das Archiv nach Aufsätzen von deutschem Engagement durchzusehen, welche mein Schritthalten mit dem Zeitgeist dokumentieren. Die Suche verlief kläglich — irgendwie schien mir die »Deutsche Frage« nie darauf angewiesen zu sein, von mir erörtert zu werden.

Immerhin waren zwei kurze Texte aufzutreiben. Der erste, eine Besprechung einer Bismarck-Biographie aus der DDR, wurde 1986 als Hörfunk-Marginalie gesprochen, und sie erschien mir, gegen die Bande gespielt, doch als aufschlußreich — sowohl was den Weg der DDR ins Verderben, als auch, was die gemeinsame historische Hypothek betrifft. (Der Verfasser dieser Bismarckbuchs erfreut sich, wie man hört und liest, nach wie vor ungebrochener Reputation.)

Der zweite Text entstand auf Anfrage der Zeitschrift <Neue deutsche Literatur> (Ost-Berlin) im Dezember 1989. Nimmt man dieses Datum, war sein prognostischer Wert bestimmt nicht schlecht. Und er erklärt schließlich auch ganz gut, warum und weshalb die »Deutsche Frage« als solche so wenig Zeilen hervorgebracht hat...

Der dritte Text, der 1988 anläßlich des Empfangs einer Medaille des Bundes Naturschutz als Dankeswort entstand, hätte diesen Band auf jeden Fall abgeschlossen. Er zeigt den Rubikon, vor dem ich heute, 1991, stehe. Ihn zu überschreiten, macht Angst. Aber das ist wohl nicht zu vermeiden, ebensowenig wie die Überschreitung selbst. 

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1. Prioritäten links der Elbe

(1986)

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Um Weihnachten erhielt ich vom Verlagshaus Siedler einen gewichtigen, 840 Seiten starken Band mit dem eindeutigen Titel »Bismarck — Urpreuße und Reichsgründer« zugeschickt. Verfasser ist Ernst Engelberg, ein DDR-Historiker, der dort ordentliche Professuren wahrnimmt und offizielle Institute leitet.

Allzuweit vom öffentlichen Wohlwollen kann also diese Biographie nicht entfernt sein. Die Lektüre erfordert historisches Vor-Wissen und hartnäckige Neugier. Ist beides gegeben, ist sie keineswegs unergiebig. Darauf kam ich allerdings verspätet, weil mir die Bedrängnis durch eigene Arbeit und der Respekt vor dem reinen Volumen des Bandes zunächst Zurückhaltung auferlegt. Daß ich sie überwand, geht auf weitere Nachrichten aus der DDR und aus Polen zurück, über die zu reden sein wird.

Zunächst und vor allem: daß dies, diese Biographie in der vorliegenden Form und Tendenz, erscheinen konnte, ohne die Biographie des Verfassers in der DDR entscheidend zu verändern, gibt uns Grund genug zu umfassenden und recht verstörenden Überlegungen. 

Hier, in dieser Darstellung, macht ein Mann Geschichte. 

Natürlich kennen wir genug Männer, die im real existierenden Sozialismus genau dies taten, und mit ehrfurchtigster Zustimmung der offiziellen Geschichts­schreibung; aber diese einem Mann angedeihen zu lassen, dessen Lebenswerk, gelinde gesagt, nicht eben den Test des historischen Erfolgs bestand, muß doch weitreichende politische Gründe haben. 

Von einer Propaganda-Schrift kann keine Rede sein; Engelberg versteht sein Handwerk in einem durchaus traditionellen Sinne, der Apparat ist auf hohem akademischen Niveau, die Darstellung durchaus differenziert. Aber — und damit kommen wir ans Verstörende — man weiß ja, daß solch akademisches Niveau durchaus nicht daran hindert, massiv tendenziell zu sein. Und der Verfasser ist es, daran besteht kein Zweifel.

Erfreulicherweise umreißt Engelberg schon im Vorwort diese Tendenz ganz präzise: »Zunächst«, so schreibt er: 

»Ich komme von der Gegenposition. Empörung gegen den Verfasser des Sozialistengesetzes bewegte mich, als ich an der Berliner Universität ... meine Dissertation über <Die deutsche Sozialdemokratie und die Sozialpolitik Bismarcks> schrieb. Davon habe ich nichts zurückzunehmen. Politische Haft und Emigration in der Zeit der nazistischen Gewaltherrschaft machten die Veröffentlichung meiner Dissertation unmöglich.«

Soweit, so gut, kann man nur sagen. Umso wichtiger ist es deshalb, daß diese Bismarck-Biographie mit der Reichsgründung 1871 zu Ende ist. Zwei scharf getrennte Positionen der Bismarck-Beurteilung zeichnen sich demnach im Kopfe und in der Darstellung Engelbergs ab: Wenn er ungeschmälert an der Empörung über den Anti-Sozialisten nach 1871 festhält, liegt in der vorliegenden Darstellung eine fast rückhaltlose Anerkennung des »Eisernen« Einigers vor. 

Dieser Mann, so läßt sich das in etwa zusammenfassen, lag in seiner Politik bis zum Versailler Frieden am 18. Januar 1871 genau richtig. Er war mit den historisch bestimmenden Kräften im Bunde, mit der historischen Dialektik also, die sich so und nicht anders im Zentraleuropa seiner Zeit anbot. Dabei wird nicht lange gefackelt, und dafür muß man Engelberg geradezu dankbar sein. Dem Süddeutschen, der bislang dem »Eisernen Kanzler« wohlwollte, standen etwa die Kategorien des bayerischen Historikers Doeberl zur Verfügung, der Otto von Bismarck eben gerade nicht als großen Preußen, sondern als Überwinder des preußischen Partikularismus und klugen Förderer des rechtverstandenen Föderalismus präsentierte.

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Mit solchen Halbheiten räumt die vorliegende Biographie erfreulicherweise auf. Bismarck ist, so schon der Titel, Urpreuße, tief verwurzelt im Junkertum, auch im Militarismus und im Protestantismus preußischer Prägung. (Letztere Einsicht nötigt mich zur Dankbarkeit gegenüber Engelberg — Bismarck, der wohl im Wesentlichen Agnostiker war, gibt sich im Umgang mit dem Milieu seiner Frau Johanna stockpietistisch.) 

Dies geht soweit, daß er noch während des Krimkriegs, also keine fünfzehn Jahre vor Versailles, die preußischen Grenzpfähle im »Tornister nach Süden« mitnehmen, aber dann da einschlagen will, »wo das protestantische Bekenntniß aufhört vorzuwiegen...«. Die Armee hat Priorität, da gibt es nichts zu fackeln, in den Kammern sitzen ja keine Fachleute, und überhaupt ist es unmöglich, sich vorzustellen, daß Offiziere und Soldaten nicht mehr das Brot des Königs essen, sondern eben das Brot einer »Zweiten Kammer«, lies: eines das Budget kontrollierenden Parlaments.

All dies aber macht weiter nichts aus, wenn es um den Atem der Geschichte geht. Bismarck ist, auch und gerade als Urpreuße, Vater der fälligen »Revolution von oben«; des Bündnisses zwischen Zündnadelgewehr und Dampfmaschine, der Entfaltung der Produktiv- bzw. der Destruktivkräfte. Was dabei an knorrigen und knarzigen alten Erinnerungen im Wege steht, darf nicht nur, das muß im Interesse des Weltgeistes liquidiert werden; wobei es überhaupt nicht darauf ankommt, aus welcher Ecke eine solche »Revolution von oben« gestartet wird. Das einzige Kriterium ist: der Erfolg.

Das bedeutet nicht, daß der Verfasser keine Vorlieben und Abneigungen kennte. Um mit letzteren anzufangen: Dem Deutschen Bund von 1815 gehört seine ganze Verachtung, er ist nichts als ein Instrument, um der »partikularistischen Niedertracht«, vor allem Bayerns und Württembergs, Vorschub zu leisten. 

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Im gleichen Sinne kritisiert er bereits Napoleons Neuordnung Mitteleuropas — der Partikularismus sei dadurch vom Niveau der »Krähwinkelei« auf das der Mittelstaaten gehoben und damit wieder lebensfähig geworden. Gleiche Ungeduld gilt selbstverständlich allen populistischen Bewegungen gegen die Bismarck-Einigung — in absteigender Reihenfolge vorn badischen zum württembergischen Demokratismus bis hinab in die Moräste des bayerisch-klerikalen Patriotismus, der natürlich völlig indiskutabel ist. Etwas leiser ist der Spott gegenüber den wirklich konservativ-preußischen Gegnern Bismarcks, die ja zeitweise sogar Sympathien für das total verrottete Habsburg gehabt hätten — und gegenüber den Linksliberalen, die eben noch nicht begriffen, wohin sich der historische Expreßzug bewegte.

Aus all dem lassen sich natürlich sofort die Vorlieben — sagen wir gleich: die Prioritäten — des Verfassers erschließen. Ganz oben steht als kategorisch-historischer Imperativ die Einigung, die Zentralisierung; aber nicht um jeden Preis, sondern die Zentralisierung im Namen und im Auftrag der Produktivkräfte, lies: des Wirtschafts-Imperialismus und der Industrialisierung. Belange irgendeiner »Freiheit« (seien es die im alten ständischen Plural, die existenzsichernden »Freiheiten« des vorindustriellen Zeitalters, oder auch die prinzipiell-demokratische im Sinne der französischen Revolution) sind dabei nicht erstrangig. Der Verfasser bringt zwar den Idealen von 1789 durchaus Sympathie entgegen, doch läuft die ganze Tendenz seines Buches darauf hinaus, klarzulegen, daß es mit dieser 1789er-Freiheit in Deutschland viel zu lange gedauert hätte, die Priorität Nummer Eins, eben die Zentralisierung und die Industrialisierung, in wünschenswerter Weise voranzutreiben. 

Methodisch ergibt sich so eine kuriose Verschmelzung von Rechts- und Links-Hegelianismus; wobei der letztere jedenfalls in seiner eigentlichen, marxistischen Form so kurz kommt, daß er kaum mehr mit bloßem Auge zu erkennen ist.

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Methodisch ergibt sich ferner ein unheilbarer Bruch, wenn der Verfasser wirklich an der säuberlichen Unterscheidung zwischen Bismarck als Reichsgründer und Bismarck als Autor des Sozialistengesetzes festhalten will. Bismarck selbst hat dies, wenn man die Aktenlage etwa vom November 1870, dem entscheidenden Monat der Einigungsverhandlungen in Versailles, berücksichtigt, viel einheitlicher gesehen: Die Reichsgründung war für ihn der Auftakt zu einer neuen Heiligen Allianz, zu einem Dreikaiserbündnis gegen den einen Feind, den er damals bereits als gefährlichsten im Visier hatte: den Sozialismus.

Aber der historische Dilettant braucht an diesem Punkt nicht allzu tief in die Fachkritik einsteigen. Worum es in zeitgenössischem Zusammenhange geht, ist klar genug. Auf dem Boden der DDR scheint die Bewältigung unserer Vergangenheit an einem Punkt angelangt, wo man in teils rechts-, teils linkshegelianischer Manier an die Wiederherstellung einer preußisch-hegemonialen Geschichtsschreibung gehen kann. Zweckmäßig für eine solche Wiederherstellung erweist sich dabei die gute alte Dialektik. 

Bei Engelberg besteht sie zum Beispiel darin, daß alle anderen deutschen Dynastien durch und durch hoffnungslos waren, nur nicht die real existierenden Berliner Hohenzollern, in deren Segel so offenkundig der Atem der Geschichte blies. Ähnliches gilt für die verschiedenen Spielarten des deutschen Liberalismus — sie werden allesamt mit dem Thermometer ihrer relativen Nähe oder Ferne zum deutsch-bismarckischen Geschichtsziel gemessen. Nun könnte man einwenden, daß diese Entwicklung ja vorauszusehen war. Je realer der Sozialismus zum real existierenden wird, desto weniger kann er eine wirklich radikal-marxistische Geschichts-Interpretation vertragen. Der Pakt mit der bürgerlich-positivistischen Geschichtsschreibung muß dann über dem Bruchstrich des kleinsten gemeinsamen Nenners, lies: der nackten Erfolgsgeschichte, geschlossen werden.

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Was jedoch als Grund zur Beunruhigung verbleibt: Hier wird handfest Verdunkelung, Verschleierung betrieben, auch wenn es der Autor Engelberg, der subjektiv ehrlich ist, gar nicht begreifen dürfte. Bismarcks Einigungs- und Modernisierungswerk war eben nur sehr bedingt erfolgreich. Neben den schönen Stunden von 1871 bis 1914 hat es uns, und zwar logisch und zwangsläufig, die weniger schönen seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschert. 

Das Reich von 1871 wurde in diesem Ersten Weltkrieg (nebenbei sei's gesagt) zum Reich des Rohstoff- und Beschaffungszaren Walther Rathenau, der seinerseits den Russen nach 1917 den real existierenden Planungs-Zentralismus bescherte. 

Das Reich von 1871 und, darüber hinaus, die Bismarcksche Revolution von oben, die Zentralisierung und Industrialisierung, hat ferner nicht nur den Tod vieler Spielarten von Freiheit, sondern auch den massenhaften Tod biologischer Arten und damit, möglicherweise, das biosphärische Scheitern Mitteleuropas eingeleitet. Mit anderen Worten: Für eine wirklich moderne Geschichtsschreibung a la Braudel war das Ereignis Bismarck alles andere als erfolgreich — womit ein entscheidendes Kriterium des Hegelianismus wegfällt.

Nun scheint aber die Engelberg-Biographie nicht das einzige Indiz für eine Bismarck-Renaissance in der DDR zu sein, und damit komme ich auf eingangs erwähnte Umstände zurück. Die Bismarckiade in deutschen Landen links der Elbe scheint nämlich so weit zu gehen (es ist sogar schon das schauerliche Wort vom »Vollblutpolitiker« Bismarck gefallen!), daß die sozialistischen Brudervölker anfangen, nervös zu werden. Kritische Intellektuelle waren und sinds zwar schon lange (»deutsch — und Kommunist auch noch, das ist zuviel«, sagte mir 1967 ein bekannter Warschauer Schriftsteller), aber jetzt wirds sogar parteiamtlich. 

Eine Stettiner polnische Parteizeitung hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß für die offizielle polnische Geschichtsschreibung Bismarck der Unterdrücker ist und bleibt; eine Figur, die keineswegs progressiv, sondern schlicht und einfach reaktionär sei.

Nun hat es der Hegelianismus, der linke wie der rechte, so an sich, daß Minderheiten beziehungsweise kleineren Völkern nicht allzuviel Rücksicht zuteil werden kann, weil der Weltgeist schließlich etwas zum Verheizen braucht. Minderheiten wie kleine Völker haben sich mutig und gefaßt damit abzufinden, daß sie im Sinne eines größeren Weltgeschehens eben Opfer zu bringen haben, notfalls das der eigenen Existenz. (Marx und Engels waren da, wie ihre Korrespondenz über Kolonial- und andere Tagesfragen beweist, auch nicht eben zimperlich.) 

Ich schlage der Stettiner Parteizeitung deshalb vor, daß wir eine polnisch-bayerische Beobachtungsstation für das historische Wetter in Preußen einrichten. Sturmwarnungen sollten wir dann tunlichst gemeinsam geben. 

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   2. Wichtige und weniger wichtige Ereignisse von 1989    

(1990) 

 

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I

Das Jahr 1989 war ein Jahr unerhörter Geschehnisse. 
Die globale Klima-Veränderung wurde zweifelsfrei als bereits angelaufen identifiziert. 
Zum dritten Mal droht Millionensterben in Äthiopien.
Die Adria ist zur Hälfte gestorben.
Die Weltbevölkerung übersprang die Fünf-Milliarden-Marke. 
Es jährte sich zum zehnten Mal die Ablieferung des Berichts <GLOBAL 2000> an den ehemaligen US-Präsidenten Carter; seine Voraussagen haben sich im wesentlichen bestätigt. Die Zahl der Arten, die aussterben oder schon ausgestorben sind, steigt geometrisch an. 

Ach ja, und die deutsche Frage gibt es auch.

II 

Dabei gilt es, sich über die Wörter zu verständigen, die man dafür verwendet — das wußte schon Konfuzius. Das passende Wort für das, was gegenwärtig stattfindet, wird bisher nicht gebraucht.

Es heißt weder »Wiedervereinigung« noch »Neu-Vereinigung«, weder »Konföderation« noch »Vertragsgemeinschaft«. Das richtige, das genaue Wort ist ANSCHLUSS. Die DDR wird zur Zeit angeschlossen; unter welchen juristischen Formen, ist weitgehend gleichgültig. Der finanzielle, organisatorische, industrielle Überdruck der West-Republik (und damit der ganzen westlichen Mega-Maschine) schießt durch tausend Leitungen, Kanülen, Kanäle nach Osten, der Patient auf der Intensiv-Station genießt die modernste technokratische Therapie.

Der Patient hat, nach Jahren elendester Blutarmut, natürlich nichts dagegen. Dem Überdruck des Westens entspricht auf seiner Seite der neidvolle Vergleich, die invidious comparison — heute vielleicht der machtvollste Welt-Impuls überhaupt.

Beispiel: Mit einer Rikscha verglichen, ist ein Trabbi ein tolles Ding. Aber verglichen wird er mit einem BMW — oder wenigstens mit einem VW Golf. Die Fließbänder werden schon ausgelegt.

III

Was bedeutet, im Rahmenwerk der modernen Geschichte, die jüngste Entwicklung in Ost-Europa? Sie bedeutet das Ende der »Zweiten Welt«. Diese Zweite Welt war, man erinnere sich, der finster-heroische Versuch, ohne die Vorgaben des Westens — die Verfassungs-Anläufe der Städte und Stände, die gedeckten Tische der überseeischen Welt, die Gold-Häuser der Inkas und den Silber-Berg von Potosi und alles, was daraus folgte — die Effizienz, den Reichtum, die Produktivität der Bourgeoisie zu überholen; mit einem Wort: den Kapitalismus auf seinem eigenen Schachbrett zu schlagen. 

Zum Verderben wurde diesem Versuch die eingebaute Lebenslüge: ein durch und durch materialistisches, dabei Seelen- und weltzerstörendes Ziel durch die Mobilisierung der kollektiven Selbstlosigkeit erreichen zu können. Hier, genau an diesem Punkt, ist der »Westen« einfach ehrlicher und ist es immer gewesen. Ehrlicher — und damit effizienter. Achilles hätte die Schildkröte nie eingeholt.

IV

Was steht, demnach, deutschlandpolitisch ins Haus? Etwas, was (gar nicht so überraschend) unter Bismarck schon versucht wurde: eine gestufte deutsche Herrschaft über Zentraleuropa. Unter Bismarck kannte sie vier Stufen:

1) Vorherrschaft Preußens über Kleindeutschland;
2) Vorherrschaft des 2. Reichs über die Deutsch-Österreicher;
3) Vorherrschaft der Deutsch-Österreicher in der k.k. Monarchie;
4) Vorherrschaft Deutschlands und Österreich-Ungarns im europäischen Südosten und — wenn möglich — bis in den Nahen Osten.

Der Versuch verlief instabil, wie wir wissen. Heute könnte er stabiler ausgelegt werden. Die Aktenköfferchen von Frankfurt sind effizienter und — wohl — unauffälliger als das Potsdamer Wachregiment, die Verkehrsformen und — zweifellos! — die Errungenschaften des atlantisch-westlichen Zentrums haben sich seit 1945 bis an die Elbe ausgedehnt, Feldwebelei jeder Art ist passe. Die DDR, die CSSR, Ungarn und — auf eine spezielle Art — Polen bieten sich als Transmissions-Einheiten an, Bismarcks politische Konstante, nämlich das gute Verhältnis zu Rußland, kann mit besseren Mitteln als denen der Hofdiplomatie gesichert werden. 

Ein europäisches Haus, in dem sich auf deutsch gut leben läßt. Gut leben ließe — wenn Römisch Eins nicht wäre. 

V

Vorstellbar ist, kurz- und mittelfristig, der Anschluß der Zweiten Welt an die Erste. Unvorstellbar ist, mittel- und langfristig, der Erfolg der Ersten Welt selbst. Er läuft gegen ein System auf, das unerbittlicher ist als alle Stalinismen: die Gesetze der Biosphäre. Das Spiel hat sich längst vom ökonomischen auf das ökologische Schachbrett verlagert. Deutsche, europäische Politik muß danach beurteilt werden, ob es ihr gelingt, auf diesem Schachbrett eine humane Auffangstellung zu schaffen. Unseren gegenwärtigen Wünschen würde sie keinesfalls entsprechen.

VI

Ich höre, daß Rudolf Bahro, mein alter Bekannter, auf dem Parteitag der reformierten SED praktisch ausgelacht worden ist, weil er dergleichen formulierte. Wäre dies typisch für die Zukunft, so wäre das entscheidende Wort des Jahres 1989 nicht »Das Volk sind wir«, sondern der Satz von Dennis Meadows, dem Verfasser des »Club-of-Rome«-Berichts von 1972: »Der Selbstmörder ist schon aus dem Fenster gesprungen.«

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3. Nur davor ängstigt der Tod

  Ein Dankeswort   

(1988)   

 

 

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Dem großen Roman des Serben Milorad Pavic <Das chasarische Wörterbuch> entnehme ich folgende Geschichte:

Zwei Türken — ein Wächter und ein musizierender Landstreicher — sitzen nebeneinander in einer abendlichen Türbe, also einem Grabbau. In ihrem Säulenumgang schwebt eine Motte, und der Hüter weist auf sie und spricht: 

»Siehst du, von hier aus könnte man meinen, die Motte sei ein Vogel hoch droben im Himmel, und die Motte selbst begreift ihre Mauer wahrscheinlich auch so; wir allein wissen, daß sie unrecht hat. Sie aber weiß nicht einmal, daß wir es wissen, noch weiß sie, daß wir existieren. Kannst du ihr irgendetwas sagen, so, daß sie dich begreift und du sicher bist, daß sie dich vollständig begriffen hat?« 

»Ich weiß nicht«, antwortet der Landstreicher. »Kannst du es denn?«

»Ja«, antwortet wiederum der Alte, klatscht die Handflächen zusammen, erschlägt die Motte und zeigt sie zerschmettert auf der Handfläche: »Meinst du, sie hätte nicht verstanden, was ich ihr sagen wollte?« 

Die Geschichte ist so radikal und hintersinnig wie das ganze Buch, und es will erklärt sein, warum ich mit ihr in dieser Feierstunde aufwarte.

Ich tue es deshalb, weil ich meinen Dank für den Preis abstatten möchte, der mir hier verliehen wurde, und zwar auf die einzig produktive Weise — indem ich ihn in der Überlegung abstatte, die mir, in dieser Zeit und in dieser Weltgegend, die wichtigste für das künftige Schicksal und die künftige Strategie des Natur- und Menschen-Schutzes zu sein scheint.


Es ist eine Überlegung, die uns als einzige aus dem Schicksal der geschilderten Motte herausfuhren könnte. Denn gleichen wir ihr nicht, wir, die wir in einem winzigen ge-weißelten Kunsthimmel herumflattern und ihn mit dem Kosmos verwechseln? Ist es nicht mehr als wahrscheinlich, daß uns ein griesgrämiger Hüter beobachtet, ein Wahrer der Schätze des Kosmos, den es ärgert, wie wir seine Kleider und Teppiche zusammenfressen?

Mit anderen Worten: Ist Tod und Vernichtung die einzige Mitteilung, die uns die Natur (noch) machen kann, um sich verständlich zu machen?

Aber das ist ja noch eine oberflächliche Interpretation dieser sehr tiefen Geschichte. Es ist dienlich und nützlich, sie gewissermaßen wie eine transparente Zeichnung vor das bekannte Wort von Albert Schweitzer zu halten: »Ich bin Leben — inmitten von Leben, das leben will.« Und wie von selbst wird sich der Satz neu zu Ende lesen: »Ich bin Leben inmitten von Leben, das leben will — und deshalb sterben muß.« 

Spätestens beim Gewahrwerden dieses Aspekts setzen die Kontroversen, die Mißverständnisse, die persönlichen und kulturellen Ängste und Ressentiments ein, denen wir uns, als Kinder und Enkel einer ganz bestimmten Zivilisation, nicht entziehen können und dürfen. Diese Zivilisation hat sich Grundsatzfragen zu stellen, zu denen sie sehr schlecht gerüstet ist; und es ist kein Wunder, daß dies auf unser naturschützerisches Bemühen, seine Strategien und seine politischen Voraussetzungen und Folgen zurückwirkt. Denken wir — um mit etwas sehr Harmlosem zu beginnen! — an die sentimentale Einstellung der Mehrheit zum Tierschutz. 

Selbstverständlich ist Tierquälerei und ihr wissenschaftliches Pendant, die massenhafte Vivisektion, jeder Feindschaft würdig; aber das Geschrei, das sich etwa gegen Horst Sterns erste Angriffe auf die deutsche Jagd- und Hegermanie erhob, legt davon Zeugnis ab, wie viele hiesige Menschen (es dürfte nach wie vor die Mehrheit sein) die Natur als eine Art Zoo oder Safari-Park sehen, in dem spannende Lebewesen herumtraben (möglichst sollten sie auch noch photogen sein), die unser Gemüt berühren. 

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Die Myriaden Netzfäden, die sich zwischen Leben und Tod von unzähligen Lebensformen spannen, sind aber das eigentlich Schützenswerte und Schützensnotwendige; nicht die Erhaltung von möglichst vielen Hirsch-, Reh- oder Fuchs-Individuen. Das hat der zünftige Naturschutz längst verinnerlicht.

Doch das Problem wird sofort komplizierter, wenn wir diesen Grundsatz zu konkretisieren versuchen. Es gibt (etwa) eine Grundsatzerklärung der deutschen Bischöfe, nach der Tiere »Geschöpfe eigenen Rechts« sind — d.h. sie haben eine Existenz, die in sich sinnvoll und schützenswert ist —, unabhängige Gedanken Gottes sind. So weit, so kühn und gut. Aber wer die Akzeleration der Aussterbens-Raten so vieler Arten kennt, wird kaum um die Einsicht herumkommen, daß die wachsende Bevölkerung der Erde — in meiner Jugend zwei, jetzt fünf Milliarden — einem unabhängigen Rechts-Schutz der Tierwelt diametral entgegengesetzt ist. 

Was benötigt wäre, um das unabhängige Recht von Tier- und Pflanzenarten durchzudrücken, ist ein zusammenhängendes, auf Menschheits-Stabilität, ja wenn möglich Menschheits-Abnahme gerichtetes Lebens-und-Todes-Konzept — und zwar ehe es endgültig zu spät ist. Heute sollen etwa 35 Prozent der gesamten Biomasse des Planeten schon auf die Bedürfnisse des Menschen ausgerichtet sein; es ist höchst wahrscheinlich, daß dies allein genügt, um tausende weiterer »Gedanken Gottes«, nämlich noch existierende Tier- und Pflanzenarten, dem Tod zu weihen. Und wie ein solches Eigenrecht des nichtmenschlichen Lebens angesichts der Familien-Ideologie etwa der katholischen Kirche sinnvoll gewahrt werden soll, steht ohnehin in den Sternen der Utopie. 

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Daß unter solchen Umständen, unter so drohenden Gewitterwänden des Natur-Sterbens, immer mehr Biologen, Ökologen, Systemforscher und so weiter zu Misanthropen im weitesten Sinne werden, ist nicht verwunderlich. Und es wäre alles andere als verwunderlich, wenn Hitler nichts anderes gewesen wäre als ein Vorläufer. So bequem und verlogen es ist, sein Tötungsprogramm mit irgendwelchen anderen Untaten, sogar mit denen Stalins, zu vergleichen, so gefährlich wäre es, ihre Wiederholung für ausgeschlossen zu halten. 

Ich habe schon des öfteren daraufhingewiesen, daß ein Buch wie »Grenzen des Wachstums«, wenn es, sagen wir, 1930 statt 1972 erschienen wäre, von einer einzigen politischen Partei in Deutschland hätte »verarbeitet« werden können — nämlich von den Nazis. Vorläufig, unter der rücksichtslosen Kreditwirtschaft, die wir auf Kosten der Zukunft betreiben, scheint die Wiederholung gebannt — aber eben nur vorläufig. Nichts, keine sichtbare politische Ideologie wird es verhindern können, daß in dem Augenblick, wo das Ressourcen- und Energiekapital, das wir verschleudern, von der Natur eingefordert wird, ähnliche demagogische Lösungsversuche auftauchen werden. 

Aber lassen wir die nachtschwarze Prophetie, es genügen die Probleme, die wir hier und heute zu bewältigen haben. Ein Lebens- und-Todeskonzept, das die Menschheit, insbesondere die sogenannte entwickelte, einzig akzeptieren könnte, wäre ein Konzept, das einerseits ökologisch realistisch ist, andererseits aber auch kulturell akzeptiert werden kann. Und da beginnen die wirklichen Schwierigkeiten. Jüngstes Beispiel für diese Schwierigkeiten war die Diskussion um das Interview mit Konrad Lorenz, das in der Zeitschrift NATUR erschien. Die Redaktion hielt es für richtig (und ich schließe mich da der Redaktion an), über einige Bemerkungen des Jubilars eine breit angelegte Diskussion zu eröffnen — mit Politikern, Schriftstellern, Gelehrten. (Auch ich wurde natürlich um einen Senfklacks gebeten.)

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Lorenz deutete die Möglichkeit an, daß AIDS zur Erleichterung des Bevölkerungsdrucks beitragen könnte, und er drückte seine Sorge darüber aus, daß die »Gangster« (sein Ausdruck) mehr Kinder hätten als die »Anständigen« (wiederum sein Ausdruck). Ihm wurde gebührend und im großen Ganzen schlüssig entgegnet. Zweifellos sprach hier aus dem Munde des alten Pioniers ein Biologismus, der kulturell unerträglich ist. 

Dieser Biologismus ist übrigens so neu nicht — schon Arthur Schopenhauer sprach sich ungehalten über die Pockenschutzimpfung aus, welche das Menschzeug völlig unpassend vermehre; und die meisten Naturwissenschaftler (gerade auch Engländer und Amerikaner), die sich seit dem 19. Jahrhundert mit Eugenik befaßten, waren unverhohlene Rassisten. 

Andererseits (und das muß festgehalten werden) verfügt der landläufige Humanismus, der linke wie der rechte, über kein Lebens-und-Todes-Konzept, das den dem Biologen bekannten Gefahren für die Biosphäre, für Mensch und Tier und Pflanze, wirkungsvoll die Stirn bieten könnte. 

Während der naturwissenschaftlich Gebildete oder Interessierte in der Regel wenig Ahnung von historischen, kulturellen, sozialen Zusammenhängen hat, ist andererseits der geisteswissenschaftlich geschulte Humanist nur allzuleicht geneigt, das ökologische Problem als ein Problem des persönlichen und kollektiven Bewußtseins zu sehen. 

Vor allem seit der sogenannten Wende war dieses Verfahren ungeheuer erfolgreich. 

Rechte Politsoziologen, aber auch Philosophen wie Odo Marquard verstehen tatsächlich den Eindruck zu vermitteln, daß ökologische Bewußtseinsinhalte in erster Linie Projektionen irgendwelcher gesellschaftlicher, familiärer, charakterlicher Befindlichkeiten seien — ein Eindruck, der sich dann harmonisch zu den alten Schreckbildern von den langhaarigen Affen fügt. Leider ist jedoch die sogenannte Grüne Szene von solchen Assoziationen nicht frei. 

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Kürzlich erfuhr ich von einem Mitgründer der GRÜNEN, daß auf dem letzten Bundeskongreß der Partei die Arbeitsgemeinschaft »Ökologie« das geringste Interesse und die wenigsten Teilnehmer gefunden habe. Sinnigerweise sind es gerade die sogenannten Fundis, die diese Entwicklung vorantreiben. Entgegen dem, was in den Zeitungen steht, sind sie keineswegs Fundamental-Ökologen; der Terminus bezieht sich lediglich auf den Modus der Opposition, der sie von den Realos unterscheidet. Die sogenannten »Inhalte«, die sie vertreten, sind ein Bukett aus Partikular-Interessen — teilweise respektablen Partikular-Interessen, aber doch solchen, die mit der ökologischen Perspektive kaum etwas zu tun haben. 

Der historische Vorgang ist klar: Es handelt sich um sträflich verschleppte und vernachlässigte Anliegen, die im Sammelbecken der Partei der GRÜNEN zusammengeschlossen sind. Und persönlich bin ich sehr erleichtert, daß die Färbung, der Stallgeruch dieser jungen Partei eher links als rechts ist. 

Aber wir und sie müssen sich darüber klar sein, daß es eine Grenze gibt, über die man nicht kommt, ohne die ursprünglichen Intentionen, eben die ökologischen, völlig aus den Augen zu verlieren. Die Grenze läßt sich mit einem Wort beschreiben: es ist der Tod.

Mit »Tod« sind natürlich alle Tatsachen gemeint, die unser Leben als Kinder der Erde, der GAIA, begrenzen; alle Faktoren der Versagung an sogenannter Selbstverwirklichung. Es ist eben einfach nicht wahr, daß vollendeter Humanismus, vollendete Selbstbestimmung, vollendete Emanzipation zu den Dingen gehören, die sich von selbst aus der Harmonie von Mensch und Natur ergeben. 

Es ist einfach nicht wahr, daß die Evolution mit Individuen rechnet. 

Worin die Humanisten gegen die Biologisten (nennen wirs einmal so) recht haben, das ist der Hinweis darauf, daß menschliche Kulturen immer und überall über die evolutionäre Bestimmung des Säugetiers Homo sapiens hinausgegangen sind und hinausgehen, und daß eine Gesellschaft, sagen wir, dumpfer tribalistischer Unterwerfung unter die Gesetze von Werden und Vergehen kaum erstrebenswert, ja nicht einmal mehr erreichbar ist.

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Was sich jedoch nicht verändern läßt, das ist das Rahmendatum TOD. Es hat Dutzende von Kulturen gegeben, in denen dieses Datum verständiger, klüger, würdiger behandelt worden ist als in der unseren. Weder dort wo sie knechtet, noch dort, wo sie emanzipiert, scheint sie sich des Lebens-Todes-Zusammenhangs bewußt zu sein. Äußerlich, in den Oberschichten des Bewußtseins, wird der Tod verdrängt, das Alter in Spezial-Silos unsichtbar gemacht, das singulare Dasein mit den Attributen der Jugendlichkeit zum Maßstab gemacht; darunter aber tobt die Materialschlacht gegen alle Voraussetzungen des Lebens, werden die Ressourcen verschleudert, die Gefälle der Energie wie der Information eingeebnet. 

Was das ökologisch bedeutet, ist sattsam bekannt. 

Weniger klar wird schon der Zusammenhang mit den inneren Geweben unserer atlantischen Existenz diskutiert: etwa die Verdrängung der Trauer, ihr Überflüssigwerden. Wo kein Gefühlsgefälle mehr vorhanden ist, stürzt auch keine Träne mehr ... Gleiches gilt von der Liebe, man nennt sie »Sexualität«, beschreibt sie also ausschließlich aus der Körper- und Hormonfunktion, dem am wenigsten steilen und aufwendigen Aspekt ihres Wesens.

Insgesamt ergibt sich also eine eindeutige Tendenz: die Tendenz in die Nekrophilie hinein, in die Liebe zum endgültigen Tod, der uns den Verpflichtungen zum Leben entreißt. In solchen Nekrophilie-Zusammenhang gehört die ganze kalte Welt der »Sachzwänge«; gehören die Krebserreger des Wirtschafts­wachstums; gehört der Todes-Kult des Automobils und des Flugzeugs; aber auch die chemisch-physikalische Version der Geburtenkontrolle und der hedonistisch motivierte Zölibat der Singles.

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Bedenken wir an diesem Punkt noch einmal den erweiterten Satz von Albert Schweitzer: »Ich bin Leben — inmitten von Leben, das Leben will und infolgedessen sterben muß.« Es ist ein unbedingt wahrer Satz; aber kein Satz, der uns zu unbedingtem Schrecken verurteilt. In einem schönen slowakischen Gedicht heißt es:

Nur davor ängstigt der Tod.
Danach
Ist alles schön, unschuldig plötzlich,
Eine Karnevalsmaske, worin
Nach Mitternacht du Wasser schöpfst,
Um zu trinken oder den Schweiß abzuwaschen. 

Ergibt sich nicht, daß dies erst wahre Souveränität, wahre Emanzipation ist — eine Souveränität, die uns weder von wahrhaftigen Quellen unserer Kultur wegführt noch von den Tatsachen unserer kreatürlichen Existenz? Wäre es nicht das höchste Ziel einer Zivilisation, diese Souveränität anzusteuern, die es uns erst ermöglichen würde, mit unserer Kreatürlichkeit ohne Verluste zusammenzuleben — auf den Quadrillionen von Grabsteinen, die unsere Vorfahren, die Bakterien, für uns zu Bergen getürmt haben — in der reinen und so instabilen Sauerstoffluft, die sie für uns geschaffen? Und bestätigt dies nicht eine jahrtausendealte Ahnung der Menschheit — die Ahnung nämlich, daß es gerade unsere Natürlichkeit ist, die von uns Vollkommenheit verlangt?

Besehen wir uns jetzt noch einmal die Geschichte, mit der wir unsere Überlegungen begannen. Der Alte spricht nach seiner Demonstration an der Motte:

»Jemand, von dessen Gewand wir uns ernähren, trägt unseren Tod in seiner Hand, als Mittel der Verständigung mit uns. Indem er uns tötet, setzt uns dieser Unbekannte von sich selbst in Kenntnis. Und wir erschauen durch unsere Tode, wie durch eine halb aufgestoßene Tür, im letzten Augenblick neue Gefilde und neue Grenzen. Diese sechste und höchste Stufe der Todesangst hält uns, die unbekannten Teilnehmer im Spiel zusammen und verbindet uns. Die Hierarchie der Tode ist in der Tat das einzige, das ein System der Berührungen unter den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit in einem sonst unüberschaubaren Raum ermöglicht...«

Nun, jetzt erst gewahre ich, daß dieser Schluß des Grabhüters keine entsetzliche, vielmehr eine höchst aufklärerische Botschaft ist. Sie ist aufklärerisch, wenn wir sie als Aufforderung zur Souveränität verstehen; wenn wir sie zusammenhalten mit der Gelassenheit des slowakischen Dichters; und mit der philosophischen, religiösen, politischen Forderung, die im erweiterten Albert-Schweitzer-Satz steckt. 

Zu hoch gezielt, zu weit geworfen? 

Ich bin davon überzeugt, daß uns gar nichts anderes mehr übrig bleibt. Keine Strategie ist erfolgreich, kann erfolgreich sein, wenn die endgültige Richtung ihrer Vorstöße für sie selbst im Dunkeln bliebe.

In diesem Sinne hoffe ich, einen kleinen Dank für die mir zuteil gewordene Ehrung abgestattet zu haben.

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Ende

 

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